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[6]Reihe Systemisches Management

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Print: ISBN 978-3-7910-4551-1 Bestell-Nr. 10349-0001
ePub: ISBN 978-3-7910-4552-8 Bestell-Nr. 10349-0100
ePDF: ISBN 978-3-7910-4553-5 Bestell-Nr. 10349-0150

Paul Krummenacher/Petra Neff/Inger Schjold/Britta von Wurstemberger

Praxis der Großgruppenarbeit

1. Auflage, September 2019

© 2019 Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH

www.schaeffer-poeschel.de

service@schaeffer-poeschel.de

Illustrationen: Jonas Raeber, Luzern

Produktmanagement: Dr. Frank Baumgärtner

Lektorat: Jana Fritz – TEXTECHT, Stuttgart

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Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart

Ein Tochterunternehmen der Haufe Group

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Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft - Steuern - Recht GmbH

[9]Vorwort

Welches Potenzial für Change-Prozesse in Großgruppen steckt, habe ich in den letzten Jahren in der Zusammenarbeit mit frischer wind erleben dürfen. In einer Fallstudie habe ich Großgruppen als »Turbo-Booster der Kulturveränderung« bezeichnet. Das klingt etwas euphorisch, aber es lässt sich mit Fakten belegen.

Richtig eingesetzt sind sie nicht nur erheblich schneller als die klassische Vorgehensweise, bei der hauptsächlich mit Interviews und Kleingruppen-Workshops gearbeitet wird, sondern auch deutlich kostengünstiger. Während man beim klassischen Vorgehen Wochen und Monate braucht, um 10, 20 oder 30 Workshops zu organisieren, deren Auswertung dann leicht zu einem Albtraum für Fortgeschrittene wird, ist man mit einer Großgruppe nach zwei, maximal drei Tagen am Ziel. Natürlich will eine Großgruppenkonferenz gut vorbereitet sein und braucht einige Wochen Vorlauf, aber im Vergleich fühlt sie sich geradezu leichtfüßig an.

Doch was mich am meisten begeistert, ist die soziale Gültigkeit, die in Großgruppen in so unvergleichlicher Weise entsteht. Beim klassischen Vorgehen erlebt ja jeder nur den eigenen Workshop mit – und selbst wenn dieser von erstaunlicher Offenheit geprägt war und sehr gute Ergebnisse gebracht hat, weiß niemand, wie die 19 oder 29 anderen Workshops gelaufen sind und ob dort ein ähnlich konstruktiver Geist herrschte. Eine Verbundenheit entsteht nur mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des eigenen Workshops und ein übergreifender Spirit entwickelt sich daraus nicht. Und wenn dann Wochen später die Auswertung präsentiert wird, ist der dünne Faden der Verbundenheit schon fast gerissen.

Bei einer Großgruppe dagegen ist tatsächlich »das ganze System in einem Raum« – oder doch zumindest dessen Repräsentantinnen und Repräsentanten. Das heißt, jede und jeder Anwesende erlebt den Spannungsbogen in voller emotionaler Intensität mit: Alle sehen mit eigenen Augen und hören mit eigenen Ohren, ob und wie offen die kritischen Themen angesprochen werden, wie der Vorstand, die Geschäftsführung oder die Behördenleitung darauf reagiert und was im weiteren Prozess daraus entsteht.

Da gibt es kein Rätselraten über »die anderen Veranstaltungen«: Alle erleben alles von Anfang bis Ende mit. Und jeder weiß, dass alle anderen am gleichen Ort waren und das Gleiche erlebt haben. Das schafft eine gemeinsame Erfahrung, auf die man sich beziehen und wenn nötig auch berufen kann: soziale Gültigkeit.

[10]Ebenso wichtig ist, dass sich für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Zeitperspektive verkürzt. Auch wenn im Vorfeld über die Ausgestaltung der Konferenz wochenlang diskutiert und gerungen wurde, dauert die Konferenz selbst nur ein, zwei, maximal drei Tage.

Es gibt kein wochen- oder monatelanges Warten auf die Auswertung und die Entscheidungen des Managements, und niemand kommt ins Zweifeln, ob die Sache inzwischen eingeschlafen ist. Nein, am Ende der Konferenz sind die Ansatzpunkte benannt, und die ersten Ergebnisse liegen vor. Das heißt, am Tag danach – na ja, seien wir realistisch, in der Woche danach – kann die Umsetzung beginnen.

Was für ein Beschleunigungsschub im Vergleich zu konventionellen Prozessen!

Und wo ist der Haken? Ich sehe gleich drei.

Erstens stellen Großgruppenprozesse hohe Anforderungen an das Topmanagement und insbesondere an den oder die Vorsitzende(n): an ihre Präsenz, an ihren sozialen Mut und an ihre Kommunikationsfähigkeit. Sie können sich nicht wie sonst hinter die disziplinierenden Rituale großer Organisationen zurückziehen, bei denen Vorschläge meist über mehrere Stufen abgestimmt und kantenfrei gemacht werden, bevor sie die klimatisierten Etagen erreichen. Nein, die Chefs stehen ungeschützt auf offener Bühne und müssen (fast) ohne Bedenkzeit Stellung nehmen. Nicht einmal eine Generalprobe gibt es: Jetzt oder nie!

Und diese ihre Stellungnahmen werden von hunderten Augen mit höchster Aufmerksamkeit beobachtet und kritisch bewertet. Es gibt keine vorherige Abstimmung im Vorstand, keine Rücksprache mit HR, kein Coaching durch erfahrene Berater. Jeder und jedem, die oder der da an der Spitze steht, ist klar, dass sie oder er in dieser Situation nicht nur viel Respekt gewinnen, sondern auch viel verlieren kann. Ich habe durchaus Verständnis, wenn etliche Topmanagerinnen und Topmanager dieses Risiko lieber nicht eingehen wollen.

Zweitens darf man sich nicht täuschen lassen: Aus der Tatsache, dass Großgruppen so wunderbar laufen, wenn sie denn laufen, folgt nicht, dass ihre Gestaltung ein Kinderspiel wäre. Denn wunderbar laufen tun sie nur dann, wenn der Schritt, der jetzt als nächster kommt, für die überwiegende Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer genauso Sinn ergibt, wie er vorgesehen ist. Das gilt für jeden »nächsten Schritt«.

Ob die Schritte passen, hat nicht nur mit einer sorgfältig durchdachten Schrittfolge zu tun, sondern auch mit den stillschweigenden Annahmen über die Ist-Situation, auf [11]denen die ganze Veranstaltung aufbaut. Wenn ein Großteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Prämissen nicht teilt, wenn sie die Situation ganz anders wahrnehmen und bewerten als diejenigen, die die Moderatoren gebrieft haben, dann hilft auch der sorgfältigste Aufbau der Schrittfolge nicht. Deshalb ist es elementar, sicherzustellen, dass die gewählte Vorgehensweise nicht nur aus Sicht des Managements und der Stabsabteilungen schlüssig ist, sondern auch und vor allem aus der Perspektive des »Maschinenraums«.

Der dritte Haken ist die »Erwartungsfalle«, die sich bei Großgruppenkonferenzen aufbaut. Deren eigentliche Bewährungsprobe kommt nicht während der Konferenz selbst, sondern in den Wochen danach. Je erfolgreicher eine Großgruppe verlaufen ist, desto höher sind die Erwartungen an die nun kommenden Veränderungen – und desto größer ist dementsprechend das Potenzial für Enttäuschungen.

Deshalb sind gerade sehr erfolgreich verlaufende Großgruppen in Unternehmen und Verwaltungen in der Gefahr, mittelfristig verbrannte Erde zu hinterlassen: Die Moderatoren ziehen zufrieden von dannen, im berechtigten Gefühl, gute Arbeit gemacht zu haben. Das interne Projektteam sonnt sich ein bisschen in der allgemeinen Begeisterung und gönnt sich nach dem Stress der letzten Wochen eine Verschnaufpause. Und das Topmanagement atmet auf, dass alles gut gegangen ist, denn ein bisschen nervös war man dann doch ...

Wenn sich aber niemand darum kümmert, wie es weitergeht, dann geht es nicht weiter. Im Nu sind ein paar Wochen verstrichen, und aus Wochen werden Monate, weil alle schließlich auch noch etwas anderes zu tun haben. Derweil kippen die hochgesteckten Erwartungen allmählich in tiefe Enttäuschung um. Und danach braucht den Leuten so bald niemand mehr mit einer Großgruppe zu kommen. Der langfristige Erfolg hängt deshalb daran, frühzeitig den Übergang von der Konferenz in eine operative Projektarbeit zu organisieren.

So faszinierend Großgruppen sind, ich habe größten Respekt vor ihnen. Die Leichtigkeit, mit der sie im besten Fall laufen, täuscht schnell darüber hinweg, wie viel Einfühlung, Sorgfalt und Erfahrung nötig sind, damit sie so laufen. Dabei muss man sich bewusst sein: Soziale Prozesse haben keine Reset-Taste, mit der man das System herunterfahren und neu starten kann, wenn man etwas vermurkst hat. Eine solche Konferenz muss auf Anhieb sitzen – man hat keinen zweiten Versuch.

Zum Glück muss man als »Großgruppen-Zauberlehrling« nicht jede Erfahrung selbst machen. Die bessere Alternative ist, bei erfahrenen Meisterinnen und Meistern in die Schule zu gehen, vor allem wenn sie ihre Erfahrung so bereitwillig weitergeben und so [12]gut aufbereiten wie das Quartett der frischer wind AG. Denn gerade in einer Zeit, in der Veränderungen schnell und kraftvoll vorangebracht werden müssen, können wir es uns nicht leisten, auf die Dynamik großer Gruppen zu verzichten.

Winfried Berner

[13]Einleitung

Ein großer Querschnitt einer ganzen Organisation, 80, 100, 200 oder noch mehr Menschen arbeiten gleichzeitig im gleichen Raum an der gleichen Fragestellung. Schritt für Schritt, in immer wieder wechselnden Zusammensetzungen entwickeln sie ein − auch für das oberste Management − völlig neues Bild von ihrem System. Gemeinsam entwickeln sie Lösungen, die nachher von allen mitgetragen werden.

Die Vielfalt an Organisationen und ihren Fragestellungen in diesem Buch ist riesig. So suchen etwa 100 Nachbarinnen und Nachbarn, Barbetreiberinnen und -betreiber sowie Verwaltungsangestellte gemeinsam nach Lösungsansätzen in einem lärmgeplagten Viertel. In einem Industriebetrieb werden der Dialog und der Wissenstransfer zwischen der Zentrale und der Fertigung, zwischen der Unternehmensspitze, dem Betriebsrat und der Mitarbeiterschaft von rund 180 Personen in einem mehrstufigen Prozess revitalisiert. Die Handlungsfähigkeit wird verbessert. Die vorhandenen »PS werden auf die Straße gebracht«, wie es der Geschäftsführer bildhaft formulierte. Ein Betriebsrat eines anderen Industriebetriebs reflektiert zusammen mit über 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Ziele der Unternehmensleitung und seine eigene Rolle darin. Eine städtische Verwaltung gibt sich über alle Bereiche hinweg neue Führungsgrundsätze. Ein Verkehrsbetrieb entwickelt in einem mehrjährigen Prozess unter Einbezug des gesamten Unternehmens eine neue unternehmerische Kultur. Ein großer Versicherer schult ein neues Produkt im Großgruppenformat und erzielt durch die breite, gleichzeitige Vernetzung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer einen enormen Zusatznutzen. Fünf Gemeinden suchen auf dem Weg zur Fusion, was sie verbindet und was für einen gelingenden Fusionsprozess berücksichtigt werden muss. Die Fusion eines großen Dienstleisters im Versicherungsbereich mit zwei kleineren wird von sämtlichen Führungskräften einem Stresstest unterzogen.

In den letzten 20 Jahren haben wir hunderte Veränderungs- und Klärungsprozesse mit Großgruppen begleitet. Wir haben partizipative Prozesse gestaltet, in denen die Betroffenen zu Beteiligten gemacht wurden. Methodisch konnten wir all die Jahre auf den vier bekanntesten Großgruppenmethoden Open Space Technology, Future Search Conference, Real Time Strategic Change und World Café aufbauen. Die vier haben sich weltweit bewährt und sind zu einem festen Bestandteil der Werkzeugkiste von Organisationsentwicklerinnen und -entwicklern geworden. Sie sind ein Teil der Geschichte der Organisationsentwicklung und als solcher eng mit dieser verbunden.

Wir haben diese Methoden weiterentwickelt und an neue Fragestellungen angepasst. Nach unserem Selbstverständnis sind wir dabei Prozessbegleiterinnen und Prozess[14]begleiter und als solche für den Prozess verantwortlich. Wir sind nicht für die Inhalte verantwortlich. Wir sind dafür verantwortlich, dass mit einem passenden Design des Prozesses die Fragen geklärt werden können, die geklärt werden sollen. Wir dienen dem System und nicht der Auftraggeberin oder dem Auftraggeber. Wir klären in der Vorbereitung mit der Systemspitze und einer von uns so genannten »Spurgruppe«, was das System braucht, um die gewünschte Fragestellung zu klären. Manchmal braucht das System zusätzliches Wissen von außen, um seine Fragestellungen zu klären. Manchmal müssen im Prozess zuerst andere Fragestellungen geklärt werden, bevor das System bereit ist, das gewünschte Kernthema anzugehen. Manchmal nimmt der Prozess nach der Großgruppenkonferenz einen neuen Verlauf.

Wir haben festgestellt, dass die Standardmethoden heute leider oft in einer Art und Weise zum Einsatz kommen, die nur noch wenig mit Prozessarbeit zu tun hat. Mit vielen Leuten im gleichen Raum zu arbeiten ist noch lange keine Großgruppenarbeit. Insbesondere das World Café muss als Name herhalten, wenn viele Personen an verschiedenen Tischen auf Tischtücher schreiben. Bedauerlich finden wir daran, dass durch eine unbedarfte oder gar gänzlich andere Anwendung das Potenzial dieser Methoden und damit das Potenzial der großen Gruppen verschenkt wird.

Gerne wollen wir mit unserem Buch dazu beitragen, dem Potenzial dieser wirkungsmächtigen Methoden zu vertrauen.

Zum Aufbau des Buches

In Kapitel 1 »Grundlagen« zeigen wir auf, was wir unter Großgruppenarbeit verstehen. Dazu gehören zunächst ein paar grundsätzliche Überlegungen zu dem, was das Potenzial der Großgruppe ausmacht. Dann stellen wir die wesentlichen Elemente der vier Grundmethoden vor.1 Wir zeigen anschließend auf, was wir unter Partizipation verstehen und dass diese im Gesamtprozess verstanden werden muss. Zum Schluss dieses Grundlagenkapitels nehmen wir noch einmal die Großgruppenkonferenz als solche in den Blick und führen aus, welches die Grundsätze des Designs solcher Konferenzen sind.

Der Rest des Buches ist Praxis pur. Wir leuchten vier Aspekte besonders aus, die die Bandbreite und das Potenzial der Großgruppenarbeit am besten zeigen.

[15]In Kapitel 2 »Schwierig und komplex« bringen wir Beispiele dafür, welche Rolle Großgruppenkonferenzen in konfliktreichen oder komplexen, politisch vertrackten Situationen spielen. In diesen Beispielen ist die Prozessgestaltung besonders anspruchsvoll.

In Kapitel 3 »Mehrstufig und langfristig« zeigen wir beispielhaft, wie partizipative Gesamtprozesse aufgebaut werden und wie Großgruppenarbeit und Kleingruppenarbeit miteinander verknüpft werden. Jährlich wiederkehrende Großgruppenkonferenzen können gar zu einem festen Bestandteil im Führungszyklus eines Unternehmens werden.

Ist es möglich und sinnvoll, einen Workshop gleichzeitig mit 3.000 Menschen durchzuführen? Kapitel 4 »Groß und aufwendig« zeigt, dass das gut möglich ist und auch sinnvoll sein kann.

In Kapitel 5 »Kurz und knackig« gehen wir auf das ein, was die einen als Versprechen und die anderen als Überheblichkeit ansehen: Mit einer Großgruppenkonferenz kann in eineinhalb Stunden eine Organisation einen wesentlichen Schritt weiterkommen. Sie kann eine heikle Frage klären oder einen Kick-off breit abgestützt gestalten.

Im letzten Praxiskapitel (Kapitel 6) »Und vieles mehr« zeigen wir auf, wie das Methodenset der Großgruppenarbeit auch in andere Formate Einzug finden und diese befruchten kann. Hierzu gehören Tagungen, Kongresse oder auch Schulungen im Großgruppenformat.

Der Ausblick am Ende dieses Buches wird die Verortung zu Konzepten wie Art of Hosting und agile Organisationen ermöglichen − und aufzeigen, welche Möglichkeiten wir in virtuellen Konferenzen sehen.

Wir sind Praktikerinnen und Praktiker durch und durch. Alles, was zwischen diesen beiden Buchdeckeln steckt, ist zusammen mit unseren Kundinnen und Kunden entstanden − in ständiger Auseinandersetzung um das zielführende Vorgehen, um die Gestaltung offener und für alle nachvollziehbarer Prozesse. Darum gilt unser vornehmlicher Dank all unseren Kundinnen und Kunden, die sich oft mit viel Mut auf unbekanntes Terrain begeben haben. Unser Dank gilt auch unseren zahlreichen Beraterkolleginnen und -kollegen, mit denen wir in regem Austausch an der Weiterentwicklung der Großgruppenmethoden gearbeitet haben. Unser Dank gilt nicht zuletzt Hanna Hinnen und Hannes Hinnen, der Mitgründerin und dem Mitgründer unserer Firma, die in diesem Buch noch viele eigene Spuren entdecken werden.


1 Wer tiefer in die einzelnen Methoden eintauchen will, dem sei das Buch »Großgruppen-Interventionen« empfohlen, in dem wir 2012 die Grundmethoden ausführlich vorgestellt und deren Weiterentwicklung begründet haben: Hinnen, Hannes/Krummenacher, Paul: Großgruppen-Interventionen, Stuttgart, 2012.

[17]Grundsätzliches

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[19]1 Grundlagen

Wie gelingt es, die Entwicklung eines ganzen Systems – eines Industriekonzerns, einer Kommune oder eines Non-Profit-Unternehmens – so zu gestalten, dass eventuelle Widerstände minimiert und die notwendigen Maßnahmen wirkungsvoller umgesetzt werden können? Diese Frage treibt nicht nur diejenigen immer wieder um, die für die Steuerung dieser Systeme verantwortlich sind. Sie hat auch lange Zeit die Beraterwelt beschäftigt. Dabei ist die Lösung eigentlich simpel: Die Menschen, die eine Entwicklung vorantreiben und umsetzen sollen, müssen diese mittragen. Und das tun sie dann, wenn sie sie mitgestalten können, wenn es sich um etwas handelt, an dem sie mitgearbeitet haben. Neben Zielsetzungen und Inhalten muss der Fokus in einem Prozess deshalb zwingend auch auf den Menschen liegen, die die Ergebnisse umsetzen sollen. Dieser Tatsache, die zwar vielen einleuchtet, wird nach unserer Erfahrung aber immer noch viel zu wenig Rechnung getragen. Nicht zuletzt aus methodischer Hilflosigkeit werden immer wieder in Kleingruppen Visionen oder strategische Leitlinien, Handlungsfelder und Zielsetzungen erarbeitet, die dann allen Betroffenen mehr oder weniger gelungen kommuniziert werden. Dabei ist der Ansatz nicht neu, dass alle Betroffenen einen Veränderungsprozess aktiv mitgestalten können und dass alle gleichzeitig im gleichen Raum ihr System weiterentwickeln.

Die Großgruppenmethoden, die wir auch heute noch anwenden, stammen aus den 1980er Jahren und führten damals in der Organisationsentwicklung zu einem Paradigmenwechsel. Wir haben sie weiterentwickelt und an die aktuellen Anforderungen angepasst. In Kapitel 1.1 stellen wir sie kurz vor. Doch zunächst wollen wir uns kurz der Frage nach den wesentlichen Erfolgsfaktoren einer Großgruppenkonferenz widmen.

Erfolgsfaktoren einer Großgruppenkonferenz

Eine Großgruppenkonferenz gelingt, wenn …

[20]1.1 Methoden

Wir arbeiten seit jeher mit den vier Methoden Future Search Conference, Real Time Strategic Change (RTSC), Open Space Technology und World Café. Über die Jahre haben wir diese weiterentwickelt und wenden sie je nach Zielsetzung auch in Kombination an. Insbesondere Elemente aus den Methoden Future Search Conference und RTSC kombinieren wir häufig, wie die Praxisbeispiele zeigen werden. Dennoch lohnt sich ein kurzer Blick auf die Quintessenzen der vier Methoden.

1.1.1 Future Search Conference/Zukunftskonferenz

Bei der von Marvin Weisbord und Sandra Janoff in den 1990er Jahren entwickelten Methode wird nicht nur das ganze System im Sinne der dazugehörenden Personen in einen Raum gebracht, sondern auch alle zeitlichen Dimensionen wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Damit wird das ganze System in einer Dichte greifbar und begreifbar, die immer wieder verblüfft. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer arbeiten Schritt für Schritt an ihren Aufgaben und präsentieren und diskutieren ihre Ergebnisse im Plenum. Sie lernen voneinander mit dem Kopf und mit dem Herzen. Über die strukturierten Phasen entwickeln sie einen Sinn dafür, was für das gesamte System wirklich wichtig ist. Zum Abschluss der Konferenz werden Lösungsansätze und Schritte hin zur gemeinsam gewollten Zukunft entwickelt. Wir setzen die Methode Future Search Conference sehr häufig im öffentlichen Bereich, in Schulen und Verbänden ein. Immer dann, wenn die Menschen sozusagen »auf der grünen Wiese« gemeinsam ihre Zukunft planen sollen.

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Abb. 1: Phasen der Future Search Conference

1.1.2 Real Time Strategic Change

Im RTSC werden Top-down-Vorgaben mit Bottom-up-Lösungen zusammengebracht. Aufgrund von Vorgaben der Hierarchie werden gemeinsam Vorstellungen zur Zukunft [21]entwickelt sowie konkrete Maßnahmen für die Umsetzung erarbeitet. Die von Kathleen Dannemiller entwickelte Methode eignet sich für alle Themen der Unternehmensentwicklung sowie für kulturelle und strukturelle Fragen. Ideal ist RTSC für die Ausgestaltung und Weiterentwicklung von unternehmensweiten Neuausrichtungen im Sinne eines strategischen Wandels − und zwar dann, wenn Struktur und Rahmen der Veränderung vorgegeben sind, etwa bei einer Strategieumsetzung, der Umsetzung einer Reorganisation oder einer Leitbildentwicklung.

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Abb. 2: Phasen des Real Time Strategic Change

1.1.3 Open Space Technology

Harrison Owen, der Entdecker von Open Space, hat die Muster der Kaffeepausen zur Grundlage von Open Space gemacht: Ich stehe mit den Menschen zusammen, die mich interessieren, und diskutiere die Themen, die gerade brennen. Wenn mich das Thema am Tisch nicht mehr interessiert, gehe ich weiter und suche neue Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner.

Analog dazu ist die Open Space Technology konzipiert: Im Plenum wird zu Beginn die Tagesordnung entwickelt. Im Rahmen einer Schlüsselfrage bringen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Themen und Fragestellungen ein, die sie mit anderen in einem Workshop bearbeiten möchten. Das Prinzip der Selbstorganisation zeigt sich bei Open Space einerseits darin, dass nur diejenigen Themen diskutiert werden, die einem echten Bedürfnis des Systems entsprechen, und anderseits darin, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer frei sind, ob und wie lange sie sich in einem Workshop einbringen möchten. Wir empfehlen Open Space immer dann, wenn zu einer klaren Fragestellung eine sehr offene Methode gesucht wird, die Energien freisetzen und ein Voneinander-Lernen ermöglichen soll.

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Abb. 3: Phasen der Open Space Technology

1.1.4 World Café

Die von Juanita Brown Ende der 1990er Jahre entwickelte Methode des World Café hat eine einfache Grundstruktur: In drei Phasen werden im Voraus definierte und auf ein Thema abgestimmte Fragen an Tischen in Kleingruppen diskutiert. Anders als heute oft praktiziert diskutieren dabei in allen drei Phasen jeweils alle gleichzeitig dieselbe Frage. Dadurch, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Tisch wechseln, erhalten sie Einblick darin, wie die Frage, die sie vorher mit »ihren« fünf Personen diskutiert haben, von den anderen Tischen diskutiert worden ist. Über die drei Runden à lediglich 20 Minuten verdichten sich die verschiedenen Meinungen eines ganzen Saales so weit, dass zum Schluss die wichtigsten Erkenntnisse von allen Tischen als »Perlen« gesammelt werden und im Plenum präsentiert werden können. Der Austausch in einer Kaffeehaus-Atmosphäre unterstützt die informelle Kommunikation unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern und eignet sich speziell für eine erste Konkretisierung eines Themas sowie zur Unterstützung eines Meinungsbildungsprozesses. Mit dem World Café können »brennende« Fragen beantwortet, Schnittstellen geklärt oder komplexe Entwicklungsprozesse breit abgestützt angeschoben werden.

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Abb. 4: Phasen des World Café