Nina Wels

Eislicht

Das Geheimnis von Troldhule

Für meinen großen Bruder,
den ich sehr vermisse.

Prolog

Eisige Windböen türmten die Wellen des Nordmeeres zu schwarzen Ungeheuern auf, Gischt und Schnee fegten über ihre Kämme und verwirbelten sich zu gespenstischen Wesen. Wie ein Spielzeug wurde das Schiff umhergeworfen. Immer wieder verschwand es in Tälern riesiger Wellen, nur um gleich darauf von Neuem in die Höhe gehoben zu werden.

Hätte es Warnungen gegeben, das Postschiff wäre nicht ausgelaufen. Dem Wetterbericht zufolge war nur mit etwas schwerer See zu rechnen; tatsächlich befanden sie sich im Herzen eines der verheerendsten Stürme der letzten Jahre. Jedes Mal, wenn sie für einen kurzen Moment hoch oben auf einem Wellenkamm fuhren, hielt der Kapitän verzweifelt Ausschau. Nach Land, einem Licht, nach irgendetwas, das Rettung versprach. Doch vergebens, in der Dunkelheit war nichts auszumachen, sosehr er sich auch anstrengte. Ohne Hoffnung ging es zurück, hinab zwischen steile Wasserberge. Ihnen lief die Zeit davon, das Knarzen und Zerren im Stahl klang immer bedrohlicher. Er kannte sein Schiff, lange hielt es der Belastung nicht mehr stand. Wenn er doch nur eine ungefähre Ahnung hätte, wo sie sich befanden. Vor zwei Stunden hatte ein gewaltiger Brecher mit unvorstellbarer Wucht steuerbords ein Fenster aus der Brücke gerissen. Eisige Wassermassen waren eingedrungen und hatten die wichtigsten Instrumente mitsamt der Funkanlage zerstört. Seitdem manövrierte der Kapitän das Schiff blind durch den Sturm. Womöglich fuhren sie im Kreis, oder noch schlimmer, hielten Kurs auf hohe See. Vor wenigen Minuten hatte er Anweisung gegeben, die Rettungsboote vorzubereiten.

Wieder wurden sie emporgehoben und wieder betete er, endlich den rettenden Lichtstrahl eines Leuchtturms zu erblicken. Mit jeder Minute wuchs die Panik in ihm. Plötzlich, am höchsten Punkt der Welle, stutzte er. Da war etwas. Sofort hob er das Fernglas. Tatsächlich: Licht! Doch stammte es nicht von einem Leuchtturm, über den verwirbelnden Schaumkronen leuchteten hunderte blaue Lichter, jedes kaum größer als eine Schneeflocke. Ungläubig lies der Kapitän das Fernglas sinken: die Lichter bewegten sich. Sie kamen dem Schiff entgegen.

Auch über der eingeschneiten Hafenstadt wütete der Sturm. Heulend riss er mit, was nicht im Eis des langen, harten Winters festgefroren war. Doch für die Bewohner von Troldhule gehörten Unwetter zum Alltag. Nur in einem Haus oberhalb des Hafens warf sich ein Junge, von Alpträumen gequält, im Schlaf hin und her. Krachender Donner ließ ihn hochschrecken. Schweißgebadet und verängstigt sah er sich um. Die anderen im Saal schliefen. Er ahnte, es würde dauern bis auch er wieder einschlafen konnte. Das Echo seiner Träume verhallte immer nur langsam. Frierend lauschte er dem Pfeifen und Jaulen des Windes. Es klang wie fernes Rufen, fast so als riefe jemand seinen Namen. Plötzlich, ein grelles Licht und ein heftiger Knall, diesmal musste ein Blitz ganz in der Nähe eingeschlagen sein. Neugierig kletterte er aus dem Bett und ging zum Fenster, von wo er die Stadt überblicken konnte.

Draußen geriet die Welt aus den Fugen. Der Sturm schob hohe Schneewehen vor sich her, mehrere Strommasten waren umgekippt. Unten im Hafenbecken hatten sich Boote losgerissen und schwammen kieloben im Wasser. Wo es eingeschlagen hatte, war nirgends auszumachen. Langsam wanderte der Blick des Jungen von der Stadt hinaus aufs Meer. Eisberge trieben an der Insel vorbei. Ab und zu erleuchteten Blitze den Horizont.

Mehrere Minuten stand er da. Seine Zähne klapperten, so kalt war ihm. Doch zurück ins Bett wollte er nicht, der Sturm hatte ihn in seinen Bann gezogen. Weit draußen über dem Meer entdeckte er sie. Im dichten Treiben der Schneeflocken hätte er sie beinahe übersehen. Ihre Eiskristalle schimmerten in einem bläulichen, unwirklichen Licht. Sie war schön. Wunderschön. Der Junge erschrak. Sie blickte direkt in sein Herz.