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Ursel Nendzig

Renée Schroeder

Alle Moleküle immer in Bewegung

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Inhalt

Renée

Die Leierhof-Bäuerin

Die Auswanderer

Eine Kindheit in Brasilien

Bruck an der Mur

Studentinnenjahre

Wanderjahre

Wunderjahre

Renée und ihr Mangel an Diplomatie

Renée, genetisch

Enkelin, Tochter, Mutter, Oma

Frauenfreundschaften

Ausstieg

VORWORT

Renée

Vor meinem ersten Treffen mit Renée Schroeder nahm ich mir fest vor, »per Sie« mit ihr zu sein und es auch zu bleiben – professionelle Distanz wahren. Ich hielt diesen Vorsatz für ganze zwei Sekunden. Das ist genau die Zeit, die es braucht, um die wenigen Meter vom Aufzug zu ihrer Wohnungstür zurückzulegen, drei oder vier Schritte. Dann war die Distanz mit der Wärme des Händedrucks zusammengeschmolzen, den Universitätsprofessorin Dr.in Schroeder mir gab, zusammen mit einem Lachen und der Begrüßung: »Ich bin die Renée, sagen wir Du.«

Schwer zu sagen, was genau ich mir von dieser Distanz erwartete, die ich da unbedingt wahren wollte; jedenfalls gab es sie nicht. Mit einer solchen Offenheit hat mich selten jemand – und mit Sicherheit keine Wissenschaftlerin und kein Wissenschaftler ihres Kalibers – an ihrem oder seinem Leben teilhaben lassen, von der ersten Begegnung weg, zwischen dem Aufzug und der Türe zu ihrer Wohnung am Wiener Rudolfsplatz.

Dieser ersten Begegnung folgten viele weitere. Wir erarbeiteten Stück für Stück ein Buch, »Die Henne und das Ei«, dessen Inhalt Renée Schroeders Weltbild ist. Im Zuge dieser Arbeit lernte ich viel. Ich bekam nicht nur eine Auffrischung in den Grundlagen der Chemie, sondern lernte auch das:

Nichts ist so kompliziert, dass man es nicht durch langes Nachfragen und Denken irgendwann verstehen kann.

Wahre Größe ist nicht daran zu messen, wie groß der Schreibtisch ist oder wie edel das Büro. Und auch nicht daran, was man hat, sondern an dem, was man gibt.

Eine Wissenslücke zu offenbaren, ist das Gegenteil von Schwäche.

Meine Wissenslücken in Chemie waren gewaltig. DNA, das bekam ich gerade noch auf die Reihe; worin sie sich aber von der RNA unterscheidet, da war es schon aus. Was Epigenetik genau ist, da musste ich ebenfalls passen, und mit den Hauptsätzen der Thermodynamik war es das Gleiche. Ich denke, ich selbst hätte mich mit einem Buch über die Grundlagen der Chemie weggeschickt und wiederbestellt, wenn ein vernünftiges Gespräch über die elementaren Bausteine der Chemie möglich gewesen wäre. Sie behielt mich da, nahm mich an der Hand und zeigte mir ihre Welt.

Es begann eine faszinierende Reise. Die Welt aus der Perspektive einer Chemikerin zu sehen, war für mich völlig neu. Da waren keine unerklärbaren Erscheinungen mehr, keine übernatürlichen Fähigkeiten, keine göttlichen Funken. Da waren Fakten, Studien, Phänomene, Experimente, Forschungsergebnisse. Da waren so klare Gedanken, so einfache Erklärungen. Und eine so unerschütterliche Haltung.

Renée, die Feministin, die Atheistin, die »Quotenfrau« in der Männerdomäne: Diese Rollen erfüllt sie alle mit der Sicherheit, die nur eine klare Überzeugung mit sich bringt; das Wissen darum, mit seiner Meinung auf einem soliden Fundament zu stehen; nicht zu wanken und sich nicht mit dem nächstbesten Wind zu drehen. Dabei aber – und das scheint mir die hohe Kunst – nicht blind und taub für die Überzeugungen anderer zu sein. Sondern hinzusehen, zu hinterfragen: Woher kommt die Ansicht meines Gegenübers? Anzuerkennen, zu akzeptieren: Vielleicht hilft jemandem der Glaube an eine Himmelsmacht – und solange er damit niemandem schadet, wieso nicht?

Mit dem Entstehen des ersten gemeinsamen Buches veränderte sich meine gesamte Wahrnehmung. Es mag übertrieben klingen, aber so fühlte es sich an: wie eine Erweckung. Ich, die erwachsene Frau, begann zu denken. Ich verlor die Scheu davor, mir eigene Gedanken zu machen. Und mir wurde bewusst, wie wenig ich die Dinge um mich herum bisher hinterfragt hatte.

Bei jeder Lesung, die wir zusammen mit unserem inzwischen fertigen Buch hielten, beobachtete ich, wie es den Menschen im Publikum genauso erging wie mir. Das Licht, das ihnen aufging, schien greifbar zu sein. Es war unglaublich faszinierend, die veränderten Gesichtsausdrücke zu sehen; das Glück, das sich ausbreitete, war tatsächlich sichtbar. Ich kannte das: Es ist unglaublich beglückend, etwas zu verstehen.

Dieses Glück, das wurde mir nach und nach klar, ist, was Renée seit ihrer Kindheit antreibt. Von Anfang an waren da so viele Fragen, die sie beantworten wollte: woher wir kommen, der Ursprung des Lebens, wie das alles entstehen konnte, wie genau etwas funktioniert. Nicht »so ungefähr«, sondern ganz genau. Sie machte sich auf die Suche nach Antworten, die doch irgendwo da drin versteckt sein mussten. Und dann war das Glück da, die pure Freude, wenn sie eine Antwort bekam. Es muss sich wie ein Rausch angefühlt haben, denke ich mir. Und ein bisschen konnte ich ihn auch spüren. Wozu nun dieses Buch?

Nachdem wir drei Bücher zusammen veröffentlicht hatten, reifte die Idee, Renées Biografie niederzuschreiben. Ihre erste Frage: »Wozu? Was gibt es da schon zu erzählen, das jemanden interessieren könnte?«

Die Antwort auf diese Frage ist klar: Sehr viel! Renées Biografie steckt voller Details, die ungewöhnlich sind. Ihr selbst mögen diese Besonderheiten völlig normal vorkommen, das liegt wohl in der Natur der Sache. Gleichzeitig ist ihr Lebenslauf aber nicht so wunderlich, als dass man sich nicht an vielen Stellen selbst wiederfinden und Anknüpfungspunkte für sein eigenes Leben ausmachen könnte. Ein Lebenslauf, der ein Vorbild sein kann: sich eine eigene Meinung zu bilden; für seine Ideale einzustehen; weiterzudenken; stark zu bleiben; davon überzeugt zu sein, dass man Großes erreichen und bewirken kann – auch wenn der Gegner übermächtig erscheint; auch wenn man sich als Frau in einer Männerdomäne wiederfindet; auch wenn man in ein fremdes Land kommt; auch wenn man Widerstand spürt. Wobei: Was heißt »auch«? Gerade dann!

Ihre zweite Frage: »Jetzt schon? Aber mein Leben fängt doch grade erst richtig an!«

Renées Pensionsantritt war der Aufhänger für dieses Buch. Es war faszinierend, zu sehen, wie eine Vollblutforscherin ihre Wissenschaft hinter sich lässt, Platz macht für die nächste Generation und sich voller Neugier dem Neuen zuwendet. Die Art und Weise, wie sie diesen Schritt plante, lässt sich in der Art und Weise verorten, wie sie denkt – wie weit nämlich. Und das wiederum lässt sich in ihrer Biografie verorten, in ihrem Lebenslauf, in dem sie niemals als stille Beobachterin am Rand stand, sondern immer mittendrin – sich stark machend für die Schwachen, kämpfend für Rechte, unorthodoxe Gedanken denkend und vor allem das: immer in Bewegung.

Diese Biografie ist aus der nicht vorhandenen Distanz geschrieben, aus direkter Nähe. Sie ist sicher nicht objektiv, aber was ist das schon. Es ist ein Buch, das inspirieren soll, vor allem Frauen, aber natürlich nicht nur, und zwar so, wie mich Renée inspiriert hat: zu hinterfragen, weiterzudenken, die Freude am Wissen zu spüren, den Spaß an der Arbeit – und keine Angst vor fehlender Distanz zu haben.

Ursel Nendzig

Wien, Juni 2019

Verseifung

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Fett besteht aus Glyzerin und drei verschiedenen Fettsäuren, die Fettsäuren wurden zu Fett verestert.

Verseifung ist die Gegenreaktion: Die Ester werden mit Natronlauge (oder Kalilauge) gespalten. Fett wird dabei in Glyzerin und die Alkalisalze der Fettsäuren zerlegt.

Es entsteht Seife.

Zwei Stoffe reagieren miteinander. Etwas Neues entsteht.

Verseifung ist irreversibel.

KAPITEL 1

Die Leierhof-Bäuerin

Wenn man von Wien aus die Westautobahn nimmt, bei Regau abfährt, Richtung Gmunden, dann sind es nur noch ein paar Kurven, unter einer Straßenbrücke durch, und dann sieht man den Traunsee. Wie er ganz ruhig daliegt, in der Morgensonne, samtig, frisch, grün-blau, und hinter ihm ragen schroffe, spitze Felsen auf.

Hier passiert das, was Renée den »Switch« nennt. Sie öffnet das Autofenster, atmet tief ein und kippt von der Wiener Welt in die Bergwelt. Ab hier wird es schöner, wilder, einsamer. Kühe grasen am Straßenrand, bunte Blumenwiesen, dann die Einfahrt in die Weißenbachklamm, die Zufahrt zur Postalm. Eine Schlucht, die jetzt endgültig den Beginn dieser anderen Welt markiert, raue Felsen, ein springendes Bächlein neben der kurvigen Straße, die sich hoch- und höherschraubt. Klares Wasser, das über eine steinerne Kante fällt; Luft, die durch die Fenster hineinströmt.

Kurve um Kurve rückt der Himmel näher, die Berggipfel kommen langsam auf Augenhöhe, die Wiesen verändern sich, werden spröder. »1000 Meter Seehöhe« steht geschrieben, jetzt ist es nicht mehr weit. Die Abzweigung Richtung Abtenau führt von der oberösterreichischen auf die Salzburger Seite der Postalm; ein untätiger Skilift, steinige Wiesen, Kühe. Nach einer Kurve schiebt sich von links der Dachstein ins Bild, dieser majestätische Berg, schneebedeckt. Und unten im Tal ist Abtenau. Das Panorama ist atemberaubend – diese Weite, diese Höhe, diese Farben. Noch ein Stück die Postalmstraße entlang, beim Mauthäuschen vorbei, dann rechts. Und dann: das Haus.

Ach, ich liebe es so sehr.

Sieben Jahre ist es jetzt her, dass Renée diesen Weg zum ersten Mal gefahren ist. Damals ohne zu ahnen, dass es der Weg sein würde, den sie später, als Leierhof-Bäuerin, viele, viele Male fahren wird.

Die ganze Geschichte beginnt aber noch früher, vor vielen Jahren, als Renées Mutter Teile vom alten Bauernhof der Familie, dem Fischerhof in Luxemburg, verkauft hatte und dieses Geld an ihre Enkelsöhne – Renées Kinder Fabian und Constantin – verschenkte: Sie sollten sich eine Wohnung darum kaufen. Die beiden hatten aber andere Pläne. Wollten eine Hütte erwerben, wo sie mit ihren Familien einmal die Ferien verbringen würden. Zwei Jahre lang suchten Fabian und Constantin nach einer Hütte am See oder irgendetwas Vergleichbarem, ohne klare Vorstellung, suchten »es«. Gemeinsam schauten sich die Brüder alle möglichen und unmöglichen Immobilien an: alte Bauernhöfe bei Murau und Tamsweg, eine alte Jugendherberge ganz hier in der Nähe, in Ebensee, ein riesiges altes Haus war das, mit Bootshaus, direkt am See. Toll, aber irgendwie doch eine Nummer zu groß. Immer hat etwas gefehlt oder war etwas zu viel.

Ich bin im Taxi gesessen vom New Yorker Flughafen JFK nach Manhattan, als ich einen Anruf auf dem Handy bekomme, der Fabian war dran: »Du Mama, ich hab es!« – »Was hast du?« – »Ich hab ihn gefunden, den Traumort. Aber …« – »Aber?« – »Aber es ist für Constantin und mich eine Nummer zu groß. Ohne dich geht es nicht.« – »Okay, ich schau es mir an.«

Als ich wieder in Österreich war, bin ich gleich mit ihm nach Abtenau gefahren und wir haben uns den Leierhof angeschaut. Der Fabian hatte einen Picknickkorb dabei. Wir haben uns auf die Wiese gesetzt und die Gegend auf uns wirken lassen. Es war atemberaubend. Diese Aussicht. Diese Wildheit. Kaum sind wir gesessen mit unserem Picknick, kam ein riesiger Vogel geflogen, direkt an meinem Kopf vorbei, und wollte an unser Essen. Ich weiß nicht, was es für ein Vogel war, es ging so schnell, jedenfalls ein Greifvogel. Okay, dachte ich, Hühner kann man hier nicht halten, die sind in kürzester Zeit weg. Aber wie wir dort gesessen sind, hab ich mir gedacht: Genau. Das ist es. So wird aus dem Fischerhof in Luxemburg der Leierhof in Abtenau.

Als sie damals mit ihrem Sohn auf der Wiese saß, wusste Renée natürlich noch nichts von den Schwierigkeiten, die es geben würde. Und das war vermutlich auch gut so. Zuerst unternahmen die beiden einen Rundgang. 33 Hektar umfasst der Grund, davon 13 Hektar Wald, viele steile Wiesen. Ein altes Bauernhaus stand unten, an der Postalmstraße, verfallen, daneben der Stall, zusammengebrochen. Der Wald war ungepflegt, die Wiesen verwildert. Trotzdem fassten sie den Beschluss: Gut, wir machen es, wir gehen zum Notar und machen alles klar!

Der Hof hatte Peter Wallinger gehört, einem unverheirateten Eigenbrötler, der schon vor drei Jahren verstorben war. Er stammte aus einer großen Bergbauernfamilie, hatte neun Geschwister, die jüngste Schwester lernte Renée noch kennen, sie kommt manchmal auf Besuch. Vor seinem Tod war Peter Wallinger noch zwei Jahre im Altersheim. In dieser Zeit kümmerte sich niemand um den Hof. Das Haus war in einem desolaten Zustand. Er hatte wohl allein hier gelebt, aber mit vielen Katzen, und, nachdem der Stall zusammengebrochen war, auch mit den Kühen unter einem Dach. Er hatte sie einfach in sein Haus gelassen.

Als Renée und ihre Söhne das Haus zum ersten Mal betraten, waren sie ob der Verwüstung geschockt. Im Kühlschrank war noch Essen, auf dem Boden lagen Katzenfutterdosen, volle und leere, Papier überall. Peter Wallinger hatte nichts mehr weggeräumt, nur ein Zimmer bewohnt und die übrigen als Müllhalde verwendet. Weil hier heroben keine Müllabfuhr kommt, hatte er angefangen, den Müll auch auf die Wiesen zu schmeißen (was ein Problem wurde, weil man händisch den ganzen Müll, den Schutt, die Steine und Eisenteile wegtragen musste, um mit dem Traktor mähen zu können).

Sie fanden Unmengen ungeöffneter Briefe, die meisten von Behörden. Vermutlich war er Analphabet gewesen. Ein Einsiedler, ein Messie, nie verheiratet, keine Kinder. Im Zuge der Aufräumarbeiten legten Renée, Fabian und Constantin sein Leben frei, Schicht für Schicht. Durch die Dinge, die sie fanden, aber auch durch die Erzählungen der umliegenden Bauern: »Ah, der Wallinger, dem hab ich Katzenfutter gebracht.« Und bei den Behörden: »Ah, der Wallinger, der hat nie einen Brief beantwortet.« Dass er ein unzugänglicher Mensch gewesen sei. Dass er angefangen habe, ein Haus neben seinem eigenen zu bauen, Gästezimmer, das Projekt aber fallen ließ, weil er irgendwas falsch verstanden hatte, dachte, dass er etwas zahlen müsse für die Gäste und nicht umgekehrt. Dass er kein sozialisierter Mensch gewesen sei. Was auch nachvollziehbar ist, wenn man auf 1100 Metern allein lebt. Bevor es die Postalmstraße gab, sei er im Winter gar nicht ins Tal gekommen. Und hier heroben kommt keine Post, keine Müllabfuhr, kein Laster, der die Milch abholt.

Wohl gab es Erben, fünf Leute, die zerstritten waren und verkaufen wollten. Gemeinsam hätten sie ohnehin nichts mit dem Gelände anfangen können, das viel zu steil ist, um es auf einfache Weise zu bewirtschaften.

Beim Notar wurden die ersten Hürden erkennbar. Bevor das Grundstück – landwirtschaftliche Nutzfläche – überhaupt verkauft werden konnte, musste es sechs Wochen lang ausgeschrieben werden. Obwohl Renée und ihre Söhne schon den Kaufvertrag hatten und das Geld auch bereits bezahlt war, mussten sie sechs Wochen warten, um zu sehen, ob ein Bauer es haben wollte. Schließlich die Nachricht von der Grundkommission: Es habe sich zwar niemand anderer gemeldet, aber … Aber das Land des Leierhofes sei nun einmal landwirtschaftlich gewidmete Fläche, was bedeutet: Nur Bauern dürfen es besitzen. Ein Problem, für das es zwei mögliche Lösungen gab: erstens, einen Bauern zu finden, der das Land in ihrem Namen übernimmt. Oder zweitens, selbst Landwirte werden.

Da war uns natürlich klar: Wir werden selber Landwirte.

Von Oktober 2011 bis Mai 2012 drückten Renée und ihr Sohn Fabian die Bank der Landwirtschaftlichen Fachschule in Hollabrunn, Niederösterreich. Eine mühsame Angelegenheit neben ihrer Professur an der Universität und all den Vorträgen, Projekten und Verpflichtungen in Renées Berufsleben. Angelegt ist die »Bauern- und Bäuerinnenschule« als berufsbegleitende Ausbildung für Personen, die bereits einen Beruf haben und im Nebenerwerb Landwirt oder Weinbauer werden wollen. Jeden Montag und Mittwoch von 18 bis 22 Uhr und jeden Samstag von 8 bis 16 Uhr, 16 Stunden die Woche: Das war das Pensum, das zwei Semester lang absolviert werden musste.

Es war anstrengend. Aber auch spannend. Renée und Fabian lernten Nutztierhaltung, Obstbau, landwirtschaftliche Betriebsführung, Pflanzenbau. Acht Monate, dann die Prüfung im Mai, die beide bestanden. Das Zeugnis wurde der Grundkommission zugeschickt. Die erste Hürde war genommen.

Und dann die große Frage: Was jetzt? Sollte man das alte Bauernhaus renovieren? Oder abreißen und neu bauen? Fast drei Jahre lang versuchten Renée, Fabian und Constantin zusammen mit einem jungen Architekten, Maximilian Eisenköck, zu ergründen, was sie denn eigentlich wollten. Renée wollte nie ein Haus bauen. Keiner der drei hatte Erfahrung. Gemeinsam überlegten sie eingehend: Welches Haus möchten wir haben? Was ist sinnvoll hier heroben? Was muss das Haus können? Welchen äußeren Einflüssen wird es trotzen müssen – Wind, Schnee, Höhensonne? Was darf es kosten? Und wie soll es überhaupt ausschauen? Es kristallisierten sich ein paar Eckpunkte heraus, etwa dass nur Material aus der Gegend verbaut werden sollte, Holz, Steine, auch nur von Handwerkern aus der Region.

Der Architekt machte Entwürfe über Entwürfe, ganz unterschiedliche, über denen die drei stundenlang brüteten, bis sie sagten: Ja, so wird es jetzt!

2015 haben wir begonnen zu bauen. Davor mussten wir aber eine Baugenehmigung einholen und sind zum Bürgermeister von Abtenau. Der Plan war wunderschön ausgearbeitet. Der Bürgermeister sagte: »Nein.« So etwas hat er noch nie gesehen. So etwas gibt es in ganz Salzburg nicht. Und deshalb wird es das auch nie geben. Wir sollten, sagte er, ein Haus, das es irgendwo in Salzburg bereits gibt, aussuchen und dann das Gleiche nachbauen. Das sagt viel aus über seine Mentalität. Er war zwanzig Jahre lang Bürgermeister, und es ist kein Wunder, dass in Abtenau in dieser Zeit nicht sehr viel weitergegangen ist, dass dort wenig passiert ist.

Uns blieb nichts anderes übrig als abzuwarten, weil wir schon wussten, dass im März 2015 die nächsten Bürgermeisterwahlen stattfinden würden, und wir hofften, dass er abgewählt wird. Und genau das ist passiert. Sein Nachfolger, Johann Schnitzhofer, ist wirklich super. Erstens ist er auch im Landtag, also einer, der einen gewissen Weitblick hat. Und zweitens hat er auch Kühe auf der Postalm, eine Almhütte, macht Käse, ist also zugleich sehr mit der Region verbunden. Ein echt cooler Typ. Jedenfalls war er begeistert von unseren Plänen und dem Konzept, das modern, aber auch regional und nachhaltig ist, und er hat uns die Bauerlaubnis gegeben. Im Sommer 2015 konnten wir anfangen zu bauen.

Zu diesem Zeitpunkt stand der alte, zerfallene Hof von Peter Wallinger noch. Unten, direkt an einer Kehre der Postalmstraße, die den Leierhof-Grund talseitig begrenzt. Zwei Hofstellen auf einem Grund, das darf nicht sein. Die Auflagen waren streng, deshalb musste zuerst das alte Haus abgerissen werden. Innerhalb von nur zwei Wochen trugen Renées Söhne zusammen mit Freunden und einem Bagger den Hof ab. Übrig blieb ein Container, in dem wertvolles Holz eingelagert wurde. Gewohnt haben sie in der Phase des Baus in einem Hochstall, noch oberhalb des Leierhofes, mit Plumpsklo und ohne fließendes Wasser. Eine tolle Zeit war das, sagt Renée.

Abgesehen vom Bau des Hauses gab es noch andere Hürden. Die Straße zum Beispiel: Weil das neue Haus nicht direkt an der Postalmstraße gebaut werden sollte, sondern ein paar Hundert Meter weiter oben, musste eine neue Zufahrt gebaut werden, und zwar vor der Mautstelle, damit Feuerwehr und Krankenwagen ungehindert zufahren können. Das machte die Sache um einiges komplizierter – sie konnten keine gerade Zufahrt bauen, sondern nur eine kurvenreiche, längere.

Die Nachbarn haben auf die Professorin aus Wien und ihre Söhne ganz offen reagiert. Da ist zum Beispiel der Schafbauer Hans, ein Neffe von Peter Wallinger und auch einer der Erben. Seine Schafe weiden auf den Leierhof-Wiesen, dafür mäht er einen Teil der Wiesen, um Futter für seine Tiere zu bekommen. Er hat Renée, Fabian und Constantin viel gezeigt und erzählt, Geschichten vom alten Leierhof, ist mit ihnen durchs Haus, hat geholfen, es auszuräumen. Viele alte Dinge schenkten sie ihm, Fotos, Briefe aus der Kriegszeit von seinen Onkeln, die gefallen sind.

Hias, der Zopfbauer, ist auch einer der Nachbarn. Er hat, sagt Renée, die sagenhafte Bauernschläue und gleich gemerkt, dass es gut ist, sich mit den Neuen zusammenzutun. Er hat den neuen Leierhöflern sehr viel geholfen und ihnen erklärt, wie die Welt da oben funktioniert. Etwa, dass die Leute nach dem Hof geheißen werden, dem Vulgonamen. Der Hias hat auch mit dem Strom geholfen: Die Stromleitungen waren nämlich in einem schlechten Zustand, viel zu niedrige Masten, sodass der Strom oft ausgefallen ist. Fabian hob mit Hias und noch zwei benachbarten Bauern, Georg und Hans, drei Tage lang einen Graben aus, 1300 Meter den Hang entlang, damit die Stromleitungen in die Erde gelegt werden konnten. Die Strommasten waren Geschichte, und ein Jahr danach war ein Motorradunfall – keine Seltenheit, es fahren viele Motorräder auf der Postalmstraße, wegen der Kurven. Ein Helikopter musste kommen. Hätte es noch die Strommasten gegeben, hätte er nicht landen können.

Wasser gab es auch nicht genug oben, wo der neue Leierhof entstehen sollte. Ein Brunnen musste gegraben werden. Renée, die Wissenschaftlerin, ließ sich widerwillig auf einen von den Bauern empfohlenen, ortsbekannten Wünschelrutengeher ein, der Wasseradern aufspüren kann. Der kam und ging die ganze Fläche ab, bis er einen Platz fand und sagte: »Da, ungefähr zehn Meter tief, gibt es zehn bis fünfzehn Kubikmeter Wasser pro Tag.« Es wurde ein zehn Meter tiefes Loch gegraben – was nicht gerade wenig ist –, und tatsächlich gab es dort eine Quelle. Das Wasser musste natürlich getestet werden, Gutachten, Formulare … Jedenfalls ist es sehr gutes Trinkwasser, das heute aus dem Brunnen vollautomatisch in die Leitungen gepumpt wird.

Hürden dieser Art gab es einige: größere wie die Bauernprüfung, Straßen, Brunnen und Elektrizität; kleinere wie die Gründung einer Genossenschaft zum Bau einer Forststraße. Fünf Jahre, vom Kauf bis zum Einzug. Das ist eine Zeit, in der einem schon mal der Atem ausgehen kann. Vor allem solange nicht sicher ist, ob es am Ende wirklich funktioniert.

Wenn wir von Anfang an gewusst hätten, so und so viel Dinge müssen wir machen, und teilweise so aufwendige, dann hätten wir es vielleicht gelassen. Aber ich bin richtig froh, dass wir es gemacht haben. Deshalb ist es gut, wenn man nicht alles plant. Wenn man weiß, welche Schwierigkeiten auf einen zukommen, bekommt man Angst vor den Dingen. Meine Mutter ist so, sie sagt immer: »Mach das nicht, es ist ein Risiko, es kann so viel passieren.« Ich denke da anders. Man soll die Dinge einfach angehen, und wenn Probleme auftauchen, dann löst man sie. Die meisten Probleme sind ja lösbar, wenn man genau schaut. Es gibt wirklich wenige unlösbare Probleme.

Im Mai 2016 übernachteten Renée und ihre Söhne zum ersten Mal auf dem Hof, noch mit Baugerüst und allem. In der Zwischenzeit hatte sich auch herauskristallisiert, wie es mit dem Leierhof weitergehen würde. Die Vorschrift verlangt, dass ein Landwirt oder eine Landwirtin hauptwohnsitzlich dort gemeldet sein muss. Irgendwann im Lauf dieser fünf Jahre reifte nicht nur der neue Leierhof, sondern auch der Entschluss: Renée würde mit ihrem Pensionsantritt im Herbst 2018 dort hinziehen.

Mit diesem Entschluss kam auch die Frage: Was tun? Über diesen Punkt dachte Renée oft und lange nach. Was würde sie tun, alleine hier heroben, womit würde sie sich beschäftigen, was würde ihre Betätigung werden? Bei einem Spaziergang durch die Wiesen begegnete sie einem alten Mann, dem Vater von Nachbarbauer Hias. Er sprach sie an. Ob er Kräuter sammeln dürfe, weil die Wiesen des Leierhofes die einzigen seien, die seit Jahren nicht gemäht worden waren. Auf diesen wilden Wiesen sei unheimlich viel gewachsen, und ob er sich hier bedienen dürfe. »Selbstverständlich«, sagte Renée – aber nur unter einer Bedingung, nämlich: dass er ihr sage, was er sammle und wofür.

So entdeckte Renée die Schafgarbe. Hias senior sammelt diese weiß blühende Pflanze und macht daraus einen Alkoholextrakt. Damit putzt er sich die Zähne, gurgelt, es ist seine Medizin für alles. Renée recherchierte über die Schafgarbe und stolperte über einen Spruch: Die Schafgarbe ist eine ganze Apotheke in einer einzigen Pflanze. Weil sie entzündungshemmend ist, antibakteriell. So begann sie, Schafgarben zu sammeln, sie mit nach Wien zu nehmen und Öl- und Alkoholextrakte daraus anzufertigen.

Nach und nach entdeckte sie weitere Wildpflanzen. Hias senior und ein Kräuterguru namens Hans Burgstaller, der auf der Postalm lebt, zeigten ihr einiges. Sie erfuhr von den Pflanzen, die hier heimisch sind, sie entdeckte Johanniskraut und Gundermann, Zinnkraut und Fichtenwipfel.

Renée wusste: Das ist es. Die Idee für ihre Zeit, wenn sie das ganze Jahr hier heroben leben würde und nicht nur hin und wieder ein paar Tage. Sie würde sich ein Labor einrichten und bergphilosophierende Kräuterhexe werden. Kühe, Schafe, Wild – das alles war ihr eine Nummer zu groß. Sie wollte auch nicht rund um die Uhr an den Hof gebunden sein. Ihr Gedanke war: Was es wenig gibt hier heroben, sind Frauen. Viele Männer sind allein. Aber keine Frauen. Und vielleicht sind die Wildkräuter der Weg, auf dem sich die Frauen die Berge erobern können.

Deshalb besteht der neue Leierhof auch aus zwei Gebäuden. Eines davon ist das Haus, das 2016 fertig wurde. Ein Holzhaus mit schwarz geflämmten Fichtenbrettern als Fassade und großen Fensterflächen – ein uriges Haus und dann aber doch wieder nicht. Modernste Architektur, aber sich so harmonisch an die Umgebung anschmiegend, dass es wirkt, als wäre es schon immer da gewesen. So thront es, aber bescheiden, über dem Ort Abtenau, gibt durch die großen Fenster rundum den Blick frei, vom Dachstein bis nach Bayern rüber, sodass man die unterschiedlichsten Wetterverhältnisse auf einmal sehen kann: Dort hängen schwarze Wolken, da scheint die Sonne, und dahinter hängt der Nebel zwischen den Berggipfeln. Im Inneren ist alles aus unbehandeltem Fichtenholz, die Böden, die Wände, die Decke, die Stiegen, die Türen. Es duftet so köstlich nach Holz, es ist warm und heimelig, einfach, aber komfortabel eingerichtet. Es gibt schöne, große Badewannen und kuschelige Betten, einen Schreibtisch, der den Blick auf den Dachstein freigibt, und eine Küche, in der Renée, ihre Söhne, die Schwiegertöchter und die mittlerweile fünf Enkeltöchter und -söhne gemütlich Platz haben. Constantin hat einen mächtigen Esstisch gebaut. Aus einer alten Mehltruhe, die früher im alten Leierhof stand.

Hinter diesem Haus versteckt sich Renées Labor. Versteckt, weil es in den Berg hineingebaut wurde. Ein großzügiger Raum mit langen Werkbänken an der Wand, einem Oberlicht, Regalen, in denen getrocknete Blüten und Blätter in Gläsern aufbewahrt werden. Hier ist der Arbeitsplatz der neuen Kräuterhexe, hier zupft sie die Pflanzen, die sie auf den umliegenden Wiesen gesammelt hat, breitet sie auf Küchenpapier aus, um sie zu trocknen, und setzt sie zu Ölen oder Tinkturen an, macht Salben, Tees und Seifen.

Seither entdeckt sie die Landschaft noch einmal, jetzt auf Pflanzenhöhe. Sie liest und recherchiert über die Pflanzen, etwa über den Gundermann, diese unscheinbare, niedrige, blassviolett blühende Pflanze, die nicht nur eine Heilpflanze ist – schleimlösend –, sondern früher anstelle von Hopfen auch zur Biererzeugung benutzt wurde. Bis das Reinheitsgebot kam. Renée und ihre Söhne wollen natürlich wieder Bier brauen, Gundermann-Bier. Und es dann gegen Milch eintauschen.

Der Unterschied zwischen dem Leben am Hof und dem Leben in der Stadt ist nicht nur die Ruhe. Auch der Umgang der Menschen miteinander. Alle sagen, dass die Bauern so verschlossen seien. Es ist das genaue Gegenteil! Nichts bleibt anonym, alle kennen einander. Unser Hof ist von überall sichtbar, alle waren neugierig, was da jetzt gebaut wurde und passiert. Es ist kaum zu vergleichen. Ein ganz anderes Lebensgefühl. Ich fühle mich hier anders. Ich habe immer gesagt, ich bin ein Stadtmensch. Das stimmt wirklich nicht mehr.

Eisen

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Eisenoxid wird zu reinem Eisen reduziert.

Das Eisenerz in der Gegend von João Monlevade, dem Bergbauherz Brasiliens, ist sehr hochwertig.

Hämatit ist die häufigste natürlich vorkommende Modifikation des Eisen(III)-oxids Fe2O3.

Er wird auch Blutstein genannt.

Die Erde rund um João Monlevade ist rotbraun.

KAPITEL 2

Die Auswanderer

Ich habe mich jahrelang überhaupt nicht für meine Herkunft interessiert. Ich dachte mir: Wieso sollte ich mich damit beschäftigen? Mich interessiert viel mehr die Zukunft. Aber meine Mutter ist jetzt 96, und die Gespräche, die wir führen, kreisen immer mehr um die Vergangenheit. Es beginnt mich zu interessieren. Ich merke, es ist doch wichtig.