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Daria Wilke

Die
Hyazinthenstimme

Roman

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Die Personen und die Handlung des Romans sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder Personen wären rein zufällig.

© 2019 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Jessica Beer

978 3 7017 4612 5

978 3 7017 1720 0

»… die Regel aller Regeln ist – die Götter zu kennen,
von denen du abstammst. Caffarelli, Nikolino, Senesino,
Farinelli und andere musst du wie dich selbst lieben.
Weil du auch ein Heiliges Ungeheuer bist, weil du zum
dritten Geschlecht, zu den Kastraten gehörst
.

Die Regel aller Regeln ist – nie zu vergessen,
dass die Heiligen Ungeheuer göttlich gewesen sind.
Dass sie zugleich begehrenswert und verhasst waren.
Dass man träumte, sie einmal hören zu dürfen,
Musik nur für sie allein schrieb und in Ohnmacht fiel,
wenn sie ihre Gesangskunst vorführten
.

Die Regel aller Regeln ist, zu wissen, dass es Menschen
waren, die zwei Jahrhunderte lang Kastratensänger
für Bühne und Kirche mit dem Messer erzeugten.
Und sie dann unbarmherzig verbannt und verboten haben.
Und dass das Haus Settecento der Welt die Engelsstimmen
zurückgibt, damit sie den Menschen Schönheit beibringen.«

AUS DEM REGELBUCH DES HAUSES SETTECENTO

Inhalt

Steiermark

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Wien

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

[Epilog]

Über den Autor

Steiermark

»… bis jetzt hat er nichts frey gehabt, als seine Gedanken«

PIETRO METASTASIO, »DIE UNBEWOHNTE INSEL«

I.

»Homunkulus, Golem, Farinelli, Carestini, Caffarelli, Bernacchi und du«, ein ausgetrockneter und spitzer Finger, wie von einem Skelett, stößt in die Kinderbrust. Noch etwas weiter – und er würde sie durchbohren.

»Aber nein! Eben kein Farinelli!«, ruft der Sopranschlüssel aus, »bestenfalls Alessandro Moreschi!«

Und fährt unvermittelt ruhig fort: »Wenn du es weiter so treibst.«

Alle lachen. Die ganze Klasse. Der Bub mit den braunen Locken und den langen Mädchenwimpern mustert die eigenen Schuhspitzen. Seine Ohren werden langsam rot. Ihm geht es genauso wie mir damals, als ich so jung war, wie er jetzt ist, mit allen in den Unterricht ging und vom Sopranschlüssel gedemütigt wurde – vor aller Augen.

Alessandro Moreschi – das ist beleidigend. Und unfair. Der Typ konnte nicht ordentlich singen – wie ein gekränkter Kater sang er, Alessandro Moreschi, der letzte Kastrat aus der Sixtinischen Kapelle in Rom. Der Kleine singt besser.

Manchmal denke ich, der Sopranschlüssel ist verrückt. Er sieht aus wie ein Verrückter, mit seinem winzigen, braunen Kopf wie eine trockene Walnuss, mit seiner riesigen, fast weiblichen Brust und den dünnen, knochigen Händen. Ein Reptil, eine Amphibie, kein Mensch. Dann schaue ich in seine kalten, unwirklich blauen Augen, die viel jünger als er selbst wirken, und verstehe: Er ist nicht verrückt. Er weiß einfach etwas, was wir alle hier noch nicht begreifen können.

»Dieser alte Kastrat«, sagt Nina über den Sopranschlüssel abschätzig, und verzieht den Mund so, dass ihre dünnen Lippen noch dünner werden. Sie sagt das und mich sticht es irgendwo in der Mitte – scharf und schmerzhaft. Es tut weh, wenn sie so über ihn spricht. Es fühlt sich an, als würde sie auch mich damit meinen. Und mir bis ans Ende der Zeit vorwerfen, dass sie die Schwester eines Kastratensängers sein muss.

Man nennt uns hier Sopranisten oder Sänger. Der Sopranschlüssel sagt sogar nach der alten Manier Musico. Wenn manche von uns mit Erfolg auftreten, werden sie zu einem Primo Uomo. Aber das ist alles nur schöne Fassade. Nina hat recht – in Wirklichkeit sind wir einfach Kastraten.

Sie hat gut reden.

Sie ist keine von uns.

Sie ist kein Golem.

»Noch einmal, Vincent«, befiehlt der Sopranschlüssel dem Kleinen. Dann bemerkt er, dass ich in der Tür stehe, und seine Augen glänzen plötzlich und gefährlich auf, wie scharfe Klingen.

»Oh, Matteo«, sagt er betont freundlich, so freundlich, dass es künstlich klingt, »du kommst gerade recht!«

Er dreht sich zu den Kleinen: »Jetzt singt uns Matteo vor und ihr hört, wie es klingen muss, ihr Nichtsnutze.«

In diesem Moment hasse ich ihn von ganzem Herzen. Am liebsten würde ich demonstrativ schweigen, aber das Tier lässt es nicht zu. Das Tier liebt den Sopranschlüssel.

Es ist nämlich so: In mir lebt ein Zweiter.

Drinnen, in der Mitte.

Seitdem ich ernsthaft singe, kenne ich ihn. Er war immer da, aber er ist erst gewachsen und hat sich genug Raum in mir genommen, als ich genug geübt habe. Er ist ein großes Tier, muskulös und warm – manchmal sogar heiß, unmöglich schwül und brennend, so heiß, dass ich ihn nicht mehr in mir drinnen verstecken kann, sondern herauslassen muss. Heraus und singen lassen.

Das Tier hat kein Gesicht. Oder besser – es will mein Gesicht, weil es kein eigenes hat. Es ist launisch, willkürlich und lässt sich nichts gefallen. Kaum will ich mich befreien, werde ich von ihm bestraft – es zeigt mir, dass es verschwinden kann. Und wenn es zu verschwinden droht, dann geht es mir auch nicht besser. Dann erkenne ich bitter – entweder lebe ich mit dem Tier in mir drinnen oder ich lebe gar nicht wirklich.

Das Tier hat sich irgendwo in meinem Bauch eingenistet und wartet nur darauf, geweckt zu werden. Jetzt hat der Sopranschlüssel es geweckt und es beginnt zu singen – ob ich will oder nicht.

Das Tier fängt an, platt und ohne Kraft – denn ganz allein, ohne meine Hilfe, schafft es das dann doch nicht. Denn der Körper gehört mir. Zu allem braucht es mich – und ich das Tier.

Es erhebt sich aus der Mitte, aus dem Knoten im Nabel, wie eine große, gefährliche Schlange, die zur Sonne, nach oben will.

»In die Maske singen!!!«, schreit der Sopranschlüssel, seine Stimme ist hoch und zittrig.

Der Körper kennt das Gefühl, der Körper fügt sich: Es sticht leicht in den Nasenflügeln, es summt in der Mitte der Stirn, es laufen tausend warme Ameisen um die Augen. Eine Sekunde nur – und du glaubst, eine vibrierende, unsichtbare venezianische Maske legt sich um dein Gesicht. Du vergisst, dass es deine Stimme ist, die alles – den Gaumen, die Lippen, die Knochen – zu dieser summenden Maske macht. Sie lebt und atmet und du wirst mit ihr eins. Du verschwindest, dich gibt es nicht mehr. Es gibt nur mehr die lebende und vibrierende, bunte und zugleich unsichtbare venezianische Maske auf deinem Gesicht – und die Stimme, die hoch und kristallklar klingt. Es verschwinden Zehenspitzen und Knie, der bebende Rücken und die aufgelösten Schultern – ja, du wirst ein einziges Beben, eine einzige Stimme. Jetzt hat das Tier dich besiegt und gefangengenommen. Aber du bist froh und glücklich, glücklich und froh, bis die letzte Note in der Abendluft zerrinnt …

Klack … Klack …

Die absolute Stille wird von zwei Klatschern durchbrochen, die fast spöttisch klingen.

»Gar nicht schlecht«, sagt der Sopranschlüssel trocken.

Die Kleinen schweigen, wie eingefroren.

Ich hasse ihn, den Sopranschlüssel – aufs Neue. Und flüchte, ohne etwas zu sagen.

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Wenn der Sopranschlüssel mir auf die Nerven geht – sosehr, dass ich ihn liebend gern umbringen würde –, sperre ich mich mit alten Schallplatten in meinem Zimmer ein.

Die Platten helfen mir, mit dem Sopranschlüssel wieder Frieden zu schließen.

Auf den Plattencovern ist ein junger Sopranschlüssel zu sehen – wenn ich das nicht wüsste, hätte ich ihn nicht erkannt.

Er ist ein Gott mit einem Schmollmund, einer Nase von feinem Schnitt, großen, unwirklich blauen Augen und einer königlichen Haltung. So einem können weder der kitschige Kopfschmuck aus bunten Federn noch die barocken Bühnenfetzen schaden.

Im normalen Leben heißt der Sopranschlüssel Mario Gvadanghi. Er ist »ein Echter«, ein Italiener, ein Kastrat, wie er im Bilderbuch steht, er ist dort aufgewachsen, woher alle unsere Götter kommen, die größten Sänger des Barock.

»Sopranino« steht auf dem Cover. Sopranino. Man hat ihm einen schönen Künstlernamen verpasst.

Das alles ist aber gar nichts gegen seine Stimme.

Ich fange mit »Alto Giove« an, die Arie von Porpora passt so gut zu diesem schönen Bild auf der Plattenhülle.

Der Zauber beginnt mit dem ersten Klang. Seine Stimme wächst aus dem Nichts heraus – wie ein sanftes Flüstern, wie ein Meeresrauschen bei Sonnenaufgang. Sündig und unschuldig, sie trauert und ist voller Freude und da ist noch etwas, was ein sterblicher Mensch sicher nicht kennen kann, sie bringt Glück und mich überkommt so ein gewaltiger Seligkeitskrampf, dass es fast wehtut. Seine Stimme gleicht einem Hauch der Ewigkeit, sie lässt dich ahnen, wie es dort, im Himmel, sein kann.

Wenn ich diese Stimme höre, möchte ich mich auf den kalten Boden legen – so ist es ein bisschen einfacher zu ertragen –, die Augen schließen und auf der Stelle vergehen. Langsam, verklärt und leicht – von all dieser Schönheit. Ich sterbe jedes Mal, wenn die letzten Klänge mit sanftem Nachhall aus meinen Ohren verschwinden.

Diese Musik macht die Ohren innen nackt, diese Stimme zieht die dünne Haut im Gehörgang ab, sodass jedes Geräusch schmerzhaft wird. Deshalb schneidet das leise Rascheln die Trommelfelle beinahe durch und sie bluten, scheint es mir, als unter meiner Tür ein Blatt Papier durchgeschoben wird.

Die orangefarbenen Schnörkel – man muss kein Hellseher sein, um zu wissen: Den Brief hat der Zar geschrieben. Nur er schreibt mit dieser Tinte. Und nur er schiebt seine Briefe unter der Tür durch. Wenn er uns seine Botschaften so übermittelt – dezent, wie er glaubt –, nennt er das »Respektieren der Privatsphäre«. Er glaubt, er ist unglaublich feinfühlig und korrekt, weil er nicht in unsere Zimmer kommt. Eigentlich müsste er nicht einmal anklopfen, er könnte ein und aus gehen, wann immer er will – denn alles hier gehört ihm, alles bis auf den letzten Ziegel. Sogar der Pfirsichbaum neben dem Schlosseingang gleich links ist seiner – er hat ihn gepflanzt, als er die brillante Idee vom »ewigen Barock« hatte.

»Ich bin oben«, steht in orangener Farbe auf dem Papier, das mit einem prachtvollen barocken Wappen geschmückt ist.

Nein, der Zar ist nicht adelig, obwohl er sich gerne als Adeliger ausgibt. François, der Hausmeister des Schlosses, hatte einmal etwas über seine herrschaftlichen Wurzeln genuschelt, und dass diese auch der Grund dafür seien, dass der Zar nach Österreich übersiedelt ist – aber François ist bekanntlich nicht bei Trost.

Wenn der Zar schreibt »Ich bin oben«, heißt das nur eins: Er will, dass du zu ihm kommst. Weil es etwas Wichtiges zu besprechen gibt.

»Ich bin oben« klingt harmlos und unverbindlich, ist es aber nicht. Kaum siehst du die orangefarbene Tinte, weißt du – du musst hin. Er bedrängt dich nie, wenn du ihn zu lange warten lässt, er rastet nie aus, er wirft dir nichts vor, er ist nie wirklich böse. Er erhebt nie die Stimme, aber irgendwie spürt jeder – es ist besser, nach oben zu gehen, ohne lange zu zögern.

Die breite Wendeltreppe, die zum Flügel des Zaren führt, versteckt sich hinter einer dunklen, endlosen Kolonnade, als wäre der Weg dorthin etwas Geheimes, nur für die Eingeweihten. Dabei weiß natürlich jeder im Haus, wo der Zar wohnt.

Und wie finster schauen die Gesichter auf den Wänden in der oberen Galerie drein – wenn du vorbeigehst, scheint es, als würden die Portraits dir mit den Augen folgen. Sie sind neugierig, die Typen von früher, die der Zar gekauft hat. Er kauft überall Raritäten – in ganz Österreich, in italienischen Klöstern und in slowenischen Schlössern. »Sein Raubzug«, sagt Nina dann, »er ist wieder auf seinem Raubzug.« Dichter und dichter – die Gemälde hängen in zwei, dann in drei Reihen. Je mehr es von den finsteren, neugierigen Gesichtern mit den Perücken und Hüten gibt, mit den mehligen Puderlocken und Dekolletés, umso näher ist das Zarenreich, das weiß hier jeder.

Der Zar wartet auf mich – ich bin mir sicher: Von Weitem ist die »Wassermusik« von Händel zu hören. Er meint, das passe zu mir. Jedem von uns hat er sein eigenes Musikstück verpasst. Nina ist für ihn die »Barkarole« von Tschaikowski, Lukas ist »Cara sposa« von Händel. Ich weiß nicht mehr, ob Lukas und ich Freunde geworden sind, weil der Zar uns beiden einst Händel zugeschrieben hatte, oder ob es umgekehrt gewesen ist.

Die Musik ufert aus, sie flutet die breiten Gänge des Schlosses mit ungeheurer Wucht, sie geht über und will aus den Fenstern der Galerie hinausströmen, aber die Fenster sind geschlossen. Die Galerie, die an der Außenfassade über dem Hang wie ein Schwalbennest hängt, ist der einzige Ort im Haus, von dem aus man ungestört in die Weite und über die endlosen Hügel hinausblicken kann. Vor den großen Fenstern des Zaren gibt es keine Gitter, wie sonst überall. Dafür gibt es hier genug Spiegel – alle Zimmer da oben, beim Zaren, die ganze Enfilade ist voller Spiegel. Auch wenn du ganz alleine hier durchgehst, scheint es dir, als würdest du mit tausenden Menschen Hand in Hand gehen. Eine pompöse Spiegelwelt hat der Zar sich hier geschaffen.

Die Tür, die in sein Zimmer führt, ist einen Spaltbreit offen – so ist es immer, wenn er jemanden erwartet. Der Zar hört dich sogar, wenn die Musik überall tobt – wie er das macht, weiß ich nicht. Das schafft ein Mensch nicht, denke ich immer. Je näher ich der Tür komme, desto mächtiger wird die Musik – er dreht sie lauter und lauter, um dir zu zeigen: Ich weiß, dass du da bist, das ist für ihn so eine Art Begrüßung.

Durch die Dunkelheit der Galerie begleitet mich der Blick des Kastraten Pasqualini – aufmerksam und unheimlich. Sein Portrait ist das größte Bild in der Galerie – und das sonderbarste in der Sammlung des Zaren. Der nackte Apollo mit den goldenen Haaren eines Mädchens krönt Pasqualini mit einem Lorbeerkranz. Der hochmütige, rotbäckige, hübsche Kastrat steht lässig da und spielt Cembalo und sieht dabei so aus, als wäre ihm das ganze Getue Apollos egal. Seine blutroten Strümpfe sind wie das rohe Fleisch des Satyrs Marsyas, der sich rechts hinter Apollo auf dem Bild vor Schmerz zusammenkrümmt. Der Zar ist stolz, dass das Originalgemälde des römischen Malers Andrea Sacchi, das einst dem Papst Clemens IX. gehört hat, jetzt bei ihm im Schloss ist – und im Metropolitan Museum nur eine Kopie hängt. »Aber eine wirklich ausgezeichnete Kopie«, sagt er immer und grinst selbstzufrieden.

Als ich klein war, hat jeder auf dem Bild mir ungeheure Angst eingejagt: der mühsam sterbende Marsyas, der Gott, der sich während der Häutung des Satyrs eine kleine Pause für den schönen Kastraten gegönnt hat, und Pasqualini, der gleichgültig und wie in einem Salon neben den beiden steht. Mit der Zeit habe ich mich an das Bild gewöhnt, jetzt sehe ich die drei wie alte, wenn auch abartige Bekannte.

Die Musik wird zu einem Strudel, der mich mit mörderischer Kraft in das Zimmer zwingt. Die Geigenklänge fliegen direkt in den Himmel hinein, jähzornig und sieghaft.

»Aha!«, der Zar lehnt sich an den dunklen, alten Tisch und breitet die Hände aus – in einer hält er ein Glas Rosé, in der anderen die Fernbedienung für seine Stereoanlage. Er lacht über das ganze Gesicht und schaltet triumphierend die Musik aus, sobald ich eine nur für ihn, den Zaren, sichtbare Grenze passiere.

»Mach die Tür zu«, sagt er auf Russisch, freundlich und warm. »Ich will in Ruhe sitzen.«

Das heißt wirklich ganz in Ruhe, wenn er Russisch reden will.

Russisch reden kann ich im Haus nur mit Nina oder mit ihm, wenn wir allein sind.

Der Zar ist klein, schmal und hat feuerrote Haare – in seinem riesigen Zimmer sieht er aber gar nicht klein aus. Im Gegenteil, man merkt sofort – er ist der Schlossherr.

Alles hier passt zu ihm: Die Wände mit den barocken Engeln und den dunklen Portraits, die Bücherregale voll alter Manuskripte und die alte Holzleiter, auf die man steigt, wenn man Bücher aus den riesigen Schränken holen will.

Der Zar ist ein schräger Vogel. Ein sehr schräger und bunter Vogel. Er mag enge Jeans und teure Hemden mit barocken Rüschen an den Ärmeln und üppigen, kitschigen Jabots. Wenn ich ihn sehe, frage ich mich immer, ob er dort draußen, außerhalb des Schlosses, überleben könnte? Kann ein bunter Kolibri in einem Krähenschwarm überleben?

»Darf ich dir ein Glas Wein anbieten?« Er lacht, sein Spitzbart leuchtet brandrot und macht aus ihm einen Piraten.

»Aber …«

Er nickt.

Eigentlich dürfen wir nicht trinken. Wegen der Stimme und auch sonst nicht.

»Heute darf man aber«, sagt der Zar, holt aus einem versteckten Kühlschrank eine schlanke Flasche und stellt ein zweites bauchiges Weinglas auf den geschnitzten Tisch aus Palisanderholz. Er grinst und sieht dabei wie ein Lausbub aus.

»Es gehört sich anders, ich weiß, man müsste andere Gläser nehmen, keine Rotweingläser. Aber ich halte mich an keine Regel. So ist es spannender.«

Er schweigt eine Sekunde.

»Der Wein schmeckt so einfach besser. Obwohl er gar nicht da reingehört.«

Mit dem Zaren trinken – das ist keine gewöhnliche Sache für einen Schüler hier.

Er schenkt ein und der Wein tanzt im Glas: Er schimmert granatrot und golden. Ein Duft von Waldbeeren und Wiesenblumen umgibt mich.

»So sollte es im Paradiesgarten duften, wenn man ankommt«, denke ich. Dann sehe ich den grinsenden Zaren und korrigiere mich: oder in einem Vorzimmer der Hölle, wo man vielleicht zu allem Übel noch ein Vorstellungsgespräch absolvieren muss.

»So«, er nimmt den Stiel mit feinen, glatt gepflegten Fingern, schwenkt das Glas – der Duft wird noch mächtiger – und schaut mich andächtig an. »Trinken wir auf dich, moj maltschik

Ich starre wie gebannt auf seine Hände – jetzt wirken sie fast feminin.

»Matteo, mein Junge.«

Mir gefällt es nicht, wenn er mich nicht Matwej, sondern Matteo, in italienischer Manier, nennt.

Er zeichnet mit dem Finger unsichtbare Buchstaben in die Luft und korrigiert sich dann: »Mattiniero.«

»Matteo, ab jetzt heißt du Mattiniero«, sagt er festlich. »Weißt du, was das bedeutet?«

Meine Hand mit dem Weinglas zittert plötzlich.

Carlo Broschi nahm den Künstlernamen Farinelli zu Ehren seiner Gönner an, der Brüder Farina; Gaetano Majorano taufte sich für die Bühne Caffarelli, weil er die Entdeckung seines Talents seinem Lehrer, Maestro Caffaro, verdankte. Antonio Uberti, Porporino, war ein Schüler des großen Nicola Porpora, Gioacchino Conti, Gizziello, ein Schüler des Domenico Gizzi; Domenico Giacinto Fontana nannte man Farfallino, den kleinen Schmetterling, weil er so graziös in Frauenrollen auftrat, Giovanni Francesco Grossi war Siface, weil die Rolle des Königs Syphax seine beste war. Wie eine zweite Haut war ein Künstlername, ein Zeichen, dass man teil hatte an der Weltbühne und der echten Schönheit des barocken Theaters.

Wenn man bei uns einen Künstlernamen bekommt, heißt das: Es ist so weit. Das richtige Künstlerleben beginnt. Und, das ist das Wichtigste: die richtigen Aufführungen. So ist die Regel. Seit ich fünfzehn bin, habe ich kleine Auftritte bei den Pasticcios, die Konzerten gleichen. Aber diese Konzerte sind nur eine Vorbereitung auf den Höhepunkt – auf Rollen in den richtigen Opern.

»Du startest«, fährt der Zar fort, »nächsten Monat. Im ›Artaserse‹ von Hasse, als Arbace. Mattiniero.«

Ich schweige und denke nur hektisch daran, dass das ja die Rolle des göttlichen Farinelli war, und ich …

»›Der frühe Vogel‹ heißt das«, sagt der Zar. »Keiner hier hat so vielversprechend angefangen. Sofort mit einer Hauptrolle. Die Lehrer bereiten dich vor.«

Der Wein duftet so stark, dass mir schwindlig wird und ich nicht mehr weiß, ob mein Leben jetzt, auf der Stelle, endet oder erst beginnt.

II.

Es gibt in der Welt tausende Wege: Manche sind steinig und felsig, manche bequem und mit einer schönen Aussicht versehen. Manche duften nach Meer oder Holzrauch, manche stinken erbärmlich. Manche sind so leise, dass man sie kaum hört. Und manche klingen – kristallklar, überirdisch. Das sind die Wege, die zum Haus Settecento führen – fast immer.

Das Haus Settecento steht auf einem Hügel.

Oder – es ist dort versteckt, tief in einem Laubwald, sodass keiner merkt: Hier ist ein Schloss. Mit einem prächtigen Barockgarten hinter den Schlossmauern und einem großen Pfirsichbaum gleich nach dem Einfahrtstor. Ein verlorenes, verwunschenes, verbotenes Märchenschloss, dem sich keiner nähern darf, weil rundherum weiß-rote Schilder »Privatgrund. Betreten verboten« und »Privatbesitz. Zutritt strengstens untersagt« aufgestellt sind – überall, dicht und bedrohlich wie stumme Feldposten. So bleibt all das vor Fremden verborgen: der Renaissancehof mit seinen feinen Bögen, die alten Fresken in den Arkaden, die breiten Schlossmauern, eine Brücke über den Graben, ein schiffsähnlicher Flügel, die ironischen Steinsphinxe im Planetengarten, die antiken Götter aus gelblichem Sandstein beim Eingang in den Hof – die strenge Minerva, die Weise, und der schöne Apollo, der Kunstliebende – und ein düsterer Turm, den man hier »Hexenstiege« nennt.

Vor ein paar Jahrzehnten war hier noch ein altes, verschlafenes Anwesen, das langsam verkam. Dann tauchte aus dem Nichts ein Fremder auf – ein Rothaariger in einem langen, schwarzen Regenmantel, mit nur einem kleinen Baumsetzling im Gepäck. An jenem Tag, an dem er in Bad Bleibenberg eintraf, nieselte es ohne Pause. Er kämpfte sich durch den tiefen, dunklen Graben zum Schloss vor – die Brücke, die über den Graben zum Tor führte, war eingestürzt –, durch die dichten Brennnesseln und den wuchernden Efeu der verwilderten Einfahrt, und sein Mantel wurde dreckig und übersät mit Blättern, Spinnwebfetzen und Dornen.

Er überquerte den mit wildem Wein bewachsenen Hof und kletterte auf die stark beschädigte Burgmauer. Von hier aus sah man alles – die fast zerstörten barocken Galerien, die grünen, verzierten, kostbaren Kacheln irgendeines Kamins, die nach einem Brand im Hof lagen, die blass gewordenen Fresken in den Arkaden und die einst starken Wände eines Turmes, die die Zeit und die Waldpflanzen langsam aufgefressen hatten.

Es nieselte und nieselte und das Gesicht des Rothaarigen, das Gesicht eines Seeräubers, wurde so nass, als hätte er die ganze Zeit geweint.

Der Rothaarige stieg von der Mauer herunter, ging zum Eingang und grub mit bloßen Händen in der feuchten Erde ein Loch. Dann nahm er den Baumsetzling, den er mitgebracht hatte, und pflanzte ihn in die kleine, schwarze Grube. Er machte einen kleinen Hügel um den zarten Baumstamm, glättete die fette Erde mit den Fingern, und seine feinen Nägel wurden schwarz und dreckig.

Dann richtete er sich auf, schaute seinen winzigen Pfirsichbaum an und lächelte kaum sichtbar.

Er blieb im Schloss: Er verbesserte und erneuerte, er baute und renovierte, er erfand alles neu, als wäre hinter den Mauern des Schlosses eine eigene, geheime Welt, die man wie ein Gott erst schaffen und dann mit völlig neuen Regeln und Bräuchen füllen muss.

Er pflanzte edle Rosen, Tulpenbäume und Lavendel, im Garten siedelte er bunte Pfauen an und im Schloss zweigeschlechtliche Kreaturen. Diese schuf er selber wie ein Gott und Herrscher seiner eigenen Welt. Und er taufte das Schloss auf den Namen »Haus Settecento«.

Die Leute in Bad Bleibenberg nennen das Haus am Hügel einfach »das Schloss«. Oder »das Internat«. Weil es sich herumgesprochen hat: Oben, in dem alten, barocken Schloss mit den starken Mauern, ist ein privates Knabeninternat untergebracht. In Bad Bleibenberg munkelt man, dass mit dem Schloss etwas nicht stimmt. Dass da dunkle Geheimnisse versteckt sein müssen, weil keiner reindarf. Dass die Leute da oben manchmal eigenartige Besuche empfangen. Und dass in der Hexenstiege sonderbare Unholde gefangen gehalten werden. Oder exotische Tiere. Oder Kinder mit unbekannten Krankheiten, die ein normaler Mensch niemals zu Gesicht bekommen darf. Und vielleicht feiert man drinnen sogar Schwarze Messen?

Die ganze Plapperei stimmt nicht. Es gibt keine exotischen Tiere im Haus Settecento. Es werden hier auch keine Schwarzen Messen gefeiert. Dafür gibt es im Schloss helle Klassenzimmer und Pausenräume in alten Arkaden, Hallen mit Spiegelwänden und Ballettstangen, duftende Blumen in einem gepflegten Garten, eine riesige, reich bestückte Bibliothek, eine prächtige Sammlung von Musikinstrumenten des Barock und viele andere Dinge.

Und es gibt die Musik.

Sie beherrscht das Haus Settecento: Sie durchtränkt die Ziegel, sie strömt die Dachrinnen entlang, sie quillt aus dem Boden im Garten und aus den ausgetrockneten Bachbetten oben bei den Mauern.

Aus den Schlossfenstern fließen Stimmen ohne Geschlecht und Alter, sie klingen überirdisch und unwirklich. Die Stimmen sind seltsam: Singt das ein Kind, ein Erwachsener? Ein Kind, eine Frau?

Wenn jemand es dennoch wagen würde, zum Schloss hinaufzuklettern, würde dieser Jemand sofort spüren: Rund um das Haus Settecento lebt noch die Zeit des Barock. Mit ihrer Üppigkeit und Unbeständigkeit, ihrer Theatralik und Verkleidung, mit opulenten Opernklängen und himmlischen Kastratenstimmen.

Und die Menschenjäger, die einst die Kinder mit den schönsten Stimmen ausfindig machten, sie den Eltern abkauften, um sie der Kastration und der harten Musikausbildung zu unterwerfen – die sind auch noch irgendwo hier. Die Kinderfänger, die die Leben anderer unbarmherzig veränderten, sind nicht für immer im 18. Jahrhundert geblieben.

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»Wir sind fast da«, sagte ein dürrer, glatt rasierter Mann zu einem Buben, der neben ihm im Fond einer Limousine saß. »Gleich kommen wir an.«

Der Bub schwieg – als hätte er nichts verstanden.

Bei der »Klause« tauchte das Auto in das Grün zwischen zwei Hügeln ein.

Beim »Gasthaus zum Mond« bog die Straße ab, willkürlich und wild.

»Keine Sorge. Wir tun dir nichts. Wir werden gut zu dir sein, wirst sehen.«

Der Bub schwieg. Der Mann berührte seine Schulter mit einem knochigen Finger, und der Bub zuckte, als wollte er sich befreien und losreißen.

»Hast du Angst vor mir, Kleiner?«, fragte der Mann neugierig und kein bisschen freundlich. Freundlichkeit würde ihm gar nicht stehen, auch wenn er freundlich sein wollte.

Der Bub schwieg.

»Hast. Du. Angst. Vor. Mir?«

»Angst?«

»Verstehst du?«

Der Bub schwieg und nickte.

»Hast du Angst?«

Der Bub schüttelte den Kopf.

»Gut«, sagte der Mann zufrieden, »da gibt es nichts, wovor man Angst haben müsste.«

Das Auto kämpfte sich auf der kurvenreichen Straße den Hügel hinauf, rollte in eine Kastanienallee ein und blieb vor einem Schild mit der Aufschrift »Privatbesitz« stehen. Der Chauffeur drehte sich zu dem dürren Mann um: »Soll ich in die Garage?«

»Nein«, entschied der Mann. »Es zahlt sich nicht aus. Ich bin bald da. Warte lieber hier.«

Er stieg aus dem Auto, half dem Buben und nahm ihn an der Hand. Sie gingen zwischen den Kastanienbäumen dorthin, wo die Allee plötzlich endete und ein schmaler Waldweg begann. Der Bub ging schweigend und gehorsam, als wäre er schon hunderttausende Male so neben dem dürren, großen Mann gegangen.

Der Wald roch würzig und scharf – und ein bisschen traurig: nach Tannen und Glockenblumen, nach Brennnesseln und Baumrinde, nach Wacholder und Walderdbeeren.

»Mit dem Auto darf man hier nicht rein«, erklärte der Mann. »Das ist die erste Regel hier. Man muss das Auto draußen lassen, oder in einer Garage. Der Weg zum Haus bleibt frei. Frei von allem, was zur Welt draußen gehört.«

Dann schwieg auch er.

Er schwieg, während der Weg so schmal wurde, als hätte der dichte Wald ihn gefressen. Er schwieg, als sich nach einer Ewigkeit das Holundergebüsch plötzlich weitete und eine alte Brücke auftauchte. Als sie zu einer großen Einfahrt aus gelbem Sandstein mit dunklen Holztoren kamen, schwieg er auch.

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Der kleine Bub roch am Glas und nahm einen Schluck.

Die Milch war cremig, warm und duftete wie gebratene Maroni auf einer fremden Winterstraße. Ganz leicht, aber doch nach Maroni.

Der dürre Mann, der ihn hergebracht hatte, war mit ihm durch den großen und leeren Hof gegangen, durch die merkwürdigen Räume und hatte ihn einem jungen Mann übergeben. Wie ein Engel war er, dieser Junge, so schön, selbst wenn sein Blick beinahe ironisch war.

»Matteo«, hatte der dürre Mann gesagt, »übernimm ihn bitte.« Und auf den Buben gedeutet.

»Wie heißt er?«, hatte Matteo ungeduldig gefragt, man hätte denken können, der dürre Mann und der Bub gingen ihm auf die Nerven.

»Keine Ahnung«, der Mann hatte mit den Achseln gezuckt, »ich habe ihn namenlos gekauft.«

Matteo nahm den Buben an der Hand, führte ihn in die Küche und gab ihm die warme Milch, die nach Maroni roch.

Sie haben ihn von einem Kirchenbild heruntergeholt, dachte der Bub, als er Matteo heimlich musterte. Der Engel Matteo war schlank und groß, er wollte sicher in den Himmel hineinwachsen. Alles war rund und zart an ihm, wie bei einer schönen Frau: die winzigen Ohrläppchen, die kleinen Hände und die zierlichen Füße. Und das runde Gesicht mit dem kleinen Muttermal neben dem zarten Mund.

»Trink, du Armer«, der Schöne schaute mitleidig, »sonst wird’s kalt.«

»Mit dem Mayer hast du nie mehr was zu tun«, sagte er dann beruhigend, »der kommt ganz selten, keine Sorge.«

Draußen, bei der kleinen Treppe oberhalb der Küche, redeten zwei: der dürre Mayer und ein kleiner Rothaariger.

»Und die Papiere?«, der Rothaarige schaute Mayer fragend an. »Wir haben’s ausgemacht – ohne Papiere ist nichts.«

»Das sind Bettler gewesen«, sagte Mayer. »Aus Rumänien oder so. Keine Papiere. Aber die Stimme. Ein Rohdiamant, glauben Sie mir.«

Der Rothaarige schaute skeptisch.

»Hören Sie selbst«, legte Mayer nach, »etwas Seltenes. Und – keiner wird nach ihm suchen. Niemals, glauben Sie mir.«

Der Rothaarige murmelte: »Aber …«

Der dürre Mayer schaute streng: »Ich schaffe die Stimmen seit 20 Jahren heran. Niemals gab es einen Patzer. Ich habe mich noch nie getäuscht.«

Er schwieg kurz, dann sagte er mit Nachdruck: »Als ich ihn auf der Quellenstraße beim Reumannplatz gehört habe, wusste ich es sofort … Ich habe ihn gekauft – alles fair und richtig, aber ohne Papiere. Hören Sie ihn selbst, Tschischewski!«

»Na gut«, gab der Rothaarige nach, »hören wir ihn an.«

Er rief in den dunklen Abgrund der Treppe, dorthin, wo unten die Küche war:

»Matteo! Bring den Neuen in die Kapelle!«

In der Küche seufzte der Engel und schaute den Buben besorgt an.

»Bist du satt? Wir müssen gehen.«

Der Kleine sagte nichts. Der Engel stand auf und streckte ihm die Hand entgegen. »Komm!«

Der Bub hatte viele Kirchen in Wien gesehen, viele Lieder beim Hören der Kirchenchöre gelernt – diese Lieder sang er dann auf der Straße. In den Wiener Kirchen war es warm im Winter, rettend-kühl und angenehm im Sommer – fast wohnlich mit all diesen Kerzen und Blumen. Die Kirchen im Zentrum waren üppig und riesig, am Rand der Stadt waren die Kirchen ganz anders: mal schlicht und modern, mal alt und einfach. Aber nie so schön wie diese.

Der Engel führte ihn nach vorne, zum Altar, wo die Holzbänke anfingen. Er ließ ihn dort stehen und setzte sich nieder, weit vom Rothaarigen und von Mayer entfernt.

»Na, los«, sagte der Rothaarige und trommelte nervös und ungeduldig mit den Fingern – die Holzbank antwortete mit einem dumpfen Seufzen.

»Sing!«, befahl der Dürre und räusperte sich, als wollte er auch singen.

Der Kleine schwieg und schaute die beiden an.

»Sing!«, wiederholte der Dürre lauter und schon ein bisschen zornig.

Der Bub schwieg.

Dann stand der Engel auf. Er schaute dem Buben in die Augen, und es stellte sich heraus, dass Engel grünäugig sind. Der Engel holte Luft, kaum hörbar, leicht – die Zeit stolperte und stand plötzlich still.

Die Zeit spritzte mit Millionen klaren Regentropfen:

»Ave – Maria – gratia – plena –«

Die Engelsstimme floss wie eine cremige Milch, das »Ave Maria«, das der Bub kannte, wurde im Engelsmund mächtig und durchsichtig-klar wie ein Waldbach. Der Engel nickte und der Bub verstand – er muss auch singen. Die Stimme des Engels war wie eine ausgestreckte Hand – zärtlich und warm. Und der Bub sang mit ihm:

»Dominus – tecum –«

Die Wörter hatte er irgendwann auswendig gelernt, wusste aber nicht, was sie hießen, nur zwei waren ihm klar – »Ave« und »Maria«. Die Musik war aber so herrlich, dass keine einzige Bedeutung notwendig war. Der Bub tauchte in die Musik wie in einen kühlen Gebirgsbach ein und seine Stimme wurde zur Musik. Rein und licht, unschuldig und unfassbar erfahren, zeitlos, leuchtend und farbenkräftig, unbefleckt und feinfühlend.

»Sancta – Maria – Sancta – Maria«

Der Bub merkte nicht, dass der Engel stumm wurde und er alleine weitersang.

Seine Stimme ergoss sich in die alte Kapelle – die Dielen, die alten Risse im Holz der Bänke, die Hohlräume hinter dem Altar, die geschnitzten Bilderrahmen und die dunklen, geheimen Spalten zwischen den Orgelpfeifen, alles war binnen Kurzem mit seiner glasklaren Stimme durchtränkt. Die steinernen Heiligen mit den langen Gewändern und die Löwen mit den finsteren Gesichtern tauten auf und wurden lebendig, sie streckten die eingeschlafenen Beine und schauten zum Himmel, in den sie auf den Flügeln dieser Stimme fliegen konnten, statt ewig in der feuchten, dämmrigen Kapelle auszuharren. Die bunten Glasfenster leuchteten so feierlich, als wollten sie etwas noch Unbekanntes verkünden.

»Amen – Amen –«

Die Stimme schmolz, verschwamm, zerging im Nichts, um dort zu bleiben.

Alle saßen wie verzaubert.

Dann wurden sie wieder wach – einer nach dem anderen.

Der Bub konnte aus ihren Gesichtern alles ablesen wie aus einem Buch: Staunen und Zufriedenheit, Freude und Faszination. Wenn du bettelst, lernst du sehr schnell zu erkennen, was alle diese Leute vor dir denken. Sonst kannst du auf der Straße gar nicht überleben.

Nur das Gesicht des Engels gefiel dem Buben nicht, weil er es nicht deuten konnte. Da mischte sich Bewunderung mit so viel Trauer und Mitleid, dass es sich beunruhigend anfühlte. Als wäre der Bub ein verwundeter Welpe, der nicht die geringste Überlebenschance hatte.

Zuerst fing sich der Rothaarige.

»Aber ja …«, drehte er sich zu Mayer. »Recht haben Sie. Ich nehme ihn.«

Mayer schaute erleichtert aus.

»Vielleicht will er gar nicht …«, sagte der Engel Matteo finster. »Fragt ihr ihn nicht?«

Der Rothaarige schaute verwundert: »Matteo, mein Lieber, er will sicher! Er wird uns danach danken, das weißt du ja.«

»Ich weiß«, sagte der Engel spitz und bissig, »natürlich weiß ich, verdammt.«

»Willst du da bleiben, Kleiner?«, fragte der Rothaarige herzlich. »Willst du da im Schloss leben?«

Der Bub sagte nichts.

»Mal ihm alles aus«, sagte der Engel sarkastisch, »erklär ihm alles genau, bis auf die …«

»Hör einmal zu«, der Rothaarige drehte sich schnell zu ihm, seine Stimme wurde rau und metallisch, »alles ist besser, als mit rumänischen Bettlern herumzulungern. Du weißt gar nicht, wovon wir sprechen.«

»Gar nicht«, wiederholte er mit Nachdruck, und der Engel erlosch wie eine Kerze, verstummte, verdunkelte sich und wurde gleichgültig.

»Da? Bleiben?«, Mayer öffnete den Mund wie ein großer Fisch, um jeden Laut zu veranschaulichen.

»Bleiben? Hier?«, er deutete zum Ausgang.

Der Bub nickte. Er verstand.

Und dann sagte er »Ja«. Das Einzige, was er außer »bitte scheeen« und »danke« auf Deutsch konnte.

Der Engel schaute ihn nicht mehr an.

»So«, der Rothaarige stand auf, »Matteo, führ ihn ein. Du weißt schon …«

»Er kann keinen Brocken Deutsch«, sagte Matteo mürrisch. »Ich weiß nicht, was für eine Sprache …«

Mayer zuckte mit den Schultern: »Rumänisch, wahrscheinlich. Ihr könnt das hier ganz leicht herausfinden.«

Er lachte.

»Passt schon, Matteo«, sagte der Rothaarige streng. »Du musst ihn einführen. Er mag dich, denke ich.«

Die steinernen Heiligen und die Barockengel an den Wänden nickten zustimmend.

III.

»Komm!« Lukas verzieht den Mädchenmund, als würde er gleich weinen.

»Komm, bitte«, fleht er mich an. Er weiß ganz genau – ich hasse es, wenn er so ist, aber trotzdem tut er das. Wir beide wissen – ich kann nicht »Nein« sagen, wenn er den Mund so verzieht. Ich habe Lukas noch nie weinen gesehen. Er kann boshaft, mürrisch, launisch oder zornig sein, aber wenn er den Mund so verzieht und ich denke »jetzt, jetzt weint er zum ersten Mal im Leben«, das macht mich verrückt.

Deshalb gehe ich mit ihm.

»Was ist denn los?«

»Komm, ich zeig dir was. Aber zuerst habe ich eine Überraschung – ich trete auch auf!!!«

Lukas blickt mich geheimnisvoll an, aber mir gehen alle Geheimnisse auf die Nerven.

»Gemma ganz raus«, flüstert er mir ins Ohr und verschwindet hinter dem Holunderstrauch bei der Mauer im Hof. »Ganz raus« heißt hinaus aus dem Schloss. In der Mauer ist ein kleines Loch, die alten Ziegel bröckeln und werden langsam zu Sand – wenn man sich hinunterbeugt und klein macht, kann man sich durchquetschen. Raus.

Lukas kriecht auf allen vieren ins Freie, richtet sich auf und putzt die Erde und den Waldmist von den Hosen. Er geht runter, den Hang entlang.

In dem dicht bewaldeten, alten Graben kann man sich zwischen den riesigen Felsen verstecken – sodass dich von oben, vom Schloss, keiner sieht. Nicht einmal der Zar. Vielleicht.

Lukas bleibt stehen – bei der weißen Marmorsäule, die nicht mehr wirklich weiß ist, so beschädigt ist sie schon vom Moos und der Zeit.

Als wir klein waren, hat es uns immer zu dieser Säule gezogen, wir zwei saßen stundenlang hier, auf dem Sockel, grün vom Moos, und schauten dorthin, wo zwischen den Bäumen und den weiten Weinbergen Bad Bleibenberg liegt. Die Säule hier, unten im Graben, war mir immer suspekt – wer stellt Säulen ganz tief in einem Burggraben auf? Seit meiner Kindheit weiß ich auch, was da auf dem Relief abgebildet ist: eine traurige, weiße Frau in knöchellangem Gewand. Sie kniet und trauert – und alles rundherum trauert auch.

Als ich klein war, fragte ich den Zaren einmal, warum da eine Säule ist und was sie bedeutet – das ist schließlich sein Schloss. Aber der Zar schüttelte nur den Kopf und murmelte etwas von einem Unfall im Graben und einem Mahnmal.

»Schau«, flüstert Lukas, »ist das nicht toll?«

Er holt etwas aus der Hosentasche. Seine Faust ist geballt und fest, er zeichnet mit ihr kunstvolle Figuren in die Luft und lacht – Lukas mag Effekte. Mir ist gar nicht nach Scherzen, am liebsten würde ich ihn hier stehen lassen und zurückgehen. Aber ich lache gequält. Seine Faust öffnet sich plötzlich, wie eine weiße Blume – in der weichen Grube liegen vier Zigaretten.

»Woher hast du das?«, staune ich.

»Mayer hat nicht aufgepasst«, Lukas lacht. »Rauch ma eine?«

Wir dürfen nicht rauchen – das schadet der Stimme.

»Ah, scheiß auf alles!«, sagt Lukas. »Oder willst nicht? Bist feige?«

Er wird rot im Gesicht.

Ich bin feige, ja. Besonders jetzt, wenn es um meinen ersten richtigen Auftritt geht.

»Du musst ja nicht immer rauchen«, sagt Lukas fast weinend.

Ich hasse diese besondere Stimme, wenn er fast weinend redet. Und dabei so flehend schaut, dass seine Augen noch dunkler werden.

»Nur eine Zigarette«, sagt Lukas.

Wenn ich den Rauch nicht richtig einatme – vielleicht macht es nichts?

Lukas schaut jetzt feierlich und freudig – so wenig braucht er, um glücklich zu sein. Er steckt sich eine Zigarette in den Mund, gibt mir die andere und zaubert eine Zündholzschachtel hervor. Die kleine Flamme tanzt auf der Zündholzspitze, und es scheint eine Sekunde lang, als würden die Mädchenfinger von Lukas brennen. Er macht einen gierigen ersten Zug, dann nimmt er den Mund voller Rauch und schließt genüsslich die Augen – es schmeckt ihm, er kostet es bis auf den letzten Hauch aus, er zögert und will gar nicht, dass der Rauch verschwindet. Aber dann muss er den dünnen Rauchfaden doch nach draußen lassen – langsam und leise.

Ich atme ein, huste furchtbar, der Rauch ist bitter und ekelhaft, er verätzt Rachen und Zunge.

Lukas öffnet die Augen. Seit wann raucht er? Seit wann klaut er Mayers Zigaretten?

Als wir klein waren, waren wir unzertrennlich, mit fünfzehn oder siebzehn auch noch – und in den letzten Jahren ist er mir Stück für Stück fremder geworden, ich habe das Gefühl, als kennte ich ihn nicht mehr, und ich habe keine Ahnung, was sich in seinem Kopf abspielt.

Nach dem endlosen Husten kann ich wieder reden.

»Du trittst also auch auf?«

Lukas verzieht die Miene.

»Oh ja. Mit dir.«

Eigentlich freue ich mich.

Er schaut mich beinahe hasserfüllt an: »In einer Frauenrolle aber. Die Besten spielen Helden, und die Menschen zweiter Klasse müssen sich mit den Weiberrollen begnügen.«

»Semira oder Mandana?«

»Mandana. Verdammt.« Er wirft den Zigarettenstummel zornig weg. Dann zündet er sich eine neue an.

Mandana. Die Geliebte von Arbace und Schwester von Artaserse, dem gutmütigen persischen Herrscher. Die Rolle passt zu Lukas – er ist auch so stolz und bockig wie die schöne Mandana. Und ich finde es lustig, dass wir ein Liebespaar spielen werden.

Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen und pfeife leise die Melodie:

»Se d’un amor tiranno,

Credei di trionfar …«

»Halt den Mund!«

Lukas schaut mich an, als wollte er mich zusammenschlagen.

Er ist zu zornig. Sonst würde ich sagen: Schau, sogar die Besten, Farinelli oder Ferri, mussten am Anfang die Frauenrollen spielen. Und auch damit wäre er sicher nicht zufrieden, er würde sagen – »das ist unfair, du hast gut reden, du musst ja nicht als erste Rolle ein Weib spielen«, oder etwas Ähnliches.

»Ich lauf weg«, sagt Lukas plötzlich und starrt auf die glimmende Zigarettenspitze.

»Dorthin«, er deutet auf Bad Bleibenberg hinter dem Wald. »Oder weiter. Nach Wien, zum Beispiel. Oder – nach Italien. Das ist weit, aber Italienisch ist kein Problem, warum denn nicht?«

Warum denn nicht.

»Und?«, frage ich.

Das ist nichts Ungewöhnliches. Viele hier wollen früher oder später ausbrechen. Manche schaffen es sogar.

Besser gesagt – sie verschwinden eines Tages, und von ihnen ist nichts mehr zu hören.

Die Welt draußen ist für mich ein uferloser Ozean, in dem alle und alles sich auflösen – so spurlos verschwinden sie. Nur von ganz wenigen, die weggelaufen sind, ist etwas bekannt. Wie von Doru zum Beispiel – man weiß, dass er dort, in der großen Welt, überlebt und Fuß gefasst hat.

Die meisten von uns wagen es aber nicht zu flüchten. Und bleiben hier – bis ans Ende ihrer Tage.

Ich denke an Doru. Doru hat es geschafft, alles zu überwinden: die Ängste, die die Flucht unmöglich machen, und das, was uns alle hier hält – die bittere Gewissheit, dass wir einfach nur Krüppel sind und in einer normalen Welt keinen Platz haben.

»Na und?«, frage ich.

Lukas schaut wie ein Esel, trotzig und verbissen.

»Ich werde Tischler. Oder mache etwas anderes in der Art. Etwas Einfaches, was ich schnell lernen kann. Und dann vergesse ich euch und alles da.« Er schaut zum Schloss hinauf.

Hat Doru auch vergessen können, denke ich? Oder lebt er mit dem Schloss in sich drinnen – dort, in Wien?

»Ich werde arbeiten und leben – ganz normal.«

»Ganz normal« klingt bei Lukas so sehnsüchtig.

»Ich werde heiraten …«

»… und Kinder kriegen«, führe ich ironisch weiter.

Lukas schaut gekränkt: »Muss man nicht. Heutzutage leben viele ohne Kinder.«

»Und was, wenn sie, die Frau – was, wenn sie will?«

»Na ja«, stockt Lukas. »Na ja, egal. Es gibt ja auch noch andere Möglichkeiten. Künstlich, zum Beispiel, eine künstliche Befruchtung. Das geht.«

»Ja«, sage ich, »das geht. Das ist dann aber nicht dein Kind.«

»Egal«, wiederholt Lukas stur.

»Du wirst trotzdem einmal fett«, sage ich unbarmherzig, »fett und hässlich, wie wir alle. Sowieso. Nur ohne Singen. Ohne Auftritte. Ohne richtige Arbeit.«

»Das stimmt ja nicht!« Lukas wird wieder zornig. »Nicht alle sind hässlich geworden! Farinelli war schön, und Pasqualini und Marchesi und …«

»… und Ferri hat es auch geschafft«, sage ich, »das alles ist eine Lotterie, das weißt du ja.«

Das ist wirklich eine Lotterie. Die Operation, die eine hormonelle Katastrophe auslöst, und das unendliche Üben haben aus den Sopranisten immer Monster mit muskulösen Kehlen, überdimensionalen Brustkörben, hohen Stimmen, großen Oberlippen und weiblichen Zügen gemacht. Nicht aus allen – aber selbst die schönsten, wie Farinelli, waren abartig und sonderbar. Wie normale Männer haben sie nicht ausgesehen – eher wie wunderliche, riesige Kreaturen ohne Adamsapfel und Bartwuchs.

»Egal«, sagt Lukas, »scheißegal. Lieber ein fetter, hässlicher Tischler, ein rauchender, Bier saufender, fetter, hässlicher Tischler, als einer wie ihr.«

Er schnauft wie ein durchgedrehtes Pferd und nimmt einen Zug.

»Wie oft rauchst du?«

Lukas schaut mich unschuldig an.

»Wie oft rauchst du?«, wiederhole ich.

»Jetzt jede Woche«, sagt er, »solange ich Zigaretten habe. Dann wieder lange nicht. Halbes Jahr oder so, bis Mayer wieder kommt.«

»Willst du deine Stimme ruinieren?«

»Ja. Will ich«, sagt er zornig und traurig. »Ich hasse sie. Vielleicht verschwindet sie dann und der Zar wirft mich raus.«

Er redet Blödsinn und er weiß das. Wenn er nicht mehr singen kann, wirft ihn deswegen niemand raus. Er wird trotzdem im Schloss bleiben müssen. Er übersiedelt in die Hexenstiege, zu all jenen, die nicht mehr singen, und wird früher oder später zu etwas gebraucht – er wird Gärtner oder Kochgehilfe, Bibliothekar oder Lehrer.

Ich berühre seine Hand: »So viele Zigaretten kannst du gar nicht klauen.«

Er schmeißt die Zigarette weg und wendet sich von mir ab. Seine Hand zittert und seine Schultern zittern auch. Er weint, verstehe ich plötzlich, Lukas weint. Er schaut mich nicht an, er will nicht, dass ich seine Tränen sehe.

»Ich bin sehr müde«, sagt er leise. »Sehr. Müde. Ich kann nicht mehr.«

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Es tauchen nicht oft Neue im Schloss auf.

Es ist nicht leicht, einen Buben mit einer guten Stimme zu finden. Und einen, den die eigene Familie loswerden möchte, erst recht nicht.

Einmal im Jahr oder höchstens alle halben Jahre, öfter nicht. Deshalb haben wir nur drei kleine Klassen: die Kleinen, die Mittleren und eine, in der die Schüler fast fertige Sänger sind und Bühnenauftritte haben. So wie Lukas und ich.

»Klein, aber fein«, sagt der Zar über die Klassen im Schloss. Er weiß, wovon er redet – er sammelt nur die besten Stimmen und konserviert sie, wie man reife Erdbeeren in Marmeladegläsern einmacht.

Die besten Stimmen sind eine echte Rarität.

Das ist auch gut so. Mayer öfter zu sehen wäre kein Vergnügen.

Er ist nicht wirklich abstoßend. Ein fescher Mann mit guten Manieren. Er ist nicht so wie die Agenten von früher, die die Bauernkinder für die Kastratenmühlen in der Barockzeit ausgesucht haben. Mayer arbeitet sauber und ohne Gewalt.

Aber mir ekelt vor ihm. Mich lassen die Erinnerungen an den Tag nicht los, an dem mich Mayer zum Schloss gebracht hat. Mich und Nina. Eigentlich wollte er Nina nicht mitnehmen. Wozu brauchten sie Nina, ein Mädchen und noch dazu ohne Stimme? Nur ein paar Kinderlieder konnte sie falsch singen, sonst nichts.

Wenn ich Mayer sehe, ist alles wieder da. Das Gesicht von Mama ist wieder da – sie ist verwirrt und blass, sie meidet meinen Blick. Nina heult, ohne Pause und ohne leiser zu werden. Nie wieder hat sie seit dem Tag geweint.

Mama umarmt mich. »Bald sehen wir uns wieder«, sagt sie, aber ich weiß – sie lügt.

Dann schreit sie Mayer an und stellt ihn vor die Wahl: Entweder er nimmt auch Nina mit oder keinen von uns beiden.

Die Angst ist in der Luft, sie ist dickflüssig, man könnte sie löffeln.

Mayer telefoniert mit dem Zaren – langwierig und sehr sachlich. Seine Stimme ist voller Metall und Schärfe. Dann verschwindet er mit Mama in der Küche, und Nina hört sofort auf zu weinen. Sie kommt zu mir und setzt sich so eng neben mich, als wären wir siamesische Zwillinge.

Wir sitzen eine Ewigkeit da – dann kommt Mama aus der Küche, mit zwei Taschen, eine für mich und eine für Nina. Nina schaut sie nicht mehr an, sie dreht sich nicht um, um Mama noch ein einziges, ein letztes Mal zu sehen.

»Los geht’s«, sagt Mayer …

Dieser Neue wirkt sehr klein – so klein wird er sicher nicht sein. Er ist hübsch und scheu.

Aber heute passt er mir ganz und gar nicht in den Kram.

Denn der heutige Tag ist der Tag von Doru.