Sibylle Lewitscharoff

Von oben

Roman

Suhrkamp

Jürgen Trinkewitz
herzlich zugeeignet

Aber was für ein Unterschied, wenn man tot ist!
Was für ein Aufatmen!

Joaquim Maria Machado de Assis,
Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas

Im Gewölk

Vor dem Tod. Nach dem Tod. Das sind zwei grundverschiedene Arten, die eigene Existenz zu erfahren und auf sie zu blicken. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich bin oben. Seit kurzem. Marode Teile von mir sind unter der Erde, mein versammlungsfähiges Ich, auf das es ankommt, befindet sich oben, wiewohl das Wort Ich hierfür kein korrekter Begriff ist. Man kann eine nicht greifbare und nicht sichtbare Wesenheit schwerlich mit einem Wort bezeichnen, das ein körperliches Triumphzeichen aufpflanzt. Das Ich bin, der ich bin ist Gott allein in Seiner geballten Seinsgewißheit vorbehalten. Für menschliche, tierische und pflanzliche Geschöpfe kommt es nicht in Frage – erst recht nicht, nachdem sie gestorben oder verwelkt sind.

Mein derzeitiges Schwankgebild mag zwar der Definition enthoben sein, dennoch kann es aus Gründen eingeschliffener Konvention nicht darauf verzichten, von sich als einem Ich zu sprechen. Es geht leider nicht anders. Ich bin immer noch irgendwas oder irgendwer, das oder der zumindest ein klein wenig ist. Wie lange mein Aufenthalt in der Höhe nun schon währt, entzieht sich meiner Kenntnis. Allzu lang kann es nicht gewesen sein, denn was ich auf Erden erblicke, unterscheidet sich zwar von dem, was ich einst erfahren habe, weil meine Umschau größer ist als ehedem, aber das Treiben der Personen, die meine Freunde waren, kommt mir bekannt vor. Die Tatsache, daß sie so weitermachen wie bisher, zeigt mir, daß seit meinem Tod nicht viel Zeit verstrichen sein kann.

Es heißt, man müsse die Toten daran hindern, zurückzukehren. Deshalb werden schwere Grabsteine auf ihre Ruhestätten gewuchtet, oder man verfährt entschiedener, verbrennt sie zu einem Häuflein Asche mit winzigen Knochenstücken, packt den Rest in eine Urne oder verstreut diesen irgendwo, wobei die Japaner mit speziellen Stäbchen in den Resten noch ein bißchen herumstochern und größere Stücke beiseite legen, etwa nach dem Motto: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Exzentrisch ist natürlich die Tradition, den Leichnam auf einen Felsrücken zu legen, damit die Geier sein Fleisch fressen und die Knochen in den Abgrund fallen.

Was von mir übrig ist, steckt nicht in einer Urne und wird auch nicht von Spezialstäbchen sortiert, sondern rottet still vor sich hin in einem schmalen Kerker, ganz allein in seiner Schweigsamkeit – auf dem Schöneberger Friedhof in einem üblichen Grab mit Buchsbaum, etwas Efeu, einem sehr schlichten aufgerichteten Stein, davor zwei kleine rote Kerzenbehälter, in denen keine Kerzen brennen. Kurioserweise liegt da auch eine Trinkschale für Vögel. Zwei Spatzen aus Ton scheinen sich am Wasser zu laben, das sich manchmal darin sammelt. Wer sie dorthin gelegt haben mag? Keine Ahnung. Gerhard bestimmt nicht. Margit und Rudi kommen für so etwas auch nicht in Frage. Vielleicht meine liebe Nachbarin Edeltraut Schäfer, die sich so gern mit Nippes eindeckt? Was da unten liegt, gehört nicht mehr zu mir, es modert, zersetzt sich, bildet kristalline Partikel aus und ist von allen fühlbaren Schikanen befreit. Darüber mag der Himmel in leuchtender Bläue strahlen oder sich in ein sanftes Nachtdunkel hüllen, wer unten liegt, dem kann es gleichgültig sein.

Die Kränze, die es wohl gab, an die ich jedoch keine Erinnerung aufrufen kann, sind schon seit einiger Zeit abgeräumt. Meine Reste liegen in der Nähe von Marlene Dietrich, die mir allerdings zu Lebzeiten nicht viel bedeutet hat, obwohl ich ein passionierter Kinogeher gewesen bin. Die Diva war mir zu starr, zu hehr, zu kontrolliert und damit zu wenig sexy. Ich liebte Marilyn Monroe und Lauren Bacall. Ihnen würde ich jetzt nur zu gern begegnen, mit Marilyn herumalbern und mit der Bacall eine Zigarette rauchen. Alles Unfug, ich weiß. Zurück zum Friedhof. Die Knochen und das marode Fleisch liegen nicht weit vom einst in Rumänien geborenen Schriftsteller Oskar Pastior entfernt, dessen Name mir eher Sympathie entlockt als der Name der Dietrich, wiewohl ich ihn nicht persönlich gekannt habe.

Kommen wir auf das Thema Rückkehr zu sprechen: Die Maßnahmen, die gegen unser Wiederauftauchen getroffen werden, sind absoluter Blödsinn. Wir kehren nicht wieder. Weder in Fleisch und Blut noch in Form von Geistgewabere. Gedanklich jedoch schon, zumindest in meinem Fall. Ob das auch auf andere zutrifft, weiß ich nicht, aber es ist anzunehmen, denn ich bin gewiß kein herausragendes Sonderwesen unter den Abermillionen Toten, die sich werweißwo aufhalten.

Nur bis zu einem bestimmten Grad, den ich selbst nicht genau ermesse, kann ich sehen. Vielleicht ist die Umschau begrenzt, weil ich meine neuen Möglichkeiten noch nicht alle ausprobiert habe. Sicher ist nur – was mir vor die Augen kommt, nährt sich aus meiner eigenen Bewegung. Wobei es mir, und natürlich auch den anderen Toten, verwehrt ist, das Geschehen auf der Erde direkt zu beeinflussen. In handgreiflicher Form ohnehin, das versteht sich von selbst. Die blödsinnigen Splatterfilmchen mal beiseite gelassen, die sich gern mit fleischfetzenbehangenen Leichen befassen, denen als Gipfel der Idiotie auch noch eine große physische Macht zugetraut wird. Auf die heikle Frage, ob eine Einflußnahme der Toten auf die Gedanken von Lebenden möglich ist, werde ich später zu sprechen kommen. Was von mir übrig ist, kehrt jedenfalls nicht in Fleisch und Blut wieder und wandert auch nicht in eine ekelhafte Schrumpfhaut gehüllt und mit klappernden Knochen kitschblau beleuchtet umher. Ich röhre nicht, ich kreische nicht, ich hauche keinen todbringenden Atem aus und werfe keinen Schatten an die Wand. Waffen befinden sich nicht in meinen unsichtbaren Händen.

Das alles mag traurig klingen. Im Moment spüre ich jedoch nichts davon. Meine Gefühle sind reduziert. Noch da, aber reduziert. Ein bißchen Neugier ist geblieben. Hie und da treibt sie eine kleine Blüte. Eine umfassende Sättigung durch das Nichts ist demnach nicht eingetreten. Was ich empfinde, was ich denke, ist aus einem hohlen Sein herausgeholt, eine bessere Bezeichnung fällt mir dazu nicht ein. Meiner Neugier sind Grenzen gesetzt. Sie reicht für kurze Beobachtungsintervalle, erschlafft dann allerdings, und ich sinke zurück in eine Art Bewußtlosigkeit, die mich willenlos durchs All driften läßt.

Es ist nur eine alte Gewohnheit, von mir als einem Ich zu sprechen, ein besseres Wort habe ich dafür leider nicht zur Verfügung. Um mich ein wenig zu wiederholen: In diesem Schlüsselwort der Selbstbehauptung liegt etwas, dem mein Zustand nicht entspricht. Umständlich ausgedrückt müßte von mir als einer flottierenden Wesenheit mit unklaren Konturen gesprochen werden, die keine Laute ausstoßen und niemanden so berühren kann, daß er es merkt, als einer, die das Bewußtsein rasch verliert, es bisweilen erlangt und wieder verliert.

Gott?

Ein heikles Thema, das ich bisher nicht ergründen konnte. Vielleicht ja, vielleicht nein. Hölle? Himmlisches Paradies? Purgatorium? Keiner der drei klassischen Aufbewahrungsorte für Seelen, die aus toten Leibern entwichen sind, habe ich bisher zu sehen bekommen. Schwer zu sagen, wo ich mich befinde, ob meine einsame Drift nur eine vorläufige ist, bis gewisse, mir unbekannte Entscheidungen von hoher Warte aus getroffen werden. Die Einsamkeit setzt mir allerdings zu, liebend gern würde ich mit anderen Toten sprechen, die sich schon länger im Universum befinden. Eine genaue und vielleicht sogar peinigende Selbstbefragung ist mir leider nicht möglich, weil mein vergangenes Leben seltsam wischig an mir vorübergeglitten zu sein scheint, als hätte nicht ich in dieser Fleischhülle gesteckt, sondern ein naher Verwandter von mir. Ein Haufen Lügen über mich selbst wird sich wohl angesammelt haben. Die Erbschaft wohltuender Lügen, die das eigene Leben in einem günstigen Licht aufscheinen lassen, schleppt jeder Mensch mit sich herum. Sobald ich versuche, mich gewisser Erinnerungen zu bemächtigen, sacke ich weg in einen porösen Zustand, und es beginnt ein alptraumhaftes Gelöschtwerden der Bilder.

Mein Name? Warum kann ich mich nicht an meinen Namen erinnern? Er scheint bedeutungslos zu sein, denn ich grüble ihm nicht hinterher. Obwohl ich immer an die Namenshaft geglaubt habe, in der so etwas wie der kondensierte Kern der Persönlichkeit enthalten ist. Jetzt hat sich der Name verloren. Noch kurioser ist allerdings, daß mir die Zuschreibung, ein Mann oder eine Frau gewesen zu sein, momentan ebenso gleichgültig ist. Wohl eher Mann als Frau, aber das bleibt, wie so vieles andere auch, im Ungefähren. Im vorherigen Leben war es wichtig, da mag ich ein Mann gewesen sein, aber jetzt? Was bedeutet es schon?

Blicke ich auf die Erde hinab und erkenne meine Freunde, ist der Unterschied natürlich klar, aber diese leben ja noch in der ihnen einst zugewiesenen Geschlechtshülle (man verzeihe bitte das umständliche und auch unschöne Wort). Was meinen Namen angeht, könnte ich natürlich den Blick scharfstellen in Richtung der Buchstaben, die auf meinem Grabstein stehen. Warum tue ich es nicht? Warum will ich es offenkundig nicht? Schwer zu sagen. Vielleicht erfreue ich mich derzeit an einer gewissen Unbestimmtheit meines Wesens und will die Namenshaft möglichst lange hinauszögern, vielleicht ängstige ich mich davor, mit vollem Namen gerufen zu werden und damit meine Sünden in grellem Licht vorgeführt zu bekommen. Das Ungefähr hat seine Vorteile, aber ich zweifle an dessen Dauer. Das Einhausen in etwas Unbestimmtem kann kein immerwährender Zustand sein. Es wäre zu fade, zu belanglos, vor allem aber zu hoffnungslos.

Vielleicht spricht einzig und allein für mich, daß ich meist redlich versucht habe, mir meine Sünden möglichst lebfrisch vor Augen zu halten. So gut es eben ging. Manch kleinere Sünde mag mir dabei entgangen sein. Die, die zählen, hoffentlich nicht. Gut möglich, daß ich der Selbsttäuschung erliege, ein besonders gründlicher Sündenbohrer gewesen zu sein. Wie auch immer, zu wissen, was man getan hat, heißt jedenfalls noch lange nicht, daß man ähnliches nicht sogleich wieder tut. Diese bittere Erfahrung habe ich mehrmals gemacht.

Woraus bestehen meine Sünden? Aus Geschwätz. Aus so manch übler Nachrede, aus unbezwinglicher Klatschsucht, Selbsterhebung unter dem Deckmantel der Bescheidenheit, mangelnder Hilfeleistung (einzugreifen, wo ich hätte eingreifen können), aus Besserwisserei, ja, auch aus Diebstahl in der Pubertät. Vergessen sei nicht die Mordlust, ausgemalt in bohrender Schwärze in so gut wie allen Lebenslagen. Wie oft habe ich daran gedacht, mir eine Kalaschnikow zu besorgen und damit jemanden, wie es so kraß heißt, eiskalt, effektiv und ohne Reue umzunieten. Natürlich nur Leute, die das verdient hatten, denn ich war ein moderner Robin Hood, ein Rächer der Armen und Geschundenen. Unter dem Phantasiemäntelchen der Gerechtigkeit und unbesiegbaren Stärke tobten sich meine wüsten Begierden aus. Doch womöglich ist mein Sündensumpf viel größer, als ich zu erkennen vermag, gefüllt mit einer schwammigen Sättigung aus Selbstsucht, Überdruß und Weinerlichkeit.

Was von mir übrig ist, denkt ziemlich chaotisch vor sich hin, allerdings nicht mehr aggressiv. Keine Ahnung, weshalb mich jetzt schon wieder das Thema Grab am Wickel hat. Zwar wollte ich immer auf einem normalen Friedhof landen, möglichst ohne allzu viel Gewese, doch vor etlichen Jahren sah ich den Film Dead Man von Jim Jarmusch mit Johnny Depp alias William Blake in der Hauptrolle. Kurios. Warum erinnere ich mich plötzlich an all diese Namen, obwohl der Rest meines Gedächtnisses Mühe hat, die simpelsten Dinge zu vergegenwärtigen, die mich früher tagtäglich umgeben haben?

Haargenau kann ich mich an die Filmszene erinnern, in der Blakes Leichnam in ein Kanu gepackt und aufs Meer hinausgeschoben wird, um von sanften Wellen davongetragen zu werden. Mir erschien's als die beste aller möglichen Bestattungsformen, vermutlich aber nur, weil es im Film so schön poetisch aussah. Eine exzellente Schwarzweißaufnahme hat das Zeug zur Verklärung. Das Wellengemurmel konnte man sich gut dazu vorstellen, als das Meer das Kanu mit dem Toten empfing und gehorsam seinem Auftrag nachkam, das Schifflein auf die hohe See zu geleiten. Ein Leichnam, der auf schier unendlichem Wasser, das sich über den gesamten Horizont spannt, langsam außer Sicht gerät, zieht mit melancholischer Intensität dahin – sanft, sehr sanft, ohne Mastkorb, Segel, Steuerrad und Wimpel, hinaus in die einsame Weite des Ozeans.

Wenn Erdklumpen auf den Sarg fallen oder der Tote in einen höllischen Ofen gefahren wird, kann keine zarte Trauer aufkommen. Aber ich wußte natürlich nur allzu gut: So schön wie in diesem Film, auf so wundersam poetische Weise sich dem Blick der Betrachter entziehend, würde meine eigene Beerdigung niemals sein können. Weil ich kein Indianer bin und auch kein Filmschauspieler. In einem Halbdunkel, über das sich allmählich die Schwärze senkt, lösen sich die letzten unsichtbaren Verankerungen, die mich gerade noch in der Schwebe hielten, und ich tauche ab.

Flugmanöver

Imponiert hat mir früher der Tod der Vögel, die einfach vom Himmel, von einem Dach, einem Baum herabfallen oder in der Nische einer Klippe sterben, eingelassen in eine geschrundete Wand, die manchmal wie ein großes Menschengesicht aussieht. Solche Felsgesichter, gespickt mit Vogelnestern, habe ich auf Photographien gesehen. Vögel sind zugleich Todes- und Himmelsboten. Wenn sich Krähen auf dem Dach versammeln, naht der Tod. Wenn Schwalben ihre außerordentlichen Flugkünste am hohen Himmel zeigen, legen sie Zeugnis davon ab, daß eine andere Welt existiert als die, die wir kennen. Weniger schön ist allerdings, wenn ein Vogel verletzt am Boden liegt und von einer Katze erwischt wird, die noch ein Weilchen mit ihm spielt, bis sie ihn erledigt. Bekanntlich gibt es für Menschen und Tiere die grausamsten Todesarten, in die ich mich jetzt nicht hineinversetzen will. Obwohl mein eigener Tod sich in einer undeutlichen Erinnerungsschwebe hält, die sich immer wieder zerlöst und nur bruchstückhaft wieder zusammensetzt, vermute ich, daß er gelinde war, ohne daß mein Leib das Endtheater des Aufbäumens und des Widerstandes inszeniert hätte. Eine ruhigere Todesart paßt besser zu mir, weil mir mit zunehmendem Alter jede Form der Aufsässigkeit und des Krakeels zuwider war. Aber vielleicht täusche ich mich, vielleicht sogar gründlich. In wesentlichen Dingen habe ich mich immer getäuscht. Es beschleicht mich sogar …

Ruhige Todesart hin oder her, das Gedicht von Dylan Thomas auf den Tod seines Vaters habe ich immer geliebt. Von Do not go gentle into that good night kann ich immer noch etliche Zeilen auswendig hersagen:

Do not go gentle into that good night,

Old age should burn and rave at close of day;

Rage, rage against the dying of the light.

Aber hier spricht nicht der Todgeweihte selbst, sondern sein Sohn, der sich gegen das Schicksal des offenkundig geliebten Vaters auflehnt. Natürlich wäre es wunderbar, könnte sich meine Seele unter die Schar der Vögel mischen und mit ihnen über weit entlegene Landstriche hinwegziehen. Manche von ihnen haben witzige Namen, der Kakapo etwa, der allerdings nur in Neuseeland während der Nächte zugange ist. Er kann nicht vom Boden abheben und behilft sich damit, auf Bäume zu klettern und herabzusegeln. Ein so schönes moosgrünes Gefieder wie ein Kakapo zu besitzen, wäre nicht schlecht, aber mein Freund Gerhard Neugereuth, der ein leidenschaftlicher Hobby-Ornithologe ist, hat mir erzählt, sein Schwanz sei vom Schleifen am Boden zerschlissen. Eine Seelendrift in den Lüften wäre also in Kakapoform leider nicht möglich. Als Albatros vielleicht? Womöglich der aus dem berühmten Gedicht von Samuel Taylor Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner? Dieser sagenhafte Großvogel, der einem Segelschiff den Weg weist, vom Seemann jedoch getötet wird, worauf eine Geisterschiffahrt durch die Gefilde des Todes beginnt?

Ich sollte damit aufhören, mir vorzustellen, als Vogel unterwegs zu sein. Das können nur die Engländer, sie sind ja weltweit die größten Ornithologen, passionierte Beobachter insbesondere von Seevögeln. Im übrigen wird ein Mensch, der die Einkehr des Todes hinter sich hat, nicht zu einem Tier. Solche Verwandlungsgeschäfte betreibt die Mythologie, die dazu eigens Pavillons mit aufziehenden und wieder abflauenden Brisen erfand, die durch Fensteröffnungen wehen. Zweifellos tut sie es auf zauberischen Dichterwegen, aber ich fühle mich der Wahrheit verpflichtet und kann da nicht mithalten. Die Wahrheit ist spröde, meine ist simpel: Ich bin einsam in nie gekanntem Ausmaß, aber kann nicht schreien oder mich fluchend bemerklich machen. Tränen werden nicht produziert, es wäre auch ganz unsinnig, denn an einem nicht mehr vorhandenen Gesicht rinnt nichts herab. Allerdings kann ich fliegen, aber nicht mit Hilfe von Schwingen und auch nicht aus eigenem Antrieb, sondern eher im Sinne eines Hin- und Hergewehtwerdens, das mich dahin und dorthin treibt, wobei der Anteil, den mein eigener Wille dabei spielen mag, vermutlich gering ist.

Wenn man es leben nennen will, so lebe ich nur mehr in Gemütszuständen und in einer schwer zu beschreibenden diffusen Form, die es mir ermöglicht, hin und wieder Blicke auf die Erde zu werfen. Diese Sicht ist ganz anders beschaffen als der Normalblick eines lebendigen Menschen. Meine Sehweise kann Mauern mühelos durchdringen, wenn ich unbedingt wollte, könnte ich sogar ins Innere eines menschlichen oder tierischen Körpers schauen, könnte ein Herz zucken sehen und den Weg beobachten, den die Nahrung durch Speiseröhre, Magen und Darm nimmt. Aber diesbezüglich ist meine Neugier begrenzt. Der medizinische Scharfblick hat mich nie interessiert.

Obwohl in meinem jetzigen Zustand bisweilen durchaus von einem Scharfblick gesprochen werden kann. In seltenen Momenten bin ich äußerst wach, fast schmerzhaft wach, dann geben sich meine nicht mehr vorhandenen Augen oder vielmehr das, was von ihnen übriggeblieben ist, gefräßig der Vielfalt des Lebens hin, der ich gerade zufällig begegne. Doch sofort stellt sich ein stechender Schmerz ein, weil mir klar wird, keinen Anteil mehr zu haben an den Handlungen eines Menschen, der auf zwei Beinen herumspaziert, seine Arme und seinen Mund bewegen kann. Manchmal kommt es mir so vor, als würden Leute, die ich beobachte, ihr rühriges Zuhandensein mit Absicht zur Schau stellen, um mir zu zeigen, wie munter sie sind und ich es nicht mehr bin.

Es fragt sich, ob ich am wirklichen Dasein so sehr gehangen habe, wie es mir gerade vorkommt. Seit dem Tod von Marie, die mir plötzlich wieder lebhaft vor Augen steht mit ihrer natürlichen Grazie, dem aufmerksamen Blick, wurde ich zunehmend ängstlich, weil mich die Nachrichten über die Katastrophen, die keineswegs in allzu weit entfernter Zeit über die Menschen hereinbrechen würden, mehr und mehr der Tatenlosigkeit und Trübnis auslieferten. Die forsche Leninsche Frage Was tun?, die der Revolutionär naturgemäß mit einer eiskalt und bis ins Detail ausgearbeiteten Ideologie beantwortete und dabei kaum einen Stein auf dem anderen ließ, fand in meinem Erwachsenenleben keinen Widerhall mehr. Die Studentenzeiten rauschten so dahin mit aufgekratzten Theorien, von den französischen Philosophen zu uns nach West-Berlin über die Grenzen geworfen, wo sich auf dem kommunistischen Leichnam eine tolldreiste Spielwiese eröffnete, auf der plappernder Unsinn sich mit subtilen freudianischen Theorien stritt, die alles mögliche in den Blick nahmen, allerdings nicht die Gefahr der Auslöschung des Menschen durch den radikalen Raubbau an der Natur.

Wieder einmal wird mir bewußt, wie sehr ich Marie vermisse, deren pragmatische Heiterkeit mich zuverlässig davor bewahrt hat, im Sumpf der tatenlosen Grübelei zu versinken. Bin ich einst tatsächlich Professor gewesen? Im Fachbereich Philosophie an der FU? Hatte ich Studenten, die bloß Witze über mich rissen, oder solche, die mir wirklich zuhörten? War ich Kantianer oder Hegelianer oder ein vermessener Wittgenstein-Faselant, der das Dörrfleisch von dessen kargen Sätzen mit der eigenen Spucke wässerte? Womöglich war ich bloß ein Schwätzer mit Imponiergehabe, der so tat, als wäre er … als könnte er Professor sein, wobei allein der Begriff Fachbereich Philosophie in meinen toten Ohren so idiotisch klingt, daß ich an allem zweifle, was ich je gedacht und getan haben mag. Selbst wenn ich ein offiziell bestätigter Professor gewesen sein sollte, was mir inzwischen sehr wahrscheinlich vorkommt, habe ich ihn bloß gespielt, viele Jahre lang auf einer minderwertigen Bühne vor jungen Leuten, die im Grunde ebenso ratlos durch die Welt geisterten wie ich.

Das fruchtlose Gegrübel strengt an. Mein innerer Plapperatismus hat sich inzwischen müd gelaufen, mir scheint gar, ein mausfeines Stimmchen bitte um: erlöse mich von dem Übel –, aber von welchem Übel genau weiß das Stimmchen leider nicht, weil es in einem verwirrten Professor oder einfach nur in einem gewesenen Aufschneider rumort, der sich so in sich verwickelt hat, daß er sich selbst nicht mehr kennt und wahrscheinlich nie gekannt hat.

Seinsgüggeli

Halt. Mehr Klarheit bitte. So geht das nicht weiter. Besinnen wir uns: Was weiß ich, was weiß ich nicht. Was der Philosoph Heidegger in stürmischen Tagen ausgeführt hat, kann ich inzwischen nur bestätigen – der Tod sei kein Ereignis des Lebens, sondern die absolute Grenze, vor der sich das Rätsel des Lebens zurückbiege. Ungefähr so habe ich ihn damals verstanden, als ich mit zweiundzwanzig sein großes Buch las. Ob ich dabei falsch- oder richtiglag, ließ sich nicht überprüfen. War mir auch egal. Ich wollte einfach der Meute zeigen, was für ein toller Scheißkerl ich war mit meiner Menge an Heideggerwörtern im Gepäck, mit all dem Seienden inmitten des In-der-Welt-Seins und der existenzialen Struktur des Gewissens, inklusive meines höchstpersönlichen Anrufverstehens als Vorrufen zum Schuldigsein. Mei o mei! Was für ein halbverstandenes Geschwurbel ließ ich auf meine Freunde los! Außerdem kam ich mir maßlos schick vor, weil Heidegger unter den Kommilitonen damals nicht der große Renner war. Die Heroen hießen Michel Foucault, Roland Barthes und Jacques Derrida.

Heidegger wurde kaum gelesen. Seine Schwarzen Hefte waren damals noch nicht publiziert, aber sein Flirt mit den Nazis war bekannt, auch deshalb war er ein vom Unheimlichen umwitterter Name. Was uns nicht davon abhielt, eine ausgelassene Sein-und-Zeit-Party mit Papiermützen auf den Köpfen zu feiern, die unsere verschrobene Seinsgebundenheit anzeigen sollten. Gerhard, Wolfi, Köbi, Margit und Rudi, Gertrud, Marie, unsere Gastgeberin Dorothea, genannt Doro, ich und noch zwei, drei andere Leute, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, waren mit von der Partie. Köbi, unser Freund aus dem Tessin, hatte ziemlich LSD geladen, er hüpfte herum, verschwand in der Küche, kam mit einer Packung Linsen wieder heraus und begann, während er die Linsen auf den Boden schüttete, entzückt von den Seinsgüggeli zu schwafeln. Leider weiß ich nicht mehr, was diesen Seinsgüggeli in philosophischer Hinsicht zuzutrauen war. Freund Martin hätte dieses alberne Treiben vermutlich nicht sonderlich geschätzt. Ich fand's klasse. Und die anderen auch. Vom Hoch- oder vielmehr Höchstgestochenen runter zu den Linsen. Unsere Gastgeberin konnte Köbi nur mit Mühe davon abhalten, das Experiment mit Kaffeebohnen und Erbsen zu wiederholen. Köbi (Autounfall) und Gertrud (Magenkrebs) sind schon etliche Jahre tot, mein Lebensmensch, wie Thomas Bernhard immer so schön sagte, will heißen, meine Marie, ist vor wenigen Jahren gestorben. Ob Wolfi noch lebt, weiß ich nicht, jahrzehntelang hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Doro hat vor vielen Jahren einen Italiener geheiratet und ist mit ihm nach Mailand gezogen.

In einer Hinsicht verstehe ich den Philosophen jetzt vielleicht besser. Er betonte, daß sich der Tod nicht mitteile. Das Schweigen sei über ihn verhängt. Ein verdächtiges Schweigen, möchte ich hinzufügen, oder ein drohendes. Beileibe nicht das Schweigen eines Schüchternen, der schamhaft die Lider senkt. Andererseits ist das Schweigen in der Absolutheit des Todes einfach nur Schweigen und sonst nichts. Es war also nur konsequent, daß Heidegger sich weigerte, dem Gebirge an Spekulationen, das die Menschheit im Lauf der Jahrtausende über den Sensenmann aufgetürmt hat, eine weitere hinzuzufügen. Der Sinn entfernt sich von allen Aufgeregtheiten, die das Leben mit sich bringt, und strömt in die Lautlosigkeit, um dort Festtag zu feiern. Heidegger sah im Tod einen überaus mächtigen Antreiber des Denkens am Werk, der durch sein beharrliches Schweigen Unmassen von Gedanken produzierte.

Natürlich dachte Heidegger dabei nicht an frei flottierenden Schwachsinn, nicht an das unendliche Gebrabbel aus allen Mündern der Welt, sondern an eine kompakte, alles durchdringende Sinngebung, angezogen vom Erhabenen. Erst jetzt kann ich nachvollziehen, was damit gemeint sein könnte, auch wenn ich es gedanklich nicht genau fassen kann, weil mir die zur Verfügung stehenden Wörter dafür zu banal vorkommen. Ich denke dabei eher an intelligible Teilchen, die im Kosmos verschlungene Strickmuster bilden, in denen sich ein außerordentliches Wissen verbirgt, das sich ständig erneuert und im Gefunkel der göttlichen Erleuchtung aufscheint. Zwar bleibt mir vieles verborgen, aber dadurch, daß eine große kontemplative Ruhe in mir Raum gegriffen hat (kurioserweise in einem Raum, den es handgreiflich nicht mehr gibt), bin ich vom schnatternden Wahnsinn befreit, der die Gefühle der Lebenden anstachelt und sie zu unvernünftigen Handlungen treibt. Weil die radikale Dunkelheit meine Augen leerte, sehe ich jetzt anders.

Empörender- oder tröstlicherweise? frage ich mich inzwischen bezüglich der Loslösung von allem Zuhandenen. Zwar mag über den Tod selbst das Schweigen verhängt sein, über mich, der ihn erlitten hat, aber nicht. Unmerklich bin ich in dieses Schweigen übergewechselt, das ich als fressendes Schweigen bezeichnen möchte, denn es löschte mir vieles, was zuvor lebhaft erinnert und in der Erinnerung im Lauf der Jahre verändert werden konnte. Aber was alles weg ist, läßt sich nur vermuten. Mir scheint, die Erinnerung sei zu kleinen blockhaften Stücken zusammengepreßt, die ich weder bewußt aufrufen noch ummodeln kann. Als Entschädigung für den Schwund so mancher Episoden bin ich mit übernatürlicher Seh- und Hörkraft begabt, ungefähr so, als wäre mir das komplette Abhör- und Kamerapotential, das heutigentags zur technischen Verfügung steht, implantiert worden. Allerdings fällt es immer wieder komplett aus, und ich verschwinde in einer Drift, in der alle Verankerungen an das Gedächtnis gelöst sind.

Implantiert ist natürlich wieder ein ganz falsches Wort. Was von mir übrig ist, ist aus der Körperlichkeit entwichen. Sagen wir es lieber mit leicht poetischem Anklang: Mir ist das neue Hören, mir ist das neue Sehen zuteil geworden. Doch verdammt bin ich zu einer passiv lauschenden Haltung. Nicht einmal auf den weichen Flüsterwegen der Träume könnte ich nach Gutdünken die Hirne derer, die noch leben, invadieren. Eingebürgert in den Luftraum, genieße ich zwar die Vorteile, mich vom Wind tragen zu lassen oder mittels eines leichten Gleitens etwas näher an Orte zu gelangen, zu denen ich mich hingezogen fühle. Aber es ist mir definitiv verwehrt, Kontakt zu den Lebenden aufzunehmen.

In körperlichen Tagen hatte ich geglaubt oder gewünscht, der Tod sei der überwältigende Sinnstifter, aus dem heraus die messianische Energie in eine neue Seinskomposition einströme, die mit einer anderen Sprache begabt sei, dem bloßen Mitteilen weit überlegen – direkt, präzis, zupackend wie die adamitische Ursprache, zugleich weit über diese hinausreichend. Der Tod als das schockhafte Heilsereignis im plötzlichen Überwältigtwerden von der Wahrheit. In der entsetzlichen Einsamkeit, in der ich mich nun befinde, läßt sich das leider nicht bestätigen. Vielleicht geschieht es noch. Während ich in Berlin auf den Straßen herumspazierte und mir in der Nacht das Kopfkissen zurechtboxte, fand ich die Seinsmöglichkeiten allerdings nicht gar so verstellt, wie Heidegger es von ihnen behauptet hatte. Ganz im Gegenteil, in vielen erotischen Nächten fluteten mir gewisse Seinsbehauptungen nur so zu. Das klingt nach Angeberei, deshalb sei darüber höfliches Schweigen gebreitet.

Vermutlich war ich in meinem früheren Leben ein ziemlich überspannter Mensch. Die Nüchternheit stand mir jedenfalls selten zu Gebote. Allenfalls, wenn meine Rechenkünste gefragt waren. Da war ich zackzack bei der Sache und haute zur Verblüffung der Anwesenden schnelle Ergebnisse nur so heraus. Einmal verstieg ich mich zu der Idee, die Gesamtzahl der Spinnenbeine auf Erden ad hoc errechnen zu können, wofern man mich mit einer glaubwürdigen Schätzung beliefere, wie viele Spinnentiere, Milben inbegriffen, auf ihren acht Beinen seinerzeit auf der Erde herumkrauchten. Natürlich war das Quatsch. Die Vorschläge, die da in alkoholisierter Runde unterbreitet wurden, schwankten zwischen zehn schlappen Millionen und einigen Trillionen. Fehlte nur noch, daß ich das Experiment mit der berühmten Nadelspitze und den Engeln in Anschlag brachte. Eigentlich schade! Wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz finden könnten, ist nämlich ein erstklassiges Thema, das übernatürliche Rechenkünste erfordert, aber leider leert sich gerade so ziemlich alles, was von meinem Kopf noch übrig sein mag, dessen Restsubstanz ich gern ausleihe, damit die Engel sie bewimmeln und sich selber zählen, denn es kommt nun über mich, wie es schon öfter kam – der Abgesang in aller Stille hat begonnen und läßt sich nicht mehr stoppen.

Chaotische Heerschau

Aus der Stille, aus dem Nebel bin ich wieder mal rausgekrochen. Die Sicht ist gestochen scharf, aber bruchstückhaft. Ich sehe hinauf zur Mondsichel, als gäbe es keinen Himmel, blicke hinab, sehe den mit tausenderlei Lichtern besteckten Berliner Stadtfladen ausgebreitet, als schwebe er über der Erde. Kein harmonisches Ganzes zeigt sich, Himmel und Erde erscheinen auseinandergerissen, als hätte ein gewaltiger Blitz eingeschlagen und alles voneinander abgespalten. Still ist es um mich, totenstill. Eine ratlose Traurigkeit ist über mich gekommen, die viel von dem zunichte macht, was ich bisher über meinen sonderbaren Zustand gedacht habe. Wut bricht aus, böse Rätsel halten mich in ihrem Bann. Warum ich? Warum ich so allein? Warum erfahre ich mich überhaupt noch als etwas, das sich so anfühlt, als sei es noch am Leben? Warum bin ich zwischen Mond und Erde festgehalten, gerade so, als sei ich an einem Nagel im Universum aufgehängt? Und niemand sieht mich, nicht einmal die Nachtvögel, die weit unter mir ihre Kreise ziehen, mit winzigen Rucken der Verzögerung in ihren Flügen, womit sie mir beweisen wollen, daß in meinem Gemütszustand Stillstand und Bewegung sich die Waage halten.

Die Unerkennbarkeit gehört zu Gott, weil Er dadurch um so mächtiger wirkt. Einem Menschen steht sie nicht zu. Auch wenn wir unsere wahren Gedanken noch so sehr verheimlichen, sind wir bis zu einem gewissen Grade durchschaubar – und natürlich sichtbar in allen unseren leiblichen Zuständen, auch in der Verrottung. Einen Menschen, der irgendwie lebt und auch wieder nicht lebt, treibt das Tarnkappengewese zur Verzweiflung. Es hat ja nicht den geringsten erkennbaren Zweck. Ich bin kein Siegfried, der anstelle des Königs Brunhilde niederringt. Ich fliege in keinem militärischen Geschwader umher, das sich vor dem Feind verbirgt. Vielleicht bin ich ein Bote aus einer geschwärzten Welt, ein Gefangener, beladen mit einer ungeheuren Schuld, dem es verwehrt ist, ins Nichts heimzukehren.

Mir geht nichts voraus, mir folgt nichts nach als die Stille. Mein Kerker besteht aus Luft. Dennoch bin ich bepackt mit meinem gefühlten Leben, das Säcke voller Erinnerungen mit sich herumschleppt. Wie im Leib des Märtyrers Sebastian die heiligenden blutbefleckten Pfeile stecken in mir die unheiligen unsichtbaren Zweifel. Sogar der Himmel erscheint mir fragwürdig, mit dem Effekt, daß ich mir meiner selbst nicht sicher bin. Früher befand sich der Himmel einfach über meinem Kopf. Strahlend blau, wölkchendurchsetzt, kometendurchzogen, von Blitzen durchzuckt, sternenbesät, finster.

Inzwischen bin ich ein leichtes Nichts, beschwert von einer bleiernen Melancholie, die wie eine Säure meine bisherigen Gewißheiten zersetzt. Alles in mir scheint sich aufzuzehren. Was von mir übrig ist, empfindet einen nagenden Mangel, der Löcher in die Gedanken frißt. Mal fühle ich mich lahm, dann wieder tobt ein Kampf in mir. Schreien will ich, mörderisch laut, damit alle Bewohner Berlins aus ihren Häusern stürzen und zu mir aufblicken. Auch wenn sie mich nicht sehen können, wäre es doch eine Genugtuung, wenigstens stimmlich einen Aufruhr zu erzeugen.

Daß solche Ideen idiotisch sind, weiß ich längst. Aber was soll ich in meiner verzweifelten Einsamkeit anderes tun, als mir am laufenden Band irgendeinen Unsinn auszudenken? Die Sätze, die dazu in mir geboren werden, scheinen in korrekter Schrift an mir vorbeizuwehen, um in den unendlichen Weiten des Kosmos zu verschwinden. Bewußt, unbewußt, frech vergrößert und im nächsten Moment wieder ins Kleinlaute geschrumpft, wirrsinnig oder klar, empfindlich oder abgebrüht, melancholisch oder triumphierend – in manchen Sekunden fühle ich mich lebendiger als vor dem Tod. Wenn etwas geschieht, geschieht es rascher als früher; wenn meine Aufmerksamkeit erschlafft, dämmere ich schneller weg als zu Lebzeiten.

Finstere Wolken ziehen am Mond vorüber. Schattengebilde aus ungreifbarem schwarzem Flaum. Bin ich vielleicht gar nicht tot und stecke in einem üblen Traum aus schwarzem Gewölle, der nicht enden will? Quatsch. Ich bin tot. Allein der leichenhafte Selbstekel beweist mir, wie tot ich bin. Dazu paßt, daß ich mich gerade jetzt an den toten Spatzen erinnern muß, der als verkohlter Batzen im Rinnstein der Mommsenstraße lag, weil ihn der Blitz getroffen hatte. Direkt vor Gerhards Haus mit der Nummer … was hatte es noch mal für eine Nummer, sein Haus? Dreiundfünfzig? Sechsundfünfzig? Siebenundfünfzig? Aus großer Höhe herabblickend, will sie mir nicht mehr einfallen, anscheinend halten sich die beiden Ziffern in einem verborgenen Winkel meines früheren Lebens versteckt.

Was gäbe ich darum, sichtbar zu sein, für einen Moment nur, danach mag mich der himmlische Kehrbesen wieder ins Nichts fegen. Dann würde ich vielleicht etwas Wichtiges hineinretten in dieses Nichts, und die Drohungen, die unablässig aus diesem Finsterhimmel auf mich herabregnen, könnten mir weniger anhaben.

Als ich noch in ihm steckte, war mein Körper vielleicht niemals bis in die letzte Faser hinein wirklich. Vera icon, ave verum corpus. Einen wirklich wirklichen Körper besaß nur Christus, deshalb waren die Schmerzen, die er litt, so stark (glauben manche Leute). Ich bin weder gläubig noch musikalisch, noch wirklich, erst recht nicht wahrhaftig, Lügen gehören vermutlich immer noch zum eisernen Repertoire meiner Selbstbehauptung. Voller Bangen bewegen sich meine Gedanken in einer zittrigen Vergangenheit, während ich in einem Schwebezustand voller Schuld verharre, in den ich mit Fledermausohren hineinhorche, ohne daß ein Echo zu mir zurückkäme. Vielleicht fühlt sich mein Seelenmüll nicht genügend schmutzig an für das Aufkommen einer reinigenden Klarheit, nach der ich mich sehne.

Furchtbar anstrengend ist das alles. Die kleine Metaphysik meines Unglücks ist letztlich doch nicht der Rede wert. Höchste Zeit, daß ich mir wieder abhanden komme.