Titel

Gabriele Diechler

Schokoladentage

Roman

Insel Verlag

Widmung

FÜR ARINA

Es ist großartig, Pläne zu schmieden
und diese umzusetzen, und es berührt uns,
Zusammenhalt und Glück zu erfahren.

Doch es gibt auch die dunklen Tage,
an denen wir nicht wissen, was wir tun können
und wie wir diese Tage überstehen sollen.

Wir beide – du und ich – haben in den
vergangenen Jahren Schönes und Schweres erlebt.
Manches war herausfordernd. Nicht immer
waren wir uns einig.

Aber wir lernen jeden Tag aufs Neue
offen durchs Leben zu gehen.

Diese Ehrlichkeit und Nähe macht jeden
unserer Schokoladentage aus.

Helenes Notizen 1

Wenn du entschlossen bist, neue Wege zu beschreiten:
Aprikosenkuchen mit Sonnenblumenkernen

Träume sind dazu da, dich glücklich zu machen,
bevor sie Realität geworden sind.

1. Kapitel

November

Es gibt Augenblicke, in denen die Zeit stillzustehen scheint. Leons Zusammenbruch war ein solcher Augenblick. Alwy fing ihn auf, als er nach vorn sackte, und hatte Mühe, ihn zu halten.

»Rufen Sie die Rettung, schnell!«, schrie sie. Ihr Kopf fuhr herum. Blitzschnell huschten ihre Augen über die Menschen im Café. Jemand musste ihr helfen. Leon war beinahe eins neunzig groß und schwerer als gedacht.

Ein Mann eilte auf sie zu und half ihr, ihn zu stabilisieren; eine Frau zückte ihr Smartphone und verständigte den Krankenwagen. Alwy überlegte fieberhaft, was sie im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte? Jetzt kam es auf jede Minute an. Oberkörper hochlagern und warm halten, glaubte sie sich zu erinnern.

Die Sanitäter waren rasch vor Ort, hoben Leon auf eine Trage und schoben ihn aus dem Café. Alwy lief neben ihnen her und sah zu, wie sie Leon in den Rettungswagen hievten. Einer der Sanitäter fragte sie, ob Leon unter einem Herzfehler litt?

»Ich weiß es nicht«, stammelte sie nur. War es ein Schlaganfall? Ein Herzinfarkt? Oder was sonst?

Sie entschied sich, mitzufahren, und stieg auf die Trittstufe, um in den Rettungswagen zu gelangen. Hoffentlich würde sie während der Fahrt einen Hinweis auf Leons Zustand aufschnappen. Ihr wäre schon mit einem einzigen verständlichen Satz geholfen. Doch die medizinischen Fachausdrücke, die die Männer austauschten, waren nur schwer zu deuten.

»… venöse Verweilkanüle … Drittellösung … Offenhalten der Atemwege …«

»Ist einer von Ihnen Notarzt?« Sie schaffte es kaum, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

»Wir sind Sanitäter. Bitte bewahren Sie Ruhe! Wir sind gleich im Krankenhaus.«

Alwy schnürte es die Kehle zu. Es war schrecklich, nichts tun zu können und abwarten zu müssen. Im Krankenhaus würde man ihr sicher Auskunft geben. Sie versuchte, tief durchzuatmen, doch die Gedanken ließen sich nicht verscheuchen, sie verstärkten die bedrückende Angst, die in ihrem Hinterkopf lauerte. Die vergangenen Monate waren nicht einfach gewesen. Sie hatte unter schrecklichem Liebeskummer gelitten, doch ab diesem Tag sollte es für Leon und sie endlich wieder bergauf gehen und nun das …

In der Notaufnahme erreichte die Hektik einen neuen Höhepunkt. Eine Schwester drängte sie forsch zur Seite. Von dem kurzen Wortwechsel zwischen Ärztin und Sanitäter bekam sie kaum etwas mit. Doch der Blick der Notärztin auf Leons Gesicht, das vom Beatmungsgerät fast ganz verdeckt war, sagte mehr als Worte. Die Sorge, die sie darin sah, war ihre Sorge – ihre Angst.

Die beiden Frauen schoben Leon wortlos den Gang hinunter. Als die Trage aus ihrem Blickfeld verschwand, kam die erdrückende Erschöpfung wieder hoch, die sie die ganze Zeit verdrängt hatte. Sie konnte die vielen Fragen, die in ihrem Kopf herumschwirrten, nicht ignorieren. Sie musste etwas tun.

»Frau Gräwe, ich begleite Sie in den Wartebereich. Hier können Sie nicht bleiben.« Wie von weit her drang die Stimme des Sanitäters zu Alwy.

»Nein, ich möchte hierbleiben«, bat sie. Den jungen Mann hatte sie inmitten der Wirren beinahe vergessen. Nun sah sie ihn irritiert an.

Der Kuss, den Leon ihr heute im Café am Salzburger Flughafen gegeben hatte, war wie ein Pflaster auf ihrer verwundeten Seele, doch sie würde erst aufatmen können, wenn sie wusste, wie es um ihn stand.

»Bitte, ich kann Leon nicht alleinlassen.« Sie spürte, wie ihr Herz laut gegen den Brustkorb schlug, doch im Kopf war sie ganz klar. Ohne zu überlegen, brachen die Worte aus ihr heraus: »Waren Sie schon mal zu wütend oder zu stolz, um nach einem Streit auf jemanden zuzugehen?«

Überrascht von der Frage, zögerte der Sanitäter. »Ja, leider«, gab er nach einem kurzen Moment des Schweigens zu.

»Dann ist Ihnen ja klar, wie schwer es ist, nicht zu wissen, ob man sich noch aussprechen können wird.« Alwys Finger tasteten nach dem Brief in ihrer Manteltasche. Leons Zeilen, die beim Lesen so widersprüchliche Gefühle in ihr ausgelöst hatten, waren alles, was sie noch von ihm hatte.

»Umlegen. Auf drei.« Die Stimme der Ärztin hallte bis zu ihr. Die Ungewissheit über Leons Zustand lag immer schwerer auf ihr, die Fragen in ihr wurden immer lauter und drängender. Zeit für Überlegungen blieb nicht. Sie lief los und schaffte es bis zum Schockraum. Außer Atem sah sie, wie Leons Körper auf einen Tisch gehoben wurde.

Ihr Blick und der der Ärztin kreuzten sich. Sie war weder Leons Frau noch eine Verwandte. Sie würde nichts über seinen Zustand erfahren … bis auf das, was sie mit eigenen Augen sah. Erneut schossen unzählige Fragen durch ihren Kopf, doch bevor sie eine stellen konnte, fiel die Tür vor ihr laut ins Schloss.

»Kein Puls. Keine Atmung … Kammerflimmern.« Die Augen der Ärztin weiteten sich. In Windeseile klebte sie Elektroden auf Leons freigelegten Brustkorb und langte nach den Paddels. Jeder Handgriff saß, alles geschah blitzschnell. »Hundertfünfzig geladen. Weg vom Patienten … Achtung … Schock.«

Leons Körper zuckte und hob sich vom Bett. Die Ärztin sah zur Schwester. »Geben Sie mir zweihundert. Weg vom Patienten. Achtung. Schock.« Erneut zuckte Leons Körper und landete kurz darauf wieder auf der Bahre. »Komm … komm … komm ….« Die Ärztin verfolgte konzentriert die Linie am Monitor, dann beugte sie sich über Leon. »Dreihundert. Weg vom Patienten … Achtung … Schock.« Ein feiner Film aus Schweißperlen schimmerte auf ihrer Stirn. »Himmelherrgott!«, ihre Stimme wurde unnatürlich laut. »Kommen Sie schon … Bleiben Sie bei uns …« Das Kinn energisch nach oben gereckt, nickte sie zur Schwester. »Schnell. Geben Sie mir Maximum.«

Immer wieder drangen Worte wie von weit her zu Alwy. »Was passiert mit Leon? Was machen die mit ihm?«

Der Sanitäter stieß nervös die Spitzen seiner Turnschuhe gegeneinander, unschlüssig, ob er etwas sagen sollte, und wenn ja, was. »Manchmal ist … die autonome Steuerung des Herzens beeinträchtigt.« Er sprach abgehackt, die Stimme gesenkt.

»Und was bedeutet das?« Alwy spürte, wie ihre Beine weich wurden. Sie stützte sich an der Wand ab.

Der Mann fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, rang offensichtlich mit sich. »Vermutlich Kammerflimmern.« Er zögerte und sprach die bittere Wahrheit schließlich aus: »Sie versuchen, ihn wiederzubeleben.«

Kammerflimmern. Mit einem Mal erinnerte sie sich wieder an die Arztserien, die sie früher angeschaut hatte. Langsam kamen die Fakten zurück. Ihr Erinnerungsvermögen ließ sie nicht im Stich. »Wiederbeleben …?« Sie riss sich zusammen. »Wie viel Zeit hat er … bis die ersten Gehirnzellen absterben?« Nervös zog sie mit den Fingern ihrer rechten Hand am Zeigefinger der linken. Sie durfte sich nicht ihren Gefühlen ergeben, musste stark sein.

Der Sanitäter blickte zu Boden, doch Alwy ließ nicht locker. »Ich weiß, dass Sie Emotionen nicht zu nah an sich heranlassen dürfen …«, sie sprach mit einer Entschiedenheit, die sie selbst überraschte, »… und ich kenne mich mit dem Datenschutz aus.«

Er hob den Blick und sah sie ernst an. »Drei Minuten.«

2. Kapitel

April, acht Monate früher

Nur noch wenige Zentimeter, dann bekäme sie den Griff der Tasche zu fassen und könnte die Rezeptsammlung herausziehen. Wenn sie über das fleckige Leder der Mappe strich, sah sie immer Helene vor sich, die übers ganze Gesicht lachte. Das Beeindruckende waren nicht nur ihr Scharfsinn und ihre zupackende Art gewesen, sondern auch ihr kindlicher Übermut, den sie nie verloren hatte. Wer sonst wäre auf die Idee verfallen, in einer Rezeptsammlung Torten mit Sprechblasen zu versehen, in denen witzige Texte standen. Manche Torten hatten Beine und flüchteten vor einem herausfordernden Rezept. Wenn Alwy Helenes Rezeptbuch aufschlug, war gute Laune garantiert.

Anfangs liebte sie vor allem die einfachen Kuchen. Helene hatte sie – auf die verschiedenen Lebenslagen zugeschnitten – in Kapiteln zusammengefasst: Kuchen, wie eine tröstende Umarmung oder wie eine Aufforderung, sich endlich etwas zu gönnen. Für Helene waren Backwaren immer mehr als Leckereien gewesen; durch sie konnte man zu Menschen sprechen, ihnen etwas mitgeben. Ihr hatte Helene eine Menge mitgegeben. An erster Stelle die Fähigkeit, an sich zu glauben, egal, was das Leben ihr abverlangte.

Noch einmal streckte Alwy die Hand nach ihrer Handtasche unter dem Sitz des Vordermannes aus, doch gerade als sie sie zu fassen bekam, begann sich alles um sie herum zu drehen. Der Boden verschwamm zu einer undefinierbaren Masse.

Alwys Hand erschlaffte, sie kroch aus der Lücke, in die sie sich gezwängt hatte, rang nach Luft und presste ihren Körper gegen die Rückenlehne. Ruhig weiteratmen … sich nicht verrückt machen. Normalerweise buchte sie einen Platz am Gang, um sich nicht so eingesperrt zu fühlen, außerdem aß sie vor jedem Flug etwas Leichtes, damit ihr nicht flau im Magen wurde. Doch diesmal war alles anders. Sie hatte Tokio überstürzt verlassen, und der Flug über Frankfurt nach Salzburg war fast ausgebucht gewesen. Mit Mühe und Not hatte sie einen der letzten Plätze ergattert; und an essen war seit ihrer Trennung von Harald nicht zu denken.

Wie von fern hörte sie die Stimme der Psychologin, bei der sie ein Seminar gegen Flugangst belegt hatte. Erkenne Angst als Hemmschuh. Atme in die Angst hinein und lass sie dann los. Keine Angst vor der Angst zulassen!

Bis vor drei Jahren war Flugangst nur ein Wort für sie gewesen, doch nach der ersten Attacke wusste sie, wie entsetzlich diese Angst sein konnte. Sie nahm ihr den Atem und schüttelte sie durch, bis ihr der Kopf rauschte und sie sich im eigenen Körper fremd vorkam.

Mit fahriger Geste zog sie eine Flasche Baldriantropfen aus ihrer Jackentasche. Sie war leer, trotzdem presste sie sie an sich, als könnte das Fläschchen sie retten. Für den äußersten Fall hatte sie ein leichtes Beruhigungsmittel eingesteckt, doch Tabletten nahm sie nur, wenn es gar nicht anders ging.

Alwy konzentrierte sich auf alles Physische: auf den rauen Stoff unter ihren Händen, ihre Wirbelsäule, die sie fest gegen die Rückenlehne drückte. Ihre Lunge schien sich in ihrer viel zu engen Brust zu weiten. Sie bekam kaum noch Luft.

»Geht es Ihnen nicht gut?« Eine Flugbegleiterin beugte sich zu ihr hinunter und sah sie beunruhigt an.

Hätte sie doch nur das Personal informiert, dass sie unter Flugangst litt. Im Moment war an Sprechen jedenfalls nicht zu denken. Alwy zog ihre schweißnassen Hände zwischen ihren Beinen hervor und sah, dass die Stewardess den Platz ihres Sitznachbarn einnahm, der vorhin zur Toilette gegangen war. »Geben Sie mir Ihre Hand«, sagte sie auffordernd.

Ohne auf eine Antwort oder eine entsprechende Geste zu warten, griff die Frau nach ihren feuchten Fingern, legte ihre Hände darum und begann, auf sie einzureden.

»Es dauert nicht mehr lange bis zum Landeanflug, dann steigen Sie aus und erkunden die Stadt. Haben Sie beruflich in Salzburg zu tun, oder machen Sie Urlaub?«

Alwy nickte beim Wort beruflich.

»Dann bleiben Sie eine Weile in der Mozartstadt?« Die Frau sprach weiter. »Sie glauben nicht, wie ich Sie um die Möglichkeit beneide, Salzburg besser kennenzulernen. Es gibt so viel zu sehen.«

Alwy lauschte dem leisen Singsang. Festung, Mönchsberg, Museum der Moderne, Schloss Aigen. Das alles musste sie sich angeblich unbedingt ansehen. Sie freute sich auf die Stadt und auf ihre Kollegin Tina, mit der sie einen neuen Lebensabschnitt beginnen würde. Doch jetzt musste sie sich erst mal beruhigen.

Alwy ließ alle Infos an sich vorbeirauschen, schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, rhythmisch weiterzuatmen. Plötzlich fiel ihr das Lied ein, das ihre Kollegin Nanami manchmal beim Verzieren der Torten gesungen hatte – ein japanisches Volkslied, das zur Zeit der Kirschblüte an Vergänglichkeit und Neuanfang erinnerte. Vergänglichkeit! Wie sehr sie dieses Wort inzwischen fürchtete. Letzte Nacht hatte sie, wie schon die Nächte zuvor, wachgelegen und darüber nachgedacht, ob es richtig war, Harald nach so langer Zeit zu verlassen, um in Salzburg noch einmal ganz von vorn zu beginnen.

Die Jahre an seiner Seite hatten etwas Abenteuerliches gehabt und waren vor allem durch Haralds brennenden Ehrgeiz gekennzeichnet gewesen; es gab nichts, was er nicht zumindest andachte, um es zum Drei-Sterne-Koch zu bringen. Anfangs war sie voller Freude von einem Hotel zum nächsten mit ihm getingelt. Überall war er der aufstrebende Kochkünstler gewesen und sie die Pâtissière mit den exquisiten Rezepten und der Fingerfertigkeit, die jedermann bewunderte. Es war spannend gewesen, fremde Länder kennenzulernen und sich beruflich zu vervollkommnen, doch mit den Jahren wiederholte sich vieles, und irgendwann war es immer das Gleiche. Arbeiten, bis man vor Müdigkeit fast umfiel, und sparen für irgendwann, wenn es Zeit für eine Familie wäre.

Bei ihrem Umzug nach Tokio war ihr endgültig klargeworden, dass sie sich nach über zehn Jahren im Ausland nach einem Zuhause in Europa sehnte. Zwar hatte Harald gezögert, als er begriff, wie ernst es ihr mit diesem Wunsch war, doch schließlich hatte er zugestimmt. Umso überraschter war sie gewesen, als er ihr vor einigen Wochen von einem Jobangebot in Seoul erzählte.

»Das Restaurant im Grand Hyatt hat bereits zwei Sterne, und nun wollen sie so schnell wie möglich den dritten. Die trauen mir zu, es zu schaffen.« Harald hatte die Haltung eines Mannes angenommen, der sich kurz vor dem Ziel wähnte: gerader Rücken, gestraffte Schultern. Ohne sich vorher mit ihr abgesprochen zu haben, hatte er den Job als Chef de Cuisine bereits zugesagt. Er würde das System, das sie beide so gut kannten – nach längstens drei Jahren war es Zeit für einen Jobwechsel –, weiter durchlaufen. Keine Rede mehr von einem gemeinsamen Heim in Deutschland oder Österreich.

»Du hast gesagt, du hättest eingesehen, dass in einer Partnerschaft nicht nur einer den Ton angeben kann … ›Wir müssen beide glücklich sein.‹ Das hast du mir versprochen!«

Harald hob beschwichtigend die Hände. »Ich weiß, der Job in Seoul war nicht vereinbart … aber das Grand Hyatt ist ein Geschenk des Himmels, Alwy. Ich musste zusagen.« Er nahm ihre Hand und hauchte einen versöhnlichen Kuss darauf, doch Alwy entzog sie ihm. Sie wusste, Harald nahm an, sie würde auch dieses Mal, wenn auch unter Murren, auf seine Karriere Rücksicht nehmen. Doch obwohl sie schlussendlich einlenkte und versprach, ihn ein letztes Mal zu begleiten, setzte schließlich die Erkenntnis ein, dass nicht Harald für ihr Leben verantwortlich war – sie war es. Nur sie wusste, was sie glücklich machte; sie entschied, wo sie hinzog und wie es mit ihr weiterging. Wenn sie jemandem Vorwürfe machen wollte, dann sich selbst.

Alwy öffnete die Augen. Ihr Herz schlug merklich langsamer, und ihr Blick flackerte nicht länger unstet umher. »Ich glaube, es geht mir besser.« Sie wandte sich mit einem Nicken an die Flugbegleiterin. »Danke … für Ihre Hilfe.«

Die Frau schien ihrer Einschätzung nicht zu trauen und sah sie zweifelnd an. »Sind Sie wirklich sicher, dass Sie klarkommen?«

Alwy schaffte ein zuversichtliches Lächeln. »Ja, es geht schon. Ganz bestimmt«, bekräftigte sie.

»Also gut, dann lasse ich Sie mal wieder allein.« Ein letzter prüfender Blick, dann erhob sich die Frau und ging Richtung Cockpit. Alwy sah ihr nach, rieb sich über die schmerzenden Augen und unterdrückte ein Gähnen. Im unpassendsten Moment war er da, bleierner Schlaf. Sie hielt ihre Fingerspitzen unter die Düse über ihrem Kopf und legte sich die kalten Finger auf die Lider, bis sie sich frischer fühlte.

»Sehr geehrte Fluggäste. Wir beginnen den Landeanflug auf Salzburg. Ich bitte Sie nun, Ihren Sitz in eine aufrechte Position zu bringen und die Vordertische hochzuklappen …«

Ihr Sitznachbar kam zurück und schnallte sich an. Alwys Hände krampften sich um die Armlehnen. Sie versuchte, ans Aussteigen zu denken … und an Tina, die sie mit einem strahlenden Lächeln erwarten würde.

Doch anstatt sich zu beruhigen, geisterten erneut Haralds Argumente durch ihren Kopf. Sie hörte seine Stimme laut und deutlich: »Im Grand Hyatt kannst du dich bis ganz an die Spitze arbeiten.«

»Und wenn ich die Erfolgsleiter nicht weiter hinauf will?« Ihre Tränen waren Tränen der Enttäuschung und der Wut gewesen, weil sie nicht zum ersten Mal von Harald für seine Zwecke benutzt worden war. »Wir brauchen nicht noch mehr Erfahrungen oder noch mehr Geld. Wir brauchen ein Heim … und Freunde statt Konkurrenten. Spürst du das denn nicht auch?«

»Ankommen … ständig diese Floskel. Lass dich nicht von Konventionen beeinflussen«, argwöhnte Harald. »Nicht jede Frau muss mit Mitte dreißig sesshaft und schwanger werden. Komm schon … wir haben noch jede Menge Zeit, wir rocken Seoul. Sag ja zu dieser Möglichkeit, sag ja zu mir.«

Vor zwei Monaten, als sie ihren siebenunddreißigsten Geburtstag feierte, hatte sie Harald vom Angebot einer Kollegin erzählt. Bettina Hoske, die sie beide von früher kannten, hatte nachgefragt, ob sie Teilhaberin ihrer Tortenwerkstatt in Salzburg werden wolle. »Um nicht lange drum herumzureden, Alwy, ich hab mich finanziell übernommen und suche nun jemanden, der bei mir einsteigt. Es geht mir aber nicht nur ums Geld, sondern vor allem darum, meine Vision einer kleinen, feinen Tortenwerkstatt mit jemandem zu teilen, der weiß, wovon ich spreche. Da bist als Erste Du mir eingefallen …«

»Typisch Tina. Blauäugig und heillos optimistisch, wo es nicht angebracht ist. Du denkst hoffentlich nicht ernsthaft über das Angebot nach.« Der Blick, den Harald ihr zuwarf, bedeutete: Ohne mich! Ein Blick, den sie nicht ignorieren konnte.

»Keine Sorge, ich weiß, wie dünn die Luft für Tortenkünstlerinnen wie Tina und mich ist.«

Harald verschränkte die Arme vor der Brust. »Nur in Millionenstädten kannst du dich entfalten und zeigen, was du draufhast. In der Provinz wirst du scheitern, bevor das erste Jahr um ist.«

Haralds Gleichgültigkeit bezüglich ihrer Wünsche traf Alwy hart. Sein Lächeln, das eine Spur zu verkrampft war, um echt zu sein, signalisierte ihr, wie sehr er sich jedem weiteren ernsthaften Gespräch verschloss. Dabei sehnte sie sich danach, in Ruhe das Für und Wider mit ihm abwägen zu können. Doch davon hielt Harald nichts. Er schätzte sie als Partnerin, die keine Probleme bereitete. Er würde nie sesshaft werden. Es war richtig, Tokio und ihn hinter sich zu lassen.

Ihre Zukunft lag in der Backstube eines Altbaus, dessen Rückwände sich an den Fels des Kapuzinerberges schmiegten.

3. Kapitel

Die vordere Häuserreihe wies zur Imbergstraße, einer der Hauptverkehrsstraßen. Die hintere zur Steingasse, einer Gasse mit felsigen Abhängen, die steil bergauf ragten. Zwischen diesem Hinten und Vorne suchten Alwy und Tina sich ihren Weg durch die Stadt, die ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit zu sein schien. Zwar gab es einige mit Glas verkleidete Hochhäuser, doch moderne Bauten blieben die Ausnahme. Grundsätzlich wurde Salzburgs Stadtbild von jahrhundertealten vier- bis fünfstöckigen, in hellen, verblichen wirkenden Farben gestrichenen Häusern und vor allem von unzähligen Kirchen dominiert.

»Ziemlich eng hier … als würde man einem ausgetrockneten Flusslauf folgen.« Auf Alwy wirkte die Steingasse wie ein Graben, in dem jedes Haus ein pastellfarbener Tupfer auf dem Grau des Kopfsteinpflasters war; es schien als bildeten die Häuser einen Schutzwall.

»Häuser so nah beieinander vermitteln mir ein Gefühl von Geborgenheit, dazu die schroffen Felsen … das hat was.« Tina strich sich eine hellbraune Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, hinters Ohr. Aufgeregt deutete sie auf ein Haus, das durch einen zartrosa Anstrich im unteren Bereich geradezu herausstach. »Da vorn ist es. Steingasse 41.«

»Zuckerlrosa …?!« Alwy schüttelte amüsiert den Kopf.

»Wieso nicht? Das hebt uns von den übrigen Fassaden ab.« Tina schloss die Eisentür neben der weiß gestrichenen Ladentür auf und wies in den Flur. Vorsichtig trug Alwy das gerahmte Bild ihrer Tante über die Schwelle und lehnte es an die Wand. Sie blinzelte, um sich an das Dunkel zu gewöhnen, und als sie aufsah, entdeckte sie die enge, sich steil nach oben windende Treppe.

Tina fing den Blick der Freundin auf und lachte. »Fitness hast du hier inklusive«, versprach sie. »Komm, gib mir das Ungetüm.« Sie schnappte sich die Holzkiste, die Alwy gerade hochheben wollte. In dieser Kiste bewahrte ihre Freundin schon immer ihre Gewürze und Rezepte auf. Damit und mit dem Rucksack, den sie Alwy ebenfalls abnahm, ging sie die ersten Stufen voran.

Tina hatte nicht übertrieben: Die Treppen zu erklimmen, erinnerte tatsächlich an Fitness. Auf halbem Weg nach oben blieb Alwy, außer Atem, vor dem Klingelschild zu einer der Wohnungen stehen. »Wer wohnt eigentlich noch im Haus, außer dir?«

»Außer uns, meinst du wohl?« Tina zwinkerte ihr zu. »Im ersten Stock wohnt Elisa. Sie ist noch keine dreißig und arbeitet als Rezeptionistin im Hotel ›Schloss Mönchstein‹, oben am Mönchsberg. Sie liebt Pralinen aus Zartbitterschokolade. Die kauft sie jede Woche bei mir.« Tina sah auf die Tür, vor der Alwy stand. »Und hier im zweiten wohnt Ralf, Typ Teddybär mit kleinem Bäuchlein. Er verkauft online Mützen, Schals und Ponchos, alles aus Wolle von glücklichen Schafen hergestellt.«

»Aufgrund deines Grinsens vermute ich mal, dass Ralf mehr hergibt, als diese schlichte Info.«

Tina zuckte die Schultern. »Wenn du Ralf siehst, kämst du nie drauf, dass ausgerechnet er kuschelige Mützen verkauft. Eher würdest du ihn schraubend unter einer Harley vermuten. Du wirst ihn mögen, allerdings bekommst du ihn nicht allzu oft zu Gesicht. Wenn er nicht vor dem PC sitzt und arbeitet, trampt er ins Museum. Er ist fanatischer Kunstliebhaber und verlässt jedes Museum immer als Letzter. Nimm dich in Acht und frag ihn nie nach einem Kunstwerk, das könnte dauern.«

»Also eine funktionierende Hausgemeinschaft«, fasste Alwy zusammen.

»Absolut. Ralf ist eine Seele von Mensch, Elisa ebenso. Ich hab Glück mit den beiden.« Sie gingen weiter und kamen – Alwy den Trolley in der einen und das Bild in der anderen Hand – im dritten Stock an.

»Über meiner Wohnung befindet sich noch eine weitere, die von Irmgard Walter, sie ist die Besitzerin des Hauses. Eine nette ältere Dame. Seit März ist sie in Italien bei ihrer Schwester. Sie leidet unter Arthrose und gönnt ihren Gelenken ein bisschen Wärme.« Tina stieß die Tür auf und machte eine einladende Handbewegung in einen schmalen Flur, der durch einen pfirsichfarbenen Anstrich Fröhlichkeit und Zuversicht ausstrahlte. »Willkommen in meinem Zuhause, das jetzt auch deins ist!«, sagte sie.

Alwy stellte das Gepäck ab und sah aus dem Fenster neben der Garderobe. »Meine Güte, was für ein schöner Ausblick. Ich komme mir vor wie in einem Vogelnest hoch oben im Baum.« Sie blickte auf Kirchtürme und -kuppeln, auf unzählige hellgrau schimmernde Dächer und ein Stück babyblauen Himmel – es war, als schaue sie in eine andere Zeit.

Tina trat neben Alwy. »Genauso ist es mir bei der Besichtigung der Wohnung ergangen. Zuerst das Gefühl von Enge und dann dieser Blick, der einen regelrecht in Bann zieht.« Einige Sekunden genossen die beiden Frauen den Ausblick, dann fuhr Tina fort: »Fünfundachtzig Quadratmeter, aber die Räume sind gut geschnitten, dadurch wirkt die Wohnung größer.«

Die Wohnung war ein charmantes Sammelsurium: Überall standen Vasen mit frischen Blumen und Reisemitbringsel auf Tischen und Fensterbänken, lagen aufgeschlagene Bücher herum und hingen gerahmte Rezepte an der Wand. »Ich hab sowohl eine Schwäche fürs Dekorieren als auch fürs Aufbewahren.« Tina hob die Finger zum Schwur. »Schuldig im Sinne der Anklage, Euer Ehren.« Mit einem leisen Knarzen öffnete sie die Tür zum Gästezimmer. »Und das ist ab sofort dein Reich.«

Alwy blickte in einen Raum – kaum größer als zehn Quadratmeter –, der mit einer gewagten Kombination aus flaschengrünen Wänden und pink gestrichenen Holzmöbeln wie eine überdimensionale Bonbonschachtel wirkte. Unterstrichen wurde dieser Eindruck durch liebevolle Details, wie einen pinkfarbenen Quilt und passende bunte Kissen auf dem Bett. Tina hatte das Zimmer ausgesprochen originell eingerichtet.

»Das Bett hab ich vom Trödel, und weil Dunkelbraun nicht meine Traumfarbe ist, hab ich das Kopfteil kurzerhand pink gestrichen. Alles oder nichts war mein Motto bei diesem Zimmer.«

»Es ist entzückend. Einfach zauberhaft.« Alwy trat näher und betrachtete den moosgrünen Schirm der Nachttischlampe, der perfekt zum Holzbett passte. Hier würde sie sich wohlfühlen.

Tina zog Alwy ans Fenster. »Schau mal … dort ist das Wahrzeichen der Stadt, die Festung Hohensalzburg.«

Alwy sah eine Burg einschließlich Basteien, die sich dramatisch vom Grün des Berges abhob. Auf einer der Zinnen flatterte eine rotweißrote Fahne im Wind. Die Imposanz der Anlage, die inmitten der Mauern ein ganzes Dorf beherbergte, erzeugte eine unglaubliche Atmosphäre.

»Hohensalzburg ist Europas größte Burganlage, ihre Geschichte reicht bis ins 11. Jahrhundert zurück«, erzählte Tina mit Stolz in der Stimme.

Alwy konnte den Blick kaum von der Festung lösen. »Und wir sind Burgfräulein, die am Abend von gutaussehenden Rittern entführt werden«, schwärmte sie.

»Bisher hat sich leider kein Ritter hierher verirrt«, Tina grinste verschmitzt. »Aber was nicht ist, kann ja noch werden.« Sie verschwand in den Flur und kam mit der Kiste mit den Gewürzen und Rezepten zurück, schob sie unters Bett, trat erneut neben Alwy und legte den Arm um sie.

»Ein Ladenlokal mit einer Wohnung drüber, dazu der Ausblick auf die Stadt … sind das nicht zwei gute Gründe, sich hier niederzulassen? Was die Backkunst anbelangt, es gibt die bekannten Größen, wie das ›Hotel Sacher‹ und die Original-Mozartkugeln von ›Fürst‹ und noch ein paar andere. Aber davon lassen wir uns höchstens inspirieren.« Tina deutete in den Flur. »Das Bad ist hinten links. Die Tür klemmt, kurz anheben, dann kommst du rein. Ich hab dir ein Regalfach freigeräumt. So, und jetzt lasse ich dich auspacken. Ich bin in der Küche. Komm, wenn du so weit bist.«

Kaum hatte Tina das Zimmer verlassen, setzte sich Alwy erst mal auf den Hocker vorm Schreibtisch. Das Zimmer war bei näherem Hinsehen noch kleiner, als sie anfangs vermutet hatte. Allerdings war es so einzigartig, dass sie sich kaum daran sattsehen konnte.

Von Tokio war sie winzige Räume gewohnt. Bei knapp zehn Millionen Einwohnern zählte jeder Quadratmeter. Von früh bis spät eilten die Menschen hin und her. Alwy hatte dort den ganzen Tag über das Klirren des Backgeschirrs, das Piepen der Küchenuhr und das Gerede unzähliger Menschen gehört. Nach Feierabend hatte Harald sich am liebsten vor den Fernseher gesetzt und sich durch die Kanäle gezappt. Oft waren sie selbst dazu zu müde gewesen und gleich ins Bett gefallen, und mehr als einmal war ihr der Gedanke gekommen, dass Harald nicht nach Europa zurückwollte, schon gar nicht, um sich dort endgültig niederzulassen. Er lebte, wie er es sich immer gewünscht hatte. Stets auf dem Sprung und bereit für Neues. Er schien diese Anspannung zu brauchen.

Alwy klappte den Trolley auf und hängte ihre Hosen und Röcke in den Schrank. Als sie das Wichtigste ausgepackt hatte, ging sie in die Küche, wo Tina gerade Tee aufgoss.

»Danke, dass ich fürs Erste hier wohnen darf.« Ihr Zimmer war als vorübergehende Unterkunft gedacht, doch es fühlte sich nach einem Zuhause an.

Tina drehte sich nach ihr um und runzelte die Stirn. »Dein Einstieg bei ›Cake Couture‹ ist ein Geschenk des Himmels. Ich hab mich riesig gefreut, als du zugesagt hast. Das Glück ist also auf meiner Seite.« Sie stellte die Kanne auf den Tisch und begann Sahne zu schlagen. »Apropos Beteiligung: Wie lange gibt Harald uns, bevor wir Insolvenz anmelden?« Tina hob Puderzucker unter die geschlagene Sahne, sah dabei jedoch zu Alwy hinüber.

»Ein Jahr. Im besten Fall. Aber weißt du was …? Wir zeigen ihm, dass Visionen sich auszahlen.« Alwy griff nach einem Löffel, kostete von der Sahne und überlegte. »Eine Prise Salz und Vanille zur Abrundung? Was meinst du?« Sie spürte plötzlich eine unangenehme Leere im Magen. Höchste Zeit, dass sie etwas zu sich nahm.

Tina machte eine abwägende Handbewegung, als sie ebenfalls gekostet hatte, schließlich mischte sie eine Spur Salz und Vanilleschote unter, bevor sie die Sahne in ein Glas füllte. »Ich vermute, Harald hat sich seit unserer gemeinsamen Zeit in München kaum verändert, oder?« Vor Jahren hatten sie im Hilton Seite an Seite gearbeitet, und schon damals war Harald geradezu besessen von der Arbeit gewesen.

»Harald ist, wie er ist, aber er unterschätzt unsere Hartnäckigkeit. Es wird nicht einfach werden, ›Cake Couture‹ zum Erfolg zu führen, aber ich habe nicht vor, zu scheitern.«

»Das will ich wohl meinen.« Tina deutete auf den Küchentisch, wo neben einem Strauß Wiesenblumen eine Mohntorte stand. »Die magst du hoffentlich immer noch gern?«

Erst jetzt nahm Alwy den schwachen Mohnduft wahr. Die Luft des Zimmers war erfüllt vom Aroma der Zutaten: erwärmte Butter, gemahlener Mohn, geriebene Zitronenschale, Rum und Kirschmarmelade. »Für Mohntorte könnte ich sterben.«

Tina schnitt ein Stück ab und reichte ihrer Freundin Teller und Gabel. Noch im Stehen ließ Alwy sich den zarten Schmelz des Mohnteigs und die Marmeladenfüllung auf der Zunge zergehen.

»Und? Was sagst du?«

Alwy nickte begeistert. »Meisterhafte Backkunst …wie zu erwarten. Inklusive eines Quäntchens Liebe. Genauso hätte Helene es gemacht.«

Tina klopfte sich selbst anerkennend auf die Schulter. »Der Name deiner Tante in Verbindung mit einer meiner Torten … ich muss wirklich gut sein.«