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Über dieses Buch:

Weil ein einziger Moment das ganze Leben verändern kann … Dreißig Jahre ist es her, dass Julia ihre große Liebe verlor. Seit Hannesʼ tragischem Tod vergräbt sich die erfolgreiche Topmanagerin in der Arbeit und schließt ihre Gefühle tief in ihrem Inneren weg. Sie lässt niemanden an sich heran – bis sie Rupert begegnet, der Hannes verblüffend ähnlich sieht. Aber ist da vielleicht noch mehr, was sie zu dem jungen Kunsthändler hinzieht? Julia weiß, Ruperts Liebe könnte ihre ganze Welt auf den Kopf stellen. Doch um wieder nach vorne blicken zu können, müsste sie sich endlich ihren schon viel zu lang unterdrückten Gefühlen stellen …

Ein mitreißend erzählter Roman über die außergewöhnlichen Wege des Schicksals und eine Frau, die ganz neu lernt, was es heißt, zu lieben.

Über den Autor:

Christian Pfannenschmidt, geboren 1953, war Journalist und Reporter für die Abendzeitung München, den Stern und das Zeit-Magazin. Heute lebt er als Autor in Köln und Berlin. Von ihm stammen unter anderem die Drehbücher der ZDF-Erfolgsserie »Girlfriends«. »Die Villa am Seerosenteich« wurde in mehrere Sprachen übersetzt und in der Verfilmung als ARD-Zweiteiler, verfolgten über 6 Mio. Menschen die Karriere von Isabelle, dem Mädchen vom Lande, das zur Chefin eines Modeimperiums aufsteigt. 2003 gründete er eine eigene Fernsehproduktion und setzte seine persönliche Erfolgsgeschichte mit TV-Serien wie u.a. »Die Albertis« und »Herzensbrecher – Vater von vier Söhnen« sowie der erfolgreichen Freitagabend-Reihe »Meine Mutter ist unmöglich« fort.

Bei dotbooks erschienen Christian Pfannenschmidts Romane »Die Villa unter den Linden«, »Die Villa am Seerosenteich« und »Die Albertis«.

Außerdem haben ihn die Charaktere der »Girlfriends«-Serie nicht mehr losgelassen. Und so hat er – basierend auf den Drehbüchern – sieben Romane über die Freundinnen Marie, Ilka und Elfie geschrieben:

Band 1: »Fünf Sterne für Marie«
Band 2: »Freundschaft auf den dritten Blick«
Band 3: »Zehn Etagen zum Glück«
Band 4: »Demnächst auf Wolke sieben«
Band 5: »Kurz vor zwölf im Paradies«
Band 6: »Das 1x1 zum großen Glück«
Band 7: »Frühstück für zwei«.

Die ersten drei Romanen der »Freundinnen für's Leben«-Serie sind auch als Sammelband unter dem Titel »Das Hotel an der Alster« erhältlich.

Die Website des Autors: www.christianpfannenschmidt.de

Der Autor im Internet: www.facebook.com/PfannenschmidtChristian

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eBook-Neuausgabe April 2019

Dieses Buch erschien bereits 2011 unter dem Titel »Die Träumerin« bei Knaur, ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Originalausgabe 2011 Christian Pfannenschmidt

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Potapov Alexander, canadastock, gostua

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96148-457-7

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Christian Pfannenschmidt

Der Klang unserer Seelen

Roman

dotbooks.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Epilog

Lesetipps

... so sind wohl manche Sachen
die wir getrost belachen
weil unsere Augen sie nicht sehn.
(aus: Matthias Claudius
»Der Mond ist aufgegangen«)

Prolog

»Du bist die eine!«, sagte Hannes, während er sich zu ihr herunterbeugte und sie liebevoll ansah, und sein Atem verwandelte die Liebeserklärung in kleine, eisige Wölkchen, die eine Sekunde in der Winterluft stehen blieben, ehe sie sich in nichts auflösten und in der Dunkelheit der Nacht verschwanden.

»Rede keinen Unsinn«, antwortete Julia und streckte ihre Arme hoch. »Ich brauche jetzt echt keinen Kitsch, ich brauche Hilfe, zieh mich hoch.« In ihrer Linken hielt sie zwei bunte Pudelmützen aus Wolle. Er nahm sie ihr ab, stopfte sie in seine hintere Jeanshosentasche, hielt ihr seine kräftigen Hände entgegen, die Julia umklammerte, und zog sie aus der Luke hinaus aufs Dach. Es war Dezember. Der Himmel über Berlin war blau vor Kälte. Unbewegt standen die Sterne über dem jungen Paar, der Vollmond leuchtete hell und wies ihnen, einem Scheinwerfer gleich, den Weg zu einer freien Fläche nahe dem Abgrund, von wo aus sie die beste Sicht auf die Stadt hatten. Sie setzten ihre Pudelmützen auf, denn der Wind pfiff ihnen schmerzhaft um die Ohren.

»Weißt du, dass du echt scheiße aussiehst?«, fragte Julia lachend.

»Danke, gleichfalls!«, antwortete er grinsend.

In Wahrheit fanden sich beide gegenseitig wunderschön. Und sie waren schön. Er mit den kernigen Zügen eines Schweizer Bergbauernbubs, die Wangen gerötet, die Augen funkelnd, der Mund weich geschwungen und zugleich an den Rändern der Lippen von harten Konturen bestimmt, die signalisierten, dass hier ein Mann war, der, bei aller Liebe, genau wusste, was er wollte. Sie mit zum Pferdeschwanz zusammengebundenen, dicken, schwarzen Haaren, blauen, wachen Augen und einem kleinen, verwegenen Leberfleck oberhalb ihres sinnlichen Mundes. Sie sah ihn glücklich und verliebt an, denn sie fand einfach alles gut an ihm.

Unter der Pudelmütze lugten vorwitzig die Haarsträhnen seiner Poppertolle hervor. Hannes war einen Kopf größer als Julia, von kräftiger Statur, ein Sportler. Er legte den Arm um sie und erwiderte ihren Blick. Sie trug seinen Lieblingspullover, den seine Mutter einmal für ihn gestrickt hatte; die Stretchjeans von Mustang, mit Nieten besetzt, betonte ihre langen Beine und ihren schönen Po. Julia hatte sich Stulpen über die Knöchel geschoben, beide hatten ihre gemütlichen Hausschuhe an, denn sie waren nur kurz aus ihrer darunterliegenden Mietwohnung heraufgeklettert, um den Mond anzusehen.

Von unten hörten sie den Großstadtlärm, hupende Autos, knatternde Motorräder, brummende Busse, schrilles Frauengelächter; nie schien diese Stadt zu schlafen, obwohl sie doch getrennt, zerteilt, zerrissen war. Ein Popsong wehte hoch, die Bee Gees sangen ein Lied von ewiger Liebe, Julia drückte sich gegen Hannes, und beide wippten dazu, ohne dass es ihnen bewusst war, mit den Füßen.

Hannes nahm den Arm von Julias Schulter, drehte sie zu sich und küsste sie. Engumschlungen blieben sie voreinander stehen. Ohne etwas zu sagen, blickten sie sich unverwandt in die Augen, bis Julia die Tränen kamen und sie sich abwandte: »Dieser verdammte Wind! Ich hasse Wind.«

Er zog ein Taschentuch aus Stoff hervor, das er stets bei sich trug, und gab es ihr. Sie tupfte sich die Augen trocken und reichte es ihm zurück.

Hannes zeigte zum Himmel: »Schau dir den Mond an!«

»Unübersehbar!«, meinte sie trocken.

»Der Mond, mein Freund«, sagte er, und sie hätte fast darüber gelacht, doch dann fügte er leise hinzu: »Der Freund aller unglücklich Liebenden.«

Entgeistert sah sie ihn an: »Aber du bist doch ... Hannes, du bist doch kein unglücklich Liebender.«

»Nein, natürlich nicht«, er nahm den Arm wieder herunter und knuffte sie.

»Warum sagst du dann so etwas? Wieso? Das macht mir Angst.«

»Ich lieb dich doch.«

»Unglücklich liebst du mich?« Sie legte ihren Kopf an seine Schulter.

»Manchmal, da tut es hier drinnen so weh, so sehr steckst du mir im Herzen. Ich denk dann: Irgendwann geht alles zu Ende, und davor fürchte ich mich. Ich will dich festhalten, uns, unsere Liebe, alle Zeiten. Das geht ja nicht, das weiß ich ja. Und dann bin ich eben ein unglücklich Liebender.«

Immer wieder kam es vor, dass Julia ihn nicht verstand. Dann hatte sie das Gefühl, seine komplizierten Innenwelten überhaupt nicht zu kennen, nicht zu begreifen, und in solchen Momenten fühlte Julia sich, selbst wenn er neben ihr war, allein. Sie waren doch erst am Anfang, eben über zwanzig, sie hatten Spaß miteinander, sie waren verheiratet, sie hatten Pläne. Sie beide gegen den Rest der verdammten Welt, nichts konnte sie trennen, das war doch so verabredet. Warum sagte er dann so ein Zeug?

Erneut deutete er hinauf: »Guck doch mal genau hin!« Seine Stimme war männlich tief, aber seine Sprache hatte jenen leichten Singsang, durchsetzt von Kehllauten, die den Schweizern oft eigen ist.

Julia blickte nach oben.

Dann lachte sie und sagte: »Jetzt monden sie wieder.« Nun begriff er nicht, was sie meinte, das sah sie an seinem fragenden Blick.

»Das hat meine Großmutter immer gesagt. Die Oma, weißt du, sie hatte ein Häuschen an der Schwarzwaldhöhenstraße, mit einem herrlichen Garten, von einem grünen Holzzaun eingefasst. Nicht weit von Gerolsau übrigens, ich bin manchmal zu Fuß hochgelaufen, um sie zu besuchen. Ich habe auch gerne bei ihr übernachtet, dann hat sie für mich gekocht, und im Sommer durfte ich länger aufbleiben. Nach dem Essen saßen wir auf ihrer kleinen Holzterrasse; von dort konnte man zu einem Hotel hinüberschauen, das an einem romantischen, kleinen See lag. An dessen Ufer saßen oft Liebespaare. Am liebsten bei Vollmond. Wir haben sie manchmal beobachtet. Und dann sagte meine Großmutter halt immer: ›Jetzt monden sie wieder.‹ Werde ich nie vergessen.«

Julia strahlte ihn an, die Erinnerungen stimmten sie froh, und Hannes strahlte zurück.

»Monden«, wiederholte er, »was für ein Wort. Hab ich noch nie gehört. Muss ich mir merken.«

Hannes besaß einen ausgeprägten Sinn für das Romantische, für Geschichten, Anekdoten, Beobachtungen, Details. Mit Begeisterung schrieb er sich vieles auf. Denn er vertrat die Ansicht, dass im Kleinen und Kleinsten oft das Große steckte. Julia wusste, dass er ein wandelndes Lexikon war und sich mit Wissen fütterte wie andere mit Essen.

Deshalb wunderte sie sich auch nicht, als er nun stolz seine Kenntnisse bei ihr anbrachte. »Der Mond ist fast dreitausendfünfhundert Kilometer groß, der fünftgrößte Mond unseres Sonnensystems. In fünf Milliarden Jahren wird er erloschen sein.« Hannes schwieg, konnte den Blick nicht vom Mond lassen, der auf ihn wie ein Magnet wirkte.

»Erzähl weiter, Schlauköpfchen.«

»Ach, das interessiert dich doch in Wahrheit gar nicht.«

»Mich interessiert alles, was du sagst, Hannes, das weißt du doch.«

Er drehte sich zu ihr und nahm ihre Hände in die seinen. »Die sind ja ganz kalt!« Er führte sie zu seinen Lippen, hauchte darauf und küsste sie. Nun flüsterte er fast, unsentimental und deutlich prononciert, wie ein Vater, der seinem Kind eine Gutenachtgeschichte erzählt: »Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen, am Himmel hell und klar. Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget, der weiße Nebel wunderbar.« Hannes machte eine Pause. »Schön?«

Julia nickte. »Sehr schön.«

Er stellte sich hinter sie, umfasste sie mit den Armen, drückte sie wärmend gegen sich, wiegte Julia sanft, während er leise sang, ganz leise: »Wie ist die Welt so stille, und in der Dämmrung Hülle, so traulich und so hold! Als eine stille Kammer, wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt.«

Sie zeigte ihm nicht, dass sie in diesem Moment den Tränen nahe war, doch Hannes merkte, dass Julia anfing zu zittern. Er ließ sie wieder los, zog seine Pudelmütze vom Kopf. Die Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht, und mit einer lässigen und Julia so vertrauten Geste schob er sie zurück. »Komm«, meinte er, »wir gehen wieder runter, sonst erkältest du dich noch.«

»Ja, Papa!«, antwortete Julia schniefend.

Er ging voran, sie kam ihm mit kleinen Mädchenschritten nach. Höflich ließ er ihr den Vortritt, und sie stieg zuerst durch die Dachluke. Hannes schmiss ihr seine Mütze hinterher, die sie, vom Dachboden hochschauend, auffing. Dann warf er noch einmal einen Blick auf den Mond, folgte ihr und zog die Luke fest hinter sich zu.

»Morgen wird ein superschöner Tag, bei so klarem Nachthimmel gibt's die volle Sonne!«, erklärte er ihr auf dem Weg nach unten. »Ich werde laufen gehen!«

»Ich möchte mit dir schlafen!«, sagte Julia und nahm ihre Pudelmütze ab.

»Wie bist du unromantisch, Julia, kannst du immer nur an das eine denken, wie ein Kerl?«

Sie schlug mit den Pudelmützen auf ihn ein, er flüchtete, schloss in gespielter Panik die Tür zu ihrer Altbauwohnung auf. Noch in der Diele fielen sie leidenschaftlich übereinander her, kichernd, lachend, seufzend, sich gegenseitig ausziehend und küssend. Hannes gab der Tür einen Fußtritt. Der Knall ließ das Treppenhaus erzittern, dann herrschte Stille auf allen Etagen. Es war die letzte gemeinsame Nacht der Liebenden. Doch davon ahnten Julia und Hannes nichts in ihrem andauernden Glück.

Kapitel 1

Julia blieb, nachdem der Beifall verklungen war und auf das Zuhören nur ein Murmeln und hier und da ein Auflachen folgte, noch eine Weile am Rednerpult stehen und starrte vor sich hin. Eigentlich hatte sie sofort den Saal verlassen wollen. Der Wagen, der sie zum Flughafen bringen sollte, wartete bereits unten vor dem Hochhaus, und sie hatte höchstens eine Stunde Zeit, um ihre Maschine zurück nach Berlin zu erwischen.

Wie immer hatte Julia sich einen exakten Plan gemacht. Ankunft aus Berlin morgens um acht Uhr zehn. Fahrt in die Zentrale, kurzes Power-Breakfast mit ihrem Chef Reinhold Kremer, dem Hauptanteilseigner der Privatbank Kremer, Konferenz der Führungskräfte, anschließend ihr Vortrag – für den sie dreißig Minuten veranschlagt hatte – und schließlich die Rückfahrt zum Frankfurter Airport. Auf das Mittagessen im kleinen Kreis wollte sie verzichten. Sie hatte sich ausgemalt, dass Frank sie in Tegel abholen und dann mit ihr in sein Penthouse im Grunewald fahren würde, gut gelaunt und den Kopf voller Überraschungen. Vielleicht würden sie eine Runde Sex haben, danach sah sie sich mit ihrer Sekretärin die dringendsten Punkte am Telefon abhaken, ihre Mails auf dem BlackBerry lesen und beantworten, dann sich umkleiden und am Abend mit Frank ausgehen, in eines seiner Lieblingsrestaurants, in dem er schon vor Wochen den besten Tisch hatte reservieren lassen, um mit ihr hineinzufeiern, in ihren fünfzigsten Geburtstag.

»Frank, mach keine große Sache draus, ich bitte dich von Herzen, ja? Nur du und ich, keine Überraschungen, du weißt, ich hasse Überraschungen. Keine Einladungen an Freunde, von denen du glaubst, ich hätte sie so lange nicht gesehen und würde mich freuen, mit ihnen zu feiern. Für mich ist das ein ganz normaler Tag, und auch wenn ich mir freinehme, will ich ihn ganz normal – und das heißt: ganz langweilig und gemütlich – erleben. Versprichst du das?«

Er hatte es versprochen. Sie glaubte ihm nicht. Und er glaubte ihr nicht. Dabei hätte sie den Tag am liebsten ignoriert. Julia war eine Meisterin des Verdrängens. Das war ihr zwar nicht bewusst, und sie hätte dieses Talent dahin gehend gedeutet, dass sie in der Lage war, »wichtig« von »unwichtig« säuberlich zu trennen. Doch wer sie gut kannte – und Frank kannte sie nach über zehn Jahren des Zusammenlebens weiß Gott sehr gut –, dem war klar, wie sie unangenehme Dinge wegstreichen konnte, als wären es nur Notizen auf einem Einkaufszettel.

Am schlimmsten waren für Julia die Menschen, die sich bei diesem Thema für besonders feinfühlig hielten, nach ihrer Einschätzung aber einfach nur perfide waren. Wenn es ihr gerade gelungen war, sich einzureden, dass es nun wirklich keinen Unterschied mache, ob man neunundvierzig oder fünfzig sei, oder wenn sie erfolgreich von sich weggeschoben hatte, dass ihr das doch etwas ausmachen könnte, kamen die Tröster und die Sprücheklopfer.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte ihre Freundin Fanny immer wieder mal, wenn sie sich trafen, nach der Arbeit auf einen Drink, am Wochenende im Fitnesscenter oder beim Mittagessen, für das sie sich eine Stunde freigeschaufelt hatte.

»Klar. Sehr gut!«, antwortete Julia dann stets. Kürzlich aber hatte sie ein verräterisches »Warum?« nachgelegt.

»Du siehst aus, als wenn du zu viel grübelst, Schatz«, erwiderte Fanny, und schob sich – was Julia faszinierte –, wie ein Artist in der Zirkuskuppel, ein Salatblatt quer in den Mund, ohne ihre perfekt gemalten Lippen auch nur minimal zu touchieren. »Du machst dir doch wohl keinen Kopf wegen des anstehenden Ehrentages?«

»Warum willst du, dass es mir nicht gutgeht deswegen?«

»Was für ein Unsinn. Natürlich will ich, dass es dir gutgeht. Ich will, dass es dir sehr gut geht. Du bist meine allerbeste Freundin!« Sie legte ihr die perfekt manikürte Hand auf den Unterarm, eisenschwer.

Ein paar Tage darauf war Julia mit ihrer älteren Kollegin Sonja Karlowski, die der Abteilung »Human Resources« vorstand, im Lift in die Big-Boss-Etage hochgefahren, zu einer Besprechung über das Thema Personaleinsparungen. Beide trugen Aktenordner unter dem Arm, beide starrten vor sich hin, beide vermieden Augenkontakt. Der Lift glitt so leise nach oben, als bewege er sich überhaupt nicht. Das Licht war hell, warm, weich. Die Spiegel: abgetönt. Die Wände: mit rostbraunem Leder verkleidet. Ein dicker Teppichboden dämpfte jeden Atemzug. Es war ein geschützter, kleiner Raum, der Wohlhabenheit ausstrahlte und die Alltagswelt draußen zu lassen schien. Julia hatte einen kurzen Blick auf ihr Ebenbild geworfen.

»Ja, die Zeit«, hatte die Karlowski unvermittelt gesagt, »die Zeit lässt sich nicht aufhalten. Wann ist der große Tag?«

Mit einem harfengleichen Ton war die Tür aufgegangen, die Frauen waren in den langen Flur zum Konferenzraum getreten, und Julia hatte nicht mehr antworten müssen, denn draußen warteten bereits zwei Kollegen.

Es schien ihr, als würden von allen Menschen um sie herum die imaginären Mauern des Schutzes, die sie jeden Morgen um sich aufrichtete, absichtlich heruntergerissen. Nackt und bloß und auf sich und ihre sorgsam verborgenen Selbstzweifel zurückgeworfen, sah sie sich dann da stehen, um erneut – zu verdrängen.

Wenn Julia richtig in sich hineinhörte, dröhnte grell und laut und hämmernd das schiere Entsetzen. Fünfzig Jahre alt zu werden, war die Hölle für sie. Da war das Thema Alter. Die Angst vor Krankheit und Tod. Von nun an ging es flussabwärts; südwärts, wie man in ihren Bankkreisen negative Entwicklungen umschrieb. Die Hälfte des Lebens lag unleugbar hinter ihr. Sie musste über Rente nachdenken; sich die Frage stellen, ob sie ausgesorgt hatte; grübeln, wer da sein würde, falls sie eines Tages hilfsbedürftig wäre. Sie entdeckte in solchen kalten, klaren Momenten im Spiegel neue Vorboten, die aus dem Morgen herüberwinkten: der klitzekleine Schmerz im Rücken beim Aufstehen, die Müdigkeit um die Augen, das eine oder andere graue Haar, die Fältchen, die nicht mehr als Lachfalten abgetan werden konnten und nach einer Extraportion Botox verlangten oder nach einer Extraportion Selbstbewusstsein, um sie zu übersehen und mit ihnen zu leben. Da war das Thema Wechseljahre, mit dem sie sich zu ihrem eigenen Erstaunen noch nicht konfrontiert sah, was aber unweigerlich auf sie zukommen würde, als rase sie, ohne den Wagen selbst steuern zu können, auf eine Felswand zu. Durch ein paar Freundinnen wusste Julia, was sie erwartete. Hitzewallungen, Schmerzen, Schwindel, Libidomangel, Heißhunger, Depressionen. Das ganze Programm. Tolle Aussichten! Und da war schließlich das Thema Job. Eine Frau von fünfzig Jahren, die gewohnt war, Macht und Einfluss zu haben, spürte es unablässig und unausgesprochen in der Art, wie Männer mit ihr umgingen, dass ein Verlust bevorstand. Überall standen die alerten Sprösslinge aus dem Vorgarten des Nachwuchses herum. Noch grün, saftig und kräftig, und sie warteten nur darauf, dass die Älteren einen Fehler machten. Ihr ganzes Berufsleben lang hatte Julia gegen die Männerwelt angekämpft, nun musste sie sich zusätzlich gegen die Jugend in Position setzen. Sie tat es mit Charme, mit Erfahrung, mit gespielter Überlegenheit und Gelassenheit.

Eine Sekunde hatte Julia geglaubt – oder gehofft –, die einhundertfünfzig Manager, die vor ihr saßen, würden aufspringen und ihr unter Bravorufen Standing Ovations schenken. Natürlich passierte das nicht. Doch der Beifall entschädigte sie reichlich, und während sie da stand, in ihrem Kostüm aus taubengrauer Bouclé-Wolle, der schlichten weißen Bluse und der sauteuren Perlenkette, die ihr Frank einst geschenkt hatte, kamen ein paar Kollegen, um ihr die Hand zu schütteln und zu gratulieren.

Zufrieden bedankte sich Julia, schob ein paar Sprüche nach und legte dann, wieder ernst geworden, ihre Textseiten langsam zusammen, schlug sie auf den Längsseiten auf, so, als würden sie noch einmal benötigt.

»Wunderbar, Julia, einfach wunderbar!« Reinhold Kremer kam auf sie zu, ergriff ihre rechte Hand und drückte sie fest, fast väterlich. »Kommen Sie, ich bestehe darauf, dass ich beim Essen Ihr Tischherr bin. Brinkmann kommt auf die andere Seite. Den mögen Sie doch ...«

»Tut mir leid, Dr. Kremer. Ich kann nicht bleiben. Ich muss zurück.«

Sein Blick hinter den Brillengläsern verengte sich: »Wie? Jetzt schon zurück? Sie sind ja gerade erst gekommen.«

Erklär dich nicht, beschwer dich nicht. Das war einer der Grundsätze in Julias Berufsleben. Sie ging auf seinen unterschwelligen Vorwurf nicht näher ein.

»Sie werden mich nicht allzu lange vermissen müssen!«, scherzte sie. »Morgen ist mein freier Tag. Aber wir sehen uns übermorgen doch schon wieder.« Sie lächelte ihn an, öffnete dabei ihre Mary-Poppins-Handtasche und legte die Papiere sorgfältig hinein.

Er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn, fast ein wenig zu theatralisch, wie Julia fand: »Wie kann ich so was vergessen! Der Fünfzigste! Natürlich! Darauf trinken wir noch einen. Versprochen.«

Ehe sie etwas erwidern konnte, war er im Strom der Kollegen, die den Saal plaudernd und diskutierend verließen, verschwunden.

Julia fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter und verließ das Gebäude, wo der Fahrer, gegen die Limousine gelehnt, auf sie wartete. Als er sie kommen sah, schnipste er seine Zigarette weg, ging um den Wagen herum und öffnete ihr die hintere Beifahrertür. Es war ein frischer Tag. Kalt. Klar. Wie zugeschnitten auf sie. Den Herbst hatte sie schon immer geliebt. Sie war am zweiten Oktober geboren. Unter dem Sternzeichen Waage. Aszendent Löwe. Eine extreme Kombination zwischen Durchsetzungskraft und Anpassungswillen, zwischen heiterer Lebensart und brutaler Selbstzentriertheit, hatte man ihr einmal erklärt. Julia hielt nichts von diesen Dingen. Astrologie war für sie vollkommener Blödsinn. Eine ältere Freundin von ihr, Agnes Sommer, die für sie so etwas wie eine Mutter in Berlin geworden war, hatte ihr vor Jahren ein Horoskop erstellt. Julia hörte sich die ganze Geschichte mit freundlicher Geduld an, warf das Schriftstück später weg.

»Das Schicksal zwingt nicht, es neigt. Du musst selbst etwas aus den Vorgaben machen«, hatte Agnes ihr erklärt.

»Nun, dass man Chancen ergreift, das ist nichts Neues für mich. Aber dass die Sterne mir den Weg weisen? Nein, daran kann ich nicht glauben.«

»Du wirst sehen. Es kommt. Du entscheidest nur über das ›Wie‹.«

Julia wollte überhaupt nicht noch einmal von vorne anfangen. Alles war gut so, wie es war. Wenn ihr die Gesundheit keinen Strich durch die Rechnung machte, war der Weg vollkommen eindeutig, mit oder ohne Sternzeichen. Sie würde mit Frank gemeinsam alt werden, vielleicht ihn eines Tages sogar heiraten und ihr Leben zwischen Berlin und einer noch zu findenden Ferienwohnung irgendwo im Süden Europas aufteilen, mit Freunden, mit Golfspielen, mit viel Kultur und Sport und ein paar sozialen Aktivitäten, um ihr Gewissen zu beruhigen und sich die Sinnfrage nicht stellen zu müssen.

»Wann geht Ihr Flieger?« Der Chauffeur riss sie aus ihren Gedanken. Julia betrachtete ihn in Sekundenschnelle. Er sah gut aus. Er war vielleicht halb so alt wie sie, hätte ihr Sohn sein können. Wie kann ein Mensch so weiße Zähne haben, dachte sie, als er sie anstrahlte. Sein schmal geschnittener, schwarzer Zwei-Knopf-Anzug saß wie nach Maß. Das weiße Hemd und die Seidenkrawatte mussten teuer gewesen sein. Vielleicht das Geschenk einer Verehrerin oder die Weihnachtsgabe des Bankhauses. Sein Haar war schwarz, kurzgeschnitten und mit Gel in eine perfekte Fasson gebracht. Er stand dicht vor ihr, daher konnte sie riechen, dass er geraucht hatte. Der Tabakgeruch vermischte sich mit dem Duft von Spearmint-Kaugummi und einem dezenten Hauch seines Eau de Cologne, das eine Vetivernote hatte. Julia war durch ihren erfolgreichen Auftritt vor dem Management so von Adrenalin durchflutet, dass sie gute Lust gehabt hätte, ihn einfach auf den Mund zu küssen.

Sie bremste sich in ihren Fantasien: »Fünfzehn Uhr fünfunddreißig«, antwortete sie, setzte einen Fuß in den Wagen, stoppte jedoch, bevor sie sich setzte: »Verdammt! Ich habe meinen Mantel oben hängen lassen.« Sie wollte in die Bank zurück.

Der Fahrer kam ihr zuvor: »Kein Problem, ich hole ihn.«

Julia liebte schnelle Reaktionen: »Sagen Sie einfach an der Rezeption hier unten Bescheid, die sollen ihn herunterbringen. Danke.«

Er verschwand im Gebäude. Sie blieb vor dem Auto stehen, nahm ihr Handy aus der Handtasche, schaltete es ein und hörte ihre Mailbox ab. Frank. Fanny. Die Sprechstundenhilfe aus der Praxis ihres Zahnarztes, die den Termin für nächste Woche verschieben wollte. Ihre Haushaltshilfe Ilse, die ihr mitteilte, dass bereits drei Blumensträuße angekommen waren. Und dass sie einen Vorschuss haben wollte. Ihre Sekretärin Brigitte hatte zweimal angerufen und um Rückruf gebeten. Warum, um Himmels willen? Julia seufzte. Jetzt nicht. Sie schaltete das Handy wieder aus. Auf Rückrufe hatte sie keine Lust. Sie sah sich um. Menschen eilten über die Straßen, gingen ihren Geschäften nach, schlenderten, unterhielten sich beim Gehen, drängelten sich an den Ampeln, lachten, telefonierten, trugen Taschen, Aktenkoffer, Einkaufstüten. Ein Fahrradkurier fuhr Julia fast um, sie sprang zur Seite. Im Stop-and-Go der Großstadt zogen Autos vorbei. In der Ferne heulte die Sirene eines Polizeiwagens. Ein kleines Mädchen weinte. Ein vor einem Schuhgeschäft angeleinter Hund bellte. Ein Bettler, keine zwanzig, kam auf Julia zu, streckte ihr seine Hand entgegen und fragte: »Haben Sie etwas Geld für mich?«

Julia war genervt. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Der Fahrer kam nicht zurück.

»Ich komme aus einer Stadt, in der man für sein Geld arbeitet!«, fauchte sie ihn an. Er verschwand im Trubel, baff.

***

Als Julia wenig später hinten im Fond der Limousine saß, ärgerte sie sich über ihre Reaktion. In letzter Zeit beobachtete sie an sich eine Unhöflichkeit des Herzens, eine arrogante Ungeduld, ja, eine gewisse Lust an der Boshaftigkeit. Gestern erst hatte sie ihrer Assistentin Karla Wickert kündigen müssen. Sie war in der Probezeit gewesen, hatte sich trotz eines Wirtschaftsstudiums in St. Gallen als gänzlich ungeeignet für den Job erwiesen. Zwar hatte Julia die offene Art der jungen Frau beim Bewerbungsgespräch gut gefallen, ihr Lachen, das Unkonventionelle, das sie ausstrahlte. Sie war nicht so stromlinienförmig wie die anderen Kandidatinnen. Aber dass sie nach dem Studium nicht sofort darauf aufgebaut, sondern nur hier und da gejobbt und ein halbes Jahr sogar nichts getan hatte, um das Leben mal zu genießen, wie sie treuherzig erklärte, gefiel Julia überhaupt nicht. Den Ausschlag, sich für sie zu entscheiden, hatte ein Gespräch mit Frank gegeben, der sie ihr empfohlen hatte, weil ihr Vater als Fachbuch-Verleger ein wichtiger Mandant von ihm war. Schon zwei Wochen später bereute Julia diesen Schritt. Mehrfach vergaß ihre Assistentin, wichtige Termine einzutragen; sie brachte Daten, Zahlen und Telefonnummern durcheinander und reagierte auf Kritik dummdreist. Karla kam Julia selbstgefällig vor, schnippisch, undiplomatisch. Sie war zu dick, zu träge, zu fantasielos. Sie zeigte keine Initiative, wenig Interesse, kaum Begeisterung und überhaupt keinen Spaß. Unablässig telefonierte sie privat. Mittagspausen dehnte sie über Gebühr aus. Fehler kreidete sie anderen an. Eine Weile hatte Julia sich das angesehen, mit ihr Gespräche geführt, von denen sie glaubte, sie entsprächen zu hundert Prozent dem, was man auf Führungskräfteseminaren über den Umgang mit Mitarbeitern lernte. Führung und Kraft: Aus diesen beiden Worten setzte sich Julias Funktion zusammen, und dem wollte sie gerecht werden. Konstruktive Kritik. Soziale Kompetenz. Zuhören, interessiertes Nachfragen, Motivation. Doch das führte zu nichts. Julia wurde ungeduldig. Lag es am Alter? Sie hatte keine Lust mehr, die Unzulänglichkeiten der anderen ständig auszugleichen. Toleranz ging ihr gegen die Hutschnur. Warum musste sie andauernd Leute zum Jagen tragen, wie Frank es immer ausdrückte? Karla war Anfang dreißig, für Julia gehörte sie zur Generation der Verwöhnten, der Gleichgültigen, der Unengagierten. Der Arbeitskampf in seiner rasenden Geschwindigkeit war härter denn je, und er ließ viele Verlierer zurück. Trotzdem gab es diese jungen Leute, die sich in der Fülle der Möglichkeiten nicht wirklich mit dem Herzen entscheiden konnten, die niemals Not gelitten hatten, die nichts entbehren mussten, die immer wieder in Netze fielen, die sie auffingen. Und die trotzdem jammerten.

»Wenn Sie mich rausschmeißen, springe ich!«, hatte Karla gesagt, als sie ihr in Julias Büro am Schreibtisch gegenübersaß. Ihre dicken, lockigen, rostbraunen Haare sprangen vom Kopf weg, fern jeder Ordnung; das Pünktchenkleid war über Busen und Bauch zu eng, die Ärmel waren zu kurz und gaben den Blick frei auf Karlas weiße, untrainierte Arme. Sie knetete ihre Hände. Ihre Augen waren weit aufgerissen und schimmerten tränenfeucht. Selbst wenn sie nicht sprach und sich den Anschein gab, Julias Ausführungen zu folgen, flatterte ihr Blick unkonzentriert, stand ihr Mund halboffen.

»Ach Gott, Karla, ich lasse mich nicht erpressen. Jemand wie Sie bringt sich nicht um, unentschlossen, wie Sie immer sind. Außerdem wissen Sie so gut wie ich, dass wir hier versiegelte Fenster haben. Sie können gar nicht springen, selbst wenn Sie wollten.«

»Wie gemein Sie sind!«

»Ich bin ein bisschen angestrengt. Ich will es mal so formulieren: Ein paar Mal habe ich Sie vorgewarnt. Sie scheinen nichts begriffen zu haben. Ihre Leistungen entsprechen bei weitem nicht den Anforderungen. Ich kann es mir nicht erlauben, Sie weiter hier mit durchzuschleppen, nur aus Goodwill.«

»Sie sind eiskalt, Frau Kilchberg, kalt wie ein Fisch. Sie sind völlig deformiert durch Ihre Karrieregeilheit. So wie Sie möchte ich nie werden!«

»Werden Sie auch nicht, keine Sorge.«

Karla schluckte ein paar Mal, merkte, dass ihre Anklagen nichts nützten.

Sie lenkte ein: »Können Sie nicht ... ich meine ... wenigstens ... noch ein Versuch? Die Probezeit verlängern? Ich will alles dafür tun, dass ...«

Julia hob die Hand, eine Mischung aus Abwehr und Vollbremsung: »Nein, Karla. Das wird nichts mit Ihnen und mir. Ende des Jahres trennen wir uns. Ich möchte das Gespräch gerne beenden. Die schriftliche Kündigung erhalten Sie heute Nachmittag von der Personalabteilung. Gehen Sie bitte jetzt. Sie wissen ja, wie viel ich zu tun habe.«

Karla ließ ihren Tränen freien Lauf.

Julia zog aus der untersten Schreibtischschublade eine Kleenexbox heraus und schob sie ihrer Assistentin herüber: »Hier, das ist im Gehalt mit inbegriffen.«

Wortlos verließ Karla den Raum, ohne, wie Julia auffiel, ihren Stuhl zurückzuschieben. Eine halbe Stunde später war die Personalchefin Sonja Karlowski am Apparat: »Was haben Sie denn mit dem Mädchen gemacht?«

»Tacheles geredet.«

»Das war ein Fehler, liebe Frau Kilchberg«, flötete Sonja. »Während die Wickert bei mir saß, hat schon ihr Anwalt angerufen. Sie dürfen einer Mitarbeiterin nicht als Kündigungsgrund vorwerfen, dass sie unfähig ist.«

Auch wenn die Karlowski es nicht sehen konnte: Julia zuckte mit den Schultern. Sie wollte diese Mitarbeiterin nicht mehr um sich haben. Fertig. Koste es, was es wolle. Und das sagte sie auch.

Während des Nachmittags, als Julia ihre Rede für Frankfurt vorbereitete, hatte das Gespräch in allen Details im Berliner Bankhaus die Runde gemacht. Karla Wickert hatte sich in allen Etagen ausgeheult. Empörung, eine Schwester des Gerüchts, breitete sich aus. Spätestens von nun an galt Julia als Bestie. Ihre Position in der Privatbank war durch ihre exorbitanten Leistungen so unanfechtbar, dass ihr das Ereignis nichts anhaben konnte. Und auch das wusste Julia: Die Meute heulte, die Karawane zog weiter. Vorwärts. In Richtung Erfolg, Umsatzsteigerungen, Gewinnmaximierungen. Davon profitierten letztlich alle Mitarbeiter, auch jene, die ihr von nun an in den Fluren und Büroräumen eher aus dem Weg gehen würden, zumindest für die nächsten Wochen. Dem Mächtigen gab das Leben recht.

All dies ging ihr durch den Kopf, während sie im Fond saß, ihren Mantel auf dem Schoß und das Genick des Fahrers vor Augen, der den Wagen sicher durch den Innenstadtverkehr lenkte. Er hatte einen sauber rasierten Haaransatz. Sein Hals war kräftig, wie der eines amerikanischen Sportlers. An den Bewegungen seines Kiefers konnte sie erkennen, dass er sich unbeobachtet fühlte und weiter Kaugummi kaute. Sie fixierte ihn, fand ihn sexy, selbst von hinten. Ihre Blicke trafen sich im Rückspiegel. Er lächelte mit den Augen. Julia fühlte sich ertappt. In einer Art Übersprungshandlung zog sie ihr Handy heraus, schaltete es wieder ein und rief Brigitte doch zurück.

»Gut, dass Sie sich melden, Frau Kilchberg. Ich habe schlechte Nachrichten.«

»Ich will keine Probleme, Brigitte. Ich will nur Lösungen.«

»Ich fürchte, in diesem Fall gibt es keine. Beim Bestätigen Ihres Rückflugs habe ich erfahren, dass die Maschine gestrichen worden ist.«

»Wann geht die nächste?«

»Sechzehn Uhr dreißig. Aber die ist komplett ausgebucht. Und die um siebzehn Uhr dreißig auch.«

»Doch nicht für mich, oder? Ich habe eine ...«

Brigitte unterbrach ihre Chefin: »Leider ja. Sie sind auf Warteliste. Allerdings ...«

»Brigitte?«

»Ja?«

»Erklären Sie mir nicht, was alles nicht geht. Ich muss zurück, ich feiere mit Dr. von Parlin in meinen Geburtstag rein. Sagen Sie mir einfach nur, wie ich so schnell wie möglich nach Hause komme.«

»Sie könnten den Zug nehmen. Ich habe eine Verbindung herausgesucht, der ICE um ...«

»Da bin ich mindestens vier Stunden unterwegs.«

»Genau genommen sogar ...«

Sie hatten den Main überquert, waren über die Kennedyallee gefahren und gerade auf die Flughafenstraße gekommen, wo sie den ehemaligen Oberforsthof passierten – die letzte Gelegenheit, umzukehren.

Julia schaltete blitzschnell: »Wenden Sie bitte!«, befahl sie dem Fahrer, der ihr Gespräch mit angehört hatte und sofort reagierte. Mit einem verbotenen Manöver drehte er den Wagen bei 120 km/h. Julia wurde gegen die Rückbank gedrückt.

»Brigitte, ich melde mich gleich noch mal.« Sie drückte den Aus-Knopf.

»Zum Bahnhof?«, fragte er sie.

Sie schüttelte den Kopf, was er im Rückspiegel registrierte, denn sie hatte – so unmotiviert wie unsinnig und ebenso spontan, wie sie den Entschluss zum Umkehren getroffen hatte – einen Plan gefasst: »Ich gehe ins Hotel. Bringen Sie mich in die Villa Kennedy!«

»Okay.«

Über eine umständliche Seitenstraßenzufahrt gelangten sie zum Ziel. Der Doorman öffnete Julia den Wagenschlag, fragte, ob sie Gepäck habe, was sie verneinte. Der Fahrer stieg aus, und sie verabschiedeten sich freundlich und förmlich voneinander. Dann ging Julia die Eingangsstufen hoch. Die Villa Kennedy war ihr Lieblingshotel in Frankfurt. Es verband für sie auf eine einzigartige Weise die altmodische Pracht einer Jahrhundertwendevilla mit dem Reichtum italienischer Hotelleriekultur.

»Herzlich willkommen zurück in der Villa Kennedy, Frau Kilchberg! Hatten Sie eine gute Anreise?« Die Rezeptionistin wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern starrte bereits auf den in ihrem abgesenkten Desk eingelassenen Bildschirm und gab kurz ein paar Befehle ein, weshalb Julia die Freundlichkeit etwas einstudiert vorkam.

»Ich kann Ihre Reservierung gar nicht ...«, sie sah auf, »... finden.«

»Nun, ich habe gar keine. Eine spontane Eingebung sozusagen. Ich wollte es aufs Geratewohl versuchen.«

»Einen Moment, bitte.« Die Hotelangestellte verschwand hinter einer mit getöntem Glas abgedunkelten, halben Wand, wo sich ein Arbeitsplatz befand, an dem eine Kollegin saß.

Julia sah sich um. Die Halle war meterhoch, aber verwinkelt. In einem Wanddurchbruch standen in großen, dunklen Porzellanvasen herrliche Blumengestecke. Auf der gegenüberliegenden Seite der Rezeption, vor einer reichgeschnitzten Eichenholztreppe, befand sich das Empfangspult des Concierge, an dem eine Amerikanerin sich gerade den Weg zur Alten Oper erklären ließ. Ein Glasfenster zur Linken Julias gab den Blick frei auf den tiefer gelegenen Innenhof mit Wasserläufen, Sitzgruppen und gewaltigen Tontöpfen, in denen sich Palmen im Herbstwind wiegten. Kein Mensch war draußen, es war einfach zu kühl.

Die Rezeptionistin kam zurück: »Wie lange möchten Sie bleiben?«

»Eine Nacht«, antwortete Julia.

»Dann habe ich ein schönes Upgrade für Sie, Frau Kilchberg. Zimmer 214 im zweiten Stock. Möchten Sie, dass ich Sie begleite?«

Nun lächelte Julia, sehr zufrieden: »Danke, ich kenne ja den Weg.«

Sie erhielt die Zimmerkarte und ein Informationsheftchen: »Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Aufenthalt.«

Julia nickte, ging den Gang hinunter, vorbei an einer Lounge, in der drei Araber in ein Gespräch vertieft bei Tee zusammensaßen, zu den Fahrstühlen und fuhr hinauf. Ihr Zimmer hatte eine Terrasse zum Innenhof, und Julia öffnete die Flügeltüren. Der Raum duftete frisch, und das Beste daran war das mit weißem italienischem Leinen bezogene Bett, das zu rufen schien: Wirf dich auf mich. Julia konnte einfach nicht anders, kickte ihre Schuhe weg, streckte sich auf dem Bett aus und sah minutenlang zur Zimmerdecke hoch.

Du musst verrückt sein, dachte sie. Frank wartet auf dich, ihr wollt in deinen Geburtstag hineinfeiern. Was willst du hier? Alleine? In diesem Kasten?

Eine andere Stimme in ihr gewann die Überhand. Es ist dein Fünfzigster, dein Leben, deine Entscheidung. Nie kannst du mal allein sein, nur für dich. Immer bist du von Menschen umgeben. Und immer wollen diese Menschen etwas von dir. Genieße mal die Ruhe, lass dich verwöhnen, denk über dich nach. Über alles, was war und was vielleicht kommen wird, und sage ja zu deinen Verrücktheiten.

Julia setzte sich auf, wählte auf ihrem Handy Franks Nummer und wartete, bis er ranging. Er hatte eine eigenartige Angewohnheit: Wann immer man ihn anrief (und sei die Sache auch noch so dramatisch), er ließ einen nie den Grund dafür erklären, sondern übernahm sofort die Gesprächsführung, tat so, als wäre er es gewesen, der sich gemeldet hätte. Aus dem Stand drehte er die Situation einfach um. Zum einen war das seiner Denkweise als Anwalt geschuldet. Jeder Tag im Leben des Dr. Frank von Parlin war ein Prozesstag. Jedes Gespräch eine Verhandlung. Jedes Gegenüber ein Mandant, ein Ankläger, ein Richter. Zum anderen war Frank es gewohnt, effizient zu sein. Das Leben ist kurz, man musste alles auf einen Punkt bringen, so schien er zu denken. Einen möglichst klaren Punkt, um den sich alles zu drehen hatte. Ja, der Punkt, das war Julia bewusst, der Punkt war er selbst. Frank war ein feinsinniger, hochintelligenter, weltläufiger Mann. Ein feinsinniger, hochintelligenter, weltläufiger Egoist.

»Schatz, gut, dass du anrufst«, sagte er. »Also Folgendes: Ich bin noch im Büro. Ich stecke mitten in einem komplizierten Sachverhalt. Ich will eine Anklageschrift diktieren, die sofort raus muss. Nimm dir einfach ein Taxi vom Flughafen, fahr zu mir, warte. Ich bin gegen sechs spätestens da. Okay?«

»Nee«, antwortete Julia.

Pause.

Er schien eine Sekunde lang ratlos zu sein, glaubte vielleicht, sich verhört zu haben.

»Frank, mein Flug ist storniert. Der nächste geht erst in Stunden, und ob ich da einen Platz bekomme, ist ungewiss. Deshalb habe ich mich entschlossen, hierzubleiben.«

Er lachte auf. Sie kannte seine hektische, meckernde, oft bösartig klingende Art zu lachen nur zu gut. So lachte er, wenn ihm etwas nicht passte.

Sie insistierte: »Nein, wirklich, ich sitze bereits im Hotel und bleibe über Nacht. Morgen nehme ich die erste Maschine. Dann sehen wir uns. Und feiern.«

»Das ist allerdings eine Überraschung.«

»Sei mir nicht böse.«

»Soll sich meine Ingrid um einen anderen Flug kümmern?«

»Nein, das hat Brigitte schon versucht. Ich bleibe in Frankfurt. Es ist so entschieden. Tut mir leid.«

»Du willst wirklich allein in deinen Geburtstag hineinfeiern?«

»Mach keine große Sache draus, Frank.«

»Ich mache keine große Sache daraus, Schatz. Ich finde es nur ... nun ... ungewöhnlich.«

»Warum nicht mal etwas Ungewöhnliches tun?«

»Wenn das dein Wunsch ist ...«

»Ja, ist es.«

»Gut. Wir telefonieren.«

»Fein. Bis später.«

»Ende.« Er legte auf.

Julia hielt das Handy an ihr Ohr, als erwarte sie einen Satz des Bedauerns. Es kam nichts mehr. Die Leitung war tot. Sie wählte erneut, instruierte ihre Sekretärin, ihr einen Platz in der morgigen Frühmaschine zu buchen, ging in das mit Sandstein ausgeschlagene elegante Bad, schnupperte am Molton-Brown-Duschgel, ließ sich Wasser ein, entkleidete sich und nahm ein Bad. Dann fuhr sie mit einem Taxi in die Innenstadt und kaufte sich in einer Parallelstraße zur Fressgasse verschwenderisch teure Wäsche, einen Badeanzug, einen Pyjama, eine schlichte weiße Bluse aus Seide und eine Khakihose, dazu dunkelbraune Slipper und einen Gürtel mit Kroko-Prägung. Sie wollte nicht sparen, sie wollte Geld ausgeben. Sie konnte es sich leisten. Gerade, weil es einmal ganz anders gewesen war. Weil sie Armut kennengelernt hatte und nach dem frühen Tod des Vaters von ihrer Mutter zur Bescheidenheit erzogen worden war, liebte sie die gelegentlichen Ausbrüche von Verschwendung.

***

Gegen halb acht kehrte Julia ins Hotel zurück, ging zunächst ins Spa, um im Pool ein paar Runden zu schwimmen, zog in ihrem Zimmer ihr neues Outfit an, fühlte sich gut und ging mit leichtem Schritt hinunter an die Bar. Sie bestellte beim Barkeeper einen Wodka ihrer Lieblingsmarke und leerte das eiskalte Glas in einem Zug. Der Barkeeper schien ihr Anerkennung zu zollen, während im Hintergrund ein Klavierspieler sentimentale Töne anschlug, die ruhig und stark durch den Raum schwebten, wie Möwen im Wind.

»Fly me to the moon ...«

Ach Gott, »Fly me to the moon« war Hannes' Lieblingssong gewesen. Sie hätte jede Zeile mitsingen können, und innerlich tat sie es auch, während nur das zarte Tippen ihres Fußes gegen den Barhocker sichtbar war.

»Fly me to the moon ... and let me play among the stars ... let me see, what spring is like on Jupiter and Mars ... in other words: hold my hand, in other words: Darling, kiss me ...«

Hannes sollte heute Abend neben ihr sitzen. Hannes. Der Kluge, der Schöne, der Ehrliche, der Fröhliche, der Mutige. Hannes, ihre große Liebe! Aber es ging ja nicht. Er war tot. Er konnte nicht an ihrer Seite sein, nie mehr. Das Schicksal, das verdammte, verfluchte, unberechenbare Schicksal hatte die Dinge anders gelenkt. Nun musste sie ohne ihn sein, und in manchen Momenten, die so waren wie dieser, brauchte es nur einen anscheinend unbedeutenden Anstoß, einen Ton, ein Wort, ein Bild, einen Duft, und alles kam blitzartig wieder hoch. Aus dem dunklen Raum in ihrem Inneren, in dem sie ihren Kummer verwahrte. Julia wehrte sich gegen dieses Gefühl von Melancholie. Nein, sie wollte diesen Raum nicht betreten. Sie zog die Tür hastig wieder zu.

»Noch einen?«, fragte der Barkeeper, der sonst nichts zu tun hatte, und deutete mit seinem Zeigefinger, dessen Kuppe mit einem Heftpflaster umwickelt war, auf Julias leeres Glas. Sie nickte. Während er einschenkte, sah sie an ihm vorbei auf die Batterie von Flaschen und die Glaswand dahinter, und sie entdeckte ihr in Einzelteile zerlegtes Spiegelbild. Wie alt du bist, dachte sie, wie hässlich und abgekämpft und müde. Eine Frau von fünfzig Jahren, die hart und kalt und manchmal sogar bitter geworden war, die Leute entließ, ohne mit der Wimper zu zucken, weil es eben der Job verlangte; die nicht bereit war, Bettlern, denen es mit Sicherheit sehr viel schlechter ging, einen Cent zu geben. Ich hasse dich, Julia Kilchberg, du warst mal angetreten, diese Welt ein bisschen besser und gerechter werden zu lassen, und was ist herausgekommen? Du bist besser zu dir geworden, gerechter, selbstgerechter, du nimmst dir, was du willst, und gibst zu wenig und steckst voller Ansprüche, obwohl du alles hast. Ich habe alles, doch mir fehlt so viel.

Erneut wollte sie das Glas ansetzen, um ihr Selbstmitleid herunterzuschlucken, als sie einen Hauch von Vetiver wahrnahm und sah, wie hinter der Flaschenbatterie neben ihrem verzerrten Spiegelbild ein Mann auftauchte.

»Sie haben Ihren Mantel in meinem Wagen vergessen.«

Julia drehte sich zur Seite. Da stand der Chauffeur. Sie erkannte ihn nicht sofort wieder, denn er hatte sich umgezogen. Statt seines Anzuges trug er eine schmale Flanellhose, ein anthrazitfarbenes Streifenhemd und einen nerzgrauen Kaschmirpullover und sah jünger aus, als sie ihn in Erinnerung hatte.

»Ich dachte, ich bringe Ihnen den schnell noch vorbei. Heute Nacht wird Frost erwartet.« Er legte den Mantel auf den linken Barhocker neben sie, ging hinter ihr vorbei, um sich rechts von Julia zu setzen. »Darf ich?«

»Wenn Sie wollen.« Sie strich über ihren Mantel, fand dabei ihre Antwort etwas zu unterkühlt, gemessen an seiner Hilfsbereitschaft, und fügte hinzu: »Danke, das ist sehr nett von Ihnen. Was trinken Sie?«

»Was trinken Sie?«, fragte er zurück, als hinge seine Entscheidung von ihr ab.

»Die Dame trinkt Wodka«, antwortete der Barkeeper.

»Wodka! Kann ich, ehrlich gesagt, nicht ausstehen.« Dabei strahlte er und zeigte seine Zähne. Irgendwie hatte Julia den Eindruck, als würde er sie herausfordernd ansehen.

Mit dem Grinsen und dem Gebiss kann der im Zirkus auftreten, dachte sie und sagte schmunzelnd: »Also dann: Ich lad Sie ein.«

»Sie müssen mich nicht einladen.«

»Kann es sein, dass Sie irgendwie ein bisschen kompliziert sind?«

»Ja. Sehr. Sehr kompliziert.« Er lachte kurz auf und studierte dann in Ruhe sämtliche Flaschen, um schließlich ein Glas Riesling zu verlangen.

»Okay, für mich auch«, erklärte Julia.

Sie stießen an, tranken, schwiegen einen Moment, lauschten der Musik und lächelten sich zu.

»Prima, der Wein«, konstatierte er und schob erst die Pullover- und dann seine Hemdärmel hoch. Julia betrachtete seine sportlichen, behaarten Unterarme. Sie stand auf Männerunterarme.

Zwei Wodka, ein Glas Weißwein – Julia war eine gute Trinkerin, wenn es darauf ankam, aber die letzten Tage – die Vorbereitungen für ihre Rede, die Kündigung Karlas, der bevorstehende Geburtstag – hatten ihre Konstitution geschwächt. Sie merkte, wie ihr der Alkohol zu Kopf stieg. Ein lange nicht mehr gespürtes Gefühl von Berauschtheit stieg unvermittelt in ihr hoch. Es kam Julia so vor, als hätte sie in der letzten Zeit, ach, wie lange schon!, nur noch funktioniert. Gut funktioniert selbstverständlich. Keine Klagen. Aber eben nur funktioniert. Sie dachte: Wow! Ich sitze wieder am Steuer meines eigenen Lebens. Geht doch. Macht sogar Spaß. Man muss es einfach nur tun ...

»Wie heißen Sie überhaupt?«, fragte sie ihn.

»Sorry, wie unhöflich ... habe ich total vergessen ... ich heiße Kay. Kay Hanau.«

Normalerweise hätte er ihr wie jeder andere die Hand entgegengestreckt, so, als seien sie sich eben erst begegnet und müssten sich begrüßen. Er tat es nicht. Auch das gefiel ihr. Julia schoss durch den Kopf, dass sie zu der Generation gehörte, die noch gut erzogen worden war, und der Benimmregeln und Konventionen zwar oft spießig vorgekommen waren, die sich trotzdem stets daran gehalten hatte. Manchmal aus Freude, manchmal als Geländer, das Halt gab, oft nur aus Gewohnheit. Man hielt einer Frau seine Hand nicht hin, außer zum Geleit. Man wartete, bis die Frau einem die Hand entgegenstreckte, dann ergriff man sie. Ob er das wusste? Oder ob er einfach keine Lust hatte zum Händeschütteln?