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GENERATION

LAHMSTEIGER

Die goldene Ära des FC Bayern

JUST IN KRAFT

GENERATION

LAHMSTEIGER

Die goldene Ära des FC Bayern

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Copress Verlag

erschienenen Printausgabe (ISBN 978-3-7679-1238-0).

Cover: Pierre Sick, Copress Verlag

Louis van Gaals 4-Phasen-Modell: Spielverlagerung.de

Alle übrigen Grafiken: Justin Kraft, Miasanrot.de

Lektorat, dtp (Printauflage): Verlags- und Redaktionsbüro München,

www.vrb-muenchen.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 der deutschen Ausgabe

Copress Verlag in der Stiebner Verlag GmbH, Grünwald

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages.

ISBN 978-3-7679-2079-8

www.copress.de

INHALT

Prolog: Die Nacht von Barcelona (2009)

Kapitel 1: 2009-2012

Louis van Gaals Revolution . Sportliche Stagnation . Heynckes zum Dritten . Zwei große Niederlagen

Kapitel 2: 2012-2013

Umbruch und strategische Korrektur . »Road to Wembley« . Zwei große Siege . Die goldene Generation

Kapitel 3: 2013-2016

Guardiola und die Erwartungen . Jahr 1: Veränderungen und Probleme . Jahr 2: Arbeit am Detail . Jahr 3: Die Vollendung? . Die letzte Patrone . Was bleibt von Guardiola?

Kapitel 4: 2016-2018

Entfesselte Ancelotti-Bayern? . Schneller Niveauverlust . Warum Ancelotti nicht passte . Heynckes zum Vierten

Kapitel 5: Der Übergang

Eine einmalige Dekade . Alles auf Neuanfang? . Start mit Hindernissen . Die Zukunft ist jetzt!

Epilog: Ein Blick in den Münchner Horizont (2018/19)

Danksagung

»Mit Philipp [Lahm] ist das natürlich etwas ganz Besonderes. Er war auf der rechten Seite immer hinter mir, und das war gerade in den letzten Jahren ein blindes Verständnis. Ich habe gewusst, wo er war, was er wollte, und andersherum war das auch so. Das war super, das hat mir sehr viel Spaß gemacht, und es war auch eine große Ehre. Philipp ist ein großer Name, nicht nur bei Bayern, sondern für den deutschen Fußball. Super, dass ich mit ihm zusammenspielen durfte.«

Arjen Robben im Gespräch mit uns für Miasanrot.de

Prolog: Die Nacht von Barcelona (2009)

München, du bist wunderbar«, denke ich. Ich laufe durch die Stadt. Vorbei an den Orten, an denen sich Touristen um die beste Position für Fotos streiten. Im Prinzip bin auch ich hier ein Tourist. Ich lebe in Potsdam und bin in der Nähe von Berlin aufgewachsen. Aber immer, wenn ich an der Isar entlanglaufe, überkommt mich ein diffuses Heimatgefühl.

Es ist ein schöner Tag im November 2018. Die Sonne scheint, keine Wolke ist am Himmel zu sehen. Mich zieht es zum Olympiapark – für mich einer der schönsten Orte in München. Ich genieße diesen Tag in völliger Einsamkeit. Auf einer Erhöhung habe ich einen Platz gefunden, an dem ich alleine sein und gleichzeitig auf das ehrwürdige Olympiastadion blicken kann. Ich erinnere mich an alte Zeiten mit meinem Lieblingsklub. Der FC Bayern hat mein Leben geprägt. Meine erste Erinnerung ist die Nachspielzeit von Barcelona im Jahr 1999. In einem der emotionalsten Momente hat dieser Klub mich gepackt und nie wieder losgelassen. Doch an diesem Novembertag denke ich nicht ganz so weit zurück. Meine Gedanken werden von einer Ära bestimmt, die nun ein Ende zu nehmen scheint. Diese Ära nahm ihren Anfang ebenfalls in Barcelona – allerdings zehn Jahre nach dem Drama im Champions-League-Finale. Ich blicke zurück auf einen Tag, der den FC Bayern nachhaltig verändern sollte. Ein Tag, mit dem die besondere Geschichte, die dieses Buch erzählt und erklärt, begann.

Damals war ich erst 13 Jahre alt. Große Spiele des FC Bayern konnte ich schon damals nicht verfolgen, ohne vorher irgendein negatives Szenario durchzuspielen. Was ist, wenn sie heute verlieren? Wie soll ich das vor meinen Freunden rechtfertigen? In der Schule musste ich, der große Fan, jeden Patzer der Bayern ausbaden. Ich wollte die Hoffnung nicht vorzeitig aufgeben, aber ich hatte gleich kein gutes Gefühl. Vielleicht war das alles wirklich nur meiner fehlenden Erfahrung und einer zu großen Nervosität geschuldet. Hatte der Trainer Jürgen Klinsmann nicht zuvor noch sehr selbstbewusst über das Los gesprochen, das der FC Bayern im Viertelfinale der UEFA Champions League zog? Der Gegner sei »eine Messlatte, die uns alle interessiert, auf die wir brennen«, sagte der Mann, der drei Jahre zuvor mit der Nationalmannschaft ein ganzes Land zu fesseln wusste. Ich glaubte ihm, auch wenn es keine einfache Saison für meinen Lieblingsverein war. Denn mit ihm saß jemand auf der Bank, den ich sehr schätzte.

Doch die Ausgangslage war schwierig. Vor dem Duell mit dem großen FC Barcelona verloren die Bayern mit 1:5 in Wolfsburg – eine Demütigung. Hinzu kamen Ausfälle von van Buyten, Lúcio und Philipp Lahm. Wer sollte diese Spieler nur ersetzen? Immerhin bestand die Viererkette in Barcelona aus Lell, Breno, Oddo und Martín Demichelis.

Damals war ich noch nicht ganz so verrückt wie heute. Heute schaue ich sehr viel Fußball. In den Top-Ligen Europas gibt es kaum eine (gute) Mannschaft, die ich noch nicht gesehen habe. Damals war ich im FC-Bayern-Tunnel. Solange ich jedes Spiel meiner Mannschaft sehen konnte, war ich glücklich. Aber Pep Guardiolas Barcelona hatte ich damals schon ein paar Mal gesehen. Es war beeindruckend, wie seine Mannschaft Fußball spielte. Fast schon beängstigend. Wie Klinsmanns FC Bayern dieses Team schlagen sollte, war mir ein Rätsel. Ohnehin hatte ich damals nicht mehr den Eindruck, dass die Bayern in Europa noch zu den besten Teams zählen. Die Champions League war für mich seit dem großen Triumph 2001 eher eine ernüchternde Veranstaltung. Tiefpunkt war sicherlich das Gruppenaus 2003, als man gegen den AC Mailand, Deportivo La Coruña und den RC Lens nur zwei Pünktchen holte. Vor allem Ancelottis AC Mailand ging mir in dieser Zeit gehörig auf die Nerven. Einerseits hatte ich großen Respekt vor ihren Leistungen, andererseits konnte der FC Bayern zwischen 2002 und 2007 die Italiener insgesamt sechsmal nicht besiegen. 2006 war im Achtelfinale, 2007 im Viertelfinale Endstation, und der Unterschied zwischen diesen beiden Mannschaften war oft allzu deutlich. Selbst im kleineren UEFA-Cup sollte mich 2008 eine große Ernüchterung erwarten, obwohl es zwischenzeitlich zumindest sehr emotional wurde. Doch gegen Sankt Petersburg schied man peinlich aus. Der Klub, in den ich mich zwischen 1999 und 2001 so sehr verliebt hatte, war auf dem Weg ins europäische Niemandsland. Nein, er war dort bereits angekommen.

Versteht mich nicht falsch, auch die nationalen Wettbewerbe gaben mir sehr viel. Ich liebte den FC Bayern gerade während dieser internationalen Durststrecke besonders intensiv. Aber dass man in der Champions League nicht zu den Top-Teams gehörte, hat mich regelrecht genervt.

Akzeptieren wollte das in München offenbar niemand so ganz. Stattdessen »freute« sich nicht nur Klinsmann 2009 auf die Messlatte Barcelona. Auch Karl-Heinz Rummenigge, Franz Beckenbauer und Uli Hoeneß waren alle optimistisch, dass der große Turnaround gelingen würde. Schließlich habe man in Europa gezeigt, »dass wir mithalten können«, so Klinsmann damals.

Was folgte, war eine Demontage. Der junge Messi, Eto'o und Henry überrannten den FC Bayern innerhalb von nur 45 Minuten, als wäre es eine Trainingseinheit. Aus der Sicht der Katalanen war es ein fußballerisches Kunstwerk. Guardiola hatte einen Spielstil entwickelt, der den Klub in neue Sphären hob. So offenbarten sich am 8. April 2009 zwei Gegensätze, die deutlicher nicht sein könnten:

Auf der einen Seite der FC Barcelona – der Champions-League-Sieger von 2006, der sich nach diesem vermeintlichen Höhepunkt noch weiter steigern konnte, indem er ein klares Konzept verfolgte und es innerhalb weniger Jahre aus dem Schatten der europäischen Spitzenteams heraus auf den Thron geschafft hatte. Die ganze Welt blickte damals auf Guardiolas Mannschaft, die den Titel dann am Ende der Saison erneut gewinnen sollte.

Auf der anderen Seite der FC Bayern, der in nur 45 Minuten vier Tore kassieren musste und dort angelangt war, wo Barcelona hergekommen war: im Schatten. Es gab kein Konzept, keine klare Strategie. Die bittere Niederlage war die Quittung für eine Kette von Fehlentscheidungen, die in München seit 2001 getroffen wurden. Jürgen Klinsmann hätte diese Talfahrt eigentlich beenden sollen. Er stand für Innovationen und neue Wege. Doch seine Veränderungen wirkten nicht. Seine Mannschaft wurde in jener Nacht geradezu vorgeführt. Dass sie am Ende »nur« mit 0:4 verlor, und das Rückspiel 1:1 ausging, lag ausschließlich daran, dass Barcelona lediglich 45 Minuten lang den Bizeps anspannen musste, um das Halbfinale zu erreichen. Trotz aller Ausfälle und der fehlenden Qualität des Kaders war das Auftreten der Mannschaft kaum zu entschuldigen.

Ein Stück weit war ich fassungslos. Aber völlig überrascht war ich nicht. Schließlich war diese Niederlage das Ergebnis jahrelanger Versäumnisse. Die ganz großen Zusammenhänge erkannte ich damals natürlich noch nicht. Erst viel später wurde mir klar, was eigentlich alles passiert war und warum es passierte. Mit meinen 13 Jahren saß ich damals nur vor dem Fernseher und fühlte mich innerlich leer. Den letzten Funken an Hoffnung, den ich zuvor noch hatte – in nur 45 Minuten wurde er brutalst erstickt. Es war keine Mannschaft zu erkennen, keine Idee, nicht mal der Wille. Jeder war auf sich gestellt. So waren die Tore für Barça nur noch eine Formsache.

Für mich war es das erste Mal, dass ich mitansehen musste, wie eine Mannschaft den FC Bayern derart deklassiert. Selbst die hohe Niederlage gegen den VfL Wolfsburg kurz zuvor konnte man damit nicht vergleichen. Auch die Reaktionen im Klub waren deutlich. Klinsmanns Aus war quasi schon entschieden, auch wenn die Reißleine erst einige Zeit später gezogen wurde.

Noch am Abend des Spiels formulierte es Karl-Heinz Rummenigge auf dem traditionellen Bankett sehr drastisch:

»Wir haben ohne Zweifel heute gemeinsam eine sehr bittere Stunde erlebt in Barcelona. Ich möchte da gar nicht um den heißen Brei herumreden, das war ohne Frage eine große Blamage, was wir hier heute Abend erlebt haben, (…) und wir haben eine Lektion bekommen. Eine Lektion, die weh getan hat. (…) Wir haben eine große Verpflichtung, wir sind ein stolzer Club, dieser Stolz ist heute Abend zum Teil – speziell in der ersten Halbzeit – mit Füßen getreten worden.«

Aber es war auch eine Lektion, aus der der FC Bayern seine Lehren gezogen hat. Speziell Barcelona hat dem Verein offenbart, was eine übergeordnete Strategie im modernen Fußball wert sein kann.

Strategie vs. Taktik: Strategie und Taktik sind militärische Begriffe, die heute in vielen verschiedenen Bereichen Anwendung finden. Während Strategie sich auf den großen Plan bezieht, meint Taktik sämtliche kleinen Schritte, die zur Ausführung dieses Plans und zum Erreichen der Ziele notwendig sind. Am Beispiel Barcelona: Die Katalanen hatten das Ziel, dominanten und offensiven Fußball zu spielen. Das war die Strategie. Taktische Mittel dafür waren das Positionsspiel, hohes Angriffspressing, schnelles Kurzpassspiel oder auch das Überladen einiger Spielfeldzonen – um in einem Bereich des Spielfelds eine Überzahl zu schaffen.

Die Strategie des FC Bayern war damals vor allem auf die Transferpolitik begrenzt. Ziel war es, deutsche Stars zu verpflichten und sie um die besten Spieler der Bundesliga sowie der eigenen Jugend zu ergänzen. Der Klub war der »FC Deutschland«. Eine wirkliche Idee davon, wie man Fußball spielen wollte, gab es nicht. Jeder Trainer brachte einen anderen Stil mit, jede Verpflichtung eines Spielers führte zu Veränderungen auf dem Platz. »Irgendwie wird man schon erfolgreich sein, wenn die besten Kicker der Bundesliga zusammen auf dem Platz stehen«, dachte man offenbar. »Früher hat das schließlich auch geklappt.« Aber nach dem Jahr 2001 klappte es eben nicht mehr. Die Stars wurden älter, die Talente rar, und so kam es, dass die Bayern national zwar weiterhin erfolgreich waren, international jedoch nicht mehr mithalten konnten. Der Fußball hatte sich nämlich weiterentwickelt. Im Ausland fokussierten sich Trainer zunehmend auf taktische Überlegungen, an die in Deutschland noch kaum jemand dachte. Deutschland, das Land der Tugenden, in dem Felix Magath Medizinbälle den Hügel hinaufschleppen ließ.

Spätestens im Jahr 2009 wurde dem FC Bayern klar, dass es nicht mehr genügen würde, immer nur im eigenen Dunstkreis zu bleiben. Bei der Trainersuche ging der Blick schon mal über den Tellerrand hinaus. Auch in der Spitze des Vereins sollte sich etwas verändern. Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge schmiedeten offenbar langfristige Pläne. Mit Christian Nerlinger kam ein alter Bekannter zurück an die Säbener Straße, um Hoeneß zu unterstützen, ihn eines Tages vielleicht sogar zu beerben. Die Führungsetage erkannte, dass sich der Klub neu aufstellen musste.

Als Trainer sollte ein Querdenker verpflichtet werden. Bereits von Klinsmann hatte man sich erhofft, dass er die nötigen Veränderungen vorantreiben würde. Der Verein hatte ihm eine große Entscheidungsfreiheit gegeben. Es ist kein Geheimnis, dass auch Spieler wie Philipp Lahm schon zur damaligen Zeit – weit vor dem legendären Interview mit der Süddeutschen Zeitung – eine fehlende Philosophie kritisierten. Umso höher muss man dem Klub anrechnen, dass er auch nach dem Scheitern mit Klinsmann weiter auf komplett neue Impulse setzte.

Kandidaten für den Trainerposten gab es genügend. Letztlich hatte man sich zwischen zwei ganz besonderen Typen zu entscheiden: Matthias Sammer und Louis van Gaal. Sammer war als Trainer noch nicht lange aktiv, aber schon sehr erfolgreich. Mit Borussia Dortmund gewann er spektakulär die Meisterschaft, beim VfB Stuttgart holte er im Schnitt sogar noch mehr Punkte als mit dem BVB. 2006 übernahm Sammer dann den Posten des Sportdirektors beim DFB, später arbeitete er dort im Jugendbereich. Er war bekannt als Querdenker – ein Typ mit Ecken und Kanten. Bayern und Sammer sollten aber erst später zusammenfinden. Neuer Trainer wurde zunächst Louis van Gaal.

Für den FC Bayern bedeutete diese Entscheidung eine Zäsur. Sie läutete eine Ära ein, die den im europäischen Niemandsland gestrandeten Klub innerhalb weniger Jahre wieder an Spitze des Kontinents führen sollte. Denn so wie sich der Weg in die europäische Bedeutungslosigkeit schon lange vor der Nacht in Barcelona abgezeichnet hatte, so fiel auch das Triple im Jahr 2013 nicht vom Himmel.

Der FC Bayern wurde nicht zufällig Champions-League-Sieger 2013: Es war das Produkt einer Entwicklung. Die Bayern gingen einen langen Weg. Das Ziel war längst klar definiert: die Champions League zu gewinnen. Doch seit 2009 gab es nun auch eine Wegbeschreibung – einen Plan, der dem Klub helfen sollte, an die alten Tage anzuknüpfen.

Aus heutiger Perspektive darf infrage gestellt werden, wie langfristig dieser Plan wirklich durchdacht war. Doch selbst wenn auf dem Weg auch Zufälle eine große Rolle spielten, so wurden doch auch viele richtige und weitsichtige Entscheidungen getroffen.

Dieses Buch soll diese Geschichte nicht nur erzählen. Es soll auch analysieren und erklären, was der Klub zwischen den Jahren 2009 und 2016 richtig gemacht hat. Dabei beginnen wir in der Nacht von Barcelona: weil da der Grundstein für das gelegt wurde, wovon der FC Bayern München bis heute profitiert. Würde man diese Geschichte dagegen vom Triple ausgehend erzählen, blieben viele Aspekte unberücksichtigt. Denn bis es so weit war, hatte erst noch eine ganze Generation einen beachtlichen Weg zurückzulegen.

Zwei Spieler sind es vor allem, die diese goldene Ära des FC Bayern München so maßgeblich prägten, dass ich mich dazu entschieden habe, ihr den Namen »Generation Lahmsteiger« zu geben. Beide stiegen seit 2009 nach und nach zu Führungsspielern auf, und auch wenn Bastian Schweinsteiger im Jahr 2015 den Klub verließ und Philipp Lahm seine Karriere im Jahr 2017 beendete, so wird diese goldene Ära doch immer mit ihren Namen verbunden bleiben. Denn die Generation Lahmsteiger hat Großes hinterlassen. Heute können die Bayern darauf zurückblicken und Schlüsse für die Zukunft ziehen, um etwas Neues zu beginnen. So wie sie es damals im Jahr 2009 getan haben: In dem Jahr, in dem die tiefe Enttäuschung über eine der schlimmsten Niederlagen in der Champions League den Ausschlag für ein Umdenken gab. Ein Umdenken, das zunächst einmal zu Louis van Gaal führte: jenem Trainer, der die große Revolution einleiten sollte …

Kapitel 1: 2009–2012

Louis van Gaals Revolution

Um zu verstehen, was genau an van Gaals Ideen in München revolutionär war, muss man ein wenig zurückblicken. Geht es um die prägendsten Trainerfiguren zwischen den Jahren 2000 und 2010, so führt kein Weg an Carlo Ancelotti, Vicente del Bosque, Sir Alex Ferguson, Pep Guardiola, Ottmar Hitzfeld, José Mourinho und vielleicht noch Arsène Wenger vorbei. Sie alle haben den Fußball auf ihre Art und Weise geprägt. Louis van Gaal dagegen wird häufig übersehen. Dabei gehört er zu den Persönlichkeiten, die den Fußball in Europa fast kontinuierlich mitgestaltet und verändert haben.

Schon lange vor seiner Karriere an der Seitenlinie zeichnete sich ab, dass er dort einmal stehen würde. Er war zwar auch selbst auf dem Platz als Profi aktiv, doch der große Durchbruch gelang ihm hier nie. Bei Ajax Amsterdam kam er nicht über eine Reservistenrolle hinaus, und so ging es über Antwerpen, Telstar und Sparta Rotterdam zum AZ Alkmaar. Nebenher unterrichtete er als Sportlehrer an einer Berufsschule.

»Von 8.00 Uhr früh bis 2.00 Uhr nachmittags unterrichtete ich, und um 15.30 Uhr begann bei Sparta das Training«, erzählte der Niederländer der taz.

Van Gaal hatte es hier mit Kindern unterschiedlicher Schichten zu tun. Noch heute spricht er davon, dass ihn das für sein späteres Berufsleben geprägt hat. Ein Stück weit erklärt sich daraus auch, warum van Gaal in seiner gesamten Laufbahn am liebsten mit jungen Spielern arbeitete.

1988, nach elf Jahren, gab er seinen Nebenjob auf, weil ihn ein Ruf aus Amsterdam lockte. Sein Ex-Klub bot ihm eine Co-Trainer-Stelle im Jugendbereich an, der er nicht widerstehen konnte. 1991 stieg er zum Cheftrainer der ersten Mannschaft auf. Schnell wurde deutlich, dass van Gaal seinen Job anders als die meisten seiner Kollegen interpretiert. Er leitete nicht nur taktische und personelle Veränderungen bei Ajax ein, sondern arbeitete auch an strukturellen und organisatorischen Dingen, die den ganzen Klub betrafen. In seiner gesamten Karriere brauchte er die größtmögliche Kontrolle über alle Bereiche, um seine Ideen umzusetzen. Das führte immer mal wieder zu Konflikten – auch später bei den Bayern. Aber van Gaal war damit auch sehr erfolgreich. Mit Ajax gewann er drei Meisterschaften, dreimal den niederländischen Supercup und 1993 den niederländischen Pokal. Auf europäischer Ebene gewann er 1992 den UEFA-Pokal, 1995 war er mit Ajax Amsterdam endgültig auf dem europäischen Fußballthron. Mit dem Champions-League-Titel setzte sich van Gaal ein Denkmal in Amsterdam. Komplettiert wird diese einzigartige Zeit durch den UEFA Super Cup und den Gewinn des Weltpokals. Diese Aufzählung ist das Ergebnis einer taktisch-strategischen Meisterleistung, die erklärt, wofür der Niederländer sein Leben lang stand: »Dominant zu spielen bedeutet, mehr Torchancen zu kreieren als die gegnerische Mannschaft. (…) Ich verbinde den Begriff ›dominant‹ mit offensivem Fußball und Pressing in der Hälfte des Gegners.«

So wird der Trainer auf Spielverlagerung.de zitiert. Diese Vorgaben setzte seine Ajax-Mannschaft nahezu perfekt um. Ein Orkan von Kurzpassstafetten und Doppelpässen fegte über Europa hinweg.

Klar hatte Van Gaal auch einen herausragenden Kader zur Verfügung – aber was er damit anstellte, glich einer Revolution.

Das flexible Mittelfeld war der Kern dieser Mannschaft. Es bildete eine Raute und bewegte sich zwischen den zwei Dreierketten sehr variabel. Überall war Ajax in der Lage, Überzahlsituationen herzustellen und sich spielerisch Räume zu erarbeiten. Van Gaal war ihr Lehrer, ihr Meister. So paradiesische Arbeitsbedingungen wie hier würde er nirgendwo anders mehr finden: eine Konstellation aus jungen Spielern, die ihm bedingungslos folgten, und einem Klub, der ihm die Freiheit gab, auch weit über die Trainertätigkeit hinaus Entscheidungen zu beeinflussen.

Louis van Gaal war damals einer der wenigen Trainer, die früh die Zeichen der Zeit erkannten; die verstanden hatten, dass ein Fußball-Klub der Moderne anders funktionieren würde. Die Komplexität der Vereine stieg bereits damals an, und die Bereiche, in denen strukturiert gearbeitet werden musste, nahmen zu. Van Gaal verpasste Ajax wieder eine Identität. Er gab einen Weg vor, den der ganze Klub erfolgreich ging.

In den folgenden Jahren war er nicht mehr ganz so erfolgreich, konnte beim FC Barcelona aber immerhin entscheidenden Einfluss auf Spieler wie Xavi oder Puyol nehmen und die herausragende Arbeit seines Landsmannes Cruyff weiterführen. Damit wurde er zu einem Wegbereiter jener Mannschaft, die 2009 den FC Bayern in der Champions League deklassierte.

»Cruyff baute die Kathedrale. Wir halten sie nur instand«, sagte Guardiola einst. In dieses »wir« schloss er auch van Gaal mit ein, auch wenn der das niemals zugeben würde. Zweifellos steht van Gaal aber in der großartigen Entwicklungslinie derjenigen, die Barcelona zu einer der beeindruckendsten Mannschaften der Fußballgeschichte machten.

Auch beim KNVB (dem niederländischen Fußballverband) konnte van Gaal später einige wichtige Veränderungen durchsetzen: zum Beispiel eine übergeordnete Strategie im Jugendbereich, die infrastrukturelle und taktische Elemente beinhaltete. 2005 übernahm er dann den AZ Alkmaar. Dort bewies er eindrucksvoll, dass auch vermeintlich kleinere Mannschaften vom Ballbesitzspiel profitieren können. Zwar musste er hier den Fokus zwangsweise auch auf die Arbeit gegen den Ball legen, doch bei Alkmaar implementierte er ein spielstarkes Mittelfeld rund um den tiefen Strategen Schaars.

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Abb. 1 Louis van Gaals 4-Phasen-Modell (von Spielverlagerung.de)

Zunächst verpasste van Gaal zweimal knapp die Meisterschaft. Im dritten Jahr lief es plötzlich nicht mehr so gut, und er sah sich zum Rücktritt gezwungen. Dass ihn die Spieler letztendlich umstimmten, war nicht nur ein Wendepunkt für den Klub, sondern vielleicht auch für den FC Bayern, der sonst womöglich nie auf van Gaal aufmerksam geworden wäre.

In der Saison 2008/09 wurde der AZ Alkmaar überraschend niederländischer Meister. Das war eine historische Leistung – und zugleich das Ergebnis höchster Souveränität am Spielfeldrand: Van Gaal, häufig als statischer Ballbesitzfanatiker verpönt, setzte hier ganz auf Flexibilität. Die Umschaltmomente spielten eine zentrale Rolle. Seiner Theorie zufolge soll eine Mannschaft in längeren Ballbesitzphasen und in Phasen ohne Ball stets organisiert und sortiert sein (siehe Abb. 1). Gerade die Übergangsphasen, in denen Unordnung herrschte, waren deshalb von Bedeutung. Van Gaals Alkmaar war eine moderne Version seiner Ajax-Mannschaft in den Neunzigerjahren. Nur mit geringerer individueller Qualität und weniger Ballbesitz. Aber mit ebenso großer Dominanz: Die Meisterschaft gewannen sie mit sensationellen 80 Punkten – 11 Zähler vor Twente, 12 vor Ajax.

Diese Geschichte zeigt, warum der FC Bayern sich 2009 für van Gaal entschieden hat – eine Entscheidung, die die nächsten zehn Jahre prägen sollte. Die Münchner wollten einen Querdenker, einen Revolutionär, einen Menschen, der ihnen aufzeigt, was in der Vergangenheit falsch lief. Sie wollten aber auch einen Trainer, der die Spieler fordert und ihnen gegenüber Dominanz ausstrahlt.

Dafür war Louis van Gaal der richtige Mann. Schon in seiner ersten Pressekonferenz sagte er den heute legendären Satz: »Mia san mia, wir sind wir – und ich bin ich.«

In seiner gesamten Karriere hatte sich van Gaal bis dahin für niemanden verbogen, und das hatte er auch beim einst so großen FC Bayern nicht vor. Er war gekommen, um zu verändern und alte Strukturen aufzubrechen. Was der Vorstand von seinen jeweiligen Entscheidungen hielt, war ihm grundsätzlich egal. Die von ihm geforderte Kontrolle bekam er in München zwar nie ganz, aber es reichte aus, um Dinge entscheidend zu verändern.

Van Gaal engagierte einen Experten für die elektronische Datenvermittlung, er stellte einen Psychologen ein und ließ seine Spieler regelmäßig Fragebögen ausfüllen. Ohnehin stand die Kommunikation mit den Spielern über allem. Van Gaal und sein IT-Experte richteten ein E-Mail-System ein, mit dessen Hilfe sich die Spieler regelmäßig auf persönliche Gespräche mit dem Trainer vorbereiten konnten. Darüber hinaus implementierte er nicht nur Kameras am Trainingsplatz, sondern auch Analysetools, die ihm dabei helfen sollten, seine Philosophie schnellstmöglich umzusetzen.

In der Trainingsmethodik setzte van Gaal auf sehr viel Arbeit mit dem Ball. Komplexe, teilweise abstrakte, aber auch einfache Übungen sollten Spielsituationen simulieren, in denen die Spieler unter Druck Entscheidungen treffen mussten. Passschärfe und Passgenauigkeit sind für seine Philosophie essenziell. Auch die Einteilung des Spielfelds in Zonen musste seine Mannschaft erst erlernen. Anders als in Spanien hatte man in Deutschland noch nicht viel vom Positionsspiel gehört. Auch deshalb funktionierte die Umsetzung seiner Ideen nicht sofort. Für den FC Bayern war das alles neu. Sie waren vorher Ottmar Hitzfeld und Jürgen Klinsmann gewohnt, die ihren Teams gerade in der Positionierung mit dem Ball viele Freiheiten ließen. Das Konzept der Bayern war darauf ausgelegt, Ribéry freizuspielen. Mit Arjen Robben kam zu Beginn der Saison 2009/2010 aber noch ein weiterer Niederländer, der diesen Fokus etwas lösen sollte. Van Gaal wusste um die Klasse seiner beiden Flügelspieler, und er versuchte deshalb, sein Positionsspiel auf sie zu fokussieren.

Was ist ein Positionsspiel? Positionsspiel bedeutet, dass das Spielfeld optimal genutzt wird, indem die verschiedenen Positionen regelmäßig besetzt werden – egal von welchem Spieler. Dafür teilt van Gaal das Spielfeld in 18 Zonen ein, in denen sich seine Spieler bewegen sollen. Der Ball wird solange horizontal gespielt, bis sich eine Lücke ergibt, die durch einen Vertikalpass erreicht werden kann. Mit der Zeit versucht die Mannschaft schrittweise nach vorne zu kommen, um den Druck zu erhöhen.

Um sie perfekt einzubinden, zog van Gaal auf Hermann Gerlands Empfehlung ein weiteres Ass aus dem Ärmel: Thomas Müller.

Wir alle erinnern uns: »Müller spielt immer!« Die Begründung dafür war, dass Müller schon früh ein herausragendes Gespür für den Raum zeigte. Er war das perfekte Bindeglied einer offensiven Dreierreihe hinter dem Stürmer. Mit seinen Läufen überlud er regelmäßig die Halbräume, also den Bereich zwischen Zentrum und Flügel, und unterstützte damit die beiden Tempodribbler. Doch er bewegte sich auch in den richtigen Momenten von seinen Mitspielern weg, um Gegenspieler wegzuziehen und auf diese Weise Räume für Robben oder Ribéry zu öffnen.

Müller war schon damals ein Phänomen und der vielleicht wichtigste Spieler der Offensive. Weil er derjenige war, der die einzelnen Mannschaftsteile verbinden konnte. Damals haben das viele noch gar nicht so wahrgenommen. Den wirklichen Hype gab es um »Robbéry«. Vielleicht war das auch besser so für den jungen Müller. Gemeinsam mit Robben löste er nun ein Problem: Ribéry hatte es inzwischen deutlich schwerer, weil der Fokus der gegnerischen Defensive stets auf ihm lag und es sonst kaum kreative Ansätze gab. Mit dem Blitztransfer von Arjen Robben und der Hinzunahme Thomas Müllers sollte sich das ändern.

Bereits bei Robbens Debüt gegen den VfL Wolfsburg zeigte sich das. In der 68. Minute schickte Ribéry den Niederländer mit einem Pass in die Spitze. Robben verwandelte aus spitzem Winkel zum 2:0. Nur wenige Minuten später war es wieder das Duo, das die Arena zum Kochen brachte. Diesmal schickte Robben den Franzosen, und Ribéry legte nach kurzem Dribbling wieder quer für Robben auf: 3:0. Das Besondere an diesen Szenen war, dass sie nicht aus längeren Ballbesitzphasen entstanden, sondern durch das Ausnutzen von Umschaltmomenten. Und zwar in Perfektion! Ein Paradebeispiel dafür, dass van Gaal keinesfalls für stumpfen Ballbesitz und Quergeschiebe stand, sondern auch auf solche Situationen viel Wert legte. Es war zudem die Geburtsstunde des besten Flügelduos seiner Zeit: »Robbéry«. Zwei prägende Spieler, die auch in den kommenden Kapiteln zu den Protagonisten zählen werden.

Trotzdem dauerte es eine ganze Weile, bis die Bayern ihr neues, auf Dominanz ausgelegtes System umsetzen konnten. Van Gaal integrierte nicht nur junge Spieler wie Thomas Müller und Holger Badstuber, er setzte auch plötzlich Philipp Lahm auf der rechten Außenverteidigerposition ein und schob Bastian Schweinsteiger vom Flügel in die Zentrale: alles Entscheidungen, die aus heutiger Perspektive selbstverständlich klingen, damals aber viel Mut erforderten.

Gerade die Schaltzentrale mit dem kreativen Schweinsteiger und dem dynamischen Abräumer Mark van Bommel funktionierte sehr gut. Badstuber war auf der linken Seite kein klassisch offensiver Außenverteidiger; er tat aber das Nötigste, um Ribéry vorne zu unterstützen. Außerdem war sein Passspiel so gut, dass er von dort aus das Spiel eröffnen konnte. Gegen den Ball sorgte er für Stabilität.

Auf der anderen Seite wuchs unterdessen mit Philipp Lahm und Arjen Robben ein Traum-Duo heran. Lahm hinterlief Robben immer und immer wieder, sodass es zu einem »Trademark-Move« wurde. Er war unermüdlich; egal, wieviel Kraft es kostete.

Und dann war da dieser Müller, der irgendwie überall war: kein klassischer Zehner, aber ein Segen für die komplette Mannschaft.

Van Gaal hatte für jeden seiner Spieler eine passende Rolle gefunden, auch wenn der Erfolg noch auf sich warten ließ. Die Art und Weise, wie sich die Mannschaft bewegte, war gänzlich neu: viel harmonischer als früher, viel strukturierter. Die Spieler bildeten fast auf dem ganzen Platz Dreiecke. Nie in Perfektion, aber immer so, dass jeder Spieler häufig zwei oder gar drei Anspielstationen hatte. Van Gaal hatte nicht auf jeder Position den besten Spielertypen für seine Philosophie zur Verfügung, aber er wusste mit dem Vorhandenen zu arbeiten. Er gab ihnen Lauf- und Passwege an die Hand, arbeitete individuell und im Team hart daran, diese umzusetzen.

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Abb. 2 Louis van Gaals System: Müller als freies Element, Schweinsteiger als vorstoßender Stratege, die Außenverteidiger asymmetrisch.

Gerade die Fehler, die die Mannschaft am Anfang der Saison noch machte, waren für die Entwicklung wichtig. Van Gaal verstand es, den Druck von der Mannschaft zu nehmen: medial aber auch intern. Damit schützte er Spieler wie Badstuber oder Müller, die vielleicht mental noch nicht für diesen hohen Druck bereit waren. Louis van Gaal ging aber auch hart mit seinen Spielern ins Gericht, wenn er es für nötig hielt. So gab es für Arjen Robben in Bremen mal Ärger in der Halbzeitpause, weil er bei einer eigenen Ecke nicht die Defensive abgesichert hatte. Konsequenz: Der Niederländer sollte nun die Standards selbst ausführen und erzielte in der zweiten Halbzeit ein wunderschönes Freistoßtor. Somit hatte sich der Ärger doch noch gelohnt …