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Joachim Bessing

Bonn.
Atlantis der BRD

Mit 24 Fotografien
von Christian Werner

punctum 010

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We were songbirds, we were Greek Gods
We were singled out by fate
We were quoted out of context – it was great.
Prefab Sprout

Kennen Sie die wilde Schwermut, die einen ergreift, wenn man sich an Zeiten des Glücks erinnert? Wie unwiderruflich sind sie dann dahin, und unbarmherziger sind wir von ihnen getrennt als durch alle Entfernungen. Auch treten im Nachglanz die Bilder lockender hervor.

Als Deutschland noch viel kleiner war, gab es nur drei Fernsehprogramme. Meine Hände waren auch noch viel kleiner gewesen, damals. Ich hatte viel draußen an der frischen Luft zu tun. Und jeder Tag wurde um acht Uhr abends beendet mit dem Geräusch eines Gongs aus dem Lautsprecher des Fernsehapparats. Dann die Fanfare der Tageschau; und die erste Ortsmarke des Nachrichtensprechers war an vielen, beinahe an jedem dieser Abende: Bonn.

Als Deutschland noch viel kleiner war, gab es tagsüber manchmal einen gewaltigen Knall, vielleicht tat es auch einen Schlag, ich kann mich an das Schockgeräusch nur noch ungefähr erinnern, es war aber sehr laut, und es schien unheimlich nahe, entsetzlich nahe am Ohr zu passieren, dabei sah man aber gar nichts davon, wenn ein Düsenflugzeug hoch am Himmel die sogenannte Schallmauer durchbrochen hatte. Die Schallmauer, dieses Wort hatte eine sehr große Bedeutung für mich. All die Jahre, in denen ich draußen, an der frischen Luft, zu tun hatte.

Bonn, die deutsche Hauptstadt zu jener Zeit, als nicht nur Deutschland, als auch die Hauptstadt Deutschlands noch viel kleiner war, spielte in meinem Leben keine Rolle. Berlin ebenso wenig. Meine Familie hatte keine Verwandten in der DDR. Ich war nie dort. An meiner Schule gingen die Klassenfahrten nach London oder Regensburg, wo wir eine historische Wurstbratküche besichtigten, in der schon den Römern Bratwürste zubereitet worden waren. Ich war damals weder in Berlin noch in der DDR gewesen. Wenn in der Tagesschau etwas aus Bonn vorgelesen wurde, sah man auf der grafischen Darstellung des Territoriums ganz rechts oben außen einen Fleck, dort war Berlin. Ein Außenposten der Bundesrepublik.

Am 10. November des Jahres 1989 stand dann unser Geschichtslehrer vor der Tafel und ließ die Tränen laufen. Die Klasse hatte eine Doppelstunde Mathematik hinter sich, man zeigte sich dementsprechend erschöpft. Den von ihm geforderten Enthusiasmus über die historische Stunde, die wir nun miterleben durften, brachte keiner auf. Das hatte eine Enttäuschung zur Folge, von der er sich nie wieder erholen sollte. Er starb an seinem gebrochenen Herzen. Unter anderem um sich an uns zu rächen. Das hatte er uns mehrfach angekündigt in den vorangegangenen Halbjahren, die aus historischer Sicht gänzlich unhistorisch unter Helmut Kohl versickert waren, bis zu jenem Tag.

»Darf ich mich näher zu Ihnen setzen?«, heißt es bei Fassbinder (in Angst essen Seele auf).

Als Deutschland noch viel kleiner war, wurde vor allem sehr viel mehr geraucht. Es war extrem. Ich kann mich an Szenen erinnern, da ließ man sich zwischen den Gängen einen Aschenbecher bringen; man betrat mit einer glimmenden Kippe das Restaurant. Jeden Sonntag wurde im TV der Internationale Frühschoppen gezeigt, geleitet vom Vater Candida Höfers, deren Werk damals noch nicht existierte, da wurde durchgehend geraucht und geschmaucht, es wurde regelrecht gequalmt. Es war gemütlich, aber es würde auch bald vorbei sein, davon ahnte ich freilich nichts.

Das Atlantis der BRD liegt nicht auf dem Grund eines Meeres – welchem denn; dem schwäbischen etwa, dem Grund des Bodensees? Oder der Müritz?

Die Welt der einstigen Bundeshauptstadt liegt unter dem Dunst von Milliarden von Zigarren, Tabakspfeifen und Zigaretten versunken. Selbstgedrehte und Orient. Mit Filter und ohne.

In jener Zeit, in den Siebzigerjahren, wurde ich eines Abends von einer Biene in die nackte Fußsohle gestochen. Das war um die Stunde nach dem Abendbrot, zwischen sieben und acht, wenn die Kinder noch einmal »ohne Händewaschen« hinaus in die Gärten geschickt wurden. Dann traf man, wenn es dort nichts Besonderes gab, bald auf der Straße zusammen, die hufeisenförmig verlief und nur wenig breiter als eine Fahrspur war. Zu beiden Seiten von einem Trottoir umgeben. Im Sommer – und es musste ja Sommer gewesen sein; höchste Bienenzeit – war es dann vor dem Zubettgehen noch hell, und zwischen den Häusern stand abscheidend ein staubiges Licht. Weit und breit war kein Erwachsener zu sehen. Die Männer schenkten sich das zweite Bier ein, denn der erste Krug war, nach getaner Arbeit, noch in der Kehle verzischt. Jemand hatte seinen Rasen gesprengt, und eine Garbe von dem Gießwasser aus dem Schlauch war auf den Asphalt des Trottoirs gefallen. Dieser Duft war fortan Sommer für mich. Ich hatte mich an einer Hecke zu schaffen gemacht. Vielleicht hatte die Biene sich auf dem warmen Asphalt bloß ausruhen wollen, vielleicht war es aber auch schon September und sie hatte sich dort niedergelegt, um zu sterben. Als ich aus Unachtsamkeit mit nacktem Fuß auf sie getreten war, stach sie mitten in die sie überwölbende Bedrohung hinein.

So fand mich jammernd, auf dem Trottoir sitzend und meine Schwellung betastend der Maler Duppel vor, der drei Häuser neben dem unseren in einem Dachgeschoss lebte, mit einer dicken Frau, die anscheinend derart dick war, dass sie ihr Heim dort in den Lüften niemals verlassen konnte. Man sah sie im Sommer und im Winter immer nur aus dem geöffneten Giebelfenster herausgelehnt eine Zigarette rauchen. Sie hatte glattes, sehr langes Haar, das ihr zu beiden Seiten des Busens hinunterhing. Nachmittags warf sie tütchenweise Ahoj-Brause zu uns herunter, ohne ein Wort. Er hingegen, Herr Duppel, war ganz klein und dünn. Ein Hänfling mit orangerotem Haar, das sich unter seiner weißen Malermütze hervorkringelte. Auch nach dem Feierabend trug er seine weiße Malerkluft mit Latzhose und schweren Schuhen, deren Leder von weißen Farbspritzern gesprenkelt war. Alle Häuser waren weiß, auch innen wurden die Raufasertapeten weiß angemalt. Duppel zündete sich eine Zigarette an, eine Krone, und drückte mir die Glut ihrer Spitze auf den Bienenstich. Das tat freilich noch mehr weh als der Stich an sich, aber immerhin war jetzt ein Schmerz von anderer Qualität entstanden. Der Bienenschmerz, in dem auch mein Bedauern über den von mir ungewollt verursachten Tod der lieben Biene eine Rolle gespielt haben wird, war überdeckt vom Brandschmerz, den mir unser Nachbar, der Maler Duppel, mit seiner Zigarette zugefügt hatte. Der war zu meinem Besten. Zwar konnte die Behandlung das kissenhafte Anschwellen meiner Fußsohle rings um die Brandwunde nicht verhindern, unter der das Bienengift davon unbeirrt seine die Gefäße sprengende Wirkung tat, aber als ich nach ein paar Tagen später wieder auftrat wie zuvor, musste ich noch immer an die Tortur des Ausbrennens denken. Und dass ich sie niemals wieder über mich ergehen lassen würde.

Uns Kindern gegenüber hatten die Erwachsenen alle Rechte. Bei Streichen hatte man sich vorzusehen, denn es drohten ja Strafen. Die konnten unvorhersehbarerweise drastisch ausfallen, man wusste nie, mit wem man es zu tun bekam. Einmal wurde ich beim Versuch des Klingelputzens vom aus dem Haustürspalt hervorschießenden Arm einer Nachbarin erfasst und mit Gewalt ins Innere des Hausflurs gezogen, die steinerne Treppe hinuntergeschleppt, um in einem fensterlosen Kellerraum eingesperrt zu werden – vor dessen Tür sich bald schon eine ihrer halbwüchsigen Töchter aufbauen sollte, um mich mit ihrem unheimlichen Geheule noch tiefer in die Furcht hineinzutreiben. Manchmal erzählte man daheim von solcher Behandlung, oft auch nicht. Meistens hieß es »selber Schuld.« Aber einmal, als ich in der zweiten Klasse der Grundschule im Rechenunterricht durch heimliches Reden die Klassenruhe gestört haben soll, klebte mir meine Lehrerin, ein sogenanntes Fräulein Reichart mit goldenem Dutt und stets ganz in Schwarz mit Beffchen, meinen Mund quer zu mit einem Heftpflaster, und das sollte bis zur Pause dort kleben bleiben. Da beschwerten sich meine Eltern anderntags bei unserem Rektor Herrn König über die Behandlung, denn ich hätte beim Rechnen doch ersticken können. Der Ortspfarrer Mayer hingegen, der uns Religionsunterricht erteilte, durfte uns weiterhin ungehemmt mit seinem Geigenbogen einen neuen Scheitel ziehen, wie er das nannte. Der Pfarrer stand als Instanz noch über dem Rektor, weil er auch nach Schulschluss im Ort als Autorität anzuerkennen war.