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Moonlight Romance
– Staffel 2 –

E-Book 11-20

Scarlet Wilson
Regina Shadow
Helen Perkins
Runa Moore
Peter Haberl
Georgia Wingade
Carola Blackwood

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74094-306-6

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Das düstere Geheimnis

Wird sie zum Opfer einer tödlichen Intrige?

Roman von Blackwood, Carola

Es musste ihr gelingen, ihre schädlichen Kräfte erneut zum Einsatz zu bringen, sonst wäre alle ihre bisherige Mühe umsonst gewesen! Maja, von Natur aus kräftig – auch mental – machte Anstalten, sich jeden Tag mehr zu erholen. Die Phasen des Wachseins verlängerten sich bereits dramatisch, und ihre Aufmerksamkeit verbesserte sich besorgniserregend. Die Besucherin erhob sich, machte zwei Schritte zum Bett, in dem Maja sich bereits wieder anschickte, aus ihren verrückten Träumen aufzuwachen, beugte sich über ihr Opfer und legte ihm ihre beiden Handflächen wie üblich seitlich ans Gesicht, dabei Schläfen, Ohren und einen Teil der Wangen bedeckend und begann ihren eigenartigen Singsang in einer Sprache, die vermutlich niemand außer ihr verstehen konnte.

»Sie dürfen den Kopf nicht hängen lassen! Dazu besteht absolut kein Grund!«

Der sympathische, noch junge Oberarzt – dem Aussehen nach hielt er ihn für einen Inder oder Pakistani – bemühte sich sehr, ein gewisses Maß an Optimismus zu verbreiten. Das war auch bitter nötig, denn er selbst schätzte die Lage für ziemlich schwierig ein.

Den jämmerlichen Anblick, den jene Frau bot, die er in absehbarer Zeit zu heiraten gedachte, würde der erfolgreiche junge Ingenieur Bernd Hoferrichter nie mehr in seinem ganzen Leben vergessen können: Durch den Aufprall wie ein weggeworfenes Lumpenbündel am Rande der Fahrbahn, in einer Blutlache liegend, das Gesicht zwar unversehrt, aber die Arme wie abwehrend vom Oberkörper abgespreizt, ein Bein ausgestreckt, der Fuß in unnatürlicher Weise abgewinkelt, das andere gerade liegend, jedoch mit zertrümmertem Schienbein.

In diesem Zustand hatte er Maja Steinmetz vorgefunden, als er am Abend nach Hause gefahren war, wo beide zusammen in einer schicken Wohnung in München-Großhadern lebten. Ihr Fahrrad war weiter weg geschleudert worden und lag verbogen und zerbeult im Straßengraben. Die Menge an Blut rund um ihren Kopf und in den schulterlangen blonden Haaren hatte ihn furchtbar erschreckt. Dass es von einer grässlich anzuschauenden Wunde am Hinterkopf stammte, erfuhr er erst von den Sanitätern, die er herbeigerufen hatte, nachdem der Unfallverursacher es offenbar vorgezogen hatte, feige das Weite zu suchen.

Auch der Notarzt hatte wütend den Kopf geschüttelt. Es gehöre schon ein gewaltiges Ausmaß an Verantwortungslosigkeit dazu, eine Radfahrerin über den Haufen zu fahren – und dann einfach abzuhauen und die Schwerverletzte hilflos ihrem Schicksal zu überlassen, meinte er, nachdem er festgestellt hatte, dass sie zumindest noch Lebenszeichen aufwies.

»Sie muss so schnell wie möglich in den OP. Ich denke, Sie möchten mitkommen?«, hatte er sich erkundigt. Das hatte Bernd Hoferrichter natürlich getan und etliche Stunden bangend vor dem Operationssaal verbracht. Er hoffte inständig, dass man sie am Leben erhalten konnte.

»Die Brüche und Prellungen an Armen, Beinen und Rippen werden gut verheilen – so viel kann man jetzt schon sagen. Aber am meisten hat uns die Kopfverletzung Sorgen bereitet – und sie tut es immer noch!«, hatte ihn der Chefarzt anschließend noch persönlich instruiert. »Wenn auch nicht in der Weise, die Sie vermutlich befürchten!«

Er, ein anerkannter Spezialist für Hirnverletzungen, war vorsichtshalber von dem Ärzteteam hinzugezogen worden, als klar zu sein schien, dass es sich wohl um eine kompliziertere Sache und nicht nur um eine simple Gehirnerschütterung handelte.

»Die Patientin scheint von der Motorhaube des Wagens erfasst worden zu sein, wodurch sie zur Seite und an den Straßenrand geschleudert wurde. Daher stammen die Brüche und Verletzungen und auch das Trauma am Hinterkopf, als sie auf dem Asphalt aufschlug.

Dennoch musste ich feststellen«, erörterte der Chefarzt ein wenig umständlich, »dass die Kopfverletzungen der Patientin bei weitem nicht so gravierend sind, wie zuerst von den Kollegen und mir angenommen!

Ich gestehe, wir können bisher nicht erklären, woher die massiven Beeinträchtigungen der jungen Frau stammen! Ihr Gehirn wurde nämlich weit weniger in Mitleidenschaft gezogen, als von uns befürchtet! Für die Ausfälle haben daher bisher weder ich, noch meine Kollegen eine schlüssige Erklärung.

Wir müssen abwarten und hoffen, dass die an sich robuste Verfassung der Patientin sich durchsetzt und dass bald mit einer Besserung zu rechnen ist. Sobald sie aus ihrer Bewusstlosigkeit aufwacht, werden wir weiter sehen!«

Dass es demnach noch eine ganze Weile dauern könne, bis man ein endgültiges Urteil abgeben konnte, machte ihm schwer zu schaffen.

Die ersten Wochen war sie fast ständig bewusstlos. Seit kurzem hatte sich das zwar geändert, aber selbst während der kurzen Wachzustände sprach sie kaum ein Wort, reagierte auf nichts Gesprochenes – nur auf Musik oder das Pfeifen von Vögeln – und, was für ihn am schmerzlichsten zu verkraften war: Sie erkannte ihn offenbar nicht mehr!

Weder mit einem Augenzwinkern, noch mit der kleinsten Veränderung ihrer Mimik brachte sie zum Ausdruck, ihn auch nur ansatzweise wahrzunehmen.

»Ich könnte glatt ein Stuhl oder Tisch sein«, klagte Bernd seinen Freunden und Bekannten. »Maja behandelt mich wie irgendein Möbelstück!«

Arbeitskollegen, Verwandte, Freunde und die behandelnden Klinikärzte versuchten, ihn aufzumuntern. Letztere, indem sie ihn umgehend über winzigste Schrittchen einer angeblichen Besserung informierten, so oft er seine Liebste besuchte – was in aller Regel jeden Tag war.

»Egal, ob und wie sie darauf reagiert, Sie müssen ständig auf sie einreden, in ruhigem Ton und vor allem ganz gelassen! Am besten erzählen Sie ihr heitere Begebenheiten oder sprechen über Dinge, welche Sie mit ihr gemeinsam erlebt haben! Auch schöne Zukunftspläne, die Sie mit ihr möglicherweise geschmiedet haben, sind gut geeignet, die Erinnerung erneut wachzurufen.

Irgendwann wird Ihre Stimme gewiss zu ihr durchdringen und sie wird sich wieder an Sie erinnern!«

So ermahnte ihn insbesondere jedes Mal die Stationsschwester, eine Frau in mittleren Jahren, die große Erfahrung in der Pflege und Betreuung von Hirnverletzten besaß. Bernd nahm sich das durchaus zu Herzen, weil es ihm einleuchtete, dass dies zu Majas Gesundung beitragen konnte.

Die andere Sache, worüber ihm die Krankenschwester berichtete, nahm er hingegen nicht für wichtig. Dass jeden Vormittag – wenn er in seiner Firma an seinem Arbeitsplatz saß – eine junge attraktive Frau an seiner Statt an Majas Bett saß, interessierte ihn nicht besonders.

Obwohl er es natürlich nett von dieser Freundin fand, dass sie sich ebenfalls jeden Tag die Zeit nahm, um Maja zu besuchen. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Lehrerkollegin …

*

Maja Steinmetz, die junge Münchner Lehrerin, der die große Sorge ihres Verlobten Bernd Hoferrichters galt, lag wie leblos in ihrem Klinikbett in einem Einzelzimmer des Klinikums Großhadern, in das man sie nach ihrem Unfall verbracht hatte.

Die Augen geschlossen und vollkommen bewegungslos vermittelte sie den Eindruck von tiefer Bewusstlosigkeit. In Wahrheit war sie seit einiger Zeit wieder wach und ließ ihren Gedanken freien Lauf.

Von dem Mann, der ihr Verlobter war und der seit Stunden an ihrem Bett saß, nahm sie keinerlei Notiz. Für sie schien er ein Fremder zu sein, der zufällig neben ihr saß, aber nicht das Geringste mit ihr zu tun hatte.

In ihrer ganz eigenen Welt gefangen, befand sich Maja auch nicht im Krankenhaus, ja nicht einmal in ihrer Heimatstadt München, sondern in Österreich, und zwar in der Stadt Kufstein. Mit Sorge und zugleich Bedauern blickte Maja Steinmetz im Augenblick auf ihr Handy.

Die Besorgnis galt ihrer Tante und ihr Bedauern bezog sich einerseits auf ihren allem Anschein nach verpatzten Bergurlaub, sowie auf die Tatsache, dass ihr Verlobter Bernd Hoferrichter, Ingenieur bei einer der weltweit bekanntesten Elektrofirmen Deutschlands, vermutlich wenig Verständnis für ihre spontane Entscheidung zeigen würde. Aber sie hielt es nun einmal für ihre Pflicht …

Seufzend klappte die hübsche schlanke junge Frau mit dem blonden Pferdeschwanz und den großen blaugrünen Augen ihr Handy zu, kehrte in den Speisesaal des Kufsteiner Hotels zurück und informierte Bernd und das befreundete Paar, welche beim Abendessen saßen, über die Sachlage.

Tatsächlich war es noch schlimmer gewesen, als von Maja vermutet!

Ihr Verlobter, ein gut aussehender schwarzhaariger Hüne, Anfang dreißig, mit blauen Augen, hatte sich nachher zwar halbherzig für seine Vorhaltungen entschuldigt, aber ihr doch irgendwie spöttisch »Viel Erfolg als Krankenschwester!« gewünscht.

Majas Laune wurde dadurch keineswegs verbessert; konnte sie doch daraus ersehen, dass ihr Verlobter nach wie vor sauer war über ihren Entschluss. Er tat gerade so, als wäre es ihr leicht gefallen, den so lange schon geplanten Wanderurlaub in Österreich von Hütte zu Hütte sausen zu lassen.

Die Freunde Peter Daubner und Tina Maurer äußerten sich kaum. Wobei sie sich bei dem Wenigen, das sie von sich gaben, allerdings immerhin darum bemühten, zumindest halbwegs Verständnis aufzubringen.

Sichtlich enttäuscht war Peter; was Tina anbetraf, war Maja sich keineswegs so sicher. Die rassige Rothaarige tat zwar besorgt und verständnisvoll – aber Maja wurde trotzdem das Gefühl nicht los, als wäre ihre Freundin gar nicht so besonders traurig darüber, dass sie nun mit den beiden Männern alleine Urlaub machen konnte …

Aber der Reihe nach.

Zu viert hatten sie sich in einem Hotel in Kufstein getroffen. Von dort aus sollte es am nächsten Morgen mit Rucksack, Bundhosen und Wanderstiefeln losgehen; am Hintersteiner See vorbei und hoch zur Ellmauer Halt im Kaisergebirge, dann, nach einer ausgedehnten Rast, Abstieg nach Ellmau und anschließend gemächlicher Fußweg ins reizende Örtchen nach Sankt Johann, von wo aus man am nächsten Tag das Kitzbühler Horn ansteuern wollte. Am folgenden Morgen war dann geplant, von Hochfilzen aus das Birnhorn der Leoganger Steinberge zu besteigen.

Weiters war ein Aufstieg von Saalfelden aus zur Schönfeldspitze im Steinernen Meer vorgesehen, um in Maria Alm zwei ganze »faule« Rasttage einzulegen, ehe man sich den Hochkönig vornehmen wollte, auf dessen knapp dreitausend Meter hohem Gipfel auch Ende Juli noch Schnee lag. Aber das kannte man ja auch von der Zugspitze und es bedeutete für die vier reichlich erfahrenen Berggeher kein Problem.

Als man sich auf das gemeinsame Urlaubsziel geeinigt hatte, war Maja aufgefallen, dass Tina darüber nicht gerade hell begeistert gewesen war. Ihr hätte ein Urlaub am Meer in einem der zahlreichen mondänen Ferienorte um einiges mehr zugesagt. In einem schicken Hotel konnte man sich wenigstens in tollen Klamotten präsentieren – anders als das in Tiroler Berghütten und Pensionen möglich sein würde …

Aber es stand in diesem Fall drei zu eins. Um nicht als Spielverderberin dazustehen, hatte Tina leicht mürrisch in die »Bergvariante« eingewilligt.

Maja selbst hatte die Route ausgetüftelt und sich jede Menge Material besorgt, wozu nicht nur Wanderkarten, sondern auch Fahrpläne von Eisenbahn- und Busverbindungen gehörten. Zum größten Teil hatte sie auch die Quartiere schon vorbestellt. Endpunkt der zünftigen Wandertour – nur mit Rucksack! – sollten die Niederen Tauern sein, mit Besteigung des Moser Mandls und des Hochgollings. Nach zweitägigem Ausspannen in einer komfortablen Unterkunft in Schladming würde man nach gut zwei Wochen wieder mit dem Zug nach München zurückfahren.

»Glaubst du nicht, Schatz, dass ich selbst unheimlich enttäuscht bin, dass ich euch drei allein ziehen lassen muss? Ich war es doch, die den Vorschlag gemacht, alles ausgetüftelt und organisiert hat! Dass es jetzt leider so gekommen ist, ist doch nicht meine Schuld!«, hatte Maja versucht, sich vor Bernd und den anderen zu rechtfertigen.

Misstrauisch hatte der junge Mann mit dem millimeterkurzen Haarschnitt und dem flotten schwarzen Dreitagebart Majas offenbar »superwichtiges« Telefonat von Anfang an verfolgt. Hatten sie doch ausgemacht gehabt, die Handys während des Urlaubs auszuschalten …

Mehrmals hatte Bernd versucht, seiner Verlobten eine Beendigung der störenden Unterhaltung während des Abendessens im Hotel »Schwarzer Schwan« nahe zu legen.

Aber Maja, siebenundzwanzig und Lehrerin an einer Münchner Grundschule, war stattdessen kurzerhand aufgestanden und für längere Zeit aus dem Speisesaal verschwunden. Dass der Anrufer ihr Cousin Jens war, Student der Betriebswirtschaften im vierten Semester, hatten die Zurückgebliebenen noch mitbekommen.

Jens schien wieder mal ein für ihn unlösbares Problem zu haben und Bernd schwante nichts Gutes. Er kannte doch seine gutmütige Maja! Sie liebte den knapp einundzwanzigjährigen, blonden und gutaussehenden jungen Mann wie einen jüngeren Bruder und ließ dem verwöhnten, als Halbwaise aufgewachsenen Muttersöhnchen viel zu viel durchgehen.

Jens war es gewohnt, alle, die mit ihm zu tun hatten, um den Finger zu wickeln. Aufgrund seines Charmes und seines sympathischen Äußeren fand er immer jemanden, der ihm die Kastanien aus dem Feuer holte.

»Ich begreife nicht, weshalb Maja ihr Handy in den Ferien nicht einfach abschaltet«, nörgelte Bernd. »Dann wäre sie vor lästigen Anrufen und Anrufern verschont! Es gibt ja auch tatsächlich Eltern«, beklagte er sich bei den gemeinsamen Freunden Peter und dessen Lebensgefährtin Tina, »die glauben, Lehrer stünden ihnen auch im Urlaub für ausführliche Informationen zur Verfügung. Hin und wieder ist es auch das Schulamt, das in den Ferien »ganz dringend« irgendwelche Auskünfte zu Vorgängen benötigt, die anscheinend keinen Tag länger warten können! Habe ich alles schon erlebt!«

»Drum sage ich immer: Augen auf bei der Berufswahl!«, grinste Peter Daubner, ein mittelgroßer, gemütlicher Teddybären-Typ mit schütterem braunem Haar und leichtem Bauchansatz, dem privat niemand böse sein konnte. Er, Mitte Dreißig, war Sozius in einer der renommiertesten Anwaltskanzleien Münchens und in seinem Job als Anwalt in Familien- und Scheidungsangelegenheiten galt er gemeinhin als »scharfer Hund«, der verbissen für seine Klienten kämpfte.

Seine superschlanke Dauerfreundin, die rothaarige neunundzwanzigjährige Tina, der eine Modeboutique in der Prinzregentenstraße gehörte und mit der er seit drei Jahren zusammenlebte, lächelte spöttisch.

»Und vor allem Augen auf, wenn es um die Wahl der richtigen Partnerin geht!«, fügte sie mit maliziösem Lächeln hinzu.

Die beiden Männer starrten sie einen Augenblick lang sprachlos an. Was brachte Tina auf einmal dazu, ihrer langjährigen Freundin Maja in so hinterhältiger Weise in den Rücken zu fallen?

»Na, hör mal«, begann Peter aufgebracht. Ihm war ihr Ausrutscher offenbar peinlich, aber Bernd unterbrach ihn. »Ich verstehe schon, was Tina eigentlich sagen wollte! Majas überkorrekte Beamtenmentalität und ihr so genanntes »Gutmenschentum« gehen auch mir gelegentlich tierisch auf den Geist! In diesem Fall hat es zwar nichts mit ihrem Lehrerberuf zu tun. Aber mich ärgert, dass ihr Cousin Jens einfach so über ihre Freizeit verfügen möchte.

Ich gehe jede Wette ein, dass der Grund seines Anrufs wieder einmal irgendeine Aufgabe ist, die er ihr aufhalsen will. In diesem Fall betrifft es allerdings mich genauso mit; immerhin geht es um unseren gemeinsamen Urlaub, der etwas ganz Besonderes werden soll!

»Der Bursche will Maja wieder mal zu irgendetwas überreden – so viel habe ich bereits mitbekommen! Und wie sie geartet ist, wird sie nicht »nein« sagen. Dann werden wir nur zu dritt sein – und ich kann mich gute zwei Wochen lang wie das berühmte fünfte Rad am Wagen fühlen!«

»Ach, du Ärmster! Ich sehe schon, du hast es mit Maja nicht immer ganz leicht!«

Mitfühlend legte Tina dabei ihre Hand auf Bernds Rechte, wobei sie ihn betont mitleidig mit ihren mit schwarzen Kajalstrichen umrandeten grünen Katzenaugen anschmachtete.

Dieser wartete einen Moment, ehe er ihr seine Hand so unauffällig wie möglich entzog. In letzter Zeit hatte er bereits öfters bemerkt, dass Tina Maurer ganz bewusst seine körperliche Nähe suchte oder ihn wie unabsichtlich berührte – auch wenn absolut kein zwingender Anlass dazu bestand …

Nicht, dass es den flotten Ingenieur Bernd besonders gestört hätte! Von der auf ihre in etwas schriller Weise sehr attraktiven Tina ein wenig angehimmelt zu werden, schmeichelte durchaus seinem männlichen Ego.

Er wollte es bloß unter allen Umständen vermeiden, dass der gutmütige Peter Daubner, sein bester Freund seit Jugendtagen, etwas davon mitkriegte – und dann womöglich noch in den falschen Hals bekäme. Außerdem war die etwas überspannte Tina nicht unbedingt der Typ Frau, den er bevorzugte.

Inzwischen war Maja zum Tisch zurückgekehrt und hatte Bernds Befürchtungen in allen Punkten bestätigt, worüber er sich in den nächsten Minuten schrecklich aufregte. Als Kavalier fühlte Peter sich wiederum nach einer Weile verpflichtet, Maja sozusagen beizuspringen.

»Was hätte Jens, dieser grüne Junge, denn deiner Meinung nach sonst tun sollen, Bernd?«, fragte er schließlich, leicht genervt. »Er ist, wie ich höre, grade mal Anfang Zwanzig, mitten im BWL-Studium und offenbar mit der Situation vollkommen überfordert!

Dass seine Mutter, Majas Tante, urplötzlich schwer erkrankt ist – damit konnte nun wirklich keiner rechnen! Da es anscheinend keine akute Sache ist, nimmt sie auch kein Krankenhaus mehr auf, bzw. behält sie noch länger stationär. So ist das heute eben.

Außer ihrem Sohn und Maja scheint die gute Frau in München keine anderen Verwandten mehr zu haben, die sich um sie kümmern könnten und sie während der schlimmsten Zeit pflegen, bis sie so weit hergestellt ist, um auf Kur fahren zu können.«

»Dafür gibt es allerdings, soweit mir bekannt ist, ausgebildete Pflegekräfte, wenn sich der eigene Sohn als unfähig oder unwillig erweist!«, warf Tina mit hochgezogenen Augenbrauen ein und hörte sich dabei etwas aggressiv an.

»Aber Tina! Möchtest du nach einem Schlaganfall nicht auch lieber von jemandem betreut werden, den du gut kennst und magst, als von einer wildfremden Person?«, gab ihr ihr Freund Peter zu bedenken.

Tina zog daraufhin eine Schnute und beließ es dabei, eine Antwort schuldig zu bleiben.

Maja würde also noch an diesem Abend zurück nach München fahren; der freundliche und hilfsbereite Hotelportier, der ihr Gespräch unfreiwillig mitgehört hatte, hatte ihr bereits einen Platz im Zug reservieren lassen. Ihre Sachen waren schnell verstaut, das Reisegepäck für eine Bergwanderung war entsprechend beschränkt; alles musste doch auf dem eigenen Rücken mitgeschleppt werden: Für überflüssigen modischen Schnickschnack war da kein Platz. Sehr zu Tinas Bedauern …

Aber der war bei einer Alpentour ja sowieso nie angebracht. Maja musste nur noch aus dem Hotel auschecken und die Rechnung begleichen.

Zuletzt galt es also, auf das vom Portier herbeigerufene Taxi zum Bahnhof zu warten. Ihr Verlobter half ihr immerhin, die Wartezeit zu verkürzen. Bernd hatte Maja sogar angeboten, bis zum Bahnhof mitzufahren, aber das hatte die junge Frau abgelehnt.

»Wir wollen den Abschied nicht künstlich hinauszögern, Schatz! Wir sagen uns jetzt Adieu – und du setzt dich wieder zu Tina und Peter. Sag’ ihnen, ich lasse sie nochmal recht herzlich grüßen und wünsche euch allen einen tollen Urlaub!«

Bernd hatte seiner Verlobten zwar versichert, ihr nicht länger böse zu sein, aber der feinfühligen Maja entging keineswegs, dass er immer noch ungehalten war. Seiner Meinung nach hätte sie auf Jens’ Ansinnen mit einer strikten Ablehnung reagieren müssen. Ihr Abschied in der Hotelhalle, nach Ankunft des Mietwagens, war leicht unterkühlt; selbst der Abschiedskuss geriet etwas frostig.

»Mach’s gut, Schatz!«, war alles, was Bernd murmelte, ehe er sich umwandte und die Treppe ins Untergeschoß ansteuerte, wo sich die Hotelbar befand.

»Nicht einmal umgedreht hat er sich, um mir zum Abschied zuzuwinken«, überlegte Maja traurig. Kurz durchzuckte sie der Gedanke an Tina und ein Anflug von Unbehagen machte sich in ihr breit.

Kurz überlegte sie, ob es irgendwelche Anzeichen dafür gab, dass Tina sich anschickte, sich von Peter abzuwenden, um sich dafür auf Bernd zu stürzen? Musste sie Angst davor haben, dass Tina sich als falsche Freundin erwies und ihr den Verlobten ausspannen wollte?

Als sie vorne neben dem Fahrer Platz nahm, schämte sie sich bereits ihres Verdachts und wies den Gedanken an Tinas Verrat weit von sich. Irgendwie empfand sie es nur als merkwürdig, dass sie im Stande war, die Unterhaltung zwischen Bernd und dem befreundeten Paar genau mitverfolgt zu haben.

Eine Sache, die eigentlich gar nicht möglich war, denn sie hatte den Speisesaal, wo sie zu viert am Tisch gesessen hatten, um zu Abend zu essen, ja verlassen hatte, um in der Hotelhalle in Ruhe mit ihrem Cousin telefonieren zu können!

Hm. Eine eigenartige Angelegenheit, über die sie später genauer nachdenken wollte. Während der stundenlangen Eisenbahnfahrt würde sie Gelegenheit dazu haben. Im Augenblick glaubte sie allerdings, den Taxifahrer von irgendwoher zu kennen … Aber das war wohl ein Irrtum und Maja machte diesbezüglich auch keine Bemerkung.

*

»Es ist nun mal, wie es ist! Machen wir also das Beste daraus«, schlug Bernd den beiden Miturlaubern vor. Zum Glück hatte Maja jeden einzelnen Abschnitt der Tour bis ins Kleinste schriftlich fixiert; auch die Übernachtungsplätze in Berghütten, Hotels und privaten Quartieren hatte sie vorsorglich gebucht – im Sommer durchaus angebracht bei einer vierköpfigen Gruppe. Eigentlich dürfte es keine größeren Pannen geben – zumindest keine, welche ihre jeweiligen Unterkünfte betrafen. Alle diesbezüglich relevanten Unterlagen hatte Maja Bernd übergeben.

»Wird schon nicht so schlimm werden ohne Maja«, meinte Peter, »obwohl Tina und ich es natürlich sehr bedauern, dass sie nicht dabei sein kann. Komm«, lass uns noch eine Flasche von dem tollen Wein bestellen: Wir haben schließlich Urlaub – und die kommenden zweieinhalb Wochen muss keiner von uns mit dem Auto fahren!«

Bernd hatte inzwischen ebenfalls seine leisen Zweifel, was Tinas Bedauern anbetraf: Auf ihn machte sie einen durchaus sehr vergnügten Eindruck; davon, dass Majas Ausscheiden aus der Viererrunde ihr nahe ging, konnte seiner Meinung nach keine Rede sein.

Insgeheim musste Bernd ein Grinsen unterdrücken. Er würde jedenfalls auf der Hut sein und darauf achten, die liebe Tina nicht allzu nahe an sich herankommen zu lassen …

*

Seltsamerweise wusste Maja auch dieses Mal über das Geschehen in dem Kufsteiner Hotel Bescheid. Es war so, als wäre sie dort anwesend – ohne dass die anderen drei sie überhaupt wahrnahmen.

»Irgendetwas scheint mit meiner Wahrnehmungsfähigkeit außer Kontrolle geraten zu sein«, überlegte Maja. ‚Es ist doch ein Ding der Unmöglichkeit, dass ich gleichzeitig an zwei Orten präsent bin! Was, in Gottes Namen, ist denn los mit mir?«

Gedankenverloren starrte Maja aus dem Fenster des italienischen Fernzuges, der in Kürze im Münchener Hauptbahnhof eintreffen sollte. Von Mailand kommend, über Brescia, Verona, Trento, Bozen, Brixen und Innsbruck fahrend, hatte der Zug in Kufstein fast eineinhalb Stunden Verspätung gehabt, die sich im Laufe der Strecke jedoch auf eine Dreiviertelstunde verkürzt hatte, da der ­Zugführer gewaltig an Tempo zulegte.

Zwischen Brixlegg und Rattenberg hatte ein Berghang sich angeschickt, abzurutschen. Ursache war ein heftiges Sommergewitter mit sintflutartigem Regen, der den Boden aufgeweicht hatte und sogar die Gleise zu unterspülen drohte.

Zum Glück hatte die abgehende Mure, nachdem sie ein Dorf verwüstet hatte, rechtzeitig Halt gemacht und wenigstens die Bahngleise nicht verschüttet, sonst hätte Maja vermutlich erst am anderen Vormittag oder noch später eine vernünftige Gelegenheit gefunden, um in die bayerische Landeshauptstadt zu gelangen.

Während der gesamten Fahrt wurde Maja von der Sorge um ihre gerade mal etwas über fünfzig Jahre alte Lieblingstante Claudia Ritter geplagt. Sie hatte nichts gewusst von Claudias schon vor fast drei Wochen eingetretenem Schlaganfall, sonst hätte sie wahrscheinlich versucht, den Urlaub zu verschieben. Der Anruf von Jens hatte Maja sozusagen eiskalt erwischt. Sie hatte ihm deswegen auch Vorhaltungen gemacht, weil er ihr nicht umgehend Bescheid gegeben hatte.

Claudia war eine attraktive, seit über zehn Jahren verwitwete und sehr vermögende Dame und Mutter des besagten Studenten Jens, die sich um ihren Lebensunterhalt keine Sorgen zu machen brauchte. Sie reiste oft in ferne Länder und betrieb zum Zeitvertreib ein wenig Malerei und Töpfern in einer kleinen Werkstatt in der Nähe ihrer Wohnung in München-Schwabing.

Vom Verkauf ihrer »Kunst« zu leben brauchte sie auf keinen Fall; ihr Mann hatte ihr und Jens eine Menge an Geld und Sachwerten hinterlassen.

Sie joggte, spielte Golf und Tennis, segelte, schwamm und fuhr im Winter Ski. Sie trank kaum Alkohol, verzichtete aufs Rauchen und ernährte sich kalorienbewusst und vor allem »gesund«. Niemand, der die hübsche schlanke Frau kannte, wäre je auf den Gedanken gekommen, sie könnte eine mögliche Kandidatin für Schlaganfälle sein.

Mitten in ihren Überlegungen kam Maja der Gedanke, dass sie bereits längere Zeit verschont geblieben war von den Ereignissen in Tirol – an denen sie ja in Wahrheit gar nicht mehr teilhatte, die ihr aber dennoch so plastisch vor Augen gestanden hatten, als erlebe sie wahrhaftig alles mit … Darüber war Maja sehr froh. Es schien, als hätte in ihrem Kopf zum Glück erneut »Normalität« Einzug gehalten.

Zum wiederholten Male zog die junge Frau ihr Handy hervor, um ihren Cousin Jens, der längst nicht mehr bei seiner Mutter lebte, sondern in einer Schwabinger Studenten-WG, anzurufen. Er musste schließlich wissen, dass sie später als erwartet im Bahnhof ankäme. Sie wollte ihm auch sagen, dass sie sich sehr freue, wenn er sie – wie versprochen – abholen werde.

Sie könnte aber auch verstehen, wenn die Zugverspätung von etwa 45 Minuten seine Zeiteinteilung durcheinander gebracht hätte und er sie nicht persönlich begrüßen könne. Er sollte sich bloß melden, um ihr Bescheid zu geben, ob sie eventuell auf ihn warten oder gleich zur Schwabinger Wohnung fahren solle.

Falls er allerdings weg müsse, solle er den Schlüssel zur Wohnung seiner Mutter irgendwo hinterlegen, wo sie ihn leicht finden könne.

Alles das wollte Maja Jens mitteilen, aber leider ging nur die Mailbox dran – und ab Rosenheim gab es dann seltsamerweise gar keinen Empfang mehr.

»Komisch!«, murmelte Maja ärgerlich vor sich hin. »Er wird das verflixte Ding doch nicht etwa ausgeschaltet haben? Na, vermutlich hat der Schlauberger nur wieder mal vergessen, den Akku aufzuladen …«

Eine ältliche Mitreisende, die ihr seit Innsbruck gegenüber saß und immer wieder versuchte, mit der bildhübschen Blondine ein Gespräch anzufangen, beobachtete alles, was Maja tat, sehr genau. Auch jetzt erkundigte sie sich sogleich:

»Ach herrje, Sie Ärmste! Hat Ihr Freund sein Handy ausgeschaltet? Will er etwa nicht mehr mit Ihnen reden? Dann ist er ein Dummkopf! Aber machen Sie sich nichts daraus, meine Liebe! Eine so schöne Frau wie Sie findet leicht einen anderen!«

Um sich nicht noch tausend andere gute, aber unerbetene Ratschläge anhören zu müssen – und weil sie wirklich sehr besorgt und nervös war – reagierte Maja etwas schroffer, als es für gewöhnlich ihrer verbindlichen Art entsprach.

»Bitte, lassen Sie mich nur in Ruhe! Das richtet sich nicht gegen Sie persönlich«, schwächte sie jedoch umgehend ihre Zurückweisung ab. »Es geht um eine plötzlich schwer erkrankte Verwandte, die ich aufsuchen will und um die ich mir große Sorgen mache!«

Demonstrativ wandte Maja sich von der etwas aufdringlichen Frau – einer vollschlanken Person um die fünfzig – ab und blickte erneut nachdenklich und mit bangem Gefühl aus dem Zugfenster, an dem bereits die südlichen Vororte Münchens vorbei glitten. Bis zur Ankunft im Hauptbahnhof würde es nicht mehr allzu lange dauern.

Inständig hoffte Maja, dass Jens vor lauter Aufregung übertrieben hatte, als er den Zustand seiner Mutter als höchst besorgniserregend hingestellt hatte. Claudia, die im Allgemeinen einen vernünftigen Lebensstil pflegte und peinlich auf ihr Gewicht achtete, war bisher im Großen und Ganzen immer in guter körperlicher Verfassung gewesen.

Soweit Maja wusste zumindest. Allerdings hatte sie ihre Tante schon beinah ein halbes Jahr nicht mehr zu Gesicht bekommen. Auch der telefonische Kontakt hatte sich in allerletzter Zeit verringert, denn Claudia Ritter hatte drei Monate in Brasilien verbracht, um Verwandte ihres verstorbenen Mannes zu besuchen.

Und Maja hatte wiederum mit ihrer ein wenig schwierigen Schulklasse eine ganze Menge um die Ohren gehabt. Die wenige Freizeit war draufgegangen fürs Tennisspielen. Sie und ihr Verlobter Bernd hatten in diesem Jahr mit dem eleganten »weißen« Sport begonnen und übten auf dem Sandplatz in ihrer Wohnungsnähe, sooft es ihre Zeit erlaubte.

Dennoch verband beide Frauen seit vielen Jahren ein unwahrscheinlich herzliches Verhältnis, beinahe wie Mutter-Tochter! Maja wusste definitiv, falls sie ein wie auch immer geartetes Problem zu meistern hätte, bei Tante Claudia fände sie stets ein offenes Ohr. Die patente und lebenserfahrene Frau würde allezeit einen guten Rat für sie parat haben.

Selbst ihr Sohn Jens, mit fast einundzwanzig Jahren immer noch reichlich grün hinter den Ohren, schätzte mittlerweile durchaus die mütterlichen Ratschläge – und richtete sich sogar hin und wieder nach ihnen.

Kaum hielt der Zug in München, sprang Maja auf, schnappte sich ihren Rucksack, murmelte einen Gruß in Richtung ihrer etwas eingeschnappt wirkenden Mitreisenden und verließ das Erster-Klasse-Abteil. »Alles Gute für Ihre kranke Tante!«, rief ihr die Frau noch nach.

Erst als sie längst aus dem Zug ausgestiegen war, wunderte sich Maja: Ihres Wissens hatte sie nur von einer »Verwandten« gesprochen und das Wort »Tante« gar nicht in den Mund genommen … Merkwürdig! Na, wie auch immer. Maja vergaß die Episode umgehend.

Auf dem Bahnsteig stehend, hörte sie die quäkende und wie üblich kaum verständliche und seltsam blechern klingende Lautsprecherdurchsage, die den verehrten Fahrgästen erst auf Italienisch, dann in Deutsch verkündete, dass dieser Zug aus Italien hier in München endete. Es folgten die üblichen Ansagen über etwaige Anschlüsse zu verschiedenen Zielen auf anderen Bahnsteigen.

Aber da hörte die junge Frau schon lange nicht mehr hin. Sie spähte den Bahnsteig entlang, schulterte ihr Gepäck und marschierte langsam am Zug entlang in Richtung Bahnsteigkopf, und zu den verschiedenen Verkaufsständen, wo Andenken, Zeitschriften, Stadtpläne, Süßigkeiten, Kaffee, Cola, Bratwürste, Wurstsemmeln und Dosenbier verkauft wurden.

Von Jens war weit und breit nichts zu sehen, worüber Maja schon ein wenig enttäuscht war. Er hatte doch versprochen, seine Cousine abzuholen! Naja! Das war ja nicht so schlimm – sie kannte sich ja in München, ihrer Heimatstadt, bestens aus. Dennoch ärgerte sie sich über diesen neuen Beweis der Unzuverlässigkeit ihres jungen Verwandten.

»Jens, Jens«, dachte sie, ‚du hast noch eine ganze Menge zu lernen, falls du Wert darauf legst, als Erwachsener ernst genommen zu werden!’

Ein Blick auf die große runde Bahnhofsuhr über dem Durchgang zur Schalterhalle zeigte, dass ihre Verspätung um etwa zehn Minuten kürzer ausgefallen war, als befürchtet.

»Da hat es vor Ankunft des Zuges bestimmt eine entsprechende Durchsage gegeben! So lange hätte Jens schon auf mich warten können. Falls er sich überhaupt die Mühe gemacht hat, herzukommen!«, dachte Maja leicht verdrossen. Da sie auf einmal Hunger verspürte – im Zug hatte sie keinen Appetit gehabt und weil sie ihre letzte Mahlzeit bereits am vergangenen Abend im Hotel »Schwarzer Schwan« in Kufstein zu sich genommen hatte – beschloss sie, sich etwas an einem der Reiseproviantstände zu gönnen.

»Was soll’s denn sein, schöne Frau?«, erkundigte sich der Verkäufer, ein älterer, grauhaariger, gemütlicher Opatyp, der einen verbeulten Trachtenhut mit Feder aufhatte und in einer grauen Hose mit blauweißen Hosenträgern steckte und schaute sie freundlich an. Unwillkürlich erinnerte er Maja stark an den Taxifahrer in Kufstein … Aber das war natürlich Unsinn. Außerdem sprach der Mann nicht tirolerischen Dialekt, sondern echtes Bayrisch.

»Eine Bratwurst mit scharfem Senf und dazu eine Semmel«, bestellte Maja kurz entschlossen und bestellte sich gleich noch eine Cola dazu. Wer wusste, wann sie wieder Gelegenheit bekäme, etwas zu sich zu nehmen.

Die braun gebratene Wurst und das knusprig frische Brötchen schmeckten ausgezeichnet. Man mochte über fast food meckern, soviel man wollte – es gab auch hin und wieder Ausnahmen, die zu genießen sich Maja ab und zu durchaus gönnte.

Sie leckte sich den Senf von den Fingern und weil sie so verlockend aussahen, bestellte sie sich anschließend eine von den auf einem Holzgestell aufgefädelten, braunen Brezeln mit leckeren Salzkrümeln, die Bernd immer abstreifte, während sie ganz wild darauf war …

»Ham’ ma a zünftige Bergtour g’macht, Fräulein?«, erkundigte sich der Trachtenhut-Opa und deutete auf den Tourenrucksack, den Maja während des Essens neben sich abgestellt hatte.

»Nein, leider nicht!«

Obwohl es einen Fremden ja eigentlich nichts anging, fand Maja den neugierigen Mann doch sehr nett und freundlich. So erzählte sie ihm von dem verpatzten Urlaub und ihrer kranken Tante, um die sie sich kümmern wollte.

»Das ist aber schön von Ihnen, junge Frau, dass Sie so ein gutes Herz haben!«, meinte der Bratwurstverkäufer. »Das findet ma’ heut’ nimmer oft!«

Als es ans Bezahlen ging, schob er Maja augenzwinkernd eine zweite Brezel über den Tresen zu – ohne sie zu berechnen: »Damit S’ net zu dünn werden vor lauter Sorg’ um die Frau Tante!« Bekümmert zog er dabei seine Stirn in besorgte Dackelfalten. Etwas, das Maja ziemlich erheiterte, aber gleichzeitig auch irgendwie anrührte.

Noch genüsslich kauend begab sie sich zum Taxistand außerhalb des Bahnhofsgebäudes. Sie war unruhig und wollte jetzt so schnell wie möglich zu Claudia. Sie empfand ein ungutes Gefühl – obwohl ihr Verstand ihr immer wieder sagte, es sei übertrieben, ihre Tante für akut gefährdet zu halten: Wäre dies der Fall, hätten die Ärzte sie wohl kaum aus der Klinik entlassen.

»Es handelt sich nur darum, dass es für Claudia noch zu früh ist, allein ihren ganzen Haushalt zu bewältigen. Ich werde ihr dabei helfen. Nur deshalb bin ich hergekommen«, sagte sie sich immer wieder vor, während sie auf ein auf der Bahnhofnordseite wartendes Taxi zusteuerte.

Sie ließ sich neben einem hübschen, jungen, sehr südländisch aussehenden Taxifahrer nieder und nannte ihm als Fahrtziel die Schwabinger Elisabethstraße.

Der junge Mann hatte gegrinst, als er den schweren Rucksack in den Kofferraum wuchtete.

»Sie haben wohl eine Bergtour gemacht? Ganz allein?«, wollte er wissen.

Maja winkte ab. »Eigentlich waren wir zu viert! Da wurde meine Tante plötzlich krank. So habe ich den Urlaub abgebrochen und bin gleich von Österreich hierher gefahren!« Schon wieder ertappte sie sich dabei, dass sie einem Wildfremden ihre Geschichte erzählte …

Der Fahrer schien verwundert. »Bei uns Kurden würde ich das als eine Selbstverständlichkeit erwarten!«, meinte er anerkennend. »Wir halten die Familie sehr hoch, aber bei den Deutschen schien sie mir bisher keine so große Geltung zu haben. Jedenfalls habe ich noch nie erlebt, dass die Solidarität so weit geht, dass jemand den eigenen Urlaub abbricht, nur weil eine Tante – oder ein Onkel – erkrankt ist!«

Der gut aussehende kurdische Fahrer lächelte Maja überrascht an.

Die Fahrt in den Münchner Stadtteil Schwabing dauerte nicht allzu lange und – bis auf ein paar Belanglosigkeiten – schwieg Maja die meiste Zeit. Ihre Gedanken weilten in den österreichischen Bergen bei Bernd Hoferrichter, Peter Daubner und Tina Maurer. Was die drei wohl gerade machten?

»Ob Bernd mich überhaupt vermisst?«

In letzter Zeit waren ihr hin und wieder Zweifel gekommen, ob Bernd wirklich noch großes Interesse an ihr, beziehungsweise an ihrer gegenseitigen Verbindung hatte. Seine Aufmerksamkeit hatte nachgelassen und seine Zärtlichkeiten waren spürbar weniger geworden.

»Sogar Blumen bringt er mir seltener als früher!«

Manchmal hegte Maja die Befürchtung, nach der langen Zeitspanne intensiven Zusammenseins habe sich der »normale Alltag« bereits so weit eingeschlichen, dass sie beide einem Ehepaar glichen, das allmählich in die Jahre kam …

Als sie kürzlich Bernd daraufhin angesprochen hatte, war er allerdings ärgerlich geworden, hatte ihr vehement widersprochen und behauptet, sie bilde sich das lediglich ein. Maja war es vorgekommen, als habe er gar nicht begriffen, was sie ihm eigentlich hatte sagen wollen.

»Und wie steht es mit mir?«, stellte sie sich jetzt selbst die berühmte Gretchenfrage. ‚Bin ich noch so rasend verliebt in Bernd wie am Anfang unserer Beziehung?«

Der Ehrlichkeit halber musste sie zugeben, dass der anfängliche Rausch zwar nicht gänzlich verflogen, aber mittlerweile doch ziemlich gedämpft war.

Als sie darüber nachdachte, tat ihr dieser Sachverhalt allerdings keineswegs leid. Im Gegenteil! Ihre Gefühle gegenüber Bernd hatten sich im Laufe der Zeit sogar intensiviert und damit eine breitere Basis gewonnen im Vergleich zur anfänglichen blinden Verliebtheit.

Für sie war jedenfalls klar, dass Bernd und sie für immer zusammen gehörten. Er war der Mann ihres Lebens! Darüber hinaus war sie sicher, dass ihre Liebe zu ihm auch imstande wäre, stärkere Krisen zu überwinden. Warum fiel es ihr nur so schwer, ihm das Gleiche zuzutrauen?

Aber stimmte es denn auch wirklich – oder machte sie sich nur etwas vor?

»Doch, ja, es ist die Wahrheit. Sollte er wider Erwarten doch einmal – was Gott verhüten möge! – »ausrutschen« und in eine Affäre mit einer anderen Frau »hineinstolpern«, wäre ich in der Lage, ihm zu verzeihen – natürlich erst nach einer gewissen Zeit – und mein Leben weiterhin mit ihm zu teilen«, überlegte sie im Stillen. Dass sie selbst sich der Untreue schuldig machen könnte – diese Möglichkeit schloss sie allerdings kategorisch als Ding der Unmöglichkeit aus.

Der Fahrer, der bemerkt zu haben schien, dass sein Fahrgast lieber schweigen wollte und in Gedanken versunken war, hatte die ganze Zeit über den Mund gehalten. So viel an Menschenkenntnis hatte er bereits erworben, dass er die Bedürfnisse seiner Kunden erkannte und ihnen Rechnung trug. Aber nun war die Fahrt beendet.

»So, da sind wir!«, hörte Maja neben sich die sympathische Stimme des kurdischen Taxifahrers.

Im ersten Augenblick stutzte die junge Lehrerin, fand jedoch sofort in die Gegenwart zurück. Sie riss sich zusammen, bezahlte die Rechnung, stieg aus und ließ sich ihren Rucksack von dem gut aussehenden, schwarzäugigen Fahrer, der etwa einen ganzen Kopf größer war als sie, aus dem Kofferraum holen.

Dass der freundliche Fremde ihr für die Zukunft alles Gute und ihrer Tante gute und baldige Genesung wünschte, freute sie zwar – auch wenn sie sich absolut nicht daran erinnern konnte, ihm überhaupt von Claudias Gesundheitszustand erzählt zu haben. Oder irrte sie sich?

Dann fiel ihr ein, dass er ein Medizinstudium in München erwähnt hatte, zu dessen Finanzierung er die Semesterferien benutzte, um als Taxifahrer Geld zu verdienen. Vielleicht hatte sie ihm im Anschluss daran vom Schlaganfall ihrer Tante erzählt? Zu erinnern vermochte sie sich allerdings nicht …

Während sie Anstalten machte, auf die Haustür zuzugehen, rief sie ihm ihrerseits noch gute Wünsche, sein Studium betreffend, zu, als er erneut in den cremefarbenen Wagen stieg.

Obwohl heller Tag war, wartete der junge Mann, bis Maja hinter der schweren Tür verschwunden war. Erst dann gab er Gas und fuhr davon. Das konnte sie schmunzelnd erspähen, als sie sich unbewusst noch einmal umdrehte, ehe die schwere Haustür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel. Gleich darauf hatte sie den kurdischen Studenten aber auch schon wieder vergessen.