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Sprechen wir
über Europa

Markante Reden und Texte
aus 100 Jahren

Felix Brun

HIER UND JETZT

Für die Unterstützung des Buchprojekts danken wir:

Für die freundliche Genehmigung der Abdruckrechte danken wir dem Carl Hanser Verlag und dem Stämpfli Verlag.

Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.

Lektorat:

E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de

© 2019 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden, Schweiz

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Inhalt

Einleitung

Gret Haller (*1947)

Auszug aus Europa als Ort der Freiheit, 2018

Lukas Bärfuss (*1971)

Die Schweiz ist des Wahnsinns, FAZ 15.10.2015

Peter von Matt (*1937)

Rede zum 1. August auf dem Rütli, 2009

Ben Vautier (*1935)

La Suisse n’existe pas, Weltausstellung in Sevilla, 1992

Jean Rudolf von Salis (1901–1996)

Rede am Jahreskongress der Europa-Union in Locarno, 4.10.1974

Karl Schmid (1907–1974)

Meditation über Europa, Rede in Berlin, 6.10.1957

Denis de Rougemont (1906–1985)

L’esprit européen, discours, tenu aux 1. Rencontres Internationales à Genève, 8.9.1946

Hans Bauer (1901–1995)

Wahneuropa oder Paneuropa, Rede in Basel, 10.11.1933

Paul Seippel (1858–1926)

Offener Brief an General Wille, National-Zeitung, 11.5.1920

Felix Ludwig Calonder (1863–1952)

Rede vor der eidgenössischen Bundesversammlung, 6.6.1918

Anhang

Einleitung

Um offen zu sein: Für das politisch organisierte Europa – die heutige Europäische Union – begann ich mich erst zu interessieren, als Griechenland in die schwere Krise schlitterte und ich auf einer Reise nach Athen zu einem Freund erstmals die Begriffe Troika und Staatsverschuldung hörte. Von Athen kehrte ich mit dem Eindruck zurück, Europa sei abzuschaffen. Wenig später startete ich bei der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs) ein Praktikum. Was als pseudorevolutionäre Idee ihren Anfang nahm, hat mich seither nicht mehr losgelassen. Mein Arbeitsbeginn war der 3. Februar 2014, eine Woche bevor die Masseneinwanderungsinitiative angenommen und das Sekretariat der Nebs mit Anmeldungen für eine Neumitgliedschaft überflutet wurde. Ich erschrak sehr. Wie kamen die Menschen dazu, für ein Europa einzustehen, das kleine Mitgliedstaaten wie Griechenland und Portugal mit hanebüchenen Fiskalregeln drangsalierte und sich offensichtlich nicht um demokratische Mitspracherechte kümmerte? Mir wurde bewusst, dass es offenbar gute Gründe gab, trotz Wirtschaftskrise und Demokratiedefiziten weiterhin an ein geeintes Europa zu glauben. Auf der Suche nach diesen Gründen habe ich eine Faszination erfahren, eine Hingabe, eine Begeisterung für ein politisches Projekt, wie ich sie nicht für möglich gehalten hätte. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Nebs traf ich schliesslich auf Menschen wie Gret Haller oder André von Graffenried. Ich spürte ihre Leidenschaft für ein geeintes Europa, aber auch ihre Ängste und ihre Verunsicherung.

Mir wurde klar, dass die ambivalente Beziehung zu Europa für die Schweiz eine existenzielle Dimension hat: Sie definiert sich über sie, sei es in Abgrenzung oder als Modellfall. Läufts schief in Europa, rühmt sich die Schweiz sofort eines Besseren. Gelingt hingegen etwas, so weiss die Schweiz darauf hinzuweisen, dass sie als Vorbild dafür diente. Dieser Reflex existiert nicht erst, seit sich die Nachbarn in der EU organisiert haben. Er besitzt eine lange Geschichte.

Die zehn Reden und Texte, welche für dieses Buch ausgewählt wurden, stehen für drei spezifische helvetisch-europäische Themenkomplexe: Erster und wohl prominentester Gedanke ist die Idee, dass die Schweiz Europa ein Vorbild sein könne. Alle im Folgenden präsentierten Personen arbeiteten sich an dieser Thematik ab. Einig sind sie sich darin, dass die vielsprachige Schweiz etwas genuin Europäisches in sich trägt. Das Wesen der Schweiz «als eine vielgestaltige, in mehreren Sprachen redende, viele Meinungen bekennende Volksgemeinschaft», wie es Jean Rudolf von Salis beschreibt, ist tatsächlich einzigartig in Europa: Weder entsprechen die Sprach- den Konfessionsgrenzen, noch sind städtische Ballungszentren bestimmend für Kantonsgrenzen. Der vielfältigen politischen Zusammenarbeit sind damit kaum Grenzen gesetzt. Hinzu kommen die direktdemokratische Beteiligung der Bevölkerung sowie der föderale Aufbau der politischen Schweiz. Was von aussen betrachtet seine Schwierigkeiten in der augenscheinlichen Schwerfälligkeit hat, ist für die Schweizerinnen und Schweizer Ausdruck von Mitbestimmung und Schutz der Minderheiten. Wir alle wissen um die Dauer politischer Prozesse in der Schweiz: «Die wirklichen Abläufe geschehen» bei uns eben «gletscherhaft langsam in der Tiefe», so Peter von Matt. Unser politisches System fördert offenbar den Ausgleich, dominierende Parteien und Politiker werden früher oder später abgestraft, Kompromisse sind möglich, die vernünftige Mehrheit setzt sich – im Gegensatz zu den «Anhängern des Machtkultus», wie es Paul Seippel nennt – durch. Die vielgestaltige Schweiz bewegt sich stärker, als von aussen wahrgenommen wird. Was die politischen Grundkonzepte des Föderalismus und der direkten Demokratie betrifft, kann Europa von der Schweiz lernen, darüber sind sich die nachfolgend vorgestellten Personen einig. In dieser Idee enthalten ist auch der Gedanke der Weiterentwicklung: Das Projekt Europa ist noch längst nicht abgeschlossen, es kann und muss sich fortentwickeln. Begreift sich Europa als Projekt, das in einem demokratischen «Aushandlungsprozess», so Gret Haller, immer weiter ausgestaltet wird, so wird es auch zukunftsfähig sein.

Damit Europa gelingen kann, braucht es den politischen, mündigen Bürger, nicht das Individuum und nicht das Kollektiv, sondern die «freie und verantwortliche Person», sagt Denis de Rougemont; auch darüber herrscht Einigkeit bei den Autoren. Womit wir bei der zweiten Thematik dieses Buches sind: Europa als Ort der Aufklärung. Europa beginnt für die hier vorgestellten Schweizer Intellektuellen «mit der Aufklärung» und diese Aufklärung wiederum «mit einer Frage», so Lukas Bärfuss. Grundvoraussetzung für dieses aufgeklärte Europa ist der Gedanke der Gleichheit der Person in ihrer Unterschiedlichkeit. Ein jeder Mensch hat die gleichen Rechte, wiewohl er sich als Person von allen anderen Personen unterscheidet. Dasselbe gilt natürlich für grössere Einheiten, für Regionen, für Völker, für Nationen ebenso: Das aufgeklärte Europa, das ist nach Ben Vautier die «Gleichheit der Völker in ihrem Recht auf Verschiedenartigkeit». Als nichts anderes als ein «hohes Menschheitsideal» beschreibt es Felix Ludwig Calonder. Mag es in der Bundesratsrede vor 100 Jahren auch etwas pathetisch klingen, am Grundsatz lässt sich nicht rütteln. Als klare Befürworter der europäischen Aufklärung ragen die Persönlichkeiten aus der an sich schon kleinen Masse Schweizer Intellektueller heraus: Sie versuchen Verantwortung zu übernehmen in einer Schweiz, die sich auffallend häufig schwertut, für die europäische Aufklärung das Wort zu ergreifen.

Europa und die versammelten Autoren erlebten in verschiedenen Kriegen immer wieder, was geschieht, wenn das Trennende stärker wird als das Verbindende. Wenn die «Krankheit des Nationalismus», so Hans Bauer, überhandnimmt, dann ist auch die kleine, neutrale Schweiz betroffen und bedroht. Das ist die dritte Thematik dieses Buches: das Gefühl der Verwundbarkeit in der Schweiz, das Wissen um die Abhängigkeit vom Goodwill unserer grossen Nachbarnationen. Damit verbunden ist der Reflex der Ablehnung, der Wille zur Isolation, der Gedanke, dass man von den grossen Ereignissen in der Welt am liebsten in Ruhe gelassen werden möchte. Was die zehn hier vorgestellten Persönlichkeiten in diesem Punkt verbindet, ist ihre konsequente Ablehnung dieser Idee. Sie sehen in der Isolation eine grosse Gefahr, der nur über eine Verbindung mit Europa entgegnet werden kann. Für diese Verbindung muss eingetreten werden, auch wenn die europäischen Nachbarn Fehler machen. Zusammenarbeit ist offensichtlich fruchtbarer – und letztlich sicherer – als Ablehnung und Isolation. Wenn wir also, wie ich das bis vor wenigen Jahren ebenfalls getan habe, Europa verachten für seine Fehler, für sein Demokratiedefizit etwa oder für seine Haltung an der Grenze im Mittelmeer, so ist es durchaus möglich, dass wir das aus einer unbewussten Angst tun, einer Art «Unbehagen im Kleinstaat», wie Karl Schmid es nennt. Die Angst also der verwundbaren, aber bislang verschont gebliebenen Schweiz in Europa: die Angst vor übergreifendem Zentralismus und Rationalismus, die Angst vor dem Befehl, die Angst vor dem Recht des Stärkeren, die Angst davor, dass der Vielfalt und damit der europäischen Aufklärung enge Grenzen gesetzt werden. Alle zehn Autorinnen und Autoren begegnen dieser Angst mit der Aufforderung nach mehr Zusammenarbeit, nicht nach mehr Abgrenzung.

Es heisst manchmal, es mangle der Schweiz an starken Persönlichkeiten. Diese Schelte widerlegen die zehn Denkerinnen und Denker. Über einen Zeitraum von 100 Jahren setzten sie sich vor dem jeweiligen zeithistorischen Hintergrund intensiv mit dem Verhältnis der Schweiz zu Europa auseinander. In einem Essay werden jeweils die Person und ihr biografischer Hintergrund beleuchtet. Es findet eine Einordnung statt, wann, weshalb und wo die nachfolgende Quelle publiziert oder die Rede gehalten wurde, allenfalls auch, welche Resonanz das Gesagte hatte. Die zehn Personen zeichnet Folgendes aus: Sie blicken kritisch auf Europa, sie suchen nach neuen Lösungen, sie stellen sich Fragen, sie sprechen über die Schweiz und Europa, sie befassen sich aktiv mit dieser Beziehung und widerstehen einer passiven Ablehnung. Die Reihenfolge der Texte ist chronologisch. Begonnen wird in der Gegenwart mit einem Text von Gret Haller aus dem Jahr 2018, den Schluss bildet eine Rede von Bundespräsident Felix Ludwig Calonder von 1918 zur Frage des Völkerbunds. Diese Reihung, dieser Blick zurück von den heutigen Debatten und Herausforderungen auf die damaligen Auseinandersetzungen, zeigt die verblüffende Aktualität der Reden. Damit erschliesst sich die zeithistorische Dimension über den weiten Bogen, der über «100 Jahre Nachdenken über die Schweiz und Europa» geschlagen wird.

Diese Arbeit hat mir klar vor Augen geführt, dass die Schweiz in der heutigen, globalisierten Welt im Alleingang nur verlieren, in der Zusammenarbeit mit Europa aber gewinnen kann. Dieser Gewinn sollte gegenseitig sein, so selbstbewusst darf die Schweiz durchaus sein. Und so selbstbewusst haben es auch viele Rednerinnen und Redner in diesem Buch formuliert. Sprechen wir über Europa und beziehen dabei ein, was dazu in den vergangenen 100 Jahren gedacht und gesagt wurde, so eröffnen sich neue Perspektiven, und die Zukunft gewinnt an Schärfe.

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Gret Haller (*1947)

Die Politikerin und Anwältin Gret Haller setzt sich seit Jahrzehnten dafür ein, dass die künstlich geschaffene Ordnung in eine «äussere», und damit «männliche», und in eine «innere», «weibliche» Welt überwunden wird. Eisern hat sie während ihres gesamten Lebens an den Prinzipien der Offenheit, der Gleichheit und der Zukunftsorientierung festgehalten und findet so in ihrem neuesten Buch über Europa zur Geburt des weltoffenen und dialogbereiten «Europabürgers».

2018: Zahlreiche Krisen halten Europa in einer sonderbaren Lähmung gefangen. Es fehlt an Ideen. Da ist wohl ein Emmanuel Macron, der mit seiner Bewegung «En Marche» für ein progressives Europa einsteht. Doch mag man vor dem Hintergrund der aktuellen Protestwelle wirklich an eine Veränderung glauben? Glatt wirkt der französische Präsident, zu nah bewegt er sich an den elitären Kreisen der Pariser Wirtschaft und des Militärs. In Deutschland bleibt Kanzlerin Angela Merkel seit Jahren matt und lässt sich von der bayerischen CSU drangsalieren. Begleitet von grossen Friktionen verabschieden sich Theresa May und Grossbritannien aus der EU. Die Visionen werden aus der Vergangenheit entlehnt: Man spricht wieder von der «Nation» als Körper einer ethnischen Gemeinschaft. Man ruft wieder «Deutschland den Deutschen» oder «Ausländer raus».

Gret Haller, Ehrendoktorin der Universität St. Gallen, formuliert einen Zukunftsentwurf für Europa: Sie sieht in der europäischen Integration das Entstehen einer neuen Form von «Staatlichkeit», im Sinne einer staatspolitischen Identität, einer Gleichheit, die über den Begriff der Nation hinausgeht. Wie lassen sich diese Überlegungen politisch vermitteln? Wie kann sich ein politischer Wille entfalten?

Wer mit Gret Haller das persönliche Gespräch sucht, wird schnell mitgerissen von ihrem Tatendrang und ihrer Lust am Widerstand, am Widerstreit. Man merkt: Diese Frau sucht die Auseinandersetzung. Nicht die schlichte Provokation. Die offene Auseinandersetzung auf Augenhöhe, mit Respekt für die Meinung des Gegenübers. Gleichheit, wie sie die Französische Revolution forderte, ist der zentrale Begriff im Denken und Handeln Gret Hallers, und er war der Ausgangspunkt und die Leitlinie ihrer juristisch-politischen Tätigkeit. Ihr Lebensweg ist für eine Schweizerin aussergewöhnlich – ihre Laufbahn äusserst erfolgreich, sie führte sie bis weit nach Europa.

Im Alter von 25 Jahren reicht Gret Haller in Zürich ihre Doktorarbeit zur Stellung der Schweizer Frau verglichen mit den UNO-Menschenrechtskonventionen ein. Sie benennt darin die Diskriminierung der Frau als eine Folge der Aufgabenteilung zwischen den Geschlechtern. «Innerhäusliche Aufgaben» sind der Frau zugewiesen, während dem Mann die Aufgabe des Ernährers und andere «ausserhäusliche Aufgaben»1 zufallen. Das Risiko für beide Parteien, also für den Mann und die Frau, aus den herrschenden Rollenbildern auszubrechen, sei nur schon finanziell sehr hoch. Zudem sei die Vorstellung verbreitet, dass die Frau eine höhere Bildung nicht nötig habe, da sie sich in der Ehe in erster Linie um den Haushalt zu kümmern habe und nicht um ihre beruflichen Möglichkeiten. Die Diskriminierung der Frau in der schweizerischen Gesellschaft lässt sich laut Gret Haller folglich nur beheben, wenn «das Familienrecht beiden Ehegatten grundsätzlich zu gleichen Teilen die Verantwortung für den Familienunterhalt, die Kinderbetreuung und die Haushaltführung auferlegt».2 Gleichheit bedeutet für Gret Haller also erst einmal, die privaten und gesellschaftlichen Verantwortungen – und damit auch Entlohnung und Anerkennung – gleich aufzuteilen. Ist die familiäre Verantwortung egalitär auf die Schultern der Frau und des Mannes verteilt, so wird sich auch die übrige Gleichstellung ergeben, ist Haller überzeugt: Die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsträger würden diese Entflechtung der klaren Rollenverteilung in der Familie früher oder später auch in ihren Tätigkeitsbereichen übernehmen müssen.

Nach ihrer Dissertation arbeitet Gret Haller zunächst in einem Büro für Architektur und Raumplanung, dann ab 1975 als Sachbearbeiterin für die eben in Kraft getretene Europäische Menschenrechtskonvention im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement in Bern. Bern ist ein Wendepunkt im Leben Gret Hallers. Sie tritt in jenem Jahr in die Sozialdemokratische Partei der Schweiz ein und wird schon bald politisch aktiv. Sie habe, so sagt sie später, «einfach gemerkt, wie viel nicht stimmt», und habe sich dann überlegt, was sie «tun wolle».3 Schon zwei Jahre später wird sie ins Berner Stadtparlament, den Stadtrat, gewählt. Ihre politische Karriere beginnt. Sie gründet eine private Anwaltskanzlei und wird Ende 1984 in die Stadtberner Exekutive gewählt, wo sie die städtische Schuldirektion übernimmt. Im Gemeinderat muss sie sich als einzige Frau gegen sechs männliche Kollegen behaupten. Sie lernt, «konfliktfähig»4 zu sein, und sie lernt abzuwägen. «Überall, wo man mitmacht», sagt sie kurz nach ihrer Wahl in den Gemeinderat, «wägt man ab, wie häufig man sich querstellen will.»5 Sie lernt die Funktion von Macht kennen, lernt, «wann man hart sein muss und wann weich und offen».6 Offen sein, offen bleiben, auch wenn die Macht verlockend ist, persönlich, aber auch als Gesellschaft. Offenheit, das ist der zweite zentrale Begriff im Leben Gret Hallers, daneben verwendet sie oft Wörter wie «Diskussion», «Neugier», «Prozess», «Zuhören», auch «Möglichkeit» und «Wille». Sie fordert von sich selbst und von ihren Zeitgenossen die Diskussion. Eine Diskussion, deren Ausgang ergebnisoffen ist; Meinungen können revidiert, verworfen, erneuert werden, alles ist erlaubt.

Eine Diskussion versucht Gret Haller auch an jenem denkwürdigen 17. November 1987 zu führen. Die Berner Alternativszene hat im Gaswerkareal ein Zelt- und Wagendorf, das «Zaffaraya», errichtet. Die Polizei hat bereits den Räumungsbefehl erteilt, man gibt sich unnachgiebig. Ein letztes Mal versucht Gemeinderätin Gret Haller unter den Augen der Medien, die Bewohner des Dorfes zum Nachgeben und zu weiteren Verhandlungen zu bewegen. Die einzige Frau im Gremium stellt sich offen gegen das Vorgehen des Gemeinderats. Noch heute denkt Gret Haller, dass es auch diese Aktion war, die zu ihrer Abwahl aus dem Gemeinderat führte. Der Dialog aber gilt ihr als zentrale Aushandlungsform in einer Gesellschaft; er ist ein Gut, das verteidigt werden will. Das harte Durchgreifen der Polizei bei der Räumung des «Zaffaraya» war für sie auch eine Demonstration der Gesprächsverweigerung. Zur Gewaltanwendung bei der Räumung des Areals sagt Haller kurz nach den Vorgängen in einem Interview: «Das ist Krieg.»7

Für Gret Haller ist eine freie politische Diskussion nur in einer Demokratie möglich. Nur die Demokratie lasse verschiedene Meinungen zu, was wiederum «eine pluralistische Gesellschaft […], in der es unterschiedliche Meinungen gibt, die öffentlich ausdiskutiert werden»,8 voraussetzt. Durch demokratische Teilhabe eröffnet sich für Gret Haller die Möglichkeit der Veränderbarkeit. Die Menschen in einer Demokratie treten in einen «Aushandlungsprozess»9 miteinander. Damit weist die Demokratie in die Zukunft.

Zukunftsorientierung ist das dritte wichtige Anliegen Gret Hallers. Ihre Politik dient nicht dem Heute, vielleicht dient sie dem Morgen, ganz klar dient sie den nächsten Generationen. «Säen», sagt sie einmal, «säen lohnt sich immer, auch wenn man erst in vielen Jahren ernten kann.»10 Zukunftsorientierung ist eine Frage der Geduld. Geduldig sein, sich in Geduld üben, das verlangt Gret Haller immer wieder, auch von sich selbst. Sie erlebt das in ihrer Karriere, die verschiedene Umwege für sie bereithält. Nach vier Jahren im Berner Gemeinderat wird sie 1988 abgewählt. Das Schicksal hat «offenbar etwas anderes im Sinn»11 mit ihr. Bereits 1987 ist sie für den Kanton Bern in den Nationalrat gewählt worden, wo sie sich bei der Auseinandersetzung um eine mögliche AHV-Revision nach eigenen Angaben «Durchhaltevermögen» aneignet.12 Die politische Karriere Gret Hallers nimmt jetzt weiter Fahrt auf: Ab 1989 gehört sie der parlamentarischen Versammlung des Europarats an, 1993/94 präsidiert sie den Nationalrat. Danach tritt sie aus dem Nationalrat zurück und wird Botschafterin der Schweiz beim Europarat. Kaum ein Jahr in diesem Amt, stösst das Schicksal Gret Haller erneut auf einen anderen Weg: Sie wird als Ombudsfrau für Menschenrechte in Bosnien und Herzegowina nach Sarajevo berufen. «Dinge», erklärt Haller in jener Zeit einmal, «lassen sich nur verwirklichen, wenn die Zeit dafür reif ist.»13 Wer also geduldig und offen bleibt, dem steht auch die Zukunft offen. Das lässt sich auf die Gesellschaft und unseren Umgang mit den Herausforderungen, die aktuelle Entwicklungen mit sich bringen, übertragen.

Für Gret Haller gibt es keine Grenzen, keine Abstufungen zwischen den Menschen, auch wenn jeder Mensch anders ist. «Das Mass aller Dinge» besteht für sie nicht «in sinnloser Produktion, nicht […] in tödlicher Verschwendung […], sondern in der Hinwendung zum Menschen.»14 Es darf keine Rolle spielen, ob jemand eine Frau oder ein Mann ist. Ein friedliches Zusammenleben muss möglich sein. Nicht die Abkehr voneinander, nicht die Denunziation, nicht das Beharren auf einer männlichen und einer weiblichen Identität sind letztlich entscheidend. Entscheidend und damit «lebensorientiert» ist für Gret Haller ein «In-Beziehung-treten-Wollen»,15 den Willen aufzubringen, miteinander auszukommen, ein Zusammenleben auszuhandeln. So wird die Zukunft besser sein als die heutige Gegenwart. Verweigert man die Beziehung zueinander und zur Natur, dann weiss man in den Worten Gret Hallers beim besten Willen nicht, ob «die Menschheit überhaupt ein nächstes Zeitalter erleben wird»,16 denn dann droht nicht nur die gegenseitige Zerstörung der Menschen, sondern auch der ökologische Kollaps.

Was das alles mit Europa zu tun hat? Alles. Im heutigen Europa scheint die Ausformulierung gegenseitiger Ressentiments wieder mehr zu zählen als der Wille, miteinander in Beziehung zu treten. Die universale Gleichheit steht in Konkurrenz mit einer partikularen Gleichheit von Gemeinschaftsmitgliedern, welche Nichtmitglieder explizit als nicht gleich definieren. Gleich ist nur, wer der jeweiligen Gruppe – «den Männern», «den Sachsen», «den Europäern» etc. – angehört. Offenheit ist einer Grenzpolitik gewichen, die Menschen daran hindern soll, nach Europa zu kommen. Zukunftsperspektiven wurden abgelöst von einer Vergangenheitsorientierung, vom harmlosen Schwärmen vergangener Zeiten in der sozialistischen DDR bis hin zur gewalttätigen Rückbesinnung auf völkische Politik. Was die europäische Zukunft betrifft, so ist man sich heute wieder erschreckend uneinig. Diese Uneinigkeit wäre an sich nicht gravierend, würde man sich daran erinnern, wie man sie politisch verhandeln könnte. Doch mit dem in vielen europäischen Ländern erstarkten Rechtspopulismus und Autoritarismus haben sich die politischen Fronten zusehends verhärtet, sichtbar etwa in der Migrationsfrage. Deutschland – und das ist nur ein Beispiel – soll wieder den Deutschen gehören. Diese gegenseitige Abgrenzungsmentalität ist antieuropäisch und fusst auf einem fundamentalistischen Gedanken, der eine Trennlinie zieht zwischen «wahr» und «falsch», zwischen «gut» und «böse», zwischen «eigen» und «fremd». Damit hat in Europa eine Tendenz Einzug gehalten, deren Grundmuster Gret Haller bereits während ihrer Jahre in Sarajevo in US-amerikanischen Denkweisen beobachtet hatte und die damals nach dem Krieg in Bosnien und Herzegowina sehr dominant waren. Gret Haller beschrieb dies dann in ihrem 2002 erschienenen Buch Die Grenzen der Solidarität.

Was die Fragen der Gleichheit und der Offenheit betrifft, so geht man laut Haller in den USA von anderen Prämissen aus als in Westeuropa. Erster wichtiger Unterschied ist der Gedanke der Auserwähltheit: Über die letzten Jahrhunderte konnte sich in den USA im Gegensatz zu Europa eine eigentliche «Vorstellung von Auserwähltheit»17 entwickeln. Hinzu kommt in den USA eine stärkere Prägung durch religiöse Konzepte – in erster Linie durch das Christentum – als in den säkularisierten Staaten Westeuropas. Während in Europa über die Etappen des Westfälischen Friedens und der Französischen Revolution hin zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 und damit der neuartigen Einbindung des Individuums in das Völkerrecht die Idee der Gleichheit immer weitere Verbreitung fand, sind in den USA moralische und religiöse Argumentationen stets wichtig geblieben. Sind in Europa und in Gret Hallers Verständnis die Menschenrechte universal gültig und haben damit auch «Terroristen Menschenrechte»,18 so ist in den USA bis heute die Unterscheidung in Freunde und Feinde des Landes wichtig, was beispielsweise in der Verwendung des Begriffs der «Achse des Bösen» sichtbar wird. Terroristen besitzen in den USA kaum oder gar keine Rechte, sie werden als Bedrohung der Gemeinschaft explizit vom Recht ausgeschlossen, etwa indem sie als «illegale Kombattanten» auf Guantánamo festgehalten werden.19 Die sich als Gemeinschaft verstehende Gesellschaft in den USA setzt klare Grenzen: Es wird definiert, wer zu dieser Gemeinschaft gehören darf und wer nicht. Gret Haller sieht diese Unterscheidung auch in einem gewissen Widerspruch zu einem europäischen Gesellschaftsentwurf. Nach europäischem Rechtsverständnis werden Recht und Moral getrennt gesehen. Betrachtet man den Menschen universal als gleichen Menschen unter Menschen, so darf niemandem mit einer moralischen Begründung ein fundamentales Recht abgesprochen werden. Alle Menschen haben die gleichen Menschenrechte, auch wenn sie schwere Verbrechen begangen haben. Alle Menschen besitzen als Menschen eine Würde – es ist die universal gültige Menschenwürde. Mit Gret Haller wird sichtbar, warum der oben erwähnte transatlantische Unterschied für das Europa des 21. Jahrhunderts so entscheidend ist: Wird die Würde nämlich «nicht mehr dem einzelnen Menschen zugeschrieben, sondern einer Gruppe von Menschen als Kollektiv, dann geraten die Menschenrechte in Gefahr, weil der Universalismus der Menschenwürde verlorengeht».20

Unter dem Begriff Staatlichkeit beziehungsweise Res publica findet Gret Haller in der Menschenrechtsfrage eine starke europäische Gegenposition zu den USA. Res publica ist für sie «die einzige Garantin von Individualismus und Universalismus und von Menschenwürde».21 Über ihre eigene Universalität wird Staatlichkeit allen Menschen zugänglich, auch wenn diese weiterhin über verschiedene «Wir-Identitäten» verfügen. Staatlichkeit oder eben Res publica stützt sich für Gret Haller «nicht auf ein Wir-Gefühl, sondern sie bindet die verschiedenen Wir-Identitäten ein».22 Staatlichkeit verlangt von einem Menschen nichts anderes als dessen Existenz, allein durch sie wird Zugehörigkeit möglich. Damit ist Staatlichkeit auch nicht an die Grenzen eines Nationalstaats gebunden. Die Entwicklung der Europäischen Union zeigt diesen Schritt deutlich auf: Man verlässt den nationalstaatlichen Rahmen und bewegt sich einerseits hin zu etwas Grösserem, Überstaatlichem, der Union. Andererseits ist aber auch eine Entwicklung in kleinere Einheiten möglich und sichtbar, die Bewegung weg vom Nationalstaat hin zu Regionen oder Bezirken. Staatlichkeit ist also mehrschichtig und losgelöst vom Nationalstaat, und, was noch wichtiger ist: Weil sich Staatlichkeit auf das Individuum abstützt, dient sie der Vielfalt, nicht der Vereinheitlichung. In Sarajevo, diesem «Ort in Europa, wo sich kulturelle Vielfalt und Toleranz unbeschadet staatspolitischer Geschehnisse immer wieder hat halten können»,23 beobachtet Gret Haller das Aufeinandertreffen der europäischen Idee von Staatlichkeit mit der amerikanischen Idee der Gemeinschaft und bemerkt, wie diese beiden Vorstellungen nicht miteinander vereinbar sind. Was Gret Haller in Bosnien als Erstes verlangte, war die Ausformulierung einer staatspolitischen Identität und damit die Bereitschaft aller Bewohnerinnen und Bewohner in Bosnien und Herzegowina, sich, ungeachtet der ethnischen Verschiedenheit, staatspolitisch zu engagieren. Das Abkommen von Dayton, welches die Grundlage bildete für den Wiederaufbau nach dem Krieg, wies jedoch in die umgekehrte Richtung. Das stark von US-amerikanischer Seite geprägte Abkommen festigte die alten ethnischen Grenzen in Bosnien und Herzegowina auch im Staatsaufbau und liess so einer übergeordneten staatspolitischen Identität wenig Platz. Für Gret Haller haben die USA im Abkommen von Dayton «die Möglichkeit eines europäisch verstandenen staatsbürgerlichen Bemühens der Citoyens und Citoyennes um das multiethnische Zusammenleben»24 verkannt.

Was Gret Haller früh schon beschrieben hat – die Einbindung der Menschen in den USA in ein Zugehörigkeitsgefühl, die Einteilung in Mitglieder der Gemeinschaft und Ausgeschlossene, die Verbindung des Rechts mit der Moral –, dies alles tritt heute deutlich zutage. Und so gewinnt auch die Gegenthese Gret Hallers immer mehr an Bedeutung, dass nämlich Europa als Gegensatz zu den USA ein Ort der Inklusion sei, ein Ort der Pluralität, die Wiege der Souveränitätsteilung und der universalen Denkweise. In dieser Gegenthese wird Europa zu einem «Ort der Freiheit». Und mitten in Europa liegt – die Schweiz.

Für Gret Haller ist die Schweiz durch und durch europäisch. Die Schweiz als Ort der Staatlichkeit: Hier führt die direkte Demokratie zu staatspolitischem Denken und Handeln. Die Schweiz als Ort der Kooperation: Vier verschiedene Sprachgemeinschaften müssen eine gemeinsame Politik betreiben. Die Schweiz als die Verwirklichung eines «politischen Willens», als Ort der Souveränitätsteilung auch: Die Kantone gaben Souveränität an den Bundesstaat ab, im Wissen darum, dass die Willensnation nur überleben kann, wenn ihre regionale Souveränität geteilt und damit das «Wir-Gefühl» in einen rechtsstaatlichen Rahmen gebracht wird. Nationale und regionale Identitäten sollen auch in der Europäischen Union weiterhin nebeneinander möglich sein. Um dies zu verwirklichen, sieht Gret Haller nur einen Weg: «Sucht man nach einer Möglichkeit, Kleinräumigkeit im Rahmen einer staatspolitischen Dimension mitzuberücksichtigen, so bietet sich die föderative Organisation des Nationalstaates an»,25 sagte sie schon 2005 in einem Referat. Zur Frage, ob sich die EU an der Schweiz orientieren kann, äusserte sie sich 2018 differenziert: «Die historische Entwicklung der Schweiz kann Fragestellungen illustrieren helfen, welche die Union und ihre Zukunftsperspektiven heute durchaus betreffen.»26 Die schweizerische Auseinandersetzung mit dem Anderen, die Auseinandersetzung des Berners mit den anderen drei Landessprachen, die Auseinandersetzung des katholischen Tessiners mit dem zwinglianischen Zürcher – vielleicht eine Auseinandersetzung des Bauers von Corippo mit dem CEO der Zürcher Goldküste – macht die Eigenheit zur Stärke. Es gibt für Gret Haller «keinen anderen Kontinent auf diesem Planeten, der seine Geschichte, seine Stärke und seine Kreativität so stark aus Polaritäten ableitet, das heisst aus der Auseinandersetzung mit dem Anderem und dem Verändertwerden durch dieses Andere»,27 als Europa. Die Schweiz ist europäisch. Und Gret Haller ist es auch.

Ihr neuestes Buch, Europa als Ort der Freiheit, schmücken Sterne auf blauem Hintergrund. Europa habe heute zwei Aufgaben zu bewältigen, sagt Gret Haller: Erstens müsse die «Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit» verteidigt und zweitens die «politische Individualisierung und Zukunftsorientierung auf die europäische Ebene»28 gehoben werden. Gret Haller versteht Europa, versteht die Europäische Union als Prozess. Der einzelne Europäer muss sich an seine Rolle als Staatsbürger erst gewöhnen, an seine Rechte, aber auch an seine Verantwortung. Solange Europa weiterhin an der politischen Individualisierung arbeitet, Menschen also nicht als Mitglieder einer Gemeinschaft, sondern als politische Individuen zu organisieren versucht, solange wird sich auch der Prozess der Demokratisierung der Europäischen Union fortsetzen. Auch in der Schweiz habe sich die direkte Demokratie schliesslich nur langsam ausgebildet, so Gret Haller.29 Es gebe in der Europäischen Union zwar noch viel zu tun, sagt sie, doch könne man bereits Fortschritte sehen.

Es lohnt sich, die beiden hier abgedruckten Kapitel, «Die politische Dimension der Union» und «Die Geburt des Europabürgers», genauer zu studieren. Wichtig ist in erster Linie die Unterscheidung der «Freiheit vom Staat» von der «Freiheit zum Staat». Unter der «Freiheit vom Staat» versteht Gret Haller die gängigen staatlichen Freiheitsgarantien westlicher Demokratien, etwa die Meinungsfreiheit oder die Religionsfreiheit. Diese «Freiheit von der Europäischen Union» sei in der EU bereits weit entwickelt. Mehr Arbeit brauche es hingegen noch bei der «Freiheit zum Staat», im vorliegenden Falle also bei der «Freiheit zur Europäischen Union», worunter Gret Haller natürlich die offene Gestaltung der Union durch eine demokratische Mitwirkung der Individuen versteht. Auch hier gebe es aber bereits Fortschritte, wie etwa der erfolgreiche demokratische Widerstand gegen die Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada zeige. In diesem Widerstand habe man «eine neue Form von Staatlichkeit auf der europäischen Ebene» erleben können. Eine weitere grosse europäische Errungenschaft seien «die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes – freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital», wobei für Gret Haller nicht primär diese Freiheiten die grosse Errungenschaft sind, sondern vielmehr die Möglichkeit eines jeden Bürgers, diese Freiheiten als Individuum nutzen zu können. So kann man sich auch, ganz gleich aus welchem Mitgliedstaat man kommt, in einem anderen Mitgliedstaat – und auch vor dessen nationalen Gerichten – zur Wehr setzen, falls man als Ausländer diskriminiert wird. Hier bilde sich eine gemeinsame Verantwortung heraus, jedoch nicht eine Verantwortung unter Mitgliedern einer Nation, auch nicht eine Verantwortung unter einer «europäischen Identität», sondern eine Verantwortung «unter Fremden», eine gemeinsame Verantwortung von Menschen unterschiedlichster Herkunft, Art und Kultur. Hier, in dieser Unterschiedlichkeit, werde der «Europabürger» geboren.

Im Bekenntnis zur Unterschiedlichkeit der Menschen liegt eine grosse Kraft. Unterschiedlichkeit kann verhandelt, Forderungen von marginalisierten Personen müssen berücksichtigt werden. So kann sich eine Gesellschaft offen weiterentwickeln, immer mit dem Gedanken der universalen Gleichheit im Hinterkopf. Das Europa der Unterschiedlichkeit wird damit zu einer Vision, für die es sich zu kämpfen lohnt. Wenn heute die vom amerikanischen Konservativen Robert Kagan propagierte These von einem Europa als «Venus» und von den USA als «Mars»30 aufgenommen und diskutiert wird, so macht man nichts anderes, als die Welt wieder in Weibliches und in Männliches einzuteilen. Für einmal aber ist die Gegenwehr Gret Hallers gegen diese Trennung nicht besonders stark, im Gegenteil: Für sie ist längst klar, dass die weibliche Welt und damit der nicht kriegerische, der verbindende, der nicht trennende Ansatz der richtige Weg in die Zukunft ist. Mit den genannten Eigenschaften wie Diskussion, Inklusion, Gleichheit der Menschen unter verschiedenen Menschen, Auseinandersetzung, Offenheit und Zukunftsorientierung ist Europa für sie «schon lange auch ein Frauenprojekt».31 Während Kagan mit seiner These Europa abwerten wollte, erachtet Gret Haller die Zuweisung Europas zum Venus-Prinzip als Kompliment, vor allem auch im Lichte des heute wieder zunehmenden Nationalismus.

Auszug aus:
Europa als Ort der Freiheit, 2018

Die politische Dimension der Union

«In der weltweiten Rechtsentwicklung stellt die Europäische Union etwas Neues dar, das es zuvor nicht gegeben hat.1 Dies kann ein kurzer Rückblick auf die Rechtsentwicklung seit der Erfindung des Völkerrechts im Westfälischen Frieden von 1648 deutlich machen. Zuvor waren Staaten absolut souverän gewesen, oder vielmehr waren es die Monarchen, die diese Staaten beherrschten. Danach galten die Staaten grundsätzlich als gleichgestellt und konnten völkerrechtliche Verträge miteinander abschliessen. Die Veränderungen, die sich Ende des 18. Jahrhunderts aus der Geburt des Staatsbürgers ergaben, sind bereits beschrieben worden. Nun ging man in demokratischen Staaten davon aus, dass der Staat dem Einzelnen die Freiheit und demokratische Mitwirkungsrechte garantierte sowie einen richterlichen Schutz dieser Rechte. Nach der beispiellosen Verletzung der Rechte seiner eigenen Bürger durch den Nationalsozialismus wurden die Menschenrechte international in völkerrechtlichen Verträgen festgeschrieben. Es wurde ein staatenübergreifender Rechtsschutz eingerichtet, zunächst in Europa vor dem Gerichtshof für Menschenrechte, später weltweit vor Gremien der Vereinten Nationen. Damit wurde der Einzelne neu zu einem Subjekt des Völkerrechtes, das bis anhin nur die Staaten als Akteure gekannt hatte. Dieselbe Entwicklung, die Ende des 18. Jahrhunderts im Rahmen des Nationalstaates zur Anerkennung der individuellen Bürger- und Menschenrechte geführt hatte, übertrug sich damit auf die internationale Ebene des Völkerrechtes.

Ein viel weiter gehendes Fundament wurde durch die Gründung der Vorgängerorganisationen der Europäischen Union gelegt. Diese war von Anfang an als politisches Projekt gedacht.2 Aber anfänglich erschien sie in der eher technischen Funktion der Integration von Märkten. In der Folge legte der Europäische Gerichtshof in Luxemburg die Kompetenzen der Gemeinschaft immer expansiver aus, insbesondere durch den Entscheid, dem Unionsrecht den Vorrang vor nationalem Recht einzuräumen.3 Ab 1986 nahmen die Mehrheitsentscheidungen im Rat der Minister zu, und über verschiedene Stufen entwickelte sich die Europäische Union zu ihrer heutigen Form.4 Sie verfügt heute über politische Willensbildungsmechanismen und kann ihre Entscheide gegenüber den Mitgliedstaaten und gegenüber deren einzelnen Bürgern durchsetzen: Die Union kann dem Bürger gegenüber ‹hoheitlich› handeln, genauso wie der Staat dem Bürger gegenüber Hoheitsbefugnisse ausübt. In Demokratien bedarf hoheitliches Handeln immer der demokratischen Legitimation. Deshalb ist in der Union eine normative Tendenz zur Demokratisierung angelegt.5 Dieser Unterschied zum Völkerrecht macht die politische Dimension der Union aus. Obschon in den völkerrechtlichen Verträgen zu den Menschenrechten auch von politischen Mitwirkungsrechten die Rede ist, verstehen sich völkerrechtlich definierte Freiheitsrechte grundsätzlich negativ, sie beruhen also auf der ‹Freiheit vom Staat›. Die so verstandenen Menschenrechte haben eine staatsbegrenzende und damit eine die Politik begrenzende Funktion, sie schützen das Individuum vor dem Staat. Diese Funktion haben die Grundrechte und Freiheitsgarantien der Europäischen Union ebenfalls, aber sie werden um eine politische Komponente erweitert. Sie enthalten zusätzlich das Element positiver Freiheit im Sinne der demokratischen Teilhabe an der Setzung des Rechtes.6 Hier zeigt sich in Ansätzen wieder eine Analogie der europäischen Integrationsbestrebungen zu den Vorgängen im ausgehenden 18. Jahrhundert.

Seit der Geburt des Staatsbürgers geht dessen Akzeptanz jeder staatlichen Rechtsordnung Hand in Hand mit den staatlichen Freiheitsgarantien einerseits und mit den Mitwirkungsrechten des Bürgers andererseits. Genauso ist die Akzeptanz der europäischen öffentlichen Ordnung durch die Europabürger nicht denkbar ohne zwei Dinge: zum einen die individuellen Grundrechte- und Freiheitsgarantien der Union und zum anderen den politischen Anspruch der Unionsbürger auf demokratische Mitwirkung bei der Entstehung des Rechtes dieser Union. Die erste Bedingung kann als erfüllt betrachtet werden, die ‹Freiheit von der Europäischen Union› ist durch ausformulierte Freiheitsrechte gewährleistet, die gegen Hoheitsakte der Union auch gerichtlich geltend gemacht werden können.7 Die zweite Bedingung befindet sich immer noch auf dem Weg ihrer Realisierung, mit anderen Worten ist die ‹Freiheit zur Europäischen Union› nach wie vor entwicklungsbedürftig, auch wenn ein Teil des Weges schon zurückgelegt worden ist, zum Beispiel durch zunehmende Kompetenzen des Europäischen Parlamentes sowie einen vermehrten Einbezug der nationalen Parlamente. Jedoch steht ausser Zweifel, dass die Union als politisches Projekt Form und Reichweite der politischen Mitwirkung der Unionsbürger weiterentwickeln muss und auch weiterentwickeln wird. Sonst wird sie ihrem politischen Anspruch nicht gerecht.

Der politische Anspruch der Union und ihre normative Tendenz zur Demokratisierung machen auch deutlich, dass sie mit anderen internationalen Organisationen in Europa nicht verglichen werden kann. Neben dem Europarat sind dies vor allem die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Ihre spezifischen Tätigkeitsgebiete ergeben sich aus ihrer historischen Entwicklung, so auch die geografische Reichweite ihrer Mitglied- und Kooperationsstaaten, die alle weit über die Grenzen der Union hinausgehen. Als Kooperationspartner für die Union besonders wichtig ist der Europarat, vor allem aufgrund seiner herausragenden Funktion im Bereich der Menschenrechte. Er ist Träger des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes, der in Europa auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention weiter ausgebaut worden ist als alle anderen Schutzmechanismen weltweit. Die staatenübergreifende öffentliche Ordnung des Kontinents in einer neuen Form von Staatlichkeit weist zwar völkerrechtliche Elemente auf, geht aber weit über diese hinaus.8 Sie kann nur im Rahmen der Europäischen Union entstehen, weshalb es wenig Sinn ergibt, die Bedeutung der verschiedenen Organisationen gegeneinander in Stellung bringen zu wollen.

Schliesslich ist es der politische Anspruch der Union, der den europäischen Freihandel von den weltweiten Freihandelsbemühungen unterscheidet. Weil sich der europäische Freihandel in ein politisches Projekt einordnet, dessen Zielsetzung anspruchsvoller ist als der Freihandel auf der globalen Ebene, gehorcht er nicht denselben Gesetzmässigkeiten. Anschaulich zeigte sich dies am Beispiel verschiedener Freihandelsabkommen der Union mit Drittstaaten, deutlich am Abkommen über eine Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft mit den USA (TTIP) und am Umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommen mit Kanada (CETA). Widerstand gegen diese Abkommen ergab sich vor allem daraus, dass die Entwürfe Einschränkungen der demokratischen Abläufe in Mitgliedstaaten und in der Union selber vorsahen. Privaten Investoren sollte die Möglichkeit von Schadenersatzklagen vor Schiedsgerichten eingeräumt werden […].

Solche Regelungen tangieren den demokratischen Anspruch der Union und betreffen direkt ihre normative Tendenz zur Demokratisierung. Die Kommission musste diesen Widerstand berücksichtigen und war bereit, anstelle von Schiedsgerichten spezielle Investitionsgerichte der öffentlichen Hand vorzusehen. Indessen besteht die Problematik der Einschränkung demokratischer Gesetzgebungshoheit auch bei dieser Lösung. In einem Grundsatzurteil hat der Europäische Gerichtshof denn auch festgehalten, dass die Einsetzung ausserordentlicher Schiedsgerichte durch Freihandelsabkommen den nationalen Parlamenten aller Mitgliedstaaten unterbreitet werden muss.9 Damit hat er den demokratischen Anspruch der Union noch weitgehender zum Ausdruck gebracht als die Kommission. Das Grundsatzurteil markiert eine Etappe auf einem Weg, für den noch ungewiss ist, wohin er schliesslich führen wird. Es ist dies ein typischer Ablauf und Beispiel dafür, wie sich die neue Form von Staatlichkeit auf der europäischen Ebene langsam herausbildet, gleichsam mit offenem Ende.

Die Widerstände aus den Mitgliedstaaten betreffen nicht nur deren Verhältnis zur Union und die entsprechende Kompetenzaufteilung. Sie betreffen auch die Rolle des Europäischen Parlamentes, seine Legitimation und seine Kontrollkompetenzen gegenüber der Kommission. Die Kommission hat aufgrund der Verträge den Auftrag, den freien Handel mit Drittstaaten voranzubringen, dies aber im Zusammenwirken mit dem Europäischen Parlament. In letzter Konsequenz macht sich in diesem Konflikt auch die heute noch nicht umfassende Gesetzgebungskompetenz des Parlamentes bemerkbar, und dies in jenen Bereichen, die ihm aufgrund des Subsidiaritätsprinzips zustehen sollten. Die Förderung des Freihandels mit Drittstaaten gehört offensichtlich zu diesen Bereichen, denn die Mitgliedstaaten wären einzeln dazu nicht in der Lage. Aber die Randbedingungen dieser Förderung sind noch nicht genügend klar, insbesondere was die Gefahr einer Einschränkung der Gesetzgebungshoheit anbelangt, übrigens nicht nur der Mitgliedstaaten, sondern auch der Union selber. Der Gerichtshof hat nun diesbezüglich klärend eingegriffen und den Markstein einer neuen Etappe zugunsten der nationalen Parlamente gesetzt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass in einer späteren Etappe auch das Europäische Parlament mit vermehrten Befugnissen ausgestattet wird, was die Gewichte wieder verschieben kann.

Die Geburt des Europabürgers

Auch hinsichtlich der Stellung des Individuums hat die europäische Integrationsmethode weitgehendere Konsequenzen als andere Freihandelsbemühungen. Im Bereich der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes – freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital – verfügt das Individuum über einen einklagbaren Anspruch auf Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen eines anderen Staates, auch wenn es dessen Staatsangehörigkeit nicht besitzt. Selbst wenn dadurch vor allem die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit angestrebt und auch erreicht wurde, hat diese Europäisierung eine nicht zu unterschätzende politische Bedeutung. Nicht nur wurden damit einklagbare und durchsetzbare Freiheitsgarantien auf die europäische Ebene angehoben. Auch kann sich jedes Individuum, wenn es im Bereich dieser Freiheitsgarantien in einem anderen Staat aufgrund seiner fehlenden Staatsangehörigkeit diskriminiert wird, vor den Instanzen dieses anderen Staates zur Wehr setzen. Der Rechtsschutz ist diesbezüglich europäisiert worden, sodass der Binnenmarkt hinsichtlich des Diskriminierungsverbotes einen einzigen, europäischen ‹Rechtsschutzstaat› bildet.10

Zwar erinnert diese Entwicklung zunächst an die Vorgänge Ende des 18. Jahrhunderts, als sich das Individuum aus der Definition durch seine Herkunft herauslöste und zum Staatsbürger wurde, der zusammen mit seinen Mit-Bürgern den demokratischen Nationalstaat bildete. Diese Analogie stimmt aber nicht vollumfänglich. Denn die heutige Europäisierung geschieht nicht etwa dadurch, dass ein europäischer Staat mit einem gesamteuropäischen Volk geschaffen würde.11 Vielmehr ergibt sich die Verschiebung auf eine übergeordnete Ebene über die Inanspruchnahme der Freiheiten durch die einzelnen Individuen.1213