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Thomas Görblich

Was Hunde
denken

Thomas Görblich

Was Hunde
denken

Alles, was Sie über
die Sprache und das Verhalten
Ihres Vierbeiners wissen müssen

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

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2. Auflage 2020 der 2019 vollständig überarbeiteten und aktualisierten Taschenbuchausgabe

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Redaktion: Dr. Doortje Cramer-Scharnagl

Umschlagabbildung und -gestaltung: Marc Fischer, München

Satz: HJR, Manfred Zech, Landsberg am Lech und Helmut Schaffer, Hofheim a. Ts.

ISBN 978-3-86882-531-2

ISBN E-Book (PDF): 978-3-96121-391-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi): 978-3-96121-392-4

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Inhalt

»Was Hunde denken« – Vorwort

Kapitel 1: Prolog

Kapitel 2: Per Anhalter durch die Evolution

Kapitel 3: The World According to Bark

Kapitel 4: Das Fenster zum Hirn

Kapitel 5: Buena Vizsla Social Dog

Kapitel 6: Being Jack Russell

Kapitel 7: Die dunkle Seite des Hundes

Kapitel 8: Brave Neue Welt

Kapitel 9: Habemus canem

Kapitel 10: Epilog

Anhang

Danksagung

»Was Hunde denken« – Vorwort

Ohne Mensch kein Hund: Wir führen eine der längsten und innigsten Beziehungen der Welt. Von den Jägern und Sammlern der Steinzeit bis heute hat der Hund uns durch alle Epochen eng begleitet. Forscher finden immer neue Belege dafür, dass er sein Denken und Handeln über Tausende von Generationen auf uns abgestimmt hat: Hunde sind Supertalente, wenn es darum geht, uns zu lesen und unsere Gestik und Mimik zu verstehen. Sie kommunizieren und kooperieren mit Menschen so selbstverständlich wie mit ihresgleichen und haben für uns sogar ihr eigenes Verhaltensrepertoire entwickelt. Hunde können das alles, weil sie im Laufe der Evolution eine Abzweigung vom Wolf genommen und sich an das Zusammensein mit uns angepasst haben. Ihr natürlicher Lebensraum ist nicht Wald, Wiese, Wildnis – sondern an unserer Seite. Anders ausgedrückt: Wir sind ein Traumpaar seit mehr als 15 000 Jahren. Und wie sieht das heute aus? Statt zu jagen, hüten oder wachen, begleiten Hunde uns im Leben. Die einstigen Spezialisten sind Familienhunde geworden: Sie pendeln zwischen Stadt und Land, Urlaub und Office, treffen Hunde und spielen mit Kindern. Dabei bewegen sie sich im steten Wechsel zwischen großer Freiheit und Beschränkung. Eine wahre Herausforderung – und eine, für die sie wie kein anderes Tier geschaffen sind. »Was Hunde denken« zeigt den Hund aus neuer Perspektive. Das Schöne an diesem Buch: Die aktuellen Erkenntnisse zu Gehirn und Emotionen, Lernen und Verhalten erklären nicht nur, warum Hund und Mensch so gut miteinander können. Im Dialog mit dem Leser wird die Theorie auch gleich ins Leben verortet. Was wir uns heute im gemeinsamen Miteinander wünschen, deckt sich mit den sozialen und kognitiven Fähigkeiten, die Hunde von Haus aus mitbringen. »Was Hunde denken« lässt uns den Hund mit anderen Augen sehen, idealerweise mit mehr Gelassenheit und Empathie, Vernunft und Intuition. Hunde machen es uns im Umgang ziemlich leicht. Unsere Aufgabe ist es, ihnen dabei zu helfen, ihre komplexe Umwelt entspannt anzunehmen. Die angeborene Vorliebe für den Menschen liefert uns dafür die Steilvorlage: Indem wir dafür sorgen, dass sie an unserer Seite ihr naturgegebenes Potenzial entfalten können, bauen wir ihnen eine Brücke in unser modernes Leben.

– Michael Bolte

Kapitel 1:
Prolog

– Hallo. Sie scheinen der Leser zu sein.

– Was soll das denn? Soll das Buch hier etwa mit »Hallo« anfangen?

– Das geht nicht? Zu plump? Entschuldigen Sie bitte, ich meinte natürlich: »Herzlich willkommen in der Welt des Hundes. Hier erfahren Sie alles, was Sie über das Innenleben der Vierbeiner wissen müssen.«

– Das ist leider auch nicht viel besser. Außerdem weiß ich das schon vom Einband. Sie haben noch nicht viele Bücher geschrieben, was?

– Na ja, um ehrlich zu sein: Das ist mein erstes. Ich weiß eigentlich nicht so recht, wie man Leser am besten anspricht. Was würden Sie denn gerne lesen?

– Sie sind mir ja ein schöner Autor. Das müssen Sie sich doch selbst ausdenken! Ich finde es, ehrlich gesagt, etwas seltsam, dass Sie sich auf dem Einband als Hundeexperte ausweisen und jetzt nicht wissen, wie das erste Kapitel anfangen soll.

– Aber ich bitte Sie, selbstverständlich weiß ich ganz genau, wie das erste Kapitel anfangen soll. Es beginnt mit einem metafiktionalen Dialog zwischen Leser und Autor, der im weiteren Verlauf des Buches eine tragende Rolle als Rahmenhandlung übernimmt. Und in den dazwischen eingebetteten Prosa-Passagen erkläre ich Ihnen, was Hunde denken.

– Haben Sie womöglich eines dieser Kreativ-Seminare besucht?

– Ja, ich weiß, das klingt alles ein bisschen bescheuert. Aber warten Sie einfach mal ab, Sie werden sehen, das ergibt schon seinen Sinn. Manche Dinge lassen sich einfach besser erklären, wenn ich Sie als Leser direkt ansprechen kann. Und Sie können zwischendurch etwas fragen, wenn Sie wollen, dann wird es nicht so langweilig.

– Ach ja? Dann hätte ich gleich mal eine erste Frage: Wann geht’s mit den Hunden los?

– Sie wollen also wissen, was Hunde denken?

– So war es zumindest angekündigt. Oder bin ich vielleicht im falschen Buch?

– Nein, ganz im Gegenteil. Sie scheinen mir der ideale Leser zu sein: Neugierig, motiviert, dynamisch …

– Könnten Sie jetzt mal ohne Umschweife auf den Punkt kommen?

– Aber natürlich, Sie haben ja völlig recht. Meine Lektorin streicht mir das sowieso wieder alles raus. Also fangen wir an, ja?

– Ich bitte darum.

– Zunächst mal muss ich Sie ein wenig bremsen, möglicherweise auch enttäuschen. Ich weiß nämlich auch nicht genau, was Hunde denken.

– Das soll wohl ein Witz sein? Ich will mein Geld zurück!

– Ich verstehe, wenn Sie jetzt das Buch gleich wieder weglegen. Aber Tatsache ist nun mal, dass nur ein Hund wirklich wissen kann, was Hunde denken. Und genau genommen auch nur das, was er selbst denkt. Aber da geht es uns Menschen auch nicht anders, oder? Oder wissen Sie vielleicht, was andere denken?

– Nun, von Ihnen weiß ich es zufällig ganz genau, weil Sie in diesem Moment gerade schreiben und folglich genau das denken, was Sie aufschreiben.

– Da haben Sie recht, genau darauf wollte ich hinaus. Sie lesen, was ich denke. Und gleichzeitig denke ich das, was Sie gerade denken, indem ich Ihre Antworten ebenfalls aufschreibe, stimmt’s? Mit anderen Worten: Schreiben und Lesen dient der Gedankenübertragung. Das ist übrigens nicht auf meinem Mist gewachsen, das können Sie nachlesen bei … Äh, halt. Fast hätte ich mich schon auf den ersten Seiten verhaspelt. Ich hatte mir nämlich fest vorgenommen, dass in diesem Buch nur Hunde mit Namen auftreten. Als kleines Gegengewicht zu den vielen Büchern, in denen Hunde nur eine Nebenrolle spielen oder – noch schlimmer – überhaupt nicht vorkommen.

– So was gibt’s? Unerhört!

– Eben. Und darum sind die Menschen hier nur Statisten und werden folglich auch nicht namentlich genannt, selbst wenn sie Unermessliches zum Wissen über Hunde, Gehirne oder Literatur beigetragen haben. Sie sind nicht zufällig Hundeexperte, oder?

– Dann brauchte ich ja wohl kaum Ihr Buch.

– Nun ja, in dem Fall würde ich Sie um Verständnis bitten, wenn ich Sie erst im Anhang nenne. Aber da stehen Sie dann unter vielen Kollegen, die persönlich oder durch oben erwähnte Gedankenübertragung ihre Erkenntnisse mir mir geteilt haben. Ich reiche das hiermit einfach nur in aller Bescheidenheit weiter. Remixed, sozusagen. Merken Sie übrigens, wie Sie denken, was ich schreibe?

– Ja, aber das wird hoffentlich noch origineller. Was hat das überhaupt mit dem Denken von Hunden zu tun?

– Eine ganze Menge: Mit diesem kleinen Trick der Gedankenübertragung können Sie die Welt aus der Perspektive des Hundes erleben, trotz aller individueller und zwischenartlicher Grenzen. Auch wenn weder Sie noch ich jemals wirklich ins Innere eines Hundes reisen können, können wir beide dennoch versuchen, dem so nahe wie möglich zu kommen. Ganz einfach, indem wir uns all das vergegenwärtigen, was man inzwischen herausgefunden hat – über die Vorgänge im Gehirn ganz allgemein und in dem des Hundes im Besonderen.

– Und das, obwohl Sie eigentlich nicht genau wissen, was Hunde denken?

– Ich weiß es nicht wirklich, aber ich kann versuchen, es mir so gut wie nur möglich vorzustellen. Und wenn ich das kann, können Sie es auch. Wir können uns zum Beispiel eine Idee davon verschaffen, wie Hunde die Welt wahrnehmen – uns, ihre Artgenossen, ihre Umwelt – und welche Schlussfolgerungen sie daraus ziehen. Wir können uns vergegenwärtigen, wie sie sich auf dem Weg vom Wolf zum Haushund verändert haben und wie sie heute in ihrer menschlichen Familie zurechtkommen. Und vielleicht können wir uns dann anschließend sogar gemeinsam überlegen, wie wir dieses Wissen praktisch nutzen können, wie wir die Beziehung zu unseren Hunden verbessern und bei Bedarf sogar zufriedenere Hundehalter mit ausgeglicheneren Hunden werden können.

– Das wäre dann ja mal ein echt nützliches Buch. Und Sie kriegen das hin?

– Ich versuche mein Bestes, versprochen. Aber gelegentlich werden Sie sich auch ein wenig anstrengen müssen, so viel kann ich Ihnen schon verraten.

– Wieso das denn?

– Tja, viele Fragen über Hunde sind eben nicht so leicht zu beantworten. Wie klug sind sie wirklich? Wie arbeiten ihre Sinnesorgane? Was denken sie über uns? Zum Glück wissen wir inzwischen sehr viel Neues über das Denken von Hunden. Aber wie so oft, wenn wir ins Detail gehen, um etwas herauszufinden, ist die Antwort alles andere als einfach. Das, was wir dabei lernen, wirft neue Fragen auf, widerspricht der Intuition oder zeigt, dass das Ganze weitaus komplexer ist als ursprünglich gedacht. Und daher müssen wir uns eben gelegentlich etwas anstrengen: Ich, indem ich es so einfach wie möglich erkläre, und Sie, indem Sie es so komplex wie nötig annehmen.

– Könnte da nicht besser Ihre Lektorin noch mal drübergehen?

– Sie können froh sein, wenn sie uns den Dialog hier nicht ganz rausstreicht.

– Hat sie offenbar nicht, sonst würde ich das kaum lesen.

– Stimmt! Ich vergesse immer, dass Sie im Zeitverlauf ja ein gutes Stück stromabwärts lesen, in der Zukunft sozusagen. Das stammt übrigens auch aus dem obigen Buch über das Schreiben.

– Sie haben sich einen Schreib-Ratgeber besorgt und denken, Sie zaubern jetzt mal eben so 200 Seiten über das Denken von Hunden aus dem Hut?

– So ungefähr. Was ist daran verkehrt?

– Na, dann bin ich ja mal gespannt.

Kapitel 2:
Per Anhalter durch die Evolution

– Hören Sie das Heulen?

– Klingt wie eine Sirene mit Kehlkopfüberschlag.

– Das ist ein Wolf.

– Was denn, ein echter Wolf? Wo sind wir denn hier? In der Lausitz?

– Nicht schlecht geraten. In der Lausitz leben tatsächlich seit einiger Zeit wieder wilde Wölfe. Nein, wir sind im Wildpark Ernstbrunn, nördlich von Wien. Da gibt es seit Kurzem ein Wolfsforschungszentrum mit nordamerikanischen Timberwölfen. Das Besondere ist, dass diese Wölfe mit ganz engem Menschenkontakt aufwachsen. Die werden schon ganz klein mit der Flasche handaufgezogen und haben jeden Tag mit Menschen Umgang. Die gehen sogar an der Leine spazieren!

– Soll das heißen, hier können jeden Moment Wölfe um die Ecke kommen?

– Natürlich nur mit ihren Betreuern. Aber Sie können einen Privatspaziergang buchen und mitgehen. Wolfsbegeisterte kommen von weit her, um mal einen Wolf anzufassen. Manche waschen sich dann die Hände nicht mehr.

– Weil sie nicht mehr dran sind?

– Haha, sehr witzig. Sie scheinen sich in der Gegenwart von Wölfen nicht so recht wohlzufühlen.

– Ich habe einfach einen Heidenrespekt vor diesen Tieren. Soweit ich weiß, sind alle Versuche, die wie Hunde zu halten, aussichtslos. Irgendwann zerlegen sie die Wohnung und den Besitzer gleich mit, wenn er nicht aufpasst.

– Die Gefahr besteht, aber hier geht es ja nicht darum, Wölfe als Schoßhündchen zu halten. Auch wenn die Wölfe ein großes Freigehege haben und auch sonst möglichst naturnah gehalten werden, ist das hier vor allem eine Forschungsstation. Die Wölfe sollen sich nämlich an den Menschen gewöhnen und dann mit Hunden verglichen werden. Deshalb sind hier nebenan jetzt auch Hundewelpen untergebracht, unter den genau gleichen Bedingungen. Verhaltenstests sollen zeigen, welcher Teil des Hundedenkens auch im Wolf angelegt ist und welcher erst im Zusammenleben mit dem Menschen entstanden ist.

– Äh, nichts für ungut, aber ich kann mich gerade nicht so gut auf Ihren Vortrag konzentrieren. Kann es sein, dass das Heulen näher kommt?

– Stimmt, die sind ganz in der Nähe. Jetzt warten Sie mal, bis Sie einen von den Wölfen gesehen haben. Da vorne ist schon der erste.

Die dunkle Silhouette eines großen schlanken Rüden schält sich aus dem Winternebel. Kaspar trabt mit gesenktem Kopf den verschneiten Waldweg entlang, schnüffelt mal hier an einer Rehfährte, hebt dort das Bein an einem Baumstamm. Er verhält sich auch sonst ganz so, wie man es von einem wohlerzogenen Hund bei einem Spaziergang erwarten würde – mit dem kleinen Unterschied, dass es sich bei Kaspar um einen waschechten Timberwolf handelt.

Sein Kopf und Rücken sind dunkel, die typische Wolfszeichnung ist kaum zu erkennen, und das ließe vielleicht noch eine Verwechslung mit einem riesigen Schäferhund zu. Doch der kräftige Kopf mit dem geraden, spitz zulaufenden Nasenrücken ist unverkennbar, ebenso die kleinen Ohren, die bis tief ins Innere behaart sind. Er trabt leichtfüßig durch die Winterlandschaft, konzentriert und zielstrebig, und weckt Assoziationen, denen sich nur wenige Menschen entziehen können.

Manche denken an Freiheit und Naturverbundenheit, an Kanadas Wildnis, die Steppen Sibiriens, vielleicht auch an einige wenige Naturparks in Europa – die letzten Refugien, in denen Wölfe heute noch wild lebend vorkommen. Andere sehen zerrissene Schafe, mächtige Kiefer, den lautlos näher kommenden Kreis eines hungrigen Rudels. Doch die wenigsten lässt die Begegnung mit einem Wolf gleichgültig. Die Faszination für den Wolf ist heute so groß wie eh und je.

Woher kommt diese Faszination? War sie schon vorhanden, als steinzeitliche Jäger in die Jagdreviere der Wölfe vordrangen, die lange die erfolgreichsten Raubtiere der Nordhalbkugel waren? Oder entstand sie im Laufe jener Jahrtausende, in denen frühe Menschen und Wölfe unabhängig voneinander die gleichen Nahrungsquellen nutzten – gewaltige Herden von Mammuts, Rentieren und Wildpferden? Lernte der Mensch überhaupt erst vom Wolf, wie sich große, kräftige Beutetiere im Team jagen und erlegen lassen?

Oder entstand die Faszination erst sehr viel später, gegen Ende der letzten Eiszeit, als schon die ersten Hunde an der Seite des Menschen den letzten Mammuts hinterherzogen? Schlagen Wölfe eine Saite in uns an, weil unsere Vorfahren nur mithilfe des Hundes in unwirtliche Gegenden vordringen und dort überleben konnten? Sind diejenigen, denen Hunde und damit auch Wölfe gleichgültig waren, ausgestorben? Oder, anders gefragt: Ist unsere heutige Zivilisation das Ergebnis der gemeinsamen Geschichte von Menschen und Hunden? Ist der Mensch ohne den Hund überhaupt möglich?

Das mag vermessen klingen, aber manche Experten sind heute davon überzeugt, dass die Geschichte des Menschen ohne den Hund völlig anders verlaufen wäre. Sicher ist zumindest, dass der Hund ohne den Menschen nicht möglich wäre. Diese Erkenntnis gilt unabhängig davon, ob man unsere gemeinsame Geschichte als Symbiose mit Vorteilen für beide sieht oder als eine Art Gesellschaftskrankheit mit dem Hund als Sozialschmarotzer, der die gleichen ökologischen Ressourcen verschlingt wie ein Viereinhalb-Liter-Auto. Der Mensch schuf mit dem Hund eine der wenigen Errungenschaften der Menschheit, die sich nicht als Modeerscheinung entpuppten. Er behielt ihn durch alle Epochen und Wechselfälle der Geschichte hindurch bei sich – bis auf den heutigen Tag.

Ähnlich wie beim Wolf spalten sich auch beim Hund die Meinungen. Die einen vergöttern ihn und hinterlassen ihm ein Vermögen, die anderen würden ihn am liebsten mit drakonischer Besteuerung aus den Städten vertreiben. Doch anders als beim Wolf rangiert die Mehrheit eindeutig in der Mitte und akzeptiert Hunde als das, was sie heute sind: Haustier, Familienbegleiter, Freizeitpartner, mit zahlreichen weiteren wichtigen gesellschaftlichen Rollen, aus denen Hunde nicht mehr wegzudenken sind. Hunde gehören heute einfach dazu – und diese Freundschaft zu einer anderen Tierart ist eine der ältesten epochalen Leistungen der Menschheit überhaupt.

Wann sich Hund und Mensch emotional so annäherten, dass heute kaum eine Metropole ohne Modeboutique für Hunde auskommt, ist eines der größten Rätsel der Hundeforschung. Einige wenige Eckdaten sind unstrittig: Hunde und Wölfe haben einen gemeinsamen Vorfahren, der vermutlich dem heutigen Grauwolf, Canis lupus, ähnelte. Ein über 30 000 Jahre alter Schädelknochen aus Belgien ist der derzeit älteste Beleg für ein hundeähnliches Tier, das sich bereits deutlich vom Wolf unterschied. Die frühesten Knochenfunde, die eine enge Beziehung zum Menschen belegen, stammen aus gemeinsamen Bestattungen von Menschen und Hunden aus der Zeit vor knapp 14 000 Jahren. Kurze Zeit später sind Hunde bereits in weiten Teilen Europas und Asiens nachweisbar. Sie erreichten mit einer der frühesten menschlichen Besiedlungswellen Amerika und sind seit mindestens 7 000 Jahren weltweit verbreitet – von Australien bis an die Südspitze Feuerlands.

Doch wann, wie und wo die ersten Hunde entstanden, war lange völlig rätselhaft. Erst in allerjüngster Zeit haben genetische Untersuchungen genauere Hinweise geliefert, und eine außergewöhnliche Langzeitstudie hat erstmals ein plausibles Szenario für den Übergang vom Wolf zum Hund geschaffen. Das ist nicht nur für Historiker interessant, sondern auch höchst relevant für Fragen, die wir uns im täglichen Umgang mit dem Hund stellen: Was ist vom Wolf im Hund enthalten? Und was stammt hingegen vom Menschen, aus den Tausenden von Jahren gemeinsamer Geschichte?

Die Gemeinsamkeiten von Hund, Wolf und Mensch haben es auch den Forschern in Ernstbrunn angetan. Während Kaspar die Düfte des im Schnee versunkenen Waldes erkundet, taucht am anderen Ende seiner langen Leine ein Grüppchen Menschen in Anoraks auf. Sie führen noch einen zweiten Wolf an der Leine. Shima ist ein Weibchen, dunkel wie ihr Rudelführer Kaspar und mit gut eineinhalb Jahren genauso alt. Die beiden Wölfe bilden mit Shimas Bruder Aragorn die drei ältesten Tiere des ersten Wolfsrudels hier im Wildpark Ernstbrunn.

Sie tranken Milch aus Babyfläschchen, haben täglich Kontakt mit Menschen und hören auf Kommandos wie »Sitz«, »Platz« und »Bleib«. Für ein paar Käsehäppchen zeigen sie in Verhaltenstests bereitwillig, was sie intellektuell zu leisten vermögen. Und sie gehen gemütlich an der Leine spazieren, so als wäre es für einen Wolf das Natürlichste der Welt, sich dem Willen eines Menschen unterzuordnen. Ist es also tatsächlich so einfach, aus einem Wolf einen zahmen Hund werden zu lassen? War das der Trick, mit dem sich steinzeitliche Frühmenschen einen loyalen Jagdhelfer heranzogen: einfach durch frühe Handaufzucht und intensive Beschäftigung mit dem Tier und seinen Nachkommen?

Dagegen sprechen zwei ernüchternde Erfahrungen, die Wolfszähmer in zahlreichen praktischen Versuchen gemacht haben. Erstens lassen sich Wölfe zwar prinzipiell an den Menschen gewöhnen, aber nur mit enormem Aufwand. Wer einen Wolfswelpen nicht spätestens zwei Wochen nach der Geburt von der Mutter trennt und ausschließlich von Hand aufzieht, hat nicht die geringste Chance auf einen menschenverträglichen Wolf. Und zweitens bleibt selbst bei dieser intensiven Frühbetreuung genug Wildheit im Tier enthalten, um ihn alles andere als zahm zu machen. Sobald er erwachsen ist, wird der Wolf nur schwer beherrschbar. Er kann jederzeit einen Versuch unternehmen, das Sozialgefüge zu seinen Gunsten neu zu verhandeln, ohne Rücksicht auf seelische oder körperliche Empfindlichkeiten seines langjährigen menschlichen Betreuers.

Das verleiht der Arbeit der Wolfspfleger hier in Ernstbrunn durchaus eine heroische Note, auch wenn Timberwölfe im Allgemeinen etwas leichter zu zähmen sind. Vermutlich ist dies deshalb der Fall, weil irgendwann in der Vergangenheit eine Rückkreuzung mit Hunden stattgefunden hat, die noch heute in ihrem dunkleren Fell sichtbar ist. Doch »etwas leichter« bedeutet immer noch monatelange Handaufzucht mit praktisch ununterbrochenem Kontakt zum Menschen, und das widerlegt gleichzeitig die Theorie vom handaufgezogenen Wolf als Ausgangspunkt der Hundehaltung. Steinzeitliche Jäger dürften weder ausreichend Zeit noch die nötigen Ressourcen dafür gehabt haben, um sich tage- und nächtelang der Pflege eines hilflosen Wolfswelpen zu widmen. Außerdem wäre auch ihnen trotz aller Naturverbundenheit das Beherrschen eines ausgewachsenen Wolfs rasch über den Kopf gewachsen. Auf dem Weg vom Wolf zum Hund muss es also mindestens eine weitere Zwischenstation gegeben haben, eine Art Vorzähmung, eine erste Annäherung des Wildtieres an die menschliche Gemeinschaft.

Die bislang plausibelste Erklärung ist, dass sich der Wolf auf seinem Weg ins Hundefutter-Schlaraffenland durch die Müllhalden der Vorgeschichte fraß. Als die Menschen im Jagen geschickter wurden, fiel genug Abfall an, um Raubtiere in der Nachbarschaft mit durchzufüttern. Womöglich waren darunter auch einige Wölfe, die einem leicht zu erobernden Happen nicht abgeneigt waren, umso mehr, wenn sie alt, geschwächt oder aus ihrem Rudel verstoßen waren. Sie mussten dazu allerdings ihre natürliche Scheu vor dem Menschen überwinden. Wem das gelang, dem winkte ein reich gedeckter Tisch und damit ein Überlebensvorteil in mageren Zeiten. Vieles spricht dafür, dass sich über lange Zeiträume Wolfspopulationen in der Nähe des Menschen etablierten und getrennt von ihren wild lebenden Verwandten vermehrten.

Für die Menschen könnte diese Entwicklung ebenfalls von Vorteil gewesen sein. Die Wölfe hielten das Lager frei von verrottenden Essensresten, alarmierten die Jäger bei unerwünschten Besuchen und gaben in schlechten Zeiten sogar passable Nothappen und Wintermäntel ab. Die Wölfe lernten im Gegenzug, das Verhalten der Menschen, ihre Gesten und Gewohnheiten, genau zu lesen und das passende Gleichgewicht zwischen Distanz und Nähe zu halten, um nicht als lästig oder gar bedrohlich empfunden zu werden. Über die Jahrtausende konnte sich so ein gut ausbalanciertes Verhältnis von gegenseitiger Toleranz bilden. Diese Theorie steht im Einklang mit bisherigen archäologischen Funden. Die steinzeitlichen Müllhalden weisen neben den üblichen jagdbaren Tieren der Vorgeschichte auch immer wieder Wolfsknochen auf, die zum Teil auch eine Verwertung als Nahrung erkennen lassen.

Um Wölfe jedoch als echte Haustiere in die menschliche Gemeinschaft zu integrieren, war ein weiterer Schritt nötig: die Verwandlung des Wolfs in einen nutzbringenden Begleiter, einen zutraulichen Freund und vertrauenswürdigen Partner – kurzum, in den ersten Hund. Auf welche Weise und vor allem wie rasch das vor sich gegangen sein könnte, zeigt eine außergewöhnliche Langzeitstudie an russischen Silberfüchsen.

In den Fünfzigerjahren hielt man in Russland in großem Stil Füchse für die Pelzgewinnung, allerdings gestaltete sich der Umgang mit den aggressiven Füchsen nicht immer einfach, und das hielt den Betrieb auf. Ein junger Wissenschaftler erhielt den Auftrag, etwas dagegen zu unternehmen, und sein Lösungsvorschlag erwies sich als ebenso wirkungsvoll wie weitsichtig.

Er begann, einen Teil der Silberfüchse nach einem einfachen Test in zwei Gruppen einzuteilen: In der ersten Gruppe landeten alle Tiere, die ein Stückchen Futter aus seiner Hand annahmen, sich vielleicht sogar streicheln ließen. Die zweite Gruppe bildeten Tiere, die vor ihm flohen oder ihn angriffen. Für die Vermehrung nutzte er nur Silberfüchse aus der ersten Gruppe. Auf die Nachkommen wendete er die gleichen Kriterien an und auf alle weiteren Generationen ebenso.

Nach einem Jahrzehnt war die Mehrzahl der Silberfüchse tatsächlich wie erwartet wesentlich ruhiger, zutraulicher und kontaktfreudiger. In ihrem Verhalten ähnelten sie bereits Haustieren. Doch das überraschende Ergebnis war, dass die Füchse sich auch äußerlich veränderten. Einige wuchsen zu schlappohrigen Fellknäueln heran, ringelten die Rute auf, hatten weiße Streifen in dem ehemals schwarzen Fell. Sie begannen, wie Hunde auszusehen.

Das Experiment wurde über einen Zeitraum von inzwischen über 50 Jahren aufrechterhalten und in vielen Details untersucht. Hormonstatus, Fortpflanzungsrhythmus, sogar die genetische Ausstattung näherte sich der von Hunden an. Der Clou war, dass Jungfüchse offenbar bald in der Lage waren, menschliche Gesten ebenso gut zu verstehen wie Hundewelpen – eine Fähigkeit, auf die wir noch intensiver eingehen werden. Und das alles geschah wohlgemerkt, ohne dass man die Tiere gezielt auch nur auf ein einziges dieser Kriterien hin gezüchtet hätte. Das alleinige Merkmal, das entschied, wer sich fortpflanzen konnte und wer nicht, war Zahmheit.

Das Silberfuchs-Experiment gilt inzwischen als wichtiger Beleg für die Formbarkeit von Hunden und ihren Verwandten. Wenn sich mit einer so einfachen Methode Silberfüchse in hundeartige Kuscheltiere verwandeln lassen, und das innerhalb nur eines Menschenlebens, dann sollte dies auch mit Wölfen möglich gewesen sein. Deren Selektion auf Zahmheit hätte bereits mit der Eroberung steinzeitlicher Müllberge begonnen und hätte sich dann unter menschlicher Obhut intensivieren können. Das setzt zwar voraus, dass der Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt die vorgezähmten Wölfe nach seinen Vorstellungen zu verpaaren begann. Doch so wäre in kürzester Zeit ein friedlicher Begleiter entstanden, der sowohl seine Bedrohlichkeit als auch seine Scheu komplett verloren hätte.

– Darf ich Sie hier mal kurz unterbrechen? Sie sagen also, die Russen haben auf ihrer Farm mit Silberfüchsen jetzt eine Art Streichelzoo mit zahmen Hunde-Imitaten?

– Nun ja, ganz so würde ich das vielleicht nicht ausdrücken, aber im Prinzip scheint es tatsächlich recht einfach zu sein, durch Zucht das Wesen eines Hundes aus einem Wildtier herauszuschälen – zumindest in Grundzügen.

– Und diese zahmen Füchse sind von Hunden nicht mehr unterscheidbar?

– Nein, so weit geht es dann doch nicht. Sie sind nur einfach Hunden viel ähnlicher als wilde Füchse. Aber keine Angst, niemand dreht Ihnen jetzt einen gefälschten Hund an, in dem ein gezähmter Silberfuchs steckt, falls Sie das befürchten sollten.

– Na, dann bin ich ja beruhigt. Aber wenn das scheinbar so einfach ist, warum haben wir dann keine Hütefüchse und Jagdschakale und Schoßkojoten? Wieso hat der Mensch denn ausgerechnet den Wolf gezähmt? Ich meine, ich freue mich ja, dass sich wilde Wölfe jetzt ganz langsam wieder ausbreiten, sogar in einer so dicht besiedelten Gegend wie Deutschland, aber …

– Die Lausitz ist nun wirklich alles andere als dicht besiedelt.

– Sie haben recht. Ich habe auch wirklich nichts gegen Wölfe, ganz im Gegenteil. Ich muss Ihnen sogar recht geben, dass es ein wunderbares Erlebnis ist, mal einen echten zu sehen, so wie vorhin. Aber jetzt habe ich erst recht Respekt vor ihnen, schon allein wegen der schieren Größe, und da frage ich mich: Ist das nicht etwas riskant, sich ausgerechnet ein so kräftiges Raubtier ins Haus zu holen?