Das Buch

Ari glaubt, ihre große Liebe Lucian für immer verloren zu haben, und begibt sich auf die verzweifelte Suche nach seinem Mörder. Vor allem Lucians Vater rückt ins Fadenkreuz. Der mächtige Dämon fühlt sich in die Ecke gedrängt und setzt einen tödlichen Brachion auf Ari an. Doch der ist kein Unbekannter und stellt Aris Welt auf den Kopf …

Der dritte Teil der packenden Romantasy-Reihe von Julia Dippel.

Mehr über das Buch, viele Hintergrundinfos und den extra komponierten Soundtrack gibt es auf: www.izara.de

JULIA DIPPEL

IZARA - Sturmluft

Die Autorin

© Rob Perkins

Julia Dippel wurde 1984 in München geboren und arbeitet als freischaffende Regisseurin für Theater und Musiktheater. Um den Zauber des Geschichtenerzählens auch den nächsten Generationen näher zu bringen, gibt sie außerdem seit über zehn Jahren Kindern und Jugendlichen Unterricht in dramatischem Gestalten. Ihre Textfassungen, Überarbeitungen und eigenen Stücke kamen bereits mehrfach zur Aufführung.

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Ari hat sich Thanatos auf den Stillen Wassern gestellt und mit ihrem Sieg die Freiheit für sich, ihre Freunde und ihre Liebe erkämpft. Da sie außerdem Lucians Herz von dessen Vater hatte stehlen lassen, scheinen alle Gefahren gebannt und der Weg in eine glückliche Zukunft offen. Bis Lucians Zeichen von Aris Rücken verschwindet …

Kapitel 1

Die Flucht vor der Stille

Für einen Sommerabend war die Schlange vor dem Gomorrha ungewöhnlich kurz. Es sprach sich offenbar herum, dass der Club die Sicherheit seiner Gäste nicht mehr gewährleisten konnte. Ich spürte, wie ein Teil meines Gehirns mich dazu bringen wollte, in grimmiger Genugtuung zu lächeln. Aber der Impuls drang nicht zu meinen Muskeln durch. Selbst das dazugehörige Gefühl blieb eine vage Ahnung in meinem Innersten. Gut verstaut hinter Mauern, die so dick waren, dass ich mir nicht vorstellen konnte, sie jemals wieder selbst zu überwinden.

Ich veränderte vorsichtig meine Position. Stundenlang auf Dächern zu lauern, zählte definitiv nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Man hatte zu viel Zeit …

Unten verabschiedete der bullige Türsteher gerade einen der Gäste per Handschlag. Geldscheine wechselten unauffällig den Besitzer. Schweigen wurde erkauft. So viel zu den ‚strengen Regeln‘, vor denen wir bei unserem ersten Besuch im Gomorrha gewarnt worden waren. Regeln, die noch immer auf einem schlecht lesbaren Schild in Engelsschrift neben dem Eingang prangten.

Grüne Augen streiften das Schild nur kurz, bevor sie sich wieder in die des Türstehers bohrten.

Das könnte jetzt ein bisschen unschön werden, warnte er mich. Er packte den Türsteher am Kragen und schmetterte ihn gegen die Hauswand.

„Seh ich so aus, als würde ich meinen Besitz teilen?“ Die Ruhe seiner Worte stand im krassen Gegensatz zu der Gewalt, die er an den Tag legte. Ich sollte keine Angst zeigen und war dabei, zu versagen.

Und dann sahen sie mich an, diese unglaublichen Augen.

Schimmerndes Silber mischte sich mit brennendem Grün.

Was tust du da, Kleines?

Ich schüttelte die Erinnerung ab und sperrte sie zurück in die dunkle Kiste, aus der sie ausgebrochen war. Ein Prozedere, das mir inzwischen so vertraut war wie Atmen.

Stattdessen löste ich meinen Blick von der wild plakatierten Tür unter dem blinkenden Neonschriftzug. Der Club interessierte mich heute nicht. Meine Aufmerksamkeit galt ganz dem abtrünnigen Primus, der eben den Türsteher bestochen und das Gomorrha in Begleitung eines aufgestylten Menschen-Mädchens verlassen hatte. Die Wasserstoff-Blondine kicherte unentwegt und konnte kaum die Finger von dem Unsterblichen lassen. Mir fielen einige Adjektive ein, um sie zu beschreiben. ‚Angetrunken‘ und ‚naiv‘ waren dabei noch die nettesten.

„Was für ‘nen guten Fang ich heut doch gemacht hab“, säuselte sie und begann ihrer rothaarigen Beute das Hemd aufzuknöpfen. Dank meiner verbesserten Sinne war es ein Leichtes, die zwei zu belauschen. Zumal der Primus sich nicht einmal die Mühe machte, ihr Gespräch abzuschirmen.

„Von einer hübschen Dame wie dir lass ich mich doch gerne fangen“, erwiderte der Abtrünnige und lotste sie weiter die Straße runter.

Ich zog eine träge Grimasse angesichts der vielen Lügen, die in seiner kurzen Antwort steckten. Das Mädchen war weder hübsch noch eine Dame und ganz bestimmt hatte nicht er sich fangen lassen. Nein, der rothaarige Primus war das, was die Abtrünnigen einen Scout nannten. Für finanzstarke unsterbliche Kunden suchte er Menschen, die zu intensiven Emotionen fähig waren. Er verführte oder entführte sie, und sie folgten ihm arglos in ihr Verderben. Dieses sprichwörtliche ‚Verderben‘ war heute ein realer Ort am Ende der Straße. Ein zwielichtiges Hotel mit dem trügerischen Namen Dante’s Paradies. Paradiesisch war hier jedoch nichts. Das Hotel lag zwischen einer Spielothek und einem Pizzalieferservice. Ein dunkler Grauschleier überzog die Fassade, und auch die schmucklosen Lärmschutzfenster hatte man bestimmt seit Jahren nicht geputzt. Das konnte jedoch nicht über das pulsierende Schimmern hinwegtäuschen, das von dem Gebäude ausging. Ein Bannzauber verbarg alles, was dort drinnen geschah. Hatte der Scout seine Opfer erst einmal hineingebracht, würde niemand mehr ihre Schreie hören – kein Mensch, kein Primus und auch kein Halb-Brachion.

Seit drei Wochen observierte ich das Hotel schon und wartete auf die perfekte Gelegenheit. Perfekter als heute würde es nicht werden.

Ich setzte mich in Bewegung. Auf den Dächern war es ein Leichtes, die beiden ungesehen zu überholen. Ich lief über Ziegel, balancierte an Schornsteinen vorbei und sprang über Häuserschluchten. Kurz vor dem Hotel ließ ich mich in eine Seitengasse fallen und kam vier Stockwerke tiefer auf meinen Füßen auf. Adrenalin jagte durch meine Adern - wie immer, wenn ich von meinen übernatürlichen Kräften Gebrauch machte. Gut so, sie würden meinen erhöhten Puls für Aufregung oder Angst halten. Ich schob mir einen Kaugummi in den Mund und kontrollierte meine Jackentaschen. Das kaputte Fake-Handy, das ich bei solchen Anlässen gerne als Vorwand nutzte, war bereit für seinen Einsatz. In der durchsichtigen Hülle steckten ein Zettel mit einer handgeschriebenen Adresse und ein Geldschein, der niemals für eine Taxifahrt dorthin reichen würde. Eine Kombination, die wahre Wunder auf verbrecherische Dämonen wirkte. Zu guter Letzt setzte ich meine Kopfhörer auf und marschierte los Richtung Hauptstraße. Wenn meine Berechnungen stimmten, dann müsste ich in drei, zwei, eins -

Das aufgetakelte Mädchen rannte direkt in mich hinein. Wie geplant stieß ich einen überraschten Schrei aus und ließ mich fallen. Jeder Fußballer wäre neidisch auf die perfekte Schwalbe gewesen, die ich hinlegte. Das Handy, meine Kaugummis, Lipgloss und ein paar andere Dinge, die man als ‚normales‘ Mädchen so bei sich tragen würde, purzelten auf den Gehsteig.

„Oh Gott, tut mir leid. Ich hab dich nicht gesehen!“ Die Blondine war zu betrunken, um mir aufzuhelfen. Das hielt sie aber nicht davon ab, es zu versuchen. Ich ließ sie an mir herumzerren, während ich aus den Augenwinkeln beobachtete, wie der rothaarige Primus mein verstreutes Hab und Gut einsammelte. Soweit lief alles nach Plan.

„Du blutest ja!“, rief das Mädchen entsetzt.

Sie hatte recht. Meine Knie waren ziemlich übel aufgeschürft. Ich hätte es wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, aber es spielte meiner Tarnung natürlich in die Karten. Also tupfte ich an den Wunden herum und verzog mein Gesicht - als wären mir die Schmerzen nicht völlig egal.

„Hast du vielleicht ein Taschentuch, Danny?“, fragte das Mädchen ihre Begleitung. Als ihr Blick auf meine Wertsachen fiel, waren meine blutigen Knie jedoch vollkommen vergessen. „Oh nein, dein Handy! Das tut mir so leid! Ich weiß gar nicht, wie das geschehen konnte. Ich zahl es dir - also nicht ich, sondern meine Haftpflicht. Aber bis dahin? Hast du vielleicht noch ein altes Handy? Hast du ein Back-up gemacht? Willst du jemandem von meinem Handy aus Bescheid geben? Soll ich dir ein Taxi rufen?“ Sie überschlug sich vor Schuld- und Mitgefühl, als hätte sie mir nicht mein Handy, sondern einen Arm genommen.

„Macht euch keine Gedanken. Ich bin auf dem Weg zu einer Freundin. Sie wohnt hier irgendwo.“

Eine Männerhand streckte sich mir entgegen. Jetzt hieß es, den richtigen Eindruck zu machen. Ich sammelte ein paar falsche Emotionen zusammen: Verlorenheit, Verzweiflung und einen Hauch gesundes Misstrauen. So griff ich nach der Hand des Primus. Sofort schimmerten seine Augen silbern auf.

„Du bist nicht von hier, nicht wahr?“ Er zog mich auf die Beine und musterte mich von oben bis unten. Ich trug kurze Shorts, Tanktop und eine leichte Lederjacke. Unauffällig, aber trotzdem freizügig genug, um männliche Aufmerksamkeit zu erregen.

„Ist das so offensichtlich?“

Langsam breitete sich ein Lächeln auf Dannys Gesicht aus. „Ein wenig“, meinte er charmant und tippte auf den Zettel, der in meiner Handyhülle steckte. „Ich sag’s dir nur ungern, aber wenn du zu dieser Adresse willst, hast du dich ziemlich verlaufen.“

„Wirklich?!“ Ich spielte die Entsetzte und legte noch eine Prise frisch gefasstes Vertrauen obendrauf. Wieder sah ich die Augen des rothaarigen Primus aufschimmern. Diesmal wirkte er nahezu gierig.

„Ja, leider. Aber wir können deine Freundin anrufen. Sie holt dich sicherlich hier ab“, schlug er vor.

Damit hatte ich gerechnet. Abtrünnige Primus waren so berechenbar, als würden sie alle demselben Handbuch folgen.

„Das glaube ich kaum“, setzte ich zum finalen Streich an. „Ehrlich gesagt, kenn ich sie nicht wirklich. Ich hab sie über so eine Couch-Surfing-Plattform gefunden.“

Danny hob seine Brauen. Jetzt hatte ich definitiv sein Interesse geweckt.

„Weißt du was? So ein hübsches Mädchen wie du sollte hier nicht alleine herumirren. Ich spendier dir ein Taxi. Das ist nur fair, nachdem Barbie dein Handy kaputt gemacht hat.“ Die Wasserstoffblondine mit dem überaus passenden Namen nickte eifrig. „Allerdings muss ich erst noch mein Geld aus dem Hotelzimmer holen. Wenn du magst, kannst du dort auch auf dein Taxi warten.“ Danny wirkte so sympathisch und harmlos, dass ich mich über seine Erfolgsquote als Scout nicht mehr wunderte. „Komm schon, gib dir einen Ruck! Sonst muss ich mir die ganze Nacht Sorgen machen, dass ein verrückter Serienkiller dich entführen könnte.“

Wow. Was für ein Mistkerl. Am liebsten hätte ich ihm seine verlogene Freundlichkeit sofort aus dem Gesicht geprügelt. Aber Geduld war etwas, das ich mir in den letzten Monaten mühsam antrainiert hatte.

Also zierte ich mich eine angemessene Weile, bevor ich Dannys Angebot annahm und ihm in sein Hotel folgte. Wäre ich ein Mensch gewesen, hätte ich jetzt mein Todesurteil unterschrieben. Aber das war ich nun mal nicht, weswegen auch all meine Sinne zu prickeln begannen, als die quietschende Drehtür uns auf der anderen Seite in Dante’s Paradies entließ. Die brünette Empfangsdame, ein einsamer Gast in der Lobby und der Portier, der kaum älter schien als sechzehn, waren allesamt Primus. Ich spürte ihre Macht und roch ihre Signaturen, die eine bunte Mischung aus Motoröl, Marzipan, Limetten und Herbstlaub ergaben. Keiner von ihnen konnte mir gefährlich werden. Das, was mir Sorgen bereitete, befand sich irgendwo in den Stockwerken über uns. Von dort oben drangen die Ausläufer einer Macht zu mir, die alle anderen – inklusive Dannys – in den Schatten stellte.

Ich hatte also zum ersten Mal seit Wochen Glück.

Die Marzipan-Empfangsdame versicherte uns, dass sie mir ein Taxi rufen und sofort im Zimmer Bescheid geben würde, sobald es da war. Pfft, bestimmt! Wenn sie überhaupt jemanden rufen würde, dann den Transporter, mit dem das Hotel üblicherweise die Leichen der Opfer abtransportierte. Aber so weit würde ich es heute nicht kommen lassen …

Ein paar Augenblicke später standen wir zu dritt in einem engen Fahrstuhl. Danny drückte den Knopf für die oberste Etage, während Barbie erneut begann, sich kichernd an den Unsterblichen ranzuschmeißen. Meine Anwesenheit störte sie dabei leider wenig. Doch Danny ging diesmal nicht auf ihre Annäherungsversuche ein. Er schien beinahe genervt von seiner Begleitung zu sein. Im dritten Stock schob Danny sie ruppig von sich und sah ihr tief in die Augen. Sofort verklärte sich Barbies Blick. Sie ließ die Arme fallen, als hätte man einer Marionette die Fäden durchgeschnitten. „Alles in Ordnung, Barbie?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte. Schließlich sollte ich vor Danny meiner naiven Rolle treu bleiben. Noch. Denn erst musste ich an den Schutzsiegeln der obersten Etage vorbei.

Danny grunzte irgendetwas und packte mich plötzlich an der Kehle. Ich unterdrückte meinen Kampfinstinkt und spielte weiterhin das wehrlose Opfer. Ich spürte, wie sich seine Stimme in meinen Geist drängte – zumindest in den Bereich meines Geistes, den ich speziell für solche Gelegenheiten erschaffen hatte.

Egal, was du siehst … egal, was geschieht, du hältst deine Klappe und rennst nicht weg.

Ich konnte mich nur wiederholen: Was für ein Mistkerl. Schon mehrfach hatten Abtrünnige in den letzten Monaten versucht, mich mental zu manipulieren. Aber sie alle hatten von mir gewollt, dass ich die drohende Gefahr übersehe. Danny dagegen nahm seinen Opfern die Angst nicht. Er wollte, dass wir sie zeigten. So konnte er uns wohl teurer verkaufen.

Fein, ich tat ihm den Gefallen. Ich kopierte Barbies Verhalten und spielte ihm die Angst vor, auf die er es so dringlich abgesehen hatte. Dannys Augen leuchteten in hellem Silber und ein breites Grinsen schlich sich in sein Gesicht. Gleichzeitig öffneten sich die Fahrstuhltüren mit einem lauten ‚Ping‘.

„Endlich!“, schnauzte eine tiefe Stimme. „Der Boss wartet schon.“ Ein schlaksiger Typ mit Vollbart tauchte vor dem Fahrstuhl auf. Wie erwartet überraschte ihn mein Anblick. „Zwei? Ich zahl aber nur für eine.“

„Schon klar, die Zweite geht aufs Haus“, erwiderte Danny. „Dein Boss soll mich ja in guter Erinnerung behalten.“

Er packte Barbie und mich am Arm und schob uns in das Penthouse. Das helle Parkett war hochglanzpoliert und die Möbel strahlten in Creme- und Weiß-Tönen. Im Vergleich zum Rest des Hotels war das hier eine komplett andere Welt und Preisklasse. Mittendrin saß auf einem kantigen Sofa der Primus, dessen Macht ich schon in der Lobby gespürt hatte. Er war in ein Telefonat vertieft und schien uns nicht zu bemerken. Ihn umgab eine Aura, die nach Großstadt - nach Asphalt, Stahlträgern und Beton - roch. Seine menschliche Hülle hatte eindeutig afrikanische Wurzeln. Die dunkle Hautfarbe gekoppelt mit seinem hellen Anzug und der auffälligen Narbe am Kinn versprühte das Flair eines afrikanischen Warlords.

Nelson Suada - der rote Löwe. Meine Zielperson. Seit Jirons Tod stritten sich diverse Abtrünnige um den Thron der unsterblichen Unterwelt. Wenn man den Gerüchten glauben durfte, hatte Nelson die besten Chancen, dieses Erbe anzutreten. Dementsprechend war er auch nicht alleine unterwegs. Neben dem Kerl, der uns am Fahrstuhl entgegengekommen war, befanden sich noch drei weitere Primus im Penthouse. Das machte zusammen mit Danny sechs Gegner. Nicht ganz einfach, aber machbar.

Jemand hielt Danny eine Sporttasche hin.

„Zähl nach, wenn du willst, und dann verschwinde!“

Danny nahm die Tasche an sich, wirkte allerdings nicht sehr glücklich. Sein Blick zuckte zu Nelson und ich verstand. Der Scout hatte sich von diesem Treffen mehr erhofft.

„Ich würde gerne sicherstellen, dass dein Boss mit der Ware zufrieden ist, bevor ich gehe.“

„Ob ich zufrieden bin, entscheide ich, wenn ich mit den beiden fertig bin“, verkündete Nelson und legte sein Handy beiseite. Verärgert erhob er sich vom Sofa. Er würdigte Danny keines Blickes, dennoch senkte der Scout eingeschüchtert den Kopf.

„Die hier gefällt mir.“ Der Unterwelt-Boss umrundete Barbie und genoss sichtlich ihre Angst. „Aber die andere scheint mir etwas verschlossen.“ Nelson kam auf mich zu. Seine dunklen Augen musterten mich lustlos. „Ihre Emotionen sind irgendwie … beschädigt.“

Fast hätte ich laut gelacht. Nelson schien ja nicht besonders helle zu sein, aber mit dieser Einschätzung lag er goldrichtig.

„Wenigstens ist sie ganz hübsch“, fuhr er fort. „Vielleicht schenke ich sie ja meinen Männern.“

Dreckiges Gelächter in verschiedenen Tonlagen hallte durch das Penthouse, während Nelson mit einer panischen Reaktion meinerseits rechnete. Als diese nicht kam, kniff er misstrauisch seine Augen zusammen.

„Irgendwas stimmt nicht mit -“

Weiter ließ ich ihn nicht kommen. Mein Aziam blitzte auf. Keiner der Primus war auf die Idee gekommen, mich zu durchsuchen, und so war auch keinem aufgefallen, was ich unter meiner Jacke, verborgen am Rücken, hereingeschmuggelt hatte. Als Erstes versenkte ich meine glühende Klinge voller Befriedigung tief in Dannys Kehle. Der Scout wollte schreien, doch seine Essenz verbrannte innerhalb eines Wimpernschlags und verwandelte seine menschliche Hülle in eine glimmende Aschewolke. Sein Tod löste Chaos aus. Abtrünnige stürmten auf mich zu. Funken sprühten, Asche wirbelte durch die Luft. Sie schlugen sich wacker, aber ich machte trotzdem kurzen Prozess mit Nelsons Schergen. Als der Letzte von ihnen verglüht war, bemerkte ich, dass Nelson die Flucht ergreifen wollte. Ich schleuderte meinen Aziam und nagelte ihn damit an der Wand fest.

So weit, so gut. Ich stand schwer atmend im Ascheregen und spürte, wie sich die Energie der toten Primus einen Weg zu mir bahnte. Wäre ich ein richtiger Brachion gewesen, hätte ich diese Energie in mir aufnehmen können. Aber mein Körper war sterblich, darum floss sie nur durch mich hindurch und verursachte keinen Überschuss.

Das war etwas, das ich während meiner Jagdausflüge schnell gelernt hatte: In mir waren unterschiedliche Mächte am Werk. Mein Blut war das eines Brachions, also konnte ich einen Aziam benutzen und Unsterbliche töten. Meine Seele war Izara. Mit ihr vermochte ich in den Geist von Primus einzudringen und bestehende Verbindungen zu lösen. Wenn ich Letzteres jedoch tat, musste ich dringend dafür sorgen, dass ein Primus in der Nähe war, an den ich die frei gewordene Energie weiterleiten konnte.

„Warn mich das nächste Mal bitte vor, wenn du mich als Endlager für Energie im Ausmaß einer Atombombe benutzen willst, Kleines“, bat er schwer atmend.

Ich erwiderte sein Lächeln.

Sein unglaubliches Lächeln.

Ein paar Schritte weiter starrte Barbie mich entsetzt an. Sie konnte noch immer nicht sprechen oder fliehen und tat mir irgendwie leid. Aber ich hatte gerade keine Zeit, mich um das Mädchen zu kümmern. Nelson zerrte an meinem Aziam herum, um sich zu befreien. Ich ließ die Macht meiner Klinge für einen Moment aufflammen. Der Abtrünnige schrie auf.

„Denk nicht mal daran!“, zischte ich. Er ließ den Aziam los und streckte mir beschwichtigend die Handflächen entgegen.

„Ganz ruhig, Kleines!“

In Sekundenschnelle hatte ich die Distanz zwischen uns überwunden und packte Nelson am Kragen.

„Nenn mich noch einmal so und du bist tot!“ Nur einer durfte mich ‚Kleines‘ nennen. Nur einer! Und der hatte dafür ebenfalls mit seinem Leben bezahlt.

„Wie … wie soll ich dich dann nennen?“ Nelsons Stimme klang jetzt mehr nach Muttersöhnchen als nach Oberbösewicht.

„Tu nicht so, als wüsstest du nicht, wer ich bin.“

Sein Blick huschte zwischen mir, der dicken Ascheschicht am Boden und der Klinge, die in seiner Schulter steckte, hin und her. Und er kombinierte richtig.

Izara …“, hauchte er. Dieses eine Wort schien ihm mehr Angst einzujagen, als jede Waffe es könnte. „Du bist für all die verschwundenen Dämonen verantwortlich.“

Wieder richtig kombiniert. Ganz so dämlich schien dieser Nelson wohl doch nicht zu sein.

„W-wenn du willst, dass ich das Kopfgeld zurückziehe, musst du mich am Leben lassen.“

„Muss ich das?“

Schon seit Längerem wusste ich, dass verschiedene Abtrünnige Kopfgelder auf Izara ausgesetzt hatten. Sie versuchten damit, Jiron nachzueifern und ihre eigenen Ansprüche auf die Führungsposition der Unterwelt zu legitimieren.

„Sonst werden dich meine Männer jagen und töten.“

Nelsons Bluff war so schlecht, dass ich unter anderen Umständen gelacht hätte. Aber dafür fehlte mir die Kraft. Oder auch die Lust. Oder die Unbeschwertheit. Ich wusste es nicht mehr. Meine Stimme klang scharf, als ich antwortete: „Glaubst du, das macht mir Angst?“

„Schon gut, schon gut. Ich werde das Kopfgeld zurückziehen!“

„Das Kopfgeld ist mir egal!“, fuhr ich Nelson an und packte ihn fester. „Ich will wissen, wer … Lucian Ankou umgebracht hat!“

Seinen Namen auszusprechen tat mehr weh, als jede Fleischwunde und jeder Knochenbruch, den ich je hatte. Ich dachte, es würde einfacher werden. Das tat es nicht. „Was?“ Nelson sah mich verwirrt an.

„Verkauf mich nicht für dumm!“ Ich donnerte ihn gegen die Wand. „Ich weiß, dass du auch auf seinen Kopf eine Prämie ausgesetzt hast.“

Es war nur eine kleine Hoffnung. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass ein Möchtegern-Gangster wie Nelson es mit Lucian hätte aufnehmen können. Trotzdem musste ich der Sache nachgehen. Ich konnte nicht einfach nur rumsitzen und auf die viel gerühmte Zeit warten, die angeblich alle Wunden heilte.

„Lucian Ankou ist tot?!“, murmelte Nelson. Er schien fast schon freudig überrascht. Mein Gesicht verfinsterte sich bedrohlich.

„Hey, hey, hey! Ganz ruhig! Wenn jemand deinen Lover umgebracht hat, dann solltest du den Schuldigen beim Hohen Rat suchen. Ich meine, Lucian Ankou war ein Brachion. Nur jemand, der sein Herz besitzt oder die anderen Brachion befehligt, kann ihn töten. Ich dachte, das weißt du.“

Langsam war ich am Ende meiner Geduld angekommen und ich bemühte mich nicht, es zu verbergen. „Warum hast du dann ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt?“

Nelson schluckte nervös und antwortete schnell und ohne Umschweife. „Ich habe das Kopfgeld auf den Brachion zurückgezogen, als die schwarzen Aziam vom Markt verschwunden sind. Ohne sie hatten wir keine Chance.“

„Gib mir einen Grund, warum ich dir glauben sollte!“

„Ich schwöre es dir!“

Enttäuschung, Verzweiflung, Trauer, Erleichterung, Wut … all das machte sich in mir breit. Ich drängte meine Gefühle zurück und konzentrierte mich auf die Tatsachen. Auch diese Spur war offensichtlich eine Sackgasse. Selbst Nelsons Überraschung über Lucians Tod war echt gewesen. Hätte ein anderer Abtrünniger Erfolg mit seinem Kopfgeld gehabt, hätte Nelson davon gewusst.

Ich war hier fertig. Und die Welt war sicher besser dran ohne kriminelle Dämonen wie Nelson.

Bei ebendiesem brach blanke Panik aus, als ich nach meinem Aziam griff, um die Sache zu beenden.

„Bitte, ich gebe dir alles, was du willst! Ich habe Geld Kontakte, Informationen …“, winselte er.

Mir lag wenig an einer Zusammenarbeit mit diesem schmierigen Feigling. Aber vielleicht könnte er mir ja tatsächlich noch nützlich sein.

„Es gibt einen Primus“, sagte ich leise. „Er heißt Marek und hat eine Vorliebe für Prisma-Portale.“

„Der sitzt in den Stillen Wassern.“

Ich stieß einen ungeduldigen Laut aus und schloss die Hand um das Heft meiner Klinge. Nelson log. Ich wusste, dass seine Organisation Mareks Dienste in Anspruch nahm. Ein übereifriger Katò hatte mir davon erzählt, um sein Ableben hinauszuzögern.

„Schon gut“, schrie Nelson. „Kann sein, dass ich von ihm gehört habe.“

„Ich will wissen, wo er ist!“

Der Abtrünnige presste seine Kiefer aufeinander, als wägte er ab, wie viel ihm sein Leben wert war. Dummkopf.

„Wie du dir sicher vorstellen kannst, ist das keine einfache Information, bei einem Mann, der über ein eigenes Portalnetzwerk verfügt.“

„Tja, dann hast du wohl keinen Nutzen mehr für mich“, knurrte ich.

„Warte! Ich versuche, ein Treffen zu arrangieren!“

„Schwöre es!“

Wieder zögerte Nelson. „Das kann ich nicht. Ich kenne Marek nur flüchtig, aber ich werde mein Bestes …“

Eine gedämpfte Explosion unterbrach uns. Irgendwo weiter hinten im Penthouse war etwas in die Luft geflogen. Die Macht von etlichen Primus fegte durch die Luft. Darunter befand sich eine Signatur, die mir sehr bekannt vorkam. Sonnenschein auf einem glitzernden Fluss.

Ohne Nelson loszulassen, drehte ich meinen Kopf und sah etwa zehn Gardisten der Liga in dunkler, aber moderner Kleidung. Sie wirkten wie eine militärische Spezialeinheit – wenn man mal von ihren Schulterpanzern und den leicht gebogenen Klingen absah. In ihrer Mitte stand ihr Kommandant. Elias.

Mein Blick blieb an seiner Gestalt hängen. Trotz der vielen Unterschiede erinnerte er mich schmerzhaft an seinen Bruder.

Lass mich gehen!, drängte sich Nelsons panische Stimme in meine Gedanken. Ich ignorierte ihn.

„Waffen runter!“, befahl Elias seinen Männern. Der Gardist zu seiner Rechten sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Kommandant?“

Elias‘ Macht wirbelte durch das Penthouse und räumte jeden Zweifel an seinem Befehl aus. „Muss ich mich wiederholen?“ Die Gardisten senkten ihre Klingen, verloren aber nichts an Wachsamkeit.

Wenn du Marek finden willst, brauchst du mich!, ertönte erneut Nelsons Stimme in meinem Kopf. Lass mich gehen. Der Abtrünnige hatte große Angst vor der Garde und noch größere Angst vor einer Haft in den Stillen Wassern. Zu Recht.

Nur wenn du schwörst, dass du nie wieder einem Menschen Leid zufügst!, forderte ich lautlos.

Ich schwöre es!, beeilte sich Nelson zu bekräftigen. Er hätte mir alles geschworen, solange er damit den Fängen der Garde entkommen konnte.

Mit einem Ruck zog ich meinen Aziam aus seiner Brust. In die Reihen der Gardisten kam Bewegung, aber sie waren zu langsam. Nelson verließ seine Hülle und floh, ehe ihn jemand daran hätte hindern können. Sein Körper fiel leblos zu Boden.

Die Gardisten sahen ihren Kommandanten unentschlossen an, während dieser seine Augen tadelnd zusammenkniff.

„Weißt du, wen du da gerade hast laufen lassen?“

Wut kochte in mir hoch. Sie war das einzige Gefühl, das ich zulassen konnte, ohne mich zu verlieren.

Ich ging auf Elias zu und schlug ihm meine Faust ins Gesicht. Sein Kopf flog zur Seite. Die Gardisten hoben ihre Waffen, aber Elias stoppte sie mit einer Handbewegung.

„Wo warst du?“, schrie ich ihn an. Acht Monate. Acht verdammte Monate hatte ich versucht, ihn zu erreichen.

Elias wischte sich klebriges dunkles Blut von der Lippe. Sein Blick wurde hart, aber er verlor nicht die Beherrschung. Das brachte mich nur noch mehr zur Weißglut. Was ist los mit dir?, fragte er in Gedanken.

„Ich hab dich mehrfach gerufen, aber du hast es nicht für nötig gehalten, zu erscheinen“, zischte ich ihn an. Er wollte die Angelegenheit nicht vor seinen Männern klären? Er konnte mich mal!

„Ich bin Kommandant der Garde. Ich habe Wichtigeres zu tun, als jedes Mal zu springen, wenn du rufst“, gab er ebenso scharf zurück.

Ich traute meinen Ohren nicht. Und ich wusste auch nicht, was ich hätte sagen sollen. Trotzdem wollte meine Verzweiflung raus. Also schlug ich noch mal zu.

Elias fing meine Faust mit zornig blitzenden Augen ab.

„Raus hier!“, befahl er seiner Garde. Die Männer schienen nicht sehr glücklich mit dieser Anweisung zu sein, aber sie trauten sich nicht, ihren Kommandanten weiter zu reizen. Nicht in seiner momentanen Stimmung.

Schön, jetzt waren wir schon zwei mit mieser Laune.

Langsam zogen sich die Gardisten zurück. Sie nahmen Barbie mit. Ich wusste, dass sie bei ihnen in guten Händen war. Man würde ihr Gedächtnis löschen und sie nach Hause bringen. Ich hatte sie gerettet. Wahrscheinlich sollte ich mich jetzt heldenhaft fühlen. Tat ich aber nicht. Ich fühlte gar nichts - außer meiner Wut.

Als wir allein waren, ließ Elias meine Hand los.

„Was ist in dich gefahren, Ari? Du legst dich mit Abtrünnigen an? Allein? Sei froh, dass heute nur Nelson im Hotel war. Er ist ein Jammerlappen mit ekelhaften Neigungen. Andere sind nicht so leicht zu übertölpeln.“

Ich wollte gerade klarstellen, wie ungern ich unterschätzt werde, und dass ich auf seine geheuchelte Fürsorge verzichten konnte. Da fiel mir auf, was er gerade gesagt hatte.

„Du wusstest, was die hier treiben?!“

„Lenk nicht ab!“, forderte er streng. „Ich will wissen, warum du hier einsame Rächerin spielst. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Lucian weiß, was du hier treibst. Also: Was hat mein kleiner Bruder wieder angestellt? Habt ihr euch gestritten?“

Einatmen. Ausatmen.

Zwei ganz unverfängliche Fragen. Eigentlich.

Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals.

„Du weißt es nicht?“

Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, während ich Elias einfach nur anstarrte. In meinen Augen sammelten sich Tränen, aber keine von ihnen floss. Nicht mehr. Seit Weihnachten hatte ich es mir nicht mehr erlaubt.

„Was weiß ich nicht?“ Elias wirkte alarmiert. Ich wich vor ihm zurück.

Warum musste ich diejenige sein, die es ihm sagte?

Mir wurde schwindlig. Ich stützte mich am Sofa ab.

„Ari, was ist los?“

Ich konnte es nicht. Ich konnte es nicht in Worte fassen. Also zog ich meine Jacke aus und drehte Elias meinen Rücken zu. Das Tanktop verdeckte zwar den größten Teil meines Rückens, aber Elias‘ Schweigen bewies, dass er genug sehen konnte.

„Ich breche nie mein Wort“, sagte Lucian heiser.

„Niemals!“

Er ließ mich in seinen Augen ertrinken.

„Ich liebe dich, Kleines. Für immer.

Das verspreche ich dir.“

Stille kroch durch das Penthouse wie unerbittlicher Frost. Sie war der eigentliche Feind, denn durch die Stille fehlte er mir noch mehr.

„Seit wann?“, krächzte Elias.

„Kurz nachdem du gegangen bist.“ Ich konnte ihn nicht ansehen. Ich konnte nur mit aller Kraft versuchen, die Erinnerungen zurückzudrängen.

„Wie?“

„Ich weiß es nicht. Er ist verschwunden, um es zu verstecken. Und dann …“ Meine Stimme brach weg.

„Ich beeile mich“, versprach er. „Aber versuch bitte, dich von allen Schwierigkeiten fernzuhalten, bis ich zurück bin.“ Er strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und genoss die Wirkung, die seine Fingerspitzen auf mich hatten. „Du scheinst Katastrophen magisch anzuziehen.“

Ja, ich schien Katastrophen anzuziehen.

Elias‘ Hand berührte mich an der Schulter. Er drehte mich sanft zu sich um. In seinen Augen lagen Schmerz, Mitleid und Schuldgefühle. Er zog mich in seine Arme.

„Ari, ich …“

„Nicht!“ Ich stieß ihn von mir und ging auf Abstand. Seine Nähe war zu viel. Ich durfte nicht loslassen, sonst würde ich ertrinken. Meine Mauern würden brechen und ich würde nie wieder Luft bekommen.

Elias rührte sich nicht. Er verstand.

„Geh nach Hause, Ari“, hörte ich ihn sagen. „Ich schwöre dir, dass ich herausfinde, was passiert ist.“

Und dann war Elias weg und die Stille kehrte zurück.

Mein ewiger Gegner.

Die einzige Möglichkeit, die mir blieb, war, vor ihr wegzurennen. Ich musste immer in Bewegung bleiben, sonst würde mich der Schmerz verschlucken.

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Ich hatte mein Motorrad in einer Seitengasse ein paar Blocks von Gomorrha entfernt geparkt. Als ich dort ankam, stand eine zweite Maschine daneben, die ich überall erkannt hätte. Seufzend machte ich mich auf eine Standpauke gefasst.

„Training, hm?“, fragte Ryan scharf. Er saß auf einem kleinen Vordach und starrte in den Sternenhimmel.

Ähm, ja. Das war - neben Unterricht – die einzige Ausrede, mit der mich meine Mum und Victorius aus dem Haus ließen, ohne gleich Alarm zu schlagen.

„War nicht mal gelogen – nur ein bisschen praxisbezogener als sonst.“

„Aha.“ Ryan schwang sich vom Dach. Trotz seiner Körpergröße kam er geschmeidig und fast lautlos auf dem Bürgersteig auf. Das hatte der Jäger seinen zahllosen Siegeln zu verdanken, durch die er es locker mit einem durchschnittlichen Primus aufnehmen konnte. „Und wie viele deiner ‚Sparringspartner‘ mussten heute bei deinem Training ihr Leben lassen?“

Ryans dunkle Augen funkelten streng. Der tätowierte Hüne wirkte durchaus bedrohlich, wenn er sich so vor einem aufbaute. Aber ich wusste, dass er mir nicht böse war. Andernfalls würde er nämlich gar nicht mehr mit mir reden und hätte mich direkt an Gideon verpfiffen.

„Wie viele, Morrison?“

„Fünf“, gestand ich kleinlaut.

Ryan gab ein Geräusch von sich, das wie eine Mischung aus Knurren und Seufzen klang. Gleichzeitig sah er aus, als würde er mich am liebsten erwürgen, oder die Mülltonnen umtreten, oder gegen die Wand schlagen, oder direkt losstürmen und sich mit den nächsten fünf Primus prügeln, nur damit ich es nicht tat.

„Wie lang machst du diesen Schwachsinn schon?“, fuhr er mich an.

„Eine Weile.“ Seit Silvester, um genau zu sein. Anfangs fast jede Nacht, doch das hätte auf Dauer zu viel Verdacht auf sich gezogen. Sowohl im Lyceum als auch bei den Abtrünnigen, auf die ich Jagd machte. Also beschränkte ich mich inzwischen auf zweimal die Woche. „Keine Sorge, Ryan, ich hab alles unter Kontrolle.“

„Ja, genau“, schnaubte er. „Die Art von Kontrolle kenn ich. Hör mal, Morrison. Mir ist es genauso gegangen, als ich meine Eltern verloren habe. Ich war blind vor Rachsucht und hab echt einen Haufen Mist gebaut.“

„Und?“, hielt ich leise dagegen. „Hast du in diesem Zustand auf die Ratschläge von anderen gehört?“

Ryan zog eine Schnute, als hätte ich ihn unfair ins Aus katapultiert.

„Touché, Morrison“, grummelte er. „Nein, ich hab natürlich nicht auf die Ratschläge von anderen gehört. Aber Gott sei Dank hatte ich einen hartnäckigen besten Freund, der mir auf meinem Vergeltungstrip den Kopf gewaschen, den Hintern gerettet und die Augen geöffnet hat. Mehrfach.“

Ryan hatte nie viel darüber erzählt, wie er Gideon kennengelernt hatte. Aber ich wusste, dass Gideons Vater, der Großmeister, Ryan die Ausbildung am Lyceum ermöglicht hatte. Wie mir auch. Ohne ihn wäre er nie der gefürchtete Jäger geworden, der er war. Und eben dieser gefürchtete Jäger stand jetzt vor mir und knetete unbeholfen seine Pranken.

„Mir ist klar, dass ich dir nicht dieser Freund sein kann. Du hast ja Lizzy und ich … ich hab nicht viel zu bieten, Morrison. Ich bin nicht gut für tiefsinnige Gespräche oder für endlose Lebensweisheiten. Und wenn mir jemand was von seinen Gefühlen erzählt, möchte ich mich am liebsten selbst ausknocken. Aber was ich wirklich gut kann, ist kämpfen. Und wenn du mich lässt, halte ich dir in jeder noch so hirnrissigen Schlacht den Rücken frei.“ Er hielt kurz inne, als müsste er seine eigenen Worte noch einmal überdenken. Dann zuckte er mit den Schultern. „Ich werd vorher sehr wahrscheinlich herummeckern und fluchen, aber ich halt dir den Rücken frei.“

Mir wurde warm ums Herz. Ich spürte Tränen aufsteigen. Und dann kam die Angst. Nein, es war eher blanke Panik vor dem, was jedes noch so kleine Gefühl lostreten konnte. Ich trat einen Schritt zurück und wickelte mich enger in meine Jacke. „Danke“, flüsterte ich. Mir war bewusst, wie schroff das Ryan gegenüber war. Er hätte so viel mehr verdient als ein kühles ‚Danke‘. Aber ich konnte ihm nicht mehr geben. Ich konnte einfach nicht. „Trotzdem muss ich weggehen. Die Phalanx hatte schon genug Schwierigkeiten wegen mir.“

„Ist mir schon klar, Morrison“, seufzte Ryan und strich sich über den struppigen Irokesen. „Ich versteh dich. Besser als du denkst. Und es ist okay. Aber denk dran, ich hab noch ziemlich viel Urlaub übrig und bin nur ‘nen Anruf entfernt.“

Denk dran, Kleines, hörte ich sein Flüstern in meinem Kopf. Ich bin immer nur einen Gedanken entfernt.

Ich verdrängte die Erinnerung und diese eine Stimme, die mir jedes Mal von Neuem die Kehle zuschnürte.

„Wie hast du mich überhaupt gefunden?“, krächzte ich, um das Thema zu wechseln. Ich hatte mir wirklich Mühe gegeben, meine Spuren zu verwischen. Die ortbare Armbanduhr lag zu Hause in meinem Zimmer. Und aus meinem Handy hatte ich extra den Akku entfernt.

Ryan grinste ohne jede Reue. „Ich hab deinem hübschen Bike hier einen Peilsender verpasst“, meinte er und trat fast schon liebevoll gegen den Hinterreifen meiner Maschine. „Die Welt ist klein, weißt du. Der Typ, von dem ich die Ersatzteile für mein Motorrad bekomme, hat mir von einer bissigen Braut mit goldenen Augen erzählt, die seine alte Ducati gekauft hat. Danach hab ich eins und eins zusammengezählt.“

„Du hast mich beschattet“, warf ich ihm vor.

„Nur, bis ich dein Versteck im Wald gefunden habe.“

Tja, ich konnte ja das Motorrad schlecht im Lyceum parken. Schließlich wollte ich gerade dort meine nächtlichen Ausflüge geheim halten. Also ging ich offiziell trainieren und schlich mich zweimal die Woche heimlich durch die Schutzvorkehrungen. Viel Aufwand dafür, dass ein aufmerksamer Mechaniker sich an meine Augen erinnern konnte.

„Ich muss mir in Zukunft wohl ‘ne Sonnenbrille anziehen, um nicht aufzufallen“, maulte ich resigniert. Ryan lachte und warf mir meinen Helm zu, der unter einem Siegel verborgen am Lenker gehangen hatte.

„Ehrlich gesagt, hat er dir nicht oft in die Augen geschaut. Ich hab das aus männlicher Solidarität ein bisschen beschönigt.“ Er schwang sich auf seine Maschine und ließ den Motor an.

„Großartig“, grummelte ich und tat es ihm gleich. „Hast du ihm aus Solidarität zu mir auch in den Arsch getreten?“

Jetzt mischte sich Ryans lautes Lachen unter die Motorengeräusche.

„Ach, Morrison. Ein Gentleman schweigt und genießt.“

Kapitel 2

Allen Gefallen

Der schwarze Talar war in der prallen Sonne wie ein Backofen. Wie gerne hätte ich mich in den Schatten der Bäume verzogen, aber die Absolventen mussten nun einmal der Tradition folgen und in den ersten Reihen vor dem Podium Platz nehmen.

„… acht Jahre haben die meisten von uns das Torquasso Lyceum besucht. Manche kürzer – manche auch unfreiwillig länger …“ Das Publikum lachte herzlich. Nach über einer Stunde voller hochoffizieller und langweiliger Ansprachen glich das fast schon einem Wunder. Aber Lizzy hatte das Unmögliche vollbracht und mit ihrer Abschlussrede das Wohlwollen des ungeduldig schwitzenden Publikums zurückerobert. Ich wusste, dass ich es ihr nicht so zeigen konnte, wie sie es verdiente, aber ich war unglaublich stolz auf meine beste Freundin. Und dankbar für alles, was sie für mich getan hatte.

„Wenn du nicht willst, werden wir nicht darüber reden. Aber glaub ja nicht, dass ich dich allein lasse.“ Mit diesen Worten eroberte sie pünktlich zum ersten Advent mein Zimmer und wies Gideon und Toby an, ihre Koffer-Flotte hineinzuschleppen.

„Keine Sorge, ich lass dir deinen Freiraum! Und es ist ja auch nur bis Weihnachten.“

Ein seltenes Lächeln huschte mir übers Gesicht. Natürlich wohnte Lizzy bis heute bei mir. Sie hatte sich inzwischen von ihrem Bruder zwei Kleiderschränke und eine Besuchercouch aufstellen lassen. Damit war mein Zimmer voll. Aber voll war besser als leer.

„Wir alle mussten uns immer wieder anhören, dass wir nicht für die Schule lernen, sondern fürs Leben. Entgegen manch pädagogischer Meinung unterstelle ich uns Absolventen tatsächlich so viel Intelligenz, den Sinn dieser Worte zu verstehen. Ob wir sie aber wirklich begreifen, ob wir dem zustimmen, ob wir vielleicht sogar unseren Kindern einmal dasselbe um die Ohren hauen … das können wir jetzt noch nicht wissen. Denn für uns endet heute die Schulzeit, und dieses viel zitierte ‚Leben‘ beginnt.“

Applaus brandete auf. Ich klatschte wie von selbst mit, während ich über die erschreckende Vorstellung nachdachte, dass unser Leben jetzt erst anfangen sollte. Für mich fühlte es sich schon eine geraume Zeit nach einem Ende an. „Wir haben gelitten, gelacht, gelernt – zumindest die meisten von uns – und wir haben es geschafft! Voller Stolz darf ich heute verkünden, dass unser Jahrgang der erste seit vielen Jahren ist, in dem alle bestanden haben.“

Zufall war das nicht. Ich vermutete eher, dass Mr Rossi und der Direktor des Lyceums ein wenig an den Ansprüchen herumgeschraubt haben, um auch die schwächsten Schüler durchzuboxen. Schüler, die beispielsweise entführt, misshandelt, erpresst, gefoltert und beinahe umgebracht worden waren. Schüler, deren Leben an ihren unsterblichen, psychopathischen Vater gebunden gewesen waren, die plötzlich übernatürliche Kräfte entwickelten oder jemanden sehr Wichtigen verloren hatten.

Es war nicht so, dass ich nicht für die Abschlussprüfungen gelernt hätte. Im Gegenteil, mein Leben hatte sich seit Silvester wie in einem Hamsterrad immer wieder um die gleichen Sachen gedreht: Unterricht, Lernen, Recherche, Training, Jagd. Aber durch meine vielen Fehlstunden und verpassten Leistungsnachweise vom letzten Jahr, hätte ich eigentlich gar nicht zu den Abschlussprüfungen zugelassen werden dürfen. Trotzdem war ich jetzt hier.

„Wir stehen am Anfang und - wenn wir ehrlich mit uns sind – starten mit dem Anspruch, es besser zu machen als andere, ob das nun Politik, Wissenschaft, Sport, Kunst oder die nächste Party betrifft – nicht wahr, Olli?“

Lizzy zeigte auf den Feten-König unserer Stufe und wieder lachten alle Anwesenden. Meine Freundin hatte ihr Publikum fest im Griff. Und dann trafen mich ihre großen Rehaugen.

„Aber: Wir werden Fehler machen. Wir werden Rückschläge erleiden. Und doch werden wir uns davon nicht unterkriegen lassen, denn wenn ich eines in den letzten Jahren gelernt habe, dann, dass wir das Zeug dazu haben, alle Hindernisse zu überstehen, die das Schicksal uns in den Weg legt!“

Ich schrie aus tiefster Seele. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Ich wusste nicht mehr, wie lange ich gegen die Türen der Krypta gehämmert hatte. Ich wusste auch nicht, wie lange ich davor gesessen und geweint hatte.

Aber es war niemand da, den ich verantwortlich machen konnte. Der Hohe Rat ließ mich nicht mehr nach Patria.

Elias antwortete nicht auf meinen Ruf.

Ramadon war verschwunden.

Und Lucian …

Lizzy war großartig, aber sie hatte unrecht. Das hier würde ich nicht überstehen.

„Unsere Lebensläufe warten fieberhaft darauf, mit großen Taten gefüllt zu werden. Und was hat uns Mr Bernard fast wöchentlich in Geschichte gepredigt? Hinter jeder bedeutenden Tat ist eine Emotion die treibende Kraft. Ohne Herz kein Wille, und ohne Wille kein Weg. Im Guten wie im Schlechten. Angst kann die Welt genauso erschüttern wie Leidenschaft und Hingabe. Wir entscheiden, ob wir vor etwas weg- oder auf etwas zulaufen.“

Weise Worte. Mir war klar, dass Lizzy versuchte, mich damit zu beeinflussen. Aber mein Entschluss stand fest. Ich würde weglaufen. So schnell und so weit es ging. Streng genommen tat ich das doch ohnehin schon.

„Darum, liebe Absolventen, habe ich hier und heute einen Appell an euch: Lasst uns den Mut haben, unseren Herzen zu folgen. Den Mut, unseren Ängsten entgegenzutreten. Den Mut, etwas zu finden, wofür wir leidenschaftlich brennen. Den Mut, unsere Träume zu erfüllen. Und dann: Lasst uns mit unserem Mut die Welt verändern!“

Tosender Jubel. Standing Ovations. Lizzy wurde gefeiert wie ein Star. Mit majestätisch wippenden roten Locken schritt sie die Treppe vom Podium herunter. Dasselbe Podium, auf dem mein Vater einst hätte hingerichtet werden sollen.

Ohnmächtig musste ich zusehen, wie Thanatos durch das Prisma-Portal in die Freiheit schritt. Tristan folgte ihm. Und auch Lucian wandte sich dem schimmernden Nebel zu. Doch bevor sich seine Gestalt gänzlich aufgelöst hatte, suchte er noch einmal meinen Blick. Das Schwarz wich aus seinen Augen und hinterließ ein Grün, das all seinen Glanz verloren hatte.

Es tut mir so leid, Kleines.

Die Namen der Absolventen wurden nun in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen, um die Abschlusszeugnisse zu verleihen. Jimmy war vor mir dran. Er war dank seines eidetischen Gedächtnisses Jahrgangsbester. Sieben Mitschüler später stakste ich über den roten Teppich auf die Bühne. Alles lief ab wie in einem Film. Der Direktor schüttelte mir die Hand. Mr Rossi überreichte mir meine Urkunde. Ich hörte das Publikum applaudieren. Meine Mum und Victorius kreischten wie Fangirls. Sie hatten ihre Garderobe aufeinander abgestimmt und sahen aus, als wären sie zu einer royalen Hochzeit eingeladen. Aber auch Gideon, Ryan, Aaron und Toby hatten sich in Schale geworfen. Es folgten Fototermine und Gratulationsorgien. Jeder umarmte jeden. Nur bei mir bremsten sich alle, als hätte eine unsichtbare Schranke sie gestoppt. Sie wussten, wie ich momentan auf körperliche Nähe reagierte. Und sie respektierten es. Auch wenn sie ziemlich hilflos dabei aussahen, Worte für etwas zu finden, das eine Umarmung schneller und besser ausdrücken konnte. Ich schluckte mein schlechtes Gewissen herunter und schenkte allen ein herzliches Lächeln, um es ihnen leichter zu machen. Trotzdem fühlte ich mich wie ein Alien.

Meine Mutter traf es am härtesten. Sie versuchte zwar, sich nichts anmerken zu lassen, doch man sah deutlich, wie sehr sie litt.

Ein Grund mehr fortzugehen.

Auch wenn ich noch keine Ahnung hatte, wohin es mich verschlagen würde, war Abstand letztlich für alle Beteiligten die beste Lösung.

Ein Streichquartett begann zu spielen. Es gab Sekt und Häppchen. Es war ein schöner letzter Tag am Lyceum.

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Behutsam band ich die Gänseblümchen zusammen. Ich hatte sie einer Eingebung folgend gepflückt und legte sie nun neben die gefaltete Botschaft auf die Küchentheke der Zuflucht. Ich wusste, dass Timeon nichts für die Nutzung seiner Quartiere verlangte. Trotzdem empfand ich ein paar Dankesworte als angemessen.

Anfangs hatte mich die Hoffnung hergetrieben, in Lucians Sachen irgendwelche Hinweise zu finden. Sie waren aber genauso verschwunden wie er. Danach war ich hergekommen, weil die Phalanx mir‚ zu meinem eigenen Schutz, den Zugang zum Portalturm untersagt hatte. Seitdem diente mir die Zuflucht als eine Art Operationsbasis, von wo aus ich die Suche nach Lucians Mördern planen konnte – ohne dass meine Mum mich gleich an den Großmeister verpetzte.

Aber ich machte mir nichts vor: Ich tappte im Dunkeln. Der Kreis meiner Verdächtigen bewegte sich irgendwo zwischen unwahrscheinlich und unerreichbar. Dank Nelson konnte ich die Abtrünnigen wohl ausschließen. Die Hexen waren seit Thanatos‘ Tod abgetaucht. Sie hätten definitiv einen Grund gehabt, sich an Lucian rächen zu wollen. Aber ohne schwarze Aziam wären sie das Risiko nie eingegangen – es sei denn, sie wussten, dass er sein Herz bei sich trug. Davon wussten nur fünf Personen.

Mich, Lucian, Elias und Victorius schloss ich aus, und damit waren wir auch schon bei der einen Person angelangt, bei der die Fäden immer wieder zusammenliefen.

Nemides.

„Er lügt!“, schrie ich verzweifelt.

Mr Rossi rieb sich müde über sein Gesicht. „Ari, ich kann das Oberhaupt der Liga nicht der Lüge bezichtigen ohne einen triftigen Beweis“, sagte er. „Wenn Nemides sagt, Lucian wäre am Leben und mit einem wichtigen Auftrag betraut, muss ich ihm das glauben.“

„Aber das Zeichen …“

„Ich weiß!“, unterbrach er mich. „Ari, wenn ich das anführe, wird dich die Liga als verlassenes Mädchen hinstellen, das unter Liebeskummer leidet und die Wahrheit nicht sehen will.“

An Nemides ranzukommen, war ein schier unmögliches Unterfangen. Ähnlich war es bei Omega Inc. und Tristan. Die Firma und sein neuer Geschäftsführer waren wie Geister. Kein Wunder, dass Lucian über zwanzig Jahre gebraucht hatte, eine verwertbare Spur zu finden.

Wütend riss ich die Fotos und Hinweise ab, mit denen ich die Wohnzimmerwand der Zuflucht tapeziert hatte. Lizzy und die anderen würden gleich kommen, um sich zu verabschieden. Sie brauchten nicht noch mehr Beweise für meine drohende Verrücktheit. Gerade rechtzeitig hatte ich alle Unterlagen in meinen Rucksack gestopft, als die Meute einfiel.

„Hätt‘ nicht gedacht, dass du tatsächlich noch da bist“, lachte Aaron und drückte Ryan einen Zwanziger in die Hand. Offenbar hatte er eine Wette verloren. Ich zuckte mit den Schultern.

„Hab mit dem Gedanken gespielt. Aber wenn ich einfach abhaue, ohne Tschüss zu sagen, würdet ihr mich ja doch mit irgendeinem versteckten Peilsender aufspüren.“ Ich warf Ryan einen vielsagenden Blick zu, den er mit einem Zwinkern erwiderte.

„Ganz richtig, Morrison.“

Ein spitzer Schrei erfüllte die Zuflucht. Victorius hatte die Hände an seine Wangen gelegt und starrte ungläubig mein Gepäck an.

„Ist das alles, mein spartanisches Schnurzelchen? Bist du sicher, dass dir das hier reicht? Du machst ja nicht bloß einen Wochenendtrip …“

seine