CONSTANZE JOHN

VIERZIG TAGE ARMENIEN

IN EINEM ALTEN LAND IM KAUKASUS

Eine Reise in eines der ältesten christlichen Länder der Welt, das Land der Steine, an der Grenze zwischen Orient und Okzident, zwischen Christentum und Islam, zwischen Europa und Asien.

Die preisgekrönte Autorin gibt Einblicke in das heutige Armenien – hundert Jahre nach dem Völkermord.

Trampend von Kloster zu Kloster oder mit Bus, Marschrutka und Taxi zu archäologischen Grabungsstätten, zyklopischen Festungsanlagen und ins vulkanisch geprägte Hochland – Tir, der »Schreiber des Schicksals«, bestimmt Wege und Begegnungen.

1. Auflage 2015

2. Auflage 2018

© 2015 DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung: Herburg Weiland, München

Titelfoto: Claudiad/iStock

Autorenfoto: Constanze John

Karte: Gerald Konopik, DuMont Reisekartografie

Kartenskizzen im Buch: Constanze John

eISBN 978-3-6164-9160-8

www.dumontreise.de

Für Anusch Babajan

INHALT

Prolog

Ari! Ari! – Komm!

Tag 0     Überleben

Tag 1      Halten

Tag 2      Segnen

Es schwankte insgesamt!

Tag 3      Beben

Tag 4     Bezahlen

Tag 5      Zeitreisen

Tag 6     Geben

Tag 7      Lieben

Tag 8      Erfüllen

Tag 9      Verletzen

Tag 10    Gefallen

Tag 11     Weinen

Karabala ist das alte Jerewan

Tag 12     Kaufen

Tag 13     Glauben

Tag 14     Hoffen

Tag 15     Entscheiden

Tag 16     Erzählen

Das ist alles Schöpfung und Gabe der Schöpfung

Tag 17     Beten

Tag 18     Begrüßen

Tag 19     Leuchten

Tag 20     Lehren

Armenien war ein einziges Waisenhaus

Tag 21     Schließen

Tag 22     Erinnern

Tag 23     Malen

Tag 24    Finden

Manchmal kannst du nicht helfen

Tag 25     Trampen

Tag 26    Werden

Tag 27     Frieren

Tag 28    Warten

Wir bauen uns etwas auf

Tag 29     Bitten

Tag 30     Singen

Tag 31     Bleiben

Tag 32     Sammeln

Tag 33     Explodieren

Tag 34     Sterben

Tag 35     Verstehen

Mama!

Tag 36     Stricken

Tag 37     Leben

Keiner fällt ins Nichts

Tag 38     Schauen

Tag 39     Auferstehen

Tag 40    Spielen

Karte

Zitat- und Quellennachweis

Dank

Über die Autorin

Weitere E-Books der Reihe

Vorbemerkung zu den Schreibweisen des Armenischen

Das armenische Alphabet ist ein Unikat. Im vorliegenden Buch basiert die Schreibung armenischer Eigennamen, Begriffe und Wortwendungen auf der deutschen Transkriptionstradition. Praktisch bedeutet das die phonetische Übertragung des Armenischen ins Deutsche. Das betrifft auch die Namen sämtlicher Personen.

Im Detail folgte ich der fachlichen Beratung von Frau Prof. Dr. Armenuhi Drost-Abgarjan, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, der ich für diese Unterstützung sehr danke.

In der Danksagung am Schlussteil dieses Buches erscheinen die armenischen Vor- und Familiennamen überwiegend in englischer Schreibweise. Das entspricht der international üblichen Schreibweise in Pässen sowie Dokumenten.

CONSTANZE JOHN, 31. MAI 2015

»In der Tat kann der Verstand des heutigen Menschen, gleichviel, welches sein intellektuelles Niveau sein mag, die Welt nur aufgrund von Daten erkennen, die, wenn sie zufällig oder absichtlich aktiviert werden, in ihm alle möglichen phantastischen Impulse auslösen.«

G. GURDJIEW

Prolog

Inzwischen ist es dunkel. Die sommerliche Wärme hält an und noch scheint die halbe Stadt auf den Beinen zu sein. Gehst du zügig am Wardan-Mamikonjan-Denkmal vorbei, die Unterführung hinab und auf der anderen Seite der dicht befahrenen Hauptstraße wieder hinauf, kommst du, noch vor dem Kunsthandwerkermarkt Vernissage, direkt zu diesem kleinen Imbiss, an dem es den vielleicht besten Kebab von ganz Jerewan gibt. Hier steht ein Büdchen, das Küche und Kasse zugleich ist, und dort stehen auch die Tische für die Gäste.

Es sind vier Tische, die allesamt besetzt sind. An jedem der Tische sitzt jeweils ein einzelner Herr, und vor jedem dieser einzeln sitzenden Herren steht auf dem Tisch eine Flasche Bier.

Ich halte kurz inne, überlege, spüre aber auch schon den Geschmack des gehackten, angebratenen Lammfleisches auf der Zunge, den Geschmack von Zwiebeln, Knoblauch und Kräutern, und stelle mir das alles fest eingerollt von einer Lage Fladenbrot, dem lawasch, vor. Die Sache ist entschieden.

Der Vorzug des erstbesten Herrn besteht allein darin, dass ich ihm am nächsten stehe. Also frage ich den großen, etwas fülligen, trotz seines Alters noch immer energiegeladenen Mann auf Russisch, ob bei ihm ein Platz frei sei. Natürlich lächle ich nicht und bin kurz angebunden, so wie ich es inzwischen gelernt habe. Der Abstand zwischen Mann und Frau ist hier, an der Grenze von Okzident zu Orient, anders als in Mitteleuropa zu halten. Mir geht es um den Kebab. Das hat klar zu sein. Der Erstbeste nickt.

Die Kellnerin, eine kleine weiße Schürze umgebunden, kommt zu uns an den Tisch. Wie mein Tischnachbar bestelle auch ich ein Kilikia-Bier und natürlich den Kebab.

»Der Kebab dauert«, sagt die Frau, als sie das Bier bringt. Ein Mann lehnt in der offenen Tür zum Büdchen und schaut ihr bei der Arbeit zu.

Nun sitze ich mit dem Erstbesten am Tisch, schweige, schaue hinüber zum Büdchen, wo der Kebab zubereitet wird, und trinke vom kühlen Bier.

»Woher kommen Sie?«, beginnt der Erstbeste und lässt dabei seine Flasche Kilikia nicht aus dem Blick. »Niederlande? Schweiz?«

»Deutschland.«

»Sie arbeiten hier?«

»Ich schreibe über Armenien.«

»Warum schreiben Sie über Armenien?«

»Weil ich jetzt hier bin«, sage ich, nach wie vor kurz angebunden, und bemerke dabei hinter dem Imbiss die Staffeleien der Maler, die selbst so spät noch auf der Vernissage ihre Bilder zum Verkauf anbieten. Ich frage ihn, ob auch er ein Maler sei.

»Ich komme vom Bau«, sagt er und fügt gleich noch mit hinzu: »Aber ich bin auch Künstler.« Danach folgt eine kleine Pause. »Und außerdem bin ich Wissenschaftler!« Auf meinen fragenden Blick hin schränkt er etwas ein: »Also, kein richtiger Wissenschaftler.«

Der Kebab lässt auf sich warten, der Imbiss ist, ausgenommen das Büdchen, nicht extra beleuchtet und die dunkle Stimmung trotz des Großstadtlärms angenehm. Das Licht der hohen Straßenleuchten strahlt bis zu uns herüber. Leute eilen vorbei. Einige der jüngeren Männer tragen Mappen unter dem Arm. Oder sie tragen, genau wie die Frauen, prall gefüllte Beutel und Taschen. Es ist die Zeit, um nach Hause zu kommen. Dazwischen laufen die Kinder.

Das Bier trinke ich in kleinen Schlucken und denke dabei: Irgendetwas hat dieser Mensch. Etwas ist mit ihm.

Auf der Straße wird gehupt. Ich wundere mich, dass da immer noch Bewegung möglich ist. Die Wagen stehen dicht. Genauso rätselhaft bleibt mir, wie es Busfahrern unter diesen Umständen immer noch gelingen kann, mit Bus oder marschrutka die Haltestelle anzufahren. Die breite Hauptstraße ist Teil des Stadtrings. Parallel dazu zieht sich der Park, der von hier aus gesehen aber schon im Dunkel liegt.

»Sie beschäftigen sich also mit Philosophie«, führe ich das Gespräch, nach einer angemessenen Pause, intuitiv weiter.

»Nein, nicht wirklich. Ich mache Experimente.« Der Erstbeste bleibt ernst, wirkt ganz bei sich, oder auch beim Kilikia, baut jedenfalls unauffällig, wenn überhaupt, seine eigene Brücke in unserem Gespräch. Obwohl er sonst vor jeder Äußerung zögert, als müsse er sich erst einmal befragen, fügt er diesmal überraschend schnell hinzu: »Ich mache Experimente mit Steinen.« Zum ersten Mal schaut er mich offen an.

»Sind das chemische Experimente, die Sie da machen?«, frage ich weiter und denke: Der im Armenischen legendäre Schreiber des Schicksals, Tir genannt, wird schon wissen, was er tut.

»Nein, ich fotografiere die Steine. Und ich drehe kleine Filme über sie.«

Nach wie vor fehlt mir der Zugang. Ich bekomme einfach keine Vorstellung von dem, was er da macht. Die langen Pausen zwischen Fragen und Antworten verleihen allem noch ein zusätzliches Gewicht. Der Kebab lässt auf sich warten.

»Geht es um die Energie der Steine?«, taste ich mich weiter vor. An dieser Stelle nun schaut der Erstbeste ein zweites Mal auf. Die drei anderen Herren an den drei anderen Tischen kriegen wir schon gar nicht mehr mit. »Diese Steine waren schon lange vor uns Menschen hier, auf der Erde. Dadurch sind in ihnen Informationen abgespeichert, die für uns heute wichtig sein können. Und genau das versuche ich zu untersuchen.«

Etwas flimmert vom Fußweg her, von einer roten Säule. Genauer besehen handelt es sich um einen Kaffeeautomaten in Gestalt einer Telefonzelle, mit eingebautem Außenbildschirm. Der schwarz-weiße Werbefilm lenkt mich von der Geschichte mit den Steinen ab. Vom Film wiederum lenkt mich die Kellnerin ab, die mir genau in diesem Augenblick den Teller mit dem Kebab bringt. Fleisch und Marinade sind kräftig gewürzt. Aber das Fladenbrot lawasch und nicht zuletzt das Bier löschen gut ab.

»Und nach welchen Kriterien treffen Sie die Auswahl der Steine?«, frage ich kauend.

»Ich schaue einfach«, erklärt der Erstbeste, sitzt da und demonstriert mir das Schauen. Entweder schaut er jetzt auf die Tischplatte, die Flasche oder auf beides zugleich. Dadurch entsteht die nächste Pause: »Ich sitze da, warte ab und – schaue. Und dann sehe ich schon, was wichtig ist. Ich habe ja auch gleich gesehen, dass Sie Ausländerin sind.«

»Gehen Sie davon aus, dass die Steine leben?«

»Alles, was Natur ist, lebt«, hebt er an, während ich mir mit der weißen Serviette die Hände abwische. Der Kebab ist genauso, wie ich ihn mir vorgestellt habe, samt dem würzigen Geschmack von Knoblauch und Zwiebel. »Sehen Sie dort diesen Baum? Sein Holz lebt. Vielleicht denkt ja das Holz, dass wiederum der Stein nicht lebt. Wissen Sie, in der Natur ist Stille. Und es herrscht Frieden. Dieser Tisch hier ist künstlich. Und er ist aggressiv. – Sagen Sie, wie ist das eigentlich mit den Deutschen? Wie geht das zu: Zuerst haben die Deutschen so geniale Menschen wie Johann Sebastian Bach, Goethe, Mozart, aber dann plötzlich diesen Hitler!«

Ich zucke die Schultern und, als hätte er darauf sowieso keine Antwort erwartet, ist er bereits beim nächsten Punkt: »Wenn Sie über Armenien schreiben, schreiben Sie aber bitte die Wahrheit!«

»Wie kann ich wissen, was die Wahrheit ist?«, gebe ich zu bedenken. »Ich kann immer nur schauen, so wie Sie; und dann schreibe ich es auf; zumindest das, was ich glaube gesehen zu haben. Wie aber kann ich wissen, ob das nun die Wahrheit ist? Wie lautet beispielsweise die Wahrheit über Ihr eigenes Leben? Wie läuft es? Was ist wichtig für Sie?«

Mir erscheinen diese Fragen groß und äußerst persönlich, aber schon sind sie heraus. Zurückholen kann ich sie nicht mehr. Gerade diesmal zögert der Erstbeste nicht: »Das Wichtigste ist, dass der Mensch nicht einsam ist. Ich habe eine große Familie. Ich glaube, in Deutschland sind die Menschen sehr einzeln. Und das kann ich nicht verstehen. Ich mag es, wie es hier bei uns ist; wie wir alle zusammen sind. Und dass wir einander fragen, wie es gerade geht, und dass wir uns unsere Geschichten erzählen.«

Das Bier in unseren Flaschen geht zur Neige. Mein Teller mit der Serviette ist längst abgeräumt. Nach einer Weile kommt die Kellnerin zurück: »Möchten Sie noch etwas?« »Nein, danke.«

»Wissen Sie«, meint der Erstbeste, als sich unsere Begegnung spürbar ihrem Ende nähert. Die Frage nach Mann oder Frau spielt jetzt keine Rolle mehr. »Mir ist unklar, welchen Weg ich in diesem Leben gehe. Aber … ich gehe ihn.« Und leise fügt er hinzu: »Das ist nicht immer leicht.«

»Ehrlich gesagt«, rutscht es mir heraus, aber ich stocke sofort: Was ich sagen will, kann vermessen klingen und überhaupt falsch aufgefasst werden, erst recht in Anbetracht der Armut, die trotz leuchtender Werbung oder dieser Massen an Autos nach wie vor in Armenien herrscht: »Ehrlich gesagt, glaube ich, dass es manchmal umso schwerer werden kann, je leichter es ist.«

Es ist, als hätte ich in seinem Innern eine Sperre gelöst: »Richtig! Genauso!«, stimmt er mir zu. »Zu Sowjetzeiten habe ich jede Menge Geld verdient. Geld war für mich kein Problem. Ich habe in einem Kombinat gearbeitet, in einem wirklich großen Betrieb. Ich sage Ihnen jetzt nicht, welches Kombinat das war. Aber immer mittags habe ich im Restaurant gegessen, gleich mehrere Gänge hintereinander, und natürlich habe ich auch getrunken; abends ebenso. Ich habe gearbeitet, war der große Chef, besaß das Geld, aber – ich habe nicht gelebt. Heute lebe ich. Und schon morgen kann ich tot sein. Wir wissen es nicht. Wann schlägt unsere Stunde? – Als ich jung war, habe ich ein Gedicht geschrieben. Es ist für mich nicht einfach, das jetzt passend für Sie auf Russisch auszudrücken. Das Gedicht geht so: ›Die Natur kommt, und sie wandelt sich. Ich weiß nicht, was ich hier soll.‹«

Er rezitiert in dieser verhaltenen Tonart, in der er vorhin über die Steine gesprochen hat. Kaum endet er, fügt er rasch, fast entschuldigend, hinzu: »Ich war wirklich sehr jung.«

Ich bitte ihn, mir dieses Gedicht noch einmal vorzutragen, diesmal auf Armenisch. Er zögert nicht. Auf Armenisch verstehe ich zwar kein Wort, aber es klingt anders, melodischer, ja warmherzig.

»Es mag Sie verwundern«, setzt der Erstbeste seine Rede fort, »aber ich bin ein Mensch, der überhaupt nicht gern schreibt. Auch zu meinen Experimenten schreibe ich nie etwas auf. Ich nummeriere sie nicht einmal. – Kennen Sie Stonehenge? In England? Waren Sie schon einmal dort?«

»Nein, aber ich fahre nach Karahuntsch.«

Er schaut mich an, als sei spätestens jetzt das, was eigentlich zu sagen war, zur Sprache gekommen. Denn Karahuntsch ist eine der geheimnisvollsten Steinkonstellationen in ganz Armenien, auch Armenisches Stonehenge genannt oder – Sprechende Steine.

Als wir uns mit Handschlag verabschieden, steht der Erstbeste auf: »Es war wirklich sehr interessant mit Ihnen. Und bitte: Schreiben Sie die Wahrheit über uns!«

»Ich weiß nur eines: Ich werde Sie jetzt keinesfalls nach Ihrem Namen fragen.«

»Genau! Denn wichtig ist das, was wir gesprochen haben. Sie wissen, dass wir schon mehrere Leben hatten und auch noch leben werden?«

»Ich kenne diese Idee.«

»Das ist nicht bloß eine Idee!«, sagt der Erstbeste und bleibt zurück. Ohne mich noch einmal nach ihm umzudrehen, tauche ich in der Unterführung ab und auf der anderen Seite der Hauptstraße wieder auf. Anschließend verschwinde ich im sommerlichen Dunkel, genau wie er.

ARI! ARI! KOMM!

Jerewan, Garni

Tag

0

Überleben

Der Welt Friede und Wohl Den Königen Versöhnung Dem Brot einen niedrigen Preis Meinen Söhnen viel Sonne Meiner Seele Fülle.

SONNENGEBET

Astwats heißt Gott auf Armenisch. Der Anfang gehört ihm. Denn als Gott die Regionen der Erde an die Völker verteilte, feierten die Armenier gerade. Sie sangen, tanzten, aßen, sagten einen Trinkspruch nach dem anderen auf und verpassten dadurch die Verteilung. Am Ende blieb für sie allein das Land der Steine übrig: »Was soll es«, trösteten sie sich, »auch die Steine sind beseelt.«

Der Tag Null umfasst für mich Jahre, und diese Jahre beginnen 2000. Zu der Zeit liegt Armenien wirtschaftlich am Boden. Außerdem, es ist bereits Mitte April, scheint in diesem Jahr der Winter nicht enden zu wollen. Es ist kalt. Langsam wird es Zeit für die Wiedergeburt.

Die Legende vom bunten Vogel, Hasaran Blbul, der so schön singt wie kein anderer und damit den Frühling ankündigt, kenne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Dabei gilt Hasaran Blbul als einer der märchenhaften Feuervögel. Anders als sie kann er selbst nicht leuchten. Doch wenn er singt, erblüht das ganze Land. Darüber hinaus vermag es dieser außergewöhnliche Vogel, sich selbst zu erneuern, indem er am Berg Ararat sein Nest baut und mit diesem Nest am Ende seines Lebens verbrennt. Genauso ist es gedacht. Denn erst aus der Asche, die bleibt, kann der Nachfahre steigen – mit ebenso farbigem Gefieder und mit einer ebensolchen Stimme.

Im April des Jahres 2000 reise ich zum ersten Mal nach Armenien, kenne bisher allein die Legende von der Sintflut, die Legende vom Land der Steine und die Wunderkindlegende des Komponisten Wahram Babajan. Wahram Babajan selbst habe ich bei uns in einem Dorf namens Kaditzsch getroffen, auf einem sächsischen Künstlerhof. Dort hat er mir von sich, vom Land der Steine und der Sintflut erzählt.

Christa Pfabe, eine ältere Freundin in Leipzig, Armenienkennerin seit Mitte der 1980er-Jahre, ist, gemeinsam mit Wahram und völlig getrennt von ihm, im übertragenen Sinne für mich erste Reiseführerin: Am Ende der Sowjetzeiten arbeitete sie als Deutschlehrerin in Jerewan. Sie hat mir nicht viel erzählt. Aber das, was sie mir erzählt hat, hilft mir weiter. Auf diese Art bekomme ich bestmögliche Orientierung und innere Sicherheit. Denn auf dem Buchmarkt werde ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht fündig.

Wahram ist Anfang fünfzig, kommt aus Jerewan und hat, als wir uns in Kaditzsch begegnen, soeben damit begonnen, seine 9. Sinfonie zu komponieren. Wir sprechen Russisch miteinander. Genau wie ich hat er Russisch in der Schule gelernt, er in Jerewan und ich in Leipzig. Er hat auch das Halstuch der Pioniere getragen und mit sieben Jahren – Wunderkind, das er war – exzellente Klavierstücke komponiert. Das »Kinderalbum« von damals ist bis heute das vielleicht »armenischste« all seiner Kompositionen: melodisch, poetisch, kraftvoll und traurig. Am Ende der Stipendiatenzeit in Kaditzsch lädt mich der Komponist für das nächste Jahr nach Jerewan ein, als Gast seiner Familie. So lerne ich dann auch seine Mutter kennen.

Mutter Anusch wird meine ganz persönliche Mutter Armenien – lebensklug, herzlich, eigen, gläubig, lebendig und stark. Anders als die bekannte Mutter Armenien, die mit dem Schwert in der Hand wachsam von oben her auf die Stadt schaut, ob nun auf Jerewan oder auf Gjumri, wurde Anusch lange vor dem Zweiten Weltkrieg geboren. Mutter Anusch lebt. Sie kommt nie dazu, mir von ihrer Vergangenheit zu erzählen. Es ist, als hätte sie mit der Gegenwart immer schon genug zu tun.

»Was für ein Schicksal«, sagt sie, als sie beispielsweise am Telefon vom Tod eines Achtzehnjährigen hört, dem Freund des Enkels der Nachbarin: Er ist im Sewansee ertrunken; eine gefährliche Unterströmung hat ihn erfasst. – »Was für ein Schicksal«, sagt Mutter Anusch und hält kurz inne. Ihre Art berührt mich.

Oder wenn sie ein Buch liest, sich mädchenhaft in den Sessel neben dem Telefontisch hockt, die Beine untergeschlagen. Mutter Anusch liest ohne Brille, nennt mich von Anfang an Tochter und spricht, obwohl sie es nicht so gut beherrscht wie ihr Sohn, Russisch mit mir.

Steht sie aber – weißhaarig, mädchen- und greisenhaft zugleich – vor der Büchervitrine oder anderswo, kann es geschehen, dass sie wie aus dem Nichts ins Schwanken gerät. Bisher fängt sie sich immer noch selbst. Und auch das ist für mich Armenien. Anschließend lächelt die Mutter demjenigen, der es zufällig gesehen hat, arglos zu und sagt, als könnte es gar nicht anders sein: »Es ist das Herz!«

Zu Mutter Anusch bin ich immer wieder gekommen.

Das Flugzeug ruckelt über die im Jahr 2000 noch baufällige Landebahn des Flughafens Jerewan-Zwartnots. Außer mir beunruhigt das keinen. Seelenruhig schnallen sich die Passagiere vor der Zeit ab, stehen auf, packen Taschen, Beutel, prall gefüllte Plastiktüten zusammen. Die Maschine ist nach wie vor am Ausrollen. Ich schaue mich um. Wir sind keine dreißig Fluggäste. Und unter ihnen dürfte ich die einzige Ausländerin sein; mit im Gepäck Franz Werfels Buch: »Die vierzig Tage des Musa Dagh«.

Über der Landebahn strahlen hohe Leuchten ein merkwürdig gelbes Licht ab. Im Dunst zerstreut sich dieses Licht. Schließlich kommt die Maschine zum Stehen.

Ist das hier nun das Ende der Welt oder erst einmal ihr Anfang? Ich muss an die Landung der Arche Noah im Gebirge Ararat denken.

Es regnete vierzig Tage und die Welt stand unter Wasser. Zuerst schickte Noah einen Raben, der Ausschau halten sollte, ob die Wasser schon sanken. Noah wartete vergeblich auf die Rückkehr des Vogels. Als Nächstes bat er eine Taube. Beim ersten Mal flog die Taube los, kam aber, weil sie unterwegs nirgends innehalten konnte, schon bald wieder zurück. Beim zweiten Mal blieb sie länger aus und trug einen Ölzweig im Schnabel, als sie wiederkehrte. Beim dritten Mal kehrte sie nicht wieder. Und das war das Zeichen: Die Wasser der Sintflut waren gesunken.

Der Uniformierte schaut streng. Seine Gesichtszüge wirken versteinert, während er in meinem Pass blättert. In Gedanken höre ich Christa noch einmal sagen: »In Armenien musst du keine Angst haben.«

»Turistka?«, fragt er, hält den Stempel zwar schon in der Hand, hat ihn bloß noch nicht gesetzt: »Touristin?«

»Kanjeschno! Natürlich!«, sage ich. Automatisch übernehme ich seinen festen Ton. Natürlich bin ich Touristin. Was denn sonst? Und der Uniformierte setzt den Stempel der Republik Armenien, reicht den Reisepass zurück, öffnet per Knopfdruck die Metallsperre und gibt mir den Weg frei.

Wenige Meter hinter der Kontrolle wird der Raum durch eine Glasscheibe in zwei Bereiche aufgeteilt. Hinter dieser Scheibe wimmelt es: Dunkelhaarige Männer und Frauen mit blassen, übernächtigten Gesichtern; auch Kinder sind dabei. Sie lachen und winken uns zu. Über ihren Köpfen schwenken sie große, in durchsichtiges Zellophan verpackte Blumensträuße und bunte, in der Mehrzahl rote Luftballons.

In dieser Menschenmenge entdecke ich schließlich Wahram. Als sich unsere Blicke treffen, winkt er, ohne Blumen und ohne Luftballons. Kurz darauf sitzen wir in Gariks weißem Lada.

Dieser Lada ist nicht neu, aber er rollt. Garik wird mir als Freund der Familie vorgestellt. Seinen Familiennamen habe ich gleich wieder vergessen. Abgesehen vom Scheinwerferlicht ist es unterwegs stockdunkel. Garik lenkt den Wagen aber immer noch rechtzeitig um jedes Schlagloch herum.

»Zu Sowjetzeiten fuhren hier Busse, vom Flughafen direkt in die Stadt«, informiert mich Wahram unterwegs. »Und eine Straßenbeleuchtung gab es natürlich auch.«

Im Licht der Scheinwerfer taucht jetzt, quer zur Fahrbahn, ein schmaler Spalt auf. Der Asphalt ist regelrecht nach oben hin aufgebrochen. Garik bremst weich ab, lenkt den Wagen vorsichtig über das Hindernis hinweg, um gleich darauf neu zu beschleunigen. Unser Fahrer ist schweigsam. Auf der zwölf Kilometer langen Strecke zwischen dem Flughafen Zwartnots und Jerewan spricht er nur ein einziges Mal: »Fünfzehn Jahre!«, sagt er, löst dabei seine Hand vom Lenkrad, tätschelt kurz, zugleich liebevoll, das Armaturenbrett und meint: »Maladjez! Ein Prachtkerl von einem Auto. Nicht wahr?«

Auch die Hauptstadt Armeniens liegt im Dunkeln; die Straßen sind wie ausgestorben. Nach einer Wegstrecke kommen wir auf eine breite Hauptverkehrsstraße: »Das ist schon die Tumanjan«, erklärt Wahram. »Hier wohnen wir. Tumanjan war Schriftsteller. Er hat auch für Kinder geschrieben, Märchen und Gedichte.«

Garik biegt in eine schmale Gasse ein. Im Hinterhof kommt der Wagen zum Stehen. Motor und Lichtmaschine arbeiten weiter. »Fanta, Cola, Marlboro« – hat jemand mit weißer Farbe an die Hauswand geschrieben.

Zum Abschied reicht Wahram unserem Fahrer einen Geldschein: »Danke! Schnorhakalutjun!« Garik werde ich nie wiedersehen.

Wir betreten das dunkle Treppenhaus: »In Armenien musst du immer einen Weg finden«, meint Wahram, bevor wir dem Lichtschein seiner Taschenlampe nach oben hin folgen. Überall liegen Staub und Baudreck.

Auf der zweiten Etage werden wir schon erwartet: Wahrams Mutter steht in der offenen Tür; im blau-schwarz-weiß geblümten Hauskleid blickt sie uns strahlend entgegen. Kaum bin ich auf ihrer Höhe, fasst sie nach meiner Hand – »Dobro Poschalewat! – Herzlich willkommen!« – und zieht mich in die Wohnung hinein. Der Komponist folgt mit dem Koffer, schließt die Tür und dreht den Schlüssel zweimal im Schloss. Anschließend schiebt er einen breiten Riegel vor.

»Das ist jetzt dein Zuhause. Gefällt es dir, Tochter? Ich bin Anusch, und das ist unsere Wohnung!« Mutter Anusch führt mich an der Hand hinüber zum Bad. Die weiße Badewanne ist randvoll mit glasklarem Wasser. Auf den rostroten Fliesen stehen zwei gefüllte Eimer und auf dem Waschbecken ein weißer Henkeltopf zum Schöpfen.

»Das Wasser fließt immer nur für eine Stunde am Tag. Und nie wissen wir, wann«, erklärt mir die kleine, flinke Frau. Wir stehen nebeneinander in der Tür. Als wolle sie daran nicht erinnert werden, winkt Mutter Anusch heftig ab, bevor sie flüsternd hinzufügt: »Mädchen, hier ist es wie nach dem Krieg!«

Dann dreht sie den Hahn auf, um mir die Sache mit dem Wasser zu demonstrieren: Aber – das Wasser läuft!

»Wahram«, ruft sie begeistert ins Wohnzimmer hinüber. »Der Gast kommt und das Wasser läuft!« Auch das Licht funktioniert tadellos: Anusch kippt den schwarzen Schalter nach unten, das Licht verlöscht, und zurück nach oben, das Licht brennt. »Tochter, siehst du? Inzwischen geht das gut. Aber wir hatten schwere Zeiten!«

Auch Christa hatte mir davon erzählt: »Es war einfach katastrophal: Dreißig Kilometer westlich von Jerewan gibt es das Kernkraftwerk Metsamor. Nach dem Unglück im ukrainischen Tschernobyl 1986 und nach dem Erdbeben 1988 in Armenien musste es abgestellt werden. Während der Perestroika – werakaruzum auf Armenisch, was so viel heißt wie Umbau – gab es in Jerewan Proteste und Demonstrationen. Metsamor wurde geschlossen. Und das, obwohl das Kernkraftwerk 1988 fast unbeschadet geblieben ist. Die technischen Auflagen waren streng. Heutzutage arbeitet das Kernkraftwerk wieder. Nur – bis dahin saßen wir bei Kerzenlicht. Wie sollst du da arbeiten, Bücher lesen oder Diktate korrigieren? Unmöglich! Die Kerzen wurden schnell Mangelware. Mit dem Krieg in Bergkarabach war auch die Fernwärme unterbrochen. Die Leute holten sich Kanonenöfen in ihre Wohnungen, legten die Abzugsrohre zum Fenster hinaus und heizten mit getrockneten Kuhfladen oder Holz. Bloß, wo kriegst du in der Großstadt diese Mengen an Kuhdung her? Keine Chance! Und Holz? Am Ende wurden Treppengeländer auseinandergenommen. Zwischendurch gab es immer mal Strom. Aber nie wusstest du, wann. Kam der Strom, dann haben wir gebügelt, gekocht, geheizt, was das Zeug hielt.«

Der Tisch im Wohnzimmer ist festlich gedeckt. Neben den Tellern liegt gebrochenes Fladenbrot, dazu anderes, hauchdünnes Brot, zusammengelegt wie ein Stück Stoff. »Das ist lawasch! Du kennst es?«, fragt Wahram, als wir gemeinsam essen.

Die Mutter des Komponisten bricht ein Stück vom Fladenbrot. Über ihrem Teller zerkleinert sie es weiter und schiebt es sich bröckchenweise in den Mund.

Wenn du vom Brot isst, musst du aufpassen, dass du nicht krümelst. Und falls du doch krümelst, musst du aufpassen, dass kein Krümel davon zu Boden fällt. Denn sobald der Krümel zu Boden fällt, kommt ein Engel angeflogen, landet unten auf dem Boden und hebt seinen Fuß wie ein Dach über das Brot, nur damit keiner auf den Krümel tritt. Und deswegen achten die Armenier so sehr darauf, dass nichts vom Essen zu Boden fällt.

Den letzten Krümel nimmt Mutter Anusch, ganz im Sinne der Legende, mit der feuchten Fingerkuppe auf; und energisch fordert
sie: »Schafskäse, Würstchen, Butter! Ihr müsst essen!«

»Und Sie, Mutter Anusch?«

»Ich habe schon gegessen. Schnorhakalutjun!«

»Schnorhakalutjun!«, probiere ich, das armenische Wort mit deutscher Zunge auszusprechen. Mutter Anusch schaut überrascht auf und klatscht begeistert in die Hände.

Schnorhakalutjun, danke, ist gleich das erste der armenischen Wörter auf meiner Liste. Christa hat mir bei der Zusammenstellung geholfen. Am Ende dieser Liste steht auch die Telefonnummer von Melanja Astvatsatrjan, Christas ehemaliger Kollegin. Ich möchte Leute und Land kennenlernen.

Wahram schneidet zwei schmale Stücke vom Schafskäse, reißt das lawasch in der Mitte durch – »So musst du es machen!« –, legt den Schafskäse auf das dünne Brot, dazu eines der beiden Würstchen und wickelt alles fest ein: »So!«

In einer gläsernen Karaffe ist Wasser. Wahram schenkt mir ein und überlegt dabei schon weiter:

»Und was trinken wir jetzt? Wein? Wodka?« Der Komponist entscheidet die Sache gleich selbst: »Zur Feier des Tages trinken wir Kognak!«

Bereits im nächsten Augenblick steht eine bauchige Flasche der Marke Ararat auf dem Tisch. Über den fünf Sternen, für die Reifejahre, sehe ich so zum ersten Mal den Ararat, der aus zwei Bergen besteht: links dem kleinen Ararat und rechts dem großen; Letzterer ist über fünftausend Meter hoch; beides sind erloschene Vulkane. Der Ararat gilt als heiliger Berg.

Wir stoßen an und trinken. »Fühl dich wie zu Hause!«, sagt Wahram.

»Schnorhakalutjun!«, sage ich.

Und Mutter Anusch fügt leise hinzu: »Wir sind jetzt deine armenische Familie.«

In Armenien leben rund drei Millionen Menschen, ein Drittel davon in der Hauptstadt. Der Verkehr auf der Tumanjanstraße ist im Verhältnis zur Einwohnerzahl überraschend mäßig. Seit 1991 fahren im Land keine Züge mehr, in der Stadt seit Ende der 1990er auch  keine Straßenbahnen. Dafür sind Minibusse, marschrutkas, unterwegs. Und die Metro fährt.

Dass das Verkehrsnetz lahmliegt, und der Tourismus ebenso, hat mehrere Gründe: der Zerfall der Sowjetunion, armenische Flüchtlingsströme nach antiarmenischen Pogromen, vor allem aus Aserbaidschan, das Erdbeben 1988, die Eskalation des Krieges um Bergkarabach sowie die Energie- und Transportblockade durch Aserbaidschan und die Türkei.

Die Wohnung der Babajans befindet sich im Zentrum der Stadt und ist Eigentum der Familie. Über Geld wird nicht gesprochen.

»Schenke auch nie Geld!«, hat mich Christa noch in Leipzig gewarnt. »Geld zu schenken ist eine Beleidigung!« Ein Armenier würde sich eher verschulden, als seinen Gast nicht aus eigenen Kräften großzügig zu bewirten. Das ist noch die alte armenische Tradition.

Momentan überleben die Menschen eher, als dass sie leben. Gegenseitige Hilfe ist selbstverständlich und – überlebenswichtig. »Das Leben ist kein Basar«, erklärt mir Wahram. »Wer etwas hat, der gibt es dem, der es gerade braucht. Immer der, der hat, der gibt. Das ist das Prinzip.«

Wir sitzen im Wohnzimmer zusammen. Jeder versenkt sich in sein Tun, ist für sich, in der eigenen Welt. Das funktioniert nur deshalb auf so engem Raum, weil jetzt keiner die Achtzigjährige fragt: »Wie ist das Buch, das du liest?«, keiner den Komponisten: »Kommst du voran?« und auch keiner mich: »Was schreibst du eigentlich immerzu?«

Ich versuche den Titel des Buches zu entziffern, das Mutter Anusch gerade liest. Dabei kenne ich nicht einmal die armenischen Buchstaben. Die armenische Sprache hat ihr eigenes Alphabet. Die meisten der Bücher in der Vitrine sind auf Armenisch gedruckt, nur wenige dazwischen auf Russisch.

Während Wahram am Wohnzimmertisch sitzt, direkt am Fenster, und komponiert, ohne dass ein Ton zu hören ist, sitze ich auf dem Sofa, beende meine Notizen und beginne den Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh« von Franz Werfel zu lesen.

»Wie komme ich hier?« Bagradjan spricht diese einsamen Worte wirklich vor sich hin, ohne es zu wissen. Sie bringen auch nicht eine Frage zum Ausdruck, sondern etwas Unbestimmtes, ein feierliches Erstaunen, das ihn ganz und gar erfüllt. Es mag in der durchglänzten Frühe des Märzsonntags seinen Grund haben, in dem syrischen Frühling, der von den Hängen des Musa Dagh herab die Herden roter Riesenanemonen bis in die ungeordnete Ebene von Antiochia vorwärtstreibt.

Musa Dagh heißt auf Armenisch Musa Ler. Dieser Berg ist über eintausenddreihundert Meter hoch und liegt im historischen kilikischen Kleinarmenien, im Süden der heutigen Türkei. Auf Deutsch ist es der Mosesberg.

Mit dem Stichwort »Mosesberg« bin ich auch schon beim Buch Mose und schaue noch einmal auf den Anfang in der durch Martin Luther übersetzten Bibel:

Die Schöpfung. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.

Und im 7. Kapitel des Buches Mose lese ich weiter im Alten Testament:

In dem sechshundertsten Lebensjahr Noahs am siebzehnten Tag des Monats, an diesem Tag brachen alle Brunnen der großen Tiefe auf und taten sich die Fenster des Himmels auf und ein Regen kam auf Erden vierzig Tage und vierzig Nächte.

Der Musa Dagh ist historischer Schauplatz wie auch Schauplatz in Franz Werfels Roman. Denn der Roman beruht auf der historischen Tatsache, dass unter Führung eines armenischen Offiziers der osmanischen Armee, im Buch Gabriel Bagradjan, die Bewohner mehrerer anliegender Dörfer die Entscheidung trafen, sich der Deportation zu verweigern und stattdessen auf den nahe gelegenen Mosesberg zu ziehen, um von dort aus Widerstand zu leisten. Nach fast zwei Monaten – im Buch sind es vierzig Tage – taucht ein französisches Kriegsschiff auf. Und über viertausend halb verhungerte, ausgezehrte, völlig erschöpfte armenische Menschen, Männer, Frauen und Kinder, können gerettet werden.

Im Wohnzimmer der Babajans hängt über mir an der Wand ein in Rot, Blau und Eierschalenfarben gehaltener Teppich. In den Ornamenten glaube ich Vögel zu erkennen, Vögel mit weit ausgebreiteten Flügeln. Kurz darauf könnte ich schwören, anstelle dieser Vögel gehörnte Tiere zu sehen, Stiere oder Widder. Spiel der Fantasie, denke ich. Später erfahre ich, dass die armenischen Teppichweber in ihre Teppiche tatsächlich und ganz bewusst auch die Zeichen vorchristlicher Totems gewebt haben – vor allem Symbole für die Sonne, dazu Blumen, Wasserwellen sowie Tiere aller Art. Am Ende sehe ich Schlangen.

Der König der Schlangen thronte auf dem Berg Ararat. Alle sieben Jahre suchten die Schlangen ihren König auf. Das mächtigste Naturphänomen überhaupt, die Sonne, wird durch einen Vogel verkörpert. Und indem dieser Sonnenvogel nun eine dieser Schlangen frisst, wird das Unheil gebändigt.

Schlangen gelten als Zeichen der Weisheit, der Fruchtbarkeit, der Unsterblichkeit und des Schutzes vor den bösen Geistern.

Es ist kühl im Raum. Zwischen den Doppelfenstern und den doppelten Balkontüren liegen straff zusammengerollte Decken. Sie dichten die Wohnung nach außen hin ab. Dennoch bleibt es kühl. Die hohen Wände, der abgetretene Parkettboden, ja selbst die Heizungsrohre strahlen Kälte ab.

Auf dem großen Teppich im Zentrum des Raumes steht ein elektrischer Plattenheizkörper. Zumindest seit heute Morgen vier Uhr, seit meiner Ankunft in der Frühe, heizt das Gerät. Die Zimmertemperatur ist lauwarm. Es riecht nach verschmortem Staub.

Mutter Anusch friert nicht. Sie hat mich ins Schlafzimmer gewunken und es mir gezeigt: Unter dem Hauskleid trägt sie zwei Pullover übereinander: »So musst du es machen, Tochter!«

Allein der Komponist trägt unter seinem schwarzen Anzug ein dünnes, weißes Hemd: »Mir ist nicht kalt!«, versichert er immer wieder. Selbst die Mutter hat ihn schon daraufhin angesprochen. Er bleibt dabei: »Wie kann ich frieren, wenn die Heizung läuft!?«

Die Wohnung der Familie Babajan ist seit diesem Jahr 2000 mein armenisches Zuhause geworden. Inzwischen hat Wahram die Wohnung in der Tumanjanstraße für gutes Geld verkauft und lebt heute in der Nähe des Wardan-Mamikonjan-Denkmals.

Ein Haus steht für das Land, ein Tropfen für das Wasser. Noch bevor Gott die Regionen der Erde verteilt hat, ließ er einen Tropfen Wasser auf die Erde fallen. Dieser Wassertropfen fiel auf einen großen Stein. Mit dem Wasser entstand der Sewansee und mit dem Stein Armenien.

Die verglaste Wanduhr über dem Fernsehapparat tickt. Ich denke: Seit einer Stunde sitzen wir im Wohnzimmer zusammen. Aber als ich auf die Uhr schaue, sehe ich, dass gerade mal dreißig Minuten vergangen sind. Auf dem Fernseher, neben der Zimmerantenne, sitzt ein hellgrüner Plüschhase und lacht.

»Der Hase ist wie wir«, sagt Wahram, als er meinen Blick bemerkt. »Er besitzt nichts, er braucht nichts, er lebt sein Leben und verliert trotzdem nie seinen Humor. Wir haben in Armenien sogar eine Stadt, wo Leute wohnen mit einem ganz besonderen Humor. Diese Stadt heißt Gjumri. – Du kennst die Anekdote vom Zyklopen?«

»Eine Anekdote aus Gjumri?«, frage ich.

»Nein«, sagt der Komponist augenzwinkernd. »Trotzdem ist sie gut.«

Der Zyklop, der die Welt beherrscht, stellt seine Aufgaben. Dem Ersten stellt er die Aufgabe, das Meer auszutrinken. Der beginnt, schafft es nicht, kehrt zum Zyklopen zurück, sagt, dass das einfach nicht zu schaffen sei, und wird gefressen.

Der Zweite soll alle Steine des Gebirges essen. Der beginnt, schafft es nicht, kehrt zum Zyklopen zurück, sagt zum Zyklopen, dass das einfach nicht zu schaffen sei, und wird gefressen.

Der Dritte soll nun beides zugleich: Das Meer austrinken und alle Steine des Gebirges essen: »Wenn du das nicht schaffst, dann schleudere ich dich auf den Mond!«

Der Dritte sieht das Wasser im Meer, die Steine im Gebirge, sieht aber auch die Entfernung zum Mond und sagt zum Zyklopen: »Das ist nicht zu schaffen!«

Das sagt er und – wird gefressen.

Am nächsten Morgen betrete ich die schmale Küche und probiere gleich die nächste Vokabel aus: bari lujs! – gutes Licht! Beginnt der Tag, dann geht es um das Licht, um das gute Licht, das auf alles, was uns umgibt und geschieht, fallen möge.

Mutter Anusch hockt auf dem stellenweise schon löchrig getretenen, zugleich blitzsauberen Linoleumboden vor einem kniehohen elektrischen Kochgestell und schaut in ein bauchiges Blechgefäß. Im Topf schäumt surtsch auf, armenischer Kaffee. Das Kochgestell ist durchzogen von rot glühenden Drähten. Die Drähte strahlen heiß ab.

»Gut geschlafen?«, fragt Mutter Anusch.

An der Wand, über der Liege, auf der die Mutter heute Nacht geschlafen hat, hängt eine politische Weltkarte aus Sowjetzeiten. Das Rosa der Sowjetunion beherrscht das Gesamtbild, und Armenien geht, als eine der damaligen Teilrepubliken, zumindest farblich gesehen völlig unter. Nur der Kenner weiß um die geografische Lage des Landes zwischen Iran, Aserbaidschan, Georgien und der Türkei. So sieht es aus. Der Stecker der elektrischen Leitung führt direkt nach Südafrika.

Das Telefon klingelt. Wahrams Schritte sind zu hören.

»Hallo?«

Ich kann bis in die Küche hören, was er drüben im Wohnzimmer sagt, und drei der Wörter tsche! – nein! und schat law! – sehr gut!, kann ich sogar verstehen. Es sind Wörter, die auf meiner Vokabelliste stehen.

»Immer schreibt Wahram«, sagt Mutter Anusch und nimmt jetzt das bauchige Gefäß vom Kochgestell. Sie seufzt: »Wie Mozart. Ich kenne den Film ›Amadeus‹. Mozart hat auch immer geschrieben und nichts verdient.« Aber plötzlich wechselt sie, als sei dem nun nichts weiter mehr hinzuzufügen, das Thema: »Du lebst allein, Tochter? Die Frau braucht einen Mann. Er ist das Rückgrat der Familie.«

Auf dem Küchentisch stehen zwei Tässchen mit rot-goldenem Rosenmuster. Vorsichtig und langsam füllt Mutter Anusch  den dickflüssigen Kaffee ein. Die Achtzigjährige bewegt offenbar eine große Sorge: »Ich sage es dir, Tochter: Zweimal war Wahram verheiratet. Und nie ging es gut. Ich bin schon alt. Eines Tages werde ich sterben. Und was wird dann?«

Als ich sage, dass Wahram sozusagen mit der Musik verheiratet sei, bringt das Mutter Anusch regelrecht auf: »Ach, die Musik kann ihm keinen Kaffee kochen, kein Mittagessen zubereiten! Am besten, er ginge über die Grenze und heiratet dort.«

»Er hat mir gesagt, er habe hier in Jerewan eine Freundin.«

»Ich weiß nichts von einer Freundin. Ich sehe nur, was ich mit meinen eigenen Augen sehe. – Was soll’s«, winkt sie nun ab, streicht sich mit dem Zeigefinger der rechten Hand ein kleines Kreuz auf die Stirn und beschließt resolut: »Wie es geschrieben steht, so wird es sein.«

Gleich darauf drückt sie mir eines der beiden Tässchen in die Hand – »Geh ins Wohnzimmer!« – und folgt mir mit dem anderen. Wahram telefoniert immer noch. Die Mutter stellt ihm den Kaffee auf den niedrigen Tisch und setzt sich zu mir aufs Sofa.

»Weißt du«, meint sie. »Das Schicksal wird uns auf die Stirn geschrieben! Hier steht sogar, wann ich sterben werde. Bloß ich kann es nicht sehen.«

Es gibt einen Schreiber, auch Tir genannt, als den Gott des Schicksals. Jedem Neugeborenen schreibt er auf die Stirn. »Es steht ihm auf der Stirn geschrieben!« Dieser Gott des Schicksals schreibt in Stirnschrift. Und so schreibt er auf, was Gott bestimmt hat. Er schreibt auf die Stirn und zugleich in ein großes Buch. Überall auf den Bergen dieser Welt werden die Bücher verwaltet. Tir ist in der armenischen Mythologie auch der Gott der Schrift und der Traumdeutung.

Wahram legt den Hörer auf die Gabel zurück und lächelt vor sich hin.

»Was ist?«, fragt Mutter Anusch aufgeregt. »Wahram, erzähl!«

»Das war Karpis Lepejan, ein sehr bekannter armenischer Schriftsteller«, berichtet er endlich. »Und dieser Mann möchte mit mir eine Oper schreiben. Du kennst Franz Werfels ›Die vierzig Tage des Musa Dagh‹? Ich habe zugesagt. Ich werde diese Oper gemeinsam mit ihm schreiben. Der Völkermord ist ein wichtiges Thema.«

Mutter Anusch ist immer da. Sie ist das Zentrum dieser Wohnung und, wie ich bald darauf sehen werde, das Zentrum der gesamten Familie Babajan. Und obwohl es Wahram ist, der mich nach Armenien eingeladen hat, ist Mutter Anusch auch für mich hier das eigentliche Zentrum. Und wenn Wahram zu einem Treffen mit Künstlerkollegen ins Haus der Komponisten »Aram Chatschaturjan« geht oder einfach in den Xerox-Laden um die Ecke, um seine Partituren kopieren zu lassen, dann sind wir unter uns, wir zwei Frauen, und ich bin mit meiner Mutter Armenien allein.

In Armenien herrschte bis ins 6. Jahrhundert vor Christus das Matriarchat. Bis heute werden die Mütter verehrt, die Töchter, die Geliebten, nicht zuletzt die Göttinnen. Und das hat von jeher seinen natürlichen Sinn: Denn ohne Fruchtbarkeit gibt es kein Überleben für ein Volk. Genauso geachtet wird der Samen des Mannes. Im vorchristlichen Armenien wurden im Zeichen der Fruchtbarkeit Phallussteine platziert. Wer selbst nicht fruchtbar ist, lebt von der Kraft anderer Kinder.

Mutter Anusch hat vier Kinder zur Welt gebracht: Wahrams Schwester, Wahrams Bruder ... Das dritte Kind aber ist gleich nach der Geburt gestorben. Es war ein kleiner Junge. Bis heute überlegt Wahram: »Vielleicht wurde ich nur deshalb geboren, weil dieses Kind gestorben ist.« Armenien gilt als bedrohtes Volk. Jedes Kind, das lebt, zählt.

Bildung und Ausbildung besitzen einen hohen Stellenwert. Mutter Anusch hat Pädagogik studiert und dann ihre Kinder zur Welt gebracht. Die eigenen Kinder aufzuziehen, zu unterrichten, zu erziehen, durch eine Mutter, die klug und ausgebildet ist, wird nicht als Privatangelegenheit angesehen, sondern ist die Erfüllung einer überlebenswichtigen Aufgabe für das gesamte Volk. Ich habe keinen Armenier getroffen, der das in Frage stellt.

Später schrieb Mutter Anusch für Wahram sogar Partituren ab. Heute kocht sie für ihn, macht die Wäsche, den Haushalt – anstelle der Ehefrauen, die es nicht mehr gibt.

»Er kann es nicht«, sagt Mutter Anusch achselzuckend. »Er kann das alles wirklich nicht. Ich kann es aber noch. Und ich bin seine Mutter. Die Geburt von Wahram war schwer. Ich lag viele Stunden im Krankenhaus, mit großen Schmerzen. Die Ärzte wussten schon nicht mehr weiter. Da erschienen mir auf der weißen Wand die Muttergottes und Jesus Christus. Und ich wurde erlöst und Wahram geboren.«

Gleich am ersten Nachmittag kommt zu meiner Begrüßung die erweiterte Familie Babajan in der Wohnung Tumanjanstraße zusammen.

Eine große Schüssel mit dolma steht auf dem Tisch. Dolma sind Weinblätter, gefüllt mit einem Gemisch aus Reis und Hackfleisch. Daneben gibt es Linsen, gebackene Kartoffeln, Rote Bete, Fleischbällchen, jede Menge Fladenbrot und lawasch.

Mutter Anusch, ihre Tochter und wiederum deren Tochter eilen zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her. Der Küchenbereich ist Frauensache.

Am Tisch übernimmt Wahram inzwischen die Rolle des Tischführers. »Ich bin der tamada!«, erklärt er mir. Er kündigt die Trinksprüche an und animiert zum Trinken. Armenische Männer trinken Wodka. Aber es gibt auch Wasser und Bier. Die Frauen trinken aus kleinen Likörgläsern roten Wein der Marke »Anusch«.

Das Fest beginnt: »Auf den deutschen Gast!« Alle nicken mir zu: »Willkommen! Fühl dich wie zu Hause! Und nun – Anusch!«

»Anusch?«, frage ich nach.

»Anusch«, erklärt mir die fünfundzwanzigjährige Marina Ayunts, Wahrams Nichte, die im Deutschen Zentrum am Platz der Republik Deutsch gelernt hat. »Anusch bedeutet: Du sollst es dir schmecken lassen. Wohlbekommen!«

Wir greifen zu, essen, erzählen, und immer in der russischen Sprache. Die Sprache vermittelt zwischen uns. Wahram erzählt eine Anekdote nach der anderen.

»Ein Georgier behauptet, fünf Sprachen zu beherrschen: Georgisch, Russisch, Deutsch, Englisch und Französisch. ›Nun, da du so viele Sprachen sprechen kannst, verrate mir doch: Was heißt zum Beispiel Guten Morgen auf Deutsch?‹ ›Salem Aleikum.‹ ›Mein Lieber, das ist Arabisch, das ist kein Deutsch!‹ ›Ach? – Dann spreche ich sechs Sprachen!‹«

Witze über die Georgier als das einzige christliche Volk in unmittelbarer Nachbarschaft sind in Armenien sehr beliebt, genau wie umgekehrt in Georgien Witze über die Armenier. Übrigens versteht sich in dieser Weise auch der georgische Tischführer auf sein Amt als tamada. Es ist wie ein Necken unter Brüdern. In der Folge ergibt sich hier wie da ein vergnüglicher Kreislauf aus Trinksprüchen, dem Trinken selbst sowie den Anekdoten. Und würde genau in dieser freudigen Stunde Gott hierher in die Tumanjanstraße kommen, Gott, auf Armenisch: Astwats, und die Regionen der Welt aufs Neue verteilen wollen, würde die Familie Babajan davon rein gar nichts mitbekommen.

»Ein Deutscher, ein Amerikaner und ein Armenier schließen eine Wette ab: Sie laufen um einen Berg. Wer der Letzte ist, der wird gefressen. Der Amerikaner läuft, läuft, läuft und – ist als Erster um den Berg. Der Deutsche läuft, läuft, läuft und – ist als Zweiter um den Berg. Der Armenier läuft, läuft, läuft und – ist längst zu Hause.«

»Und nun noch eine Anekdote aus Gawar«, fügt Wahram dem gleich an. »Du musst wissen, Constanze: Gawar ist eine Stadt am Sewansee. Und es heißt, die Leute dort trinken sehr viel.«

»Sie trinken noch mehr als in Jerewan?«, frage ich beeindruckt.

»Vielleicht«, antwortet Wahram zweideutig. Alle lachen und er als unser tamada erzählt:

»Ein betrunkener Vater sitzt mit seinem Sohn am Tisch. Schon als der Sohn die schlechten Zensuren nach Hause gebracht hat, war der Vater betrunken. ›Warum? Warum?‹, fragt mit schwerer Zunge der Vater und klopft dabei jedes Mal auf die Tischplatte. ›Papa, es klopft!‹ ›Du bleibst sitzen!‹ ruft der Vater barsch. ›Ich öffne selbst.‹«

In Anbetracht dessen, wie reich der Tisch gerade gedeckt ist, frage ich mich schon, wovon die Familie eigentlich lebt. Wie ich höre, beträgt die Rente der Mutter neun Dollar im Monat. Wie kann sie davon leben? Der Komponist scheint momentan so gut wie nichts zu verdienen. Immerhin fallen keine Mietkosten an. Auch Wasser kostet zu diesem Zeitpunkt noch nichts, dafür der Strom, und das Brot nur wenige armenische Dram.

Dabei weiß ich wiederum das Verhältnis zum Verdienst nicht einzuschätzen. Bloß welcher Verdienst? Außer Wahrams Bruder, Journalist bei einer Sportzeitung, hat hier am Tisch zwar jeder eine Ausbildung, aber keiner hat Arbeit.

Mark dagegen, Marinas Bruder, lebt und arbeitet in Deutschland. Er ist noch ein Kind, als sich für die Eltern die Möglichkeit ergibt, im Zusammenhang mit Hilfsaktionen nach dem Erdbeben 1988, ihn in sicheren Verhältnissen in Deutschland aufwachsen zu lassen. Bis heute verdient er dort sein Geld und unterstützt die Familie.

»Ich glaube, er versteht trotzdem nicht ganz, dass wir das Geld tatsächlich brauchen«, erzählt Marina. »Er sagt immer: ›Ihr habt doch alles, was ihr braucht!‹ – Weißt du, wir schicken ihm manchmal Fotos, wenn die Familie zusammensitzt, bei einem Geburtstag oder zu Weihnachten; genau wie jetzt. Und dann sieht er natürlich einen reich gedeckten Tisch. Mark war schon lange nicht mehr in Armenien. Sonst würde er uns vielleicht besser verstehen.«

Im selben Moment kann ich beobachten, wie Wahrams Schwester ihre leere Kaffeetasse umdreht und auf dem Teller abstellt. Auch Mutter Anusch macht es so, und ich dann eben auch. Einen Augenblick später gehen wir drei hinüber in die Küche. Die Teller mit den umgekehrten Tassen tragen wir vor uns her wie Pokale. In der Küche sind wir ungestört.

Als Erstes nimmt Wahrams Schwester die Tasse von Mutter Anusch und betrachtet aufmerksam das Bild, das sich innen ergeben hat. Der Kaffeesatz ist in geheimnisvolle Linien und Felder zerlaufen … Mutter Anusch, diese alte und erfahrene Frau, stützt den Kopf auf, lächelt versonnen und hört sich alles an, was die Tochter "liest". Am Ende atmet sie tief durch, steht auf, küsst die Tochter auf den Scheitel und geht zurück zu den Gästen.