Denise Reichow
Heitlinger Hof 7b
30419 Hannover

www.gedankenreich-verlag.de

Breathless - Träume vergessener Götter
Band 2

Text © Chii Rempel, 2018

Cover & Umschlaggestaltung: Marie Graßhoff, www.marie-grasshoff.de
Lektorat & Korrektorat: Kristina Licht

Satz & Layout: Nadine Reichow
Innengrafiken © Chii Rempel
und © depositphoto

eBook: Grittany Design, www.grittany-design.de


(eBook) ISBN 978-3-947147-38-0

© GedankenReich Verlag, 2019

Alle Rechte vorbehalten.

James bemerkte ihn, bevor er selbst bemerkt wurde. Es dämmerte bereits. Die gigantischen Felsenmassen von Celnes warfen lange, dunkle Schatten in die Umgebung, die es ihm ermöglicht hatten, so lange unentdeckt zu bleiben. Lucifer saß auf einem der zahlreichen weiß-gelben Steine, die sich vor Urzeiten von den schwebenden Felsen gelöst und mit dem Boden angefreundet hatten. Sein Gesicht in den Händen vergrabend sah er viel kleiner und zerbrechlicher aus, als James ihn in Erinnerung hatte. Nicht, dass für James nicht jeder klein und zerbrechlich aussah.

»Was dagegen, wenn ich mich dazusetze?«, fragte James und trat aus dem Schatten hervor. Er fragte sich, ob er die richtigen Worte für ein plötzliches Wiedersehen gewählt hatte.

Lucifers Reaktion nach zu urteilen, waren es die falschen Worte. Der Angelos sprang auf, seine Haltung kampfbereit, ein rotes Schimmern in seinen Augen. Als er erkannte, wer vor ihm stand, verfinsterte sich sein Blick umso mehr.

»Was in aller Welt tust du denn hier?«, fauchte Lucifer.

James zuckte gelassen mit den Schultern. »Ich wollte euch den ganzen Spaß nicht allein haben lassen.«

»Wie bist du hierhergekommen?«

»Zu dir? Ich bin gelaufen«, antwortete James.

»Nach Lyrena’d meinte ich, Arschloch«, knurrte Lucifer.

»Ich habe doch gesagt, ich habe meine Wege.«

Von einer Sekunde auf die andere stand Lucifer plötzlich gefährlich nah vor James, ihre Nasen nur eine Handbreit voneinander entfernt.

»Wenn es so einfach für dich ist, zwischen den Welten zu springen, wieso hast du Mimithe nicht schon viel früher hergebracht?«, hauchte er, seine Stimmte triefte vor Hass.

»Trotz der Gefahr mich zu wiederholen — ich kann nur mich herbringen. Könnte ich jemanden auf diesem Weg mitbringen, wäre Mimithe meine erste Wahl gewesen, glaub mir.«

»Wenn du mir deinen Weg erklären würdest, wäre ich vielleicht sogar dazu geneigt, dir zu glauben.«

James ließ ein Lächeln seine Lippen umspielen. »Mir ist es mehr als egal, ob du mir glaubst, Lucy.« Lucifer zuckte kaum merklich zusammen bei dem Spitznamen. »Aber ich glaube, wir haben aktuell gravierendere Dinge zu erledigen, als uns sinnlos zu streiten.«

Lucifer zischte und drehte sich um. Das war wohl ein Zeichen dafür, dass James gewonnen hatte.

»Wo ist Mimithe überhaupt?«, fragte James schließlich, als beide Männer auf einem Stein Platz genommen hatten. Mit einem Stein Abstand zwischen ihnen, natürlich.

»Nicht hier.«

»Wow. Danke, Sherlock. Ich meinte, wieso ist sie nicht bei dir?«

»Das geht dich nichts an. Wieso bist du überhaupt hier? Was willst du von mir?«

»Zum einen«, sagte James ruhig, »war mein Plan, Mimithe zu finden. Du bist der Erste, den ich gesehen habe, und hatte angenommen, ihr wärt zusammen unterwegs. Wie töricht von mir. Zum anderen, was ich will, steht hier nicht zur Debatte. Allerdings bin ich gerade sehr neugierig auf das, was du willst, Lucy. Es sieht dir nicht ähnlich, freiwillig von Mimithe getrennt zu sein.«

Lucifer schnaubte nur abfällig. »Ich will nicht darüber reden.«

James nickte. Wenn er eines verstand, dann war es, dass die Beziehung zwischen Mimithe und Lucifer keine einfache war. Lieber hielt er sich zurück, bevor er ein Fass öffnete, das er nicht wieder zu schließen vermochte. Er sollte sich sowieso nicht in Herzensangelegenheiten einmischen.

Sie saßen eine Weile so da, still, während die Sonne sich langsam hinter dem Horizont verkroch und ihren Platz am Himmel den drei Monden überließ. Beide Männer konnten ihren Blick nicht von ihnen wenden.

»Serelia, Na’iki und Pukk«, flüstere James und es klang eine solche Sehnsucht in seinen Worten mit, dass er sich selbst ärgerte, überhaupt den Mund geöffnet zu haben.

»Sind das die Namen der Monde?«, fragte Lucifer. James nickte, auch wenn der andere ihn nicht ansah.

»Sie stehen schon fast übereinander«, bemerkte James. »Die Zeitenwende ist nah. Sag mal, bist du immer noch auf der Suche nach Gott?«

Lucifer blickte weiter dem ungewohnt hellen Himmel entgegen — drei Monde machten einfach zu viel Licht — und ließ seine Augen zufallen, bevor er antwortete.

»El«, hauchte er schließlich. »Ihr Name ist El. Und ich weiß nicht, wieso dich das was angehen würde.«

»Wieso vermutest du, dass sie hier in Lyrena’d ist?«

»Ich vermute es nicht, ich weiß es. Michael wäre nicht derart versessen darauf gewesen, mich davon abzuhalten hierherzukommen, wenn El nicht hier wäre.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass sie dir noch so viel bedeutet.« James sah Lucifer mit einer hochgezogenen Augenbraue an.

»Tut sie nicht«, antwortete Lu etwas zu schnell. »Nicht mehr«, fügte er flüsternd hinzu.

»Weiß Mimithe das?«

»Weiß Mimithe was?«

»Dass du in sie verliebt bist.«

Lucifer blieb eine ganze Weile still, so lange, dass James schon keine Antwort mehr erwartete.

»Ich glaube nicht, dass ich es aussprechen muss«, sagte er schließlich, die Antwort zum ersten Mal nicht dem Himmel, sondern James zugewandt. James nickte wissend. Mimithe zu sagen, dass Lucifer sie liebte, wäre so gewesen, wie ihr zu sagen, dass sie atmen musste. Es war eine unbestrittene Tatsache, ein Gesetz des Universums — wenn Mimithe es also nicht bereits wusste, war jede Erklärung hoffnungslos.

Es stellte sich heraus, dass ich nichts wusste. Ich wusste nicht, wie ich mit den Jungen in Kontakt treten konnte; ich wusste nicht, ob ich Meister Ma’nuh vertrauen konnte; ich wusste nicht, wo sich mein wahrer Körper befand — und vor allem wusste ich nicht, wo Lu war. Und ob ich ihn jemals wiedersehen würde ... Das setzte mir mehr zu, als ich zugeben wollte. Unser Streit kam mir mittlerweile nichtig vor. Ich wusste, ich hatte ihn angefangen. Hätte ich nicht so schroff reagiert, wäre Lu vielleicht noch hier und hätte mir helfen können. Er war die einzige Konstante in meinem Leben, auf die ich vertrauen konnte, und ich hatte ihn davongejagt. Nicht einmal Glaem gab mir die innere Ruhe, die ich brauchte, um mich dieser Situation hier zu stellen. Wie sollte er auch — wir hatten uns Jahrhunderte nicht mehr gesehen. Ich hatte gedacht, alles würde einfacher werden, sobald ich nur Lyrena’d erreicht hatte. Welche Naivität mich da geritten hatte, wusste ich auch nicht ... Hoffnung vermutlich. Hoffnung darauf, dass die Leute für meine Seite gekämpft hatten, dass sie auf mich warteten, dass sie auf mich vertrauten. War das zu viel verlangt?

Krieg dich ein, Mimithe, schimpfte ich mit mir selbst. Bisher hatten sie nur meinen Körper verloren, nicht mich an Aragon ausgeliefert. Noch war nicht alles verloren. Vielleicht vertrauten sie mir ja tatsächlich. Vielleicht hatten sie auf mich gewartet. Mir fehlten zu viele Puzzleteile, um mir eine Meinung bilden zu können. Zu viel Zeit war in Lyrena’d vergangen, von der ich nichts wusste. Bevor ich weitere Schlüsse ziehen konnte, musste ich erfahren, was in meiner Abwesenheit geschehen war. Und damit konnte ich nicht warten, bis Ma’nuh sich dazu erbarmte, mich einzuweihen. Nein, ich wusste genau, was ich zu tun hatte.

Die Bibliothek war nicht verschlossen, das war sie nie. Wieso auch? Der Himmelsturm war ein Ort des Friedens, hier befand sich niemand, der sich nicht hier befinden durfte. Die schweren Tore der Bibliothek schwangen für mich auf, als ich sie berührte, und ein warmes Gefühl durchfuhr mich, als würde die Bibliothek wissen, wer ich war und mich begrüßen. Ich legte Zeige- und Mittelfinger kurz an meine Lippen und tippte sie dann an mein Herz. Ein Zeichen der Wertschätzung und ein respektvoller Gruß.

Grob überflog ich die Gewölbe auf der Suche nach den Zeitdaten, die mit der Dauer meiner Verbannung übereinstimmten. Wenn die Celnes eines konnten, dann war es die korrekte und genaue Auffassung von Daten — abgesehen von ihrer akribischen Messung der Zeit, natürlich. Es war nicht besonders schwierig, das richtige Regal ausfindig zu machen, aus dem ich die erstbeste Kugel zog, um mich dann in eine der zahlreichen Nischen zu setzen. Ich platzierte die kleine durchsichtige Kugel in eine dafür vorgesehene Vertiefung im Tisch und drehte sie nach rechts. Sofort erstarb der tosende Buchstabensturm im Inneren der Lit, stattdessen flossen die einzelnen Buchstaben aus der Kugel heraus auf den Tisch, ordneten sich und ergaben einen lesbaren Text. Ich überflog ihn rasch. Die ersten vier Lits, die ich so ausprobierte, dokumentierten Geschehnisse, zu denen ich noch anwesend gewesen war. Hauptsächlich erzählten sie von den besorgniserregend vielen Sichtungen neuer Ungeborener, die sich aus Brünach, dem dreizehnten Königreich, im Rest des Landes ausbreiteten und Chaos stifteten. Ungeborene waren hemmungslose Kreaturen, ohne Emotionen oder Gewissen — sie taten, was ihr Erschaffer ihnen befahl, und das machte sie so überaus gefährlich. Sie besaßen nicht die Fähigkeit zu hinterfragen, sie erledigten, was ihnen aufgetragen wurde. Noch nie waren so viele Bewohner Lyrena’ds verschwunden oder von den Ungeborenen getötet worden. Eine ganze Lit war den internen Auseinandersetzungen des Königshauses von Luma gewidmet, dem Haus, aus dem Prinzessin Vallery stammte. Die vierundvierzig Schwestern stritten noch immer über die nicht enden wollende und zu nichts führende Regentschaft ihres Vaters. König Lephold war ein sehr gediegener Herrscher, dem vor allem sein eigener Komfort am wichtigsten war, daher hatte er sich bisher aus allen Ratsangelegenheiten rausgehalten. Seine stürmischen Töchter waren die Tatenlosigkeit ihres Reiches leid, doch ihr Vater dachte noch lange nicht daran, sich zurückzuziehen und einer von ihnen die Thronfolge zu überlassen. Die Königsfamilie der Nymphen war seit Jahrtausenden die größte in ganz Lyrena’d. Kinder waren hier selten, deutlich seltener als auf der Erde, daher war es trotz Unsterblichkeit erstaunlich, wie Lephold es geschafft hatte, so viele Töchter zu zeugen. Zugegeben, sie stammten von fünf verschiedenen Frauen — von denen man wusste — dennoch war es eine absolute Ausnahme. Es waren so viele Töchter, dass man selbst bei Hof in die Chronik sehen musste, wenn man herausfinden wollte, welche Tochter von welcher Frau stammte und wann sie geboren worden war. Ich fragte mich, ob Lephold sich eher gezügelt hätte, wenn er nur seinen heiß ersehnten männlichen Erben bekommen hätte.

Ich nahm mir eine neue Lit aus dem Regal und platzierte sie auf dem Tisch. Diese hier erzählte von meiner letzten Reise ins Glasgebirge, im Auftrag von Fanya, zu der Glaem mich begleitet hatte. Sie war der Anfang von meinem Schlamassel gewesen. Hätte ich damals bloß auf Glaem gehört und Fanya seine Armee an meiner Stelle schicken lassen. Aber wem machte ich etwas vor? Mich hatte noch nie etwas von einem Auftrag abbringen können. Die nächste Lit war die, nach der ich gesucht hatte. Meine Verbannung.

Vierte Zeit/ 236. System/ 16.91 im 9. Zyklus

Der Rat der Zwölf hat nach langwieriger Beratung mit knapper Mehrheit den Verhandlungen mit dem ehemaligen Ratsmitglied und Usurpator Aragon zugestimmt, das derzeitige Juwel Mimithe, entledigt ihres Körpers und ihrer Fähigkeiten, für dreihundert Zyklen nach Terra (Erde) zu verbannen. Der Körper des Juwels wird bis zu ihrer Rückkehr im Palast von Leas, dem vierten Königreich und Geburtsort des Juwels, unter der aktuellen Herrschaft von König Fanya verwahrt und darf nicht versetzt werden. Er wird in einem gläsernen Sarg in den Tiefen der Wurzeltunnel versteckt, bis das Juwel zurückkehren und ihn erneut beleben darf. Die einzelnen Königreiche Lyrena’ds werden damit beauftragt, verschärfte Sicherheitsmaßnahmen zu tätigen, aufgrund der bisher nie dagewesenen Abwesenheit des Juwels. Im Gegenzug für die vollstreckte Verbannung versprach der Usurpator seine Ungeborenen zurückzuziehen und in ein freiwilliges Exil zu gehen, das sich auf sein Reich Brünach bezieht.

Die Abstimmungen des Rates zur Verbannung des Juwels lauteten wie folgt:

Steorra, 1. Königreich: Dafür.

Luma, 2. Königreich: Dagegen.

Estmere, 3. Königreich: Dagegen.

Leas, 4. Königreich: Dagegen.

Aerenah, 5. Königreich: Dafür.

Merecal, 6. Königreich: Dagegen.

Celnes, 7. Königreich: Dafür.

Siiaw, 8. Königreich: Dafür.

Níed, 9. Königreich: Dafür.

Zolat, 10. Königreich: Dagegen.

Gedwym, 11. Königreich: Dafür.

Heall, 12. Königreich: Dafür.

Ich zog die Lit aus ihrer Fassung und ließ mich im Stuhl zurücksinken. Celnes hatte für meine Verbannung gestimmt. Ich wusste nicht genau, was das zu bedeuten hatte. Hatte Meister Ae’nah damals für meine Verbannung gestimmt, weil er es für das Beste gehalten hatte, oder weil er sich Aragon angeschlossen hatte? War Meister Ma’nuh derselben Ansicht wie Meister Ae’nah damals, oder bereute er die Entscheidung seines Vorgängers? So viele Fragen und viel zu wenig Antworten. Ich stand auf, um die nächste Lit aus dem Regal zu holen. Wie es aussah, hatte ich einiges nachzuholen.

»Mimithe ... hast du überhaupt geschlafen heute Nacht?«, fragte Glaem am nächsten Morgen. Wahrscheinlich hatte er die tiefen Augenringe bemerkt, vor denen ich mich selbst heute Morgen im Spiegel erschreckt hatte.

Ich schüttelte gähnend den Kopf. »Ich hatte einiges nachzuholen.«

Glaem stand noch immer in der Tür zu meinem Zimmer, scheinbar unsicher, ob er reinkommen sollte oder nicht. Ich betrachtete ihn kurz — sein spitzes Kinn, seine lange Nase, seine spitzen Ohren, die aus seinen braunen Locken herausguckten — sein Gesicht ließ sorglose Erinnerungen in mir aufsteigen. Ich band mir meine langen braunen Haare zu einem schnellen Zopf zusammen und nahm ihm die Entscheidung ab, als ich an ihm vorbei aus dem Zimmer marschierte.

»Wo willst du hin?«, rief Glaem mir hinterher und schloss sich schnell an.

»Ich muss Yin und Yang sehen.«

»Wen?«

»Die Zwillinge, denen wir es zu verdanken haben, dass wir überhaupt hier sind«, gab ich unsanft zurück. Schlafmangel tat meiner Laune nicht gut.

»Ich bezweifle, dass du sie sehen darfst.«

»Dann halt mich doch auf«, zischte ich.

»Das dürfte in deiner aktuellen Verfassung kein Problem sein.«

Ich blieb abrupt stehen und starrte Glaem wütend an. »Nur, weil ich in diesem schwächlichen Körper stecke, meinst du, du könntest mich jetzt überwältigen?«

Glaems Blick wurde ernst. »Ich meine nicht deinen Körper, sondern dein Temperament! Du bist nicht du selbst, Mimithe — du wirkst nervös und zerstreut, deine Wut nimmt dir dein Urteilsvermögen. Es ist fast so, als würde ein Teil von dir fehlen!«

Aus meinem Blick wichen jegliche Emotionen, während mein Herz einen verräterischen Schlag aussetzte.

»Das tut er auch«, flüsterte ich und wandte mich ab, doch Glaems Reaktion entging mir trotzdem nicht. Sein fassungsloser Blick — beinahe verletzt. Er war es nicht gewohnt, dass er nicht alles war, was ich brauchte, um mich komplett zu fühlen. Er hatte die Jahrhunderte geschlafen, in denen sich meine Seele verändert hatte. Ich hatte jemand anderen in mein Herz gelassen und dieses Herz verlangte nun nach ihm. So wütend ich auch war, so sehr hoffte ich doch, dass Glaem mich noch verstehen würde. Ich wollte ihm nicht wehtun.

Ich ließ Glaem stehen und marschierte durch den großen Eingangsbereich auf der Suche nach Meister Ma’nuh. Wie zu erwarten, war er nirgends anzutreffen und mir konnte auch niemand sagen, wo er sich aufhielt. Vielleicht wollte man es mir auch nur einfach nicht sagen. Schließlich fand ich das blonde Mädchen — Mayla — das uns bei unserer Ankunft hier etwas zu trinken gebracht hatte. Heute trug sie ein blaues Kleid, das vorne kurz und hinten lang war, der Stoff allerdings war so hauchdünn wie der von dem Kleid zuvor. Ich schenkte ihr ein Lächeln.

»Hallo«, grüßte ich. »Ich bin auf der Suche nach den Kindern, mit denen ich hier angekommen bin.«

Die junge Frau sah mich überrascht an. »Kinder?«

»Die beiden Jereb«, erklärte ich. »Die Zwillinge in Menschengestalt.«

Sie nickte wissend. »Ja, ich weiß, wer sie sind. Aber leider kann ich Sie nicht zu ihnen lassen.« Ein entschuldigendes Lächeln umspielte ihre vollen Lippen. Ich hob fragend eine Augenbraue.

»Darf ich fragen, wieso? Und nenn mich bitte Mimithe.«

Schockiert senkte sie ihren Blick. »Das kann ich nicht tun, Na’imi. Und Sie dürfen die beiden Jereb nicht sehen, weil sie sich inmitten der Vorbereitungen für ihren Kainah befinden.«

»Kainah?«, fragte ich überrascht. »Aber die beiden sind doch noch zu jung für ihre Zeremonie. Ich dachte, es werden erst voll ausgewachsene Jereb zu Celnae ernannt. Die beiden sind noch lange nicht soweit.«

Mayla mied meinen Blick und starrte weiterhin zu Boden. »Ich kann Ihnen dazu leider nichts sagen.«

Frustriert ballte ich die Hände zu Fäusten. Ich musste mich daran erinnern, dass Mayla nichts dafür konnte — dass sie nur ihre Anweisungen befolgte.

»Wo finde ich jemanden, der mir dazu etwas sagen kann?«, fragte ich schließlich.

»Meister Ma’nuh ... «

War ja klar. Natürlich konnte mir nur derjenige etwas sagen, der absolut nicht auffindbar war.

»Wo befinden sich denn die anderen Jereb?«, fragte ich stattdessen.

Nun traf ihr überraschter Blick wieder meinen. »Andere?«, fragte sie verwirrt. »Es gibt keine anderen. Hat es schon seit Jahrhunderten nicht gegeben. Wir hatten schon gar nicht mehr damit gerechnet und dann — sind es auch noch Zwillinge geworden.«

Seit Jahrhunderten kein Nachwuchs? In Lyrena’d waren Kinder schon immer sehr selten gewesen, bei allen Wesen, aber dass es so lange keine gegeben hatte, war wirklich ungewöhnlich. Zwillinge — die gab es unter den Drachen fast nie. Kein Wunder, dass Meister Ma’nuh sie sofort von mir getrennt hatte. Er hatte Angst, ich würde sie ihm wegnehmen. Zurecht. Wenn Yin und Yang mit mir gehen wollten, dann würde mich niemand davon abhalten, sie mitzunehmen.

»Wann findet der Kainah statt?«, fragte ich schließlich.

»Bei Sonnenaufgang.«

Ich nickte Mayla dankend zu und machte mich auf die Suche nach Glaem.

»Wir werden morgen früh aufbrechen«, verkündete ich einem sehr überrumpelten Glaem, als ich in sein Zimmer hineinstürzte. Er stand vor seinem Fenster, die blendende Sonne ließ seine Haare golden erscheinen.

»Morgen«, murmelte er. Es war keine Frage, doch sein Blick war skeptisch. »Wieso die Eile?«

»Ist das dein Ernst? Ich muss so schnell wie möglich meinen Körper finden. Je länger ich so unbedacht hier Zeit verschwende, umso mehr Zeit hat Aragon zu erfahren, dass ich zurück bin und einen Angriff auf mich vorzubereiten! Er könnte meinen Körper zerstören, wenn er das nicht schon längst getan hat, oder meine Unfähigkeit in diesem menschlichen Körper ausnutzen und mich beseitigen, solange ich mich nicht vernünftig wehren kann!«

Glaem atmete schwer aus. »Solange du deine Wut nicht zügeln kannst, brauchen wir nirgendwo hinzugehen. So bist du erst recht nutzlos.« Vor meine Augen legte sich ein roter Schleier — es brodelte förmlich in mir.

»Aber«, unterbrach mich Glaem, bevor ich etwas sagen konnte, »ich bezweifle, dass Aragon deinem Körper etwas angetan hat. Dafür ist er eine viel zu praktische Energiequelle. Er könnte sonst was damit anstellen, aber er wird ihn nicht zerstört haben. Außerdem —« Glaem wurde plötzlich still, seine Augen weiteten sich, während er mich anstarrte.

»Mimithe«, sagte er und trat ein paar Schritte auf mich zu. Ich konnte ihn kaum hören, in meinen Ohren pochte mein Blut so laut, dass es alles übertönte. Ich atmete heftig, während ich krampfhaft versuchte, mich zu beruhigen. Irgendetwas stimmte nicht.

»Mimithe!«, schrie Glaem, doch für meine Ohren war er stumm. Mein Blickfeld explodierte in ein Meer aus roter Farbe und ich explodierte gleich mit.

»Wo gehen wir überhaupt hin?«, fragte James.

»Keine Ahnung, wo du hingehst, aber ich gehe nach Leas«, zischte Lu zurück, ohne sich zu James umzudrehen.

»Ich dachte, wir wären jetzt ein Team, du und ich. Wo du hingehst, gehe ich hin«, summte James, woraufhin Lu ein abschätziges Knurren ausstieß. James wusste nicht, wieso es ihn so amüsierte, den anderen Mann wütend zu machen, aber man musste allen Spaß nutzen, den das Leben einem bot. Auf der Erde hatte James den Angelos absolut nicht ausstehen können — zugegeben, das lag hauptsächlich an ihm, nicht an Lucifer — aber hier in Lyrena’d hatte der gefallene Engel etwas von seiner Ausstrahlung verloren. Er war nicht mehr eines der mächtigsten, ältesten Wesen ... in Lyrena’d war er beinahe ein Kind verglichen mit dem Alter der meisten Lebewesen hier.

»Wieso Leas?«

Lu grummelte etwas Unverständliches.

»Du kannst mir antworten, oder du kannst dir weiterhin mein Gefasel anhören. Ich höre erst auf, wenn du anfängst zu reden.«

Lu atmete hörbar aus. »Ich gehe nach Leas, weil das der einzige Teil Lyrena’ds ist, bei dem ich mir einbilde, ihn zu kennen. Auch wenn ich selbst noch nie dort war, hat Mimithe sehr viel von ihrer Heimat erzählt ... und es wäre der Ort gewesen, an dem wir hätten ankommen sollen, hätten wir selbst unser Ziel bestimmen können. Zufrieden?«

»Ziemlich«, antwortete James. »Denn wenn du nach Leas willst, laufen wir in die völlig falsche Richtung.«

Lu blieb abrupt stehen, sodass James in ihn hineinlief. »Und das sagst du mir erst jetzt?«

»Ich habe vorher nicht gewusst, wo wir hingehen.«

»Verdammte Scheiße«, fluchte Lu und massierte seine Schläfen. »Diese Welt bereitet mir Kopfschmerzen.«

»Ich glaube nicht, dass es die Welt ist, die dir zu schaffen macht«, sagte James und warf ihm einen wissenden Blick zu. Lu erwiderte seinen Blick gehässig, doch dann machte sich ein Bild der Erschöpfung auf Lus Gesicht breit und er nickte unmerklich.

»Sie fehlt mir. Ich hatte sie gerade erst zurück und schon ist sie wieder fort«, erklärte Lu und ließ den Kopf sinken.

»Du könntest dich entschuldigen«, schlug James vor.

Lu lachte kalt auf. »Glaubst du, das hätte ich nicht längst getan? Aber du hättest mal die Wut in ihren Augen sehen sollen … ich bezweifle, dass sie mich sehen will. Sie hat jetzt Glaem wieder, da braucht sie mich nicht.«

»Ugh«, machte James abfällig. »Jetzt hör auf mit dem Gesäusel, das ist ja schrecklich. Wütend gefällst du mir besser. Hör mir mal zu, ich glaube immer noch nicht, dass du einen guten Einfluss auf Mimithe hast, geschweige denn dass ihr beiden überhaupt irgendwie zusammengehört. Aber – und merk dir das gut, das wiederhole ich nicht noch einmal – sie empfindet nichts anderes als Freundschaft für Glaem. Das wird sich niemals ändern, glaub mir. Die beiden sind seit Urzeiten befreundet und mindestens genauso lange schmachtet Glaem ihr hinterher. Glaubst du nicht, es wäre längst etwas passiert, wenn Mimithe gewollt hätte? Es schmerzt mich selbst das zu sagen, aber du bist der erste Mann, dem sie überhaupt diese Art von Aufmerksamkeit schenkt.«

Lu blickte ihn verwundert an. »Wer bist du eigentlich?«

James Augenbraue zuckte leicht, er hob das Kinn und sah Lu verschmitzt an. »Ich bin enttäuscht, kannst du dir meinen Namen immer noch nicht merken? Hier, ich buchstabiere ihn für dich: J – A – M –«

»Hör auf«, unterbrach Lu wütend. »Hör auf mit dem Spiel. Ich weiß sehr wohl, wer du auf der Erde vorgegeben hast zu sein, aber da wir nun hier sind – in deiner Heimat – würde ich gern wissen, wer du hier bist. Du magst Kaylins Onkel gewesen sein, aber ich bezweifle stark, dass du auch Mimithes Onkel bist. Also wer bist du? Was ist dein wahrer Name? Wo ist dein wahrer Körper?«

James durchfuhr eine Welle der Wut, die er schnell unter einer Maske aus Gleichgültigkeit vergrub. »So viele Fragen. Ich glaube nicht, dass ich dir einer Antwort schuldig bin, Angelos

»Das schon wieder«, raunte Lu und ballte die Hände an seiner Seite zu Fäusten. »Wenn du mir nicht antworten willst, dann lass mich in Frieden, Fae

»Ich bezweifle, dass du den Weg nach Leas ohne mich finden wirst«, wandte James ein. Er hatte keinerlei Absichten, Lucifer allein zu lassen. Nicht, wenn es nun soweit war.

»Ich finde mich schon zurecht, danke«, zischte Lu und wollte sich gerade auf den Weg machen, als ihn ein Geräusch aufhorchen ließ.

James stellte sich an seine Seite, den Blick auf die Felsformation gerichtet, aus der das Geräusch gekommen war.

»Das bezweifle ich aufrichtig«, korrigierte James. »Sie zeigen sich nämlich endlich.«

Lu nahm eine angespannte Haltung ein. »Wer?«

»Hast du dich nicht gewundert, wieso du bis hierher keinem anderen Wesen begegnet bist? Du kannst nicht einfach als fremdweltlerisches Wesen hier auftauchen – noch dazu ein so mächtiges wie du – und erwarten, dass du unentdeckt bleibst.«

»Ich habe nicht erwartet, gesucht zu werden«, gestand Lu, sein Blick ebenfalls auf die Felsen fixiert.

»Mit deiner Energie? Großer Fehler«, sagte James. Im selben Moment schnellte etwas so schnell zwischen dem Gestein hervor, dass James keine Zeit hatte zu reagieren, bevor er von den Füßen gerissen wurde. Lus überraschtem Fluchen nach zu urteilen, erging es ihm genauso.

James prallte unsanft zu Boden, während er versuche, die Kreatur auf seiner Brust mit beiden Armen von sich zu drücken. Das graue Wesen stieß grässliche, spitze Schreie aus, seine Klauen bohrten sich in James‘ Haut. James versuchte sein Gesicht zu schützen, während der Ungeborene scheinbar ziellos auf ihn einschlug. Seine Krallen schnitten sofort durch alles, was sie berührten. Keuchend versuchte James mit dem Ellbogen einen Treffer zu landen, doch die entstellte Kreatur war schneller – James sah noch, bevor er es spürte, wie die Krallen sich auf seiner Brust über dem Herzen positionierten – und eindrangen.

James stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus, griff wütend nach dem Ungeborenen und packte die Bestie am Hals. Das ohrenbetäubende Geschrei des Biestes durchschnitt die Luft, so schrill, dass es hätte Glas zerbrechen können. James packte so fest zu, wie es seine Kraft ermöglichte, und schleuderte das Wesen zu Boden, hievte sich hoch, mit einem Knie die Kreatur am Boden haltend, und brach ihr mit beiden Händen das Genick. Augenblicklich wurde es still.

James sah zu Lu hinüber, der schwer atmend und mit ausgestreckten Gliedmaßen auf dem Boden lag und James verstört ansah. Ein weiterer toter Ungeborener lag neben ihm, Lucifer musste ihn ebenfalls gerade erst überwältigt haben.

»Was – war das?«, fragte Lu und setzte sich keuchend auf. Er sah so furchtbar aus, wie James sich fühlte. Unzählige Schnittwunden bedeckten seinen Körper, einige so tief, dass sie besorgniserregend bluteten.

»Ungeborene«, erklärte James knapp und ließ sich ebenfalls schwer atmend neben Lu nieder. Dieser nickte knapp. Mimithe musste ihm von den Wesen erzählt haben, sie hatte damals eine ganze Armee von ihnen ausgelöscht.

»Das erklärt, wieso dieses Mistvieh versucht hat, mein Herz herauszureißen«, stellte Lu fest.

Sich den Staub von der Kleidung klopfend rappelte James sich auf und reichte Lu eine Hand, die er jedoch nicht annahm.

»Bist du verletzt?«, fragte James trotzdem.

Lu schüttelte den Kopf. »Ich habe schon Schlimmeres erlebt.« Er erhob sich ebenfalls und sein Blick fiel auf James. »Du siehst allerdings nicht so gut aus.«

James blickte an sich herab und stellte fest, dass sein gesamtes Shirt durchgeblutet war. Anscheinend waren die Krallen tiefer gegangen, als er vermutet hatte.

»Huh«, machte er und versuchte, das klebende Shirt von seiner Haut zu lösen. »Ich schätze, ich sollte das mal von jemandem untersuchen lassen.«

»Gibt es so etwas wie Ärzte hier?«, fragte Lu.

James verzog seinen Mund zu einem Grinsen.»So etwas Ähnliches.«

»Wo gehen wir hin?«, fragte Trish, als sie Ruth die kleinen Straßen von Amesbury entlang folgte.

»Zu Vespasians Lager«, antwortete das andere Mädchen.

»Bitte, wohin?«

Ruth lächelte amüsiert. »Das ist der Hügel dahinten«, sagte sie und deutete mit dem Finger in Richtung eines bewaldeten Hügels.

»Tss«, machte Trish. »Ich wusste nicht, dass das Ding so einen schicken Namen hat. Und wieso gehen wir dahin?«

»Weißt du, was das ist? Und jetzt sag nicht, ein Wald.«

Trish lachte und stieß Ruth leicht ihren Ellbogen in die Seite. »Nein, dann weiß ich nicht, was es ist.«

»Abgesehen davon, dass das ein UNESCO Weltkulturerbe ist und du es kennen solltest, wenn du hier lebst, vermutet man, dass das Lager Teil der Ritualstätte von Stonehenge gewesen ist.«

»Aha«, machte Trish nur desinteressiert.

»Tu nicht so, als müsste ich dir alles erklären.« Ruth seufzte genervt. »Du weißt genau, was das bedeutet.«

»Dass du mich an einen gottlosen Ort entführst, um mich bei einem verrückten Ritual zu opfern? Nackt, nehme ich an?«

Ruth schubste das andere Mädchen empört, welches nur lachend zur Seite stolperte.

Vespasians Lager war ein seltsamer Ort. Er schien von außen vollkommen normal zu sein, eine einfache Fläche mit nicht besonders dicht beieinanderstehenden Bäumen. Für alle, die kein Auge für Magie hatten, war es wahrscheinlich auch ein ganz normaler Ort. Nicht aber für Ruth und Trish.

»Wie kann es sein, dass ich noch nie hier war?«, fragte Trish.

»Gute Frage.« Ruth konnte spüren, dass das andere Mädchen sich sichtlich unwohl fühlte umgeben von den kargen, lautlosen Bäumen. Es herrschte eine unnatürliche Stille, nicht einmal der Wind brachte die Blätter zum Rascheln.

„Wonach genau soll ich suchen?“, fragte Trish.

„Nach einem Tor. Voraussichtlich in den Baumkronen“, erklärte Ruth erneut.

Zwar konnte sie Trishs skeptischen Blick nicht sehen, doch sie spürte ihn zu genüge.

„Das ist wirklich keine besonders gute Beschreibung, weißt du? Wenn ich wenigstens wüsste, wie dieses Tor aussieht …“

„Glaub mir, wenn ich wüsste, wie es aussieht, hätte ich es dir längst gesagt. Oder besser, ich würde selber danach suchen, wenn ich könnte“, erwiderte Ruth schnippisch.

Trish entschied sich wohl, das besser unkommentiert zu lassen.

Eine Weile liefen die beiden Mädchen schweigend umher, Ruths Blick starr nach vorn gerichtet, Trishs immer durch die Baumkronen schweifend. Sie musste sich ab und zu an Ruths Schulter festhalten, um nicht zu stolpern – bei dem Gedrehe wurde ihr ganz schwindelig.

„Erklär mir das Ganze bitte noch einmal von vorn“, unterbrach Trish schließlich die unangenehme Stille. „Du meinst, diese Schattenwesen, die mich letztens angegriffen haben, werden immer zahlreicher und wahrscheinlich kommen sie aus diesen ominösen Toren in den Baumkronen, die wir gerade suchen?“

Ruth atmete schwer aus. „Ich behaupte nicht, dass die Tore nur in Baumkronen zu finden sind. Allerdings hat Kaylin das erste Tor bei uns in Canterbury in einem Park in den Bäumen entdeckt, daher dachte ich, es wäre ein guter Anfang, hier zu suchen. Oder hast du irgendwelche anderen Anhaltspunkte, von denen ich nichts weiß? Ich weiß, es ist weit hergeholt, aber da die Schattenwesen dich mitten am Tag angegriffen haben, müssen sie stärker geworden sein. Selbst Malina hat erschrocken reagiert. Sie müssen ihre Energie irgendwo her beziehen – und wieso nicht aus einer Jahrtausende alten Ritualstätte?“

Ruth spürte den verblüfften Blick des anderen Mädchens auf sich. „Ich glaube, ich habe dich noch nie so viel auf einmal reden hören.“

Ruth zuckte unbeeindruckt mit den Schultern.

„Ich wünschte, wir könnten Malina um Hilfe bitten“, seufzte Trish.

„Ich wünschte auch, wir könnten ihr vertrauen.“

„Es wäre alles so viel einfacher, wenn Mimithe – oder Kaylin, wie auch immer – dir mehr über all das hier verraten hätte.“

„Sie hat es nicht absichtlich vor mir geheim gehalten“, entgegnete Ruth verteidigend. „Sie hat ihre Erinnerungen zu spät zurückbekommen. Als sie wieder alles wusste, musste sie schon fort. Deshalb hat sie mir ja zumindest den Brief hinterlassen.“

„Den Brief, den du noch immer nicht gelesen hast“, erinnerte Trish. „Wenn du ihn mir dir wenigstens vorlesen –“

„Wer hat behauptet, ich hätte ihn nicht gelesen?“

Trish sah das blinde Mädchen entgeistert an. „Hast du etwa Malina gebeten, ihn dir vorzulesen?“

„Selbstverständlich nicht«, entgegnete Ruth. »Ich habe meine eigenen Wege.“

Trish seufzte laut und griff sich mit beiden Händen in ihre schwarzen Locken. „Manchmal machst du mich echt wahnsinnig, wenn du mir nur die Hälfte erzählst.“

Ruth wollte gerade zu einem Grinsen ansetzen, als sie plötzlich einen starken Ruck verspürte. „Spürst du das?“, fragte sie Trish erschrocken.

„Spüre ich was?“

„Irgendetwas …“, begann Ruth, doch dann spürte sie es deutlicher – ein Ziehen an ihrer rechten Seite. Ruth gab dem Gefühl nach und sofort war ihr, als würde eine unsichtbare Hand sie mit sich zerren. Sie folgte dem aufdringlichen Zug, Trish stolperte ihr verwirrt hinterher. Die beiden Mädchen fanden sich Sekunden später vor einem kniehohen, moosbedeckten Stein wieder, der nicht aus natürlichen Gründen an seinem Platz in der kleinen Lichtung zu stehen schien.

Ruth legte behutsam ihre Hand auf den Stein, während Trish sie verwirrt beobachtete.

„Hast du die Runensteine dabei?“, fragte Ruth.

Trish kramte ein kleines Ledersäckchen aus ihrer Umhängetasche hervor, das sie in Ruths freie Hand platzierte. Ruth nahm es dankend an und kippte es kurzerhand vor dem Stein aus, was die kleinen runenbesetzten Steinchen dazu veranlasste, in alle Richtungen zu rollen. Zwei von ihnen blieben allerdings genau vor dem Stein liegen.

„Weißt du, was du da tust?“, fragte Trish sichtlich verwirrt.

Ruth antwortete nicht. Stattdessen beugte sie sich zu den kleinen Steinchen herunter und nahm jeweils einen in jede Hand. Sie gab einen überraschten Laut von sich.

„Ruth, was –?“, setzte Trish an, dann fiel ihr Blick auf Ruths Gesicht. „Ach du heilige …“

Grüne Farben und helles Licht blendeten Ruth, doch was ihre Aufmerksamkeit am meisten fesselte, war die glänzende, dunkle Haut des Mädchens vor ihr und die tiefen schwarzen Augen, die sie schockiert anstarrten. Bevor Ruth den Anblick jedoch genießen konnte, griff die Dunkelheit wieder nach ihr und riss sie mit sich zu Boden.

Ruth blinzelte, obwohl sie nicht wusste, was sie sich davon erhoffte. Ihre Welt war erneut schwarz geworden. Für einen kurzen Moment hatte sie Farben gesehen ... so viele Farben — so viel Grün. Sie wusste, es musste grün gewesen sein, Bäume waren im Sommer immer grün. Und dann Trish — das Mädchen hatte sie mit einer so geschockten Miene angesehen, dass Ruth am liebsten gelacht hätte ... hätte sie nicht mal wieder das Bewusstsein verloren. Das schien ein Schema zu werden, immer wenn Ruth plötzlich sehen konnte, fiel sie daraufhin in Ohnmacht. Allerdings nicht für lange. Sie war kurz darauf auf dem kalten Waldboden wieder aufgewacht, Trishs Arme an ihrem Körper spürend. Den verzweifelten Worten des anderen Mädchens nach zu urteilen, war sie gerade erst umgekippt.

Nun saß sie in eine Wolldecke gewickelt auf dem Bett, das sie sich mit Trish teilte, und nippte an einem heißen Getränk, das sie nicht definieren konnte.

»Wie geht es dir?«, fragte Trish, als sie die Tür zu dem Zimmer öffnete und sich an den Türrahmen lehnte.

»Genauso wie vor fünf Minuten«, erwiderte Ruth schmunzelnd. »Was ist hier eigentlich drin?« Sie deutete mit einem Finger auf die Tasse in ihrer Hand.

Trish räusperte sich kurz. »Ein Zaubertrank.«

Ruth hob fragend eine Augenbraue.

»Ein Zaubertrank gegen Kreislaufbeschwerden. Hab’ ich selbst gemacht«, nuschelte Trish etwas verlegen. Ruth lachte und nahm einen weiteren Schluck aus der Tasse. Trish seufzte zufrieden und setzte sich ans Fußende des Bettes, Ruths Füße in ihren Schoß legend. Ruth spürte die prüfenden Blicke des anderen Mädchens auf sich, hörte beinahe das Überschlagen ihrer Gedanken.

»Nun frag schon«, sagte Ruth belustigt.

»Oh — okay«, erwiderte Trish etwas überrascht.

Normalerweise behielt Ruth ihre Gefühle lieber für sich und hätte in jeder anderen Situation geschwiegen, doch Trish löste das Verlangen in ihr aus, sich dem Mädchen mitzuteilen, wenn sie dafür ihre Sorgen etwas lindern konnte.

»Was genau ist da im Wald passiert?«

Ruth stellte die Tasse in ihrem Schoß ab und seufzte kaum merklich. »Ich fürchte, da bin ich selbst nicht sicher — wenn ich bloß wüsste, was diese Anfälle auslöst, dann könnte ich vielleicht lernen, sie zu kontrollieren.«

»Moment, du redest von Anfällen — Plural — heißt das, dir ist das schon einmal passiert?«

Ruth nickte. »Mit James, Kaylins Onkel. Da habe ich eine Kristallkugel berührt und es war, als würde sich der Nebel um meine Augen lichten und ich konnte plötzlich sehen.«

»Und diesmal hast du Runensteine berührt«, überlegte Trish laut. »Meinst du, es liegt an den Gegenständen?«

»Das ist das Einzige, wovon ich ziemlich überzeugt bin. Ich glaube, es passiert ... wenn ich versuche, die Wahrheit zu erkennen.«

»Du meinst, wenn du versuchst wahrzusagen?«, fragte Trish verwirrt.

Ruth schüttelte rasch den Kopf. »Nicht wahrsagen, ich versuche nicht, die Zukunft vorherzusehen ... es ist schwer zu erklären, es ist vielmehr, dass ich dem Universum eine Frage stelle und es ... antwortet.«

»Puuh«, machte Trish und ließ sich im Bett zurückfallen. »Interessant. Okay, abgefahrenes Universums-Zeug hin oder her, heißt das, in dem Moment konntest du wirklich sehen? Also ganz klar und in Farbe und so?«

Ruth lachte erneut. »Ja, klar und in Farbe. So könnte man das nennen.«

»Dann hast du mich gesehen?«, fragte Trish, etwas leiser.

Das andere Mädchen lächelte sanft und ließ eine Hand durch Trishs lockiges Haar gleiten. »Ich kann dich immer sehen. Du bist wirklich — wunderschön.«