Der Autor

Alexander Kent – Foto © Kim Reeman

Alexander Kent kämpfte im Zweiten Weltkrieg als Marineoffizier im Atlantik und erwarb sich danach einen weltweiten Ruf als Verfasser spannender Seekriegsromane. Er veröffentlichte über 50 Titel (die meisten bei Ullstein erschienen), die in 14 Sprachen übersetzt wurden, und gilt als einer der meistgelesenen Autoren dieses Genres neben C.S. Forester. Alexander Kent, dessen richtiger Name Douglas Reeman lautet, war Mitglied der Royal Navy Sailing Association und Governor der Fregatte »Foudroyant« in Portsmouth, des ältesten noch schwimmenden Kriegsschiffs.

Das Buch

1813: Kaum aus Übersee zurückgekehrt, wird Sir Richard Boltiho von der britischen Admiralität erneut in die Pflicht genommen. Napoleon, der Verbündete der Amerikaner, beginnt sich an allen Fronten zurückzuziehen, und die Yankees drängen auf eine schnelle Entscheidung. Mit seinen Getreuen führt Sir Richard auf der Indomitable das Geschwader an, das den Feind vor Kanadas Küste vernichtend schlagen soll.

Alexander Kent

Unter dem Georgskreuz

Admiral Bolitho im Kampf um Kanada

Roman

Aus dem Englischen
von Dieter Bromund

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Neuausgabe bei Refinery
Refinery ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Oktober 2018 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
© der deutschen Übersetzung:
Ullstein Buchverlage GmbH & Co. KG, Berlin 1998
© 1996 by Bolitho Maritime Productions
Titel der englischen Originalausgabe: Cross of St. George
Covergestaltung: © Sabine Wimmer, Berlin
E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-96048-123-2

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Widmung

Für meine Kim
in Liebe und Dankbarkeit
für dein Kanada,
das du mit mir teiltest.

Motto

Wo immer Holz schwimmen kann,
werde ich ganz sicher diese englische Flagge finden.
Napoleon Bonaparte

I Der Ehrensäbel

Die Königliche Werft in Portsmouth, gewöhnlich ein lauter und geschäftiger Ort, lag still wie ein Grab. Zwei Tage lang hatte es ununterbrochen geschneit, und die Häuser, Werkstätten, Holzstapel und Vorräte für die Schiffe, die typisch waren für jede Werft, hatten sich in bedeutungslose Schemen verwandelt. Und es schneite immer noch weiter. Die weiße Decke hatte selbst die vertrauten Gerüche überlagert: Die unverkennbare Mischung aus Farbe und Teer, Hanf und frischem Sägemehl roch anders als sonst. Sie schien so fremd wie die Geräusche. Gedämpft durch den vielen Schnee waren sogar der Schuß der Kanone, mit dem die Verhandlung des Kriegsgerichts eröffnet wurde, und sein Echo fast unbemerkt verhallt.

Residenz und Kontore des Admirals schienen heute noch mehr von den anderen Gebäuden isoliert als sonst. Von einem der hohen Fenster, von dem man immer ein nahes Dock überblickte, konnte man jetzt nicht einmal das Wasser des Hafens entdecken.

Kapitän Adam Bolitho wischte über das feuchte Fensterglas und starrte nach unten auf den einsamen Posten, einen Seesoldaten in scharlachroter Uniformjacke. Es war früher Nachmittag, doch schon dämmrig wie bei Sonnenuntergang. Im Fenster betrachtete Bolitho sein Spiegelbild und das flackernde Holzfeuer im Kamin an der anderen Seite des Raums. Dort saß auf der Kante eines Stuhls sein Begleiter, ein nervöser, junger Leutnant, und rieb seine Hände vor den Flammen. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Bolitho Mitleid mit ihm gehabt. Es war keine leichte oder gar erstrebenswerte Pflicht, als Begleiter zu agieren. Seine Lippen wurden schmal. Begleiter?

Eskorte war richtiger. Eskorte für jemanden, der vor einem Kriegsgericht erscheinen mußte. Dabei hatte ihm jedermann versichert, daß das Urteil ohne jeden Zweifel zu seinen Gunsten ausfallen würde.

Das Gericht war an diesem Morgen in der großen Halle zusammengetreten, die sich an das Haus des Admirals anschloß. Sie diente häufiger als Ort für Empfänge denn als Gerichtssaal, in dem über das Schicksal eines Mannes, ja sogar über sein Leben entschieden wurde. Man sah immer noch einige unpassende Spuren des großen Weihnachtsballs, der kürzlich hier veranstaltet worden war.

Adam starrte auf den Schnee. Gerade hatte ein neues Jahr begonnen: Man schrieb den 3. Januar 1813. Nach allem, was er durchgemacht hatte, hätte er nach diesem Neuanfang greifen müssen wie ein Ertrinkender nach der Rettungsleine. Aber das tat er nicht, konnte es nicht. Alles, was ihm lieb und teuer war, lag hinter ihm – nur zerbrochene Erinnerungen blieben ihm.

Er spürte, daß der Leutnant sich auf seinem Stuhl regte, und bemerkte Bewegung auch draußen. Das Gericht trat wieder zusammen. Nach einer sicher verdammt guten Mahlzeit, dachte er. Das Essen war offenbar ein Grund, die Verhandlung hier zu führen, statt die Herren der Unbill einer Passage im offenen Boot zum Flaggschiff auszusetzen, das irgendwo im Schneetreiben in Spithead ankerte.

Er berührte die Seite, wo der eiserne Splitter ihn getroffen und zu Boden gerissen hatte. Er glaubte damals, sterben zu müssen. Manchmal hatte er sich das sogar gewünscht. Wochen und Monate waren inzwischen vergangen. Und immer noch fiel es ihm schwer zu begreifen, daß er vor weniger als sieben Monaten verwundet worden war. Und daß damals seine geliebte Anemone sich dem Feind ergeben hatte – ohnmächtig gegen die geballte Feuerkraft der U.S.S. Unity. Selbst heute noch war seine Erinnerung daran verschwommen. Der rasende Schmerz der Wunde, der gebrochene Stolz, der nicht akzeptieren wollte, daß er Kriegsgefangener war. Ohne Schiff, ohne Hoffnung, jemand, den man schnell vergessen würde.

Jetzt spürte er kaum noch Schmerzen. Selbst einer der Chirurgen der Königlichen Flotte hatte das Können des französischen Wundarztes der Unity gelobt, ebenso die anderen Ärzte, die während seiner Gefangenschaft alles Menschenmögliche für ihn getan hatten.

Er war geflohen. Männer, die er kaum gekannt hatte, hatten alles für ihn aufs Spiel gesetzt, um ihn zurück in die Freiheit zu bringen. Einige waren dafür sogar gestorben. Und dann gab es noch andere, denen er auch niemals zurückgeben könnte, was sie für ihn getan hatten.

Mit einem Räuspern sagte der Leutnant: »Ich glaube, sie sind zurück, Sir!«

Adam nickte. Der Mann schien Furcht zu haben. Vor mir? Vielleicht wollte er nur Abstand halten, falls man mich verurteilte?

Seine Fregatte, die Anemone, hatte sich mit einem weit überlegenen Gegner eingelassen, der nicht nur mehr Kanonen, sondern auch eine größere Mannschaft besaß. Viele Männer der Anemone waren als Prisenkommandos von Bord geschickt worden. Nicht aus Überheblichkeit oder verstiegenem Stolz hatte er gehandelt. Es ging darum, einen Konvoi von drei schwer beladenen Frachtschiffen, die er zu den Bermudas begleiten sollte, zu retten. Anemones Angriff hatte dem Konvoi Gelegenheit zur Flucht gegeben – Sicherheit im nahenden Dunkel. Er erinnerte sich an den beeindruckenden Kommandanten der Unity, Nathan Beer, der ihn in seine eigene Kajüte hatte bringen lassen und der ihn besucht hatte, während der Chirurg ihn behandelte. Selbst durch die Schleier von Schmerz und Bewußtlosigkeit hatte er den großen Amerikaner neben sich gespürt. Beer hatte mit ihm wie ein Vater mit seinem Sohn gesprochen, von Kapitän zu Kapitän, nicht als Gegner.

Und nun war Beer tot. Adams Onkel, Sir Richard Bolitho, war auf die Amerikaner gestoßen und hatte sie in einen kurzen, blutigen Kampf verwickelt. Am Ende hatte Bolitho dem sterbenden Gegner beistehen müssen. Bolitho meinte, ihr Aufeinandertreffen sei eine Fügung des Schicksals gewesen. Keinen von beiden hatte die Auseinandersetzung oder ihre Härte überrascht.

Adam hatte wieder eine Fregatte erhalten, die Zest. Ihr Kommandant war im Kampf mit einem unbekannten Schiff gefallen. Er war der einzige Tote, so wie Adam der einzige Überlebende der Anemone war, einen zwölfjährigen Schiffsjungen ausgenommen. Alle anderen waren gefallen, ertrunken oder gefangengenommen worden.

Die einzige mündliche Zeugenaussage heute morgen war von ihm gekommen. Es gab nur noch eine einzige andere Informationsquelle. Nachdem die Unity erobert und nach Halifax gebracht worden war, hatte man das Logbuch gefunden, das Beer noch während des Angriffs der Anemone geführt hatte. Im Gerichtssaal herrschte Stille wie draußen im fallenden Schnee, als der älteste Gerichtsdiener Beers Aufzeichnungen laut vorlas. Sie betrafen den heftigen Angriff der Fregatte ebenso wie die Explosion an Bord der Anemone, die aller Hoffnung, sie als Prise zu nehmen, ein Ende gesetzt hatte. Beer hatte auch notiert, daß er wegen der eigenen erlittenen Schäden am Schiff die Verfolgung des Konvois abbrechen mußte. Am Ende des Berichts hatte er geschrieben: Wie der Vater, so der Sohn!

Ein paar Blicke wurden unter den Offizieren des Gerichts gewechselt, mehr nicht. Die meisten ahnten nicht, was Beer damit gemeint hatte. Andere wollten sich zu keinerlei Bemerkung hinreißen lassen, die das Urteil vorwegnehmen könnte.

Adam schien es, als habe er in der Stille des Raums die Stimme des großen Amerikaners gehört, so als stünde Beer selber dort, um Zeugnis abzulegen von dem Mut und der Ehre seines Gegners.

Bis auf Beers Logbuch gab es in der Tat wenig als Beweis dessen, was tatsächlich geschehen war. Und wenn ich immer noch Gefangener wäre? Wer würde mir helfen? Man würde sich an mich nur noch als an den Kapitän erinnern, der vor dem Feinde seine Fahne strich. Ob nun verwundet oder nicht, die Kriegsartikel ließen kaum Spielraum für Milde zu. Du bist so lange schuldig, bis zweifelsfrei das Gegenteil bewiesen ist.

Er preßte hinter dem Rücken die Finger zusammen, damit der Schmerz ihm half, Haltung zu bewahren. Ich habe die Fahne nicht gestrichen. Damals nicht, noch zu irgendeiner anderen Zeit.

Er hatte in Erfahrung gebracht, daß zwei Kommandanten, die da vor ihm zu Gericht saßen, einst auch vor einem Kriegsgericht angeklagt worden waren. Vielleicht erinnerten sie sich, zogen Vergleiche. Dachten vielleicht daran, was geschehen wäre, wenn die Spitze des Säbels auf sie gezeigt hätte …

Er trat vom Fenster zurück und stellte sich vor einen großen Spiegel. Wahrscheinlich prüften hier alle Offiziere den Sitz ihrer Uniform, um sicherzugehen, daß sie die Billigung des Admirals fand. Er starrte unbewegt auf sein Spiegelbild, drängte die Erinnerung zurück. Doch sie war immer da, unauslöschbar und beständig. Er sah seine glänzenden goldenen Schulterstücke. Kapitän mit vollem Rang. Wie stolz sein Onkel gewesen war. Wie alles andere, war auch seine Uniform neu. Alle seine sonstigen Besitztümer lagen in seiner Seekiste auf dem Grund des Meeres. Selbst der Säbel auf dem Tisch des Gerichts war nur geliehen. Er dachte an die wunderschöne Klinge zurück, die die Kaufmannschaft der Stadt London ihm verehrt hatte. Ihr gehörten die drei Schiffe, die er gerettet hatte. Die Ehrengabe war das Zeichen ihrer Dankbarkeit. Er schaute zur Seite, weg von seinem Spiegelbild, mit Ärger im Blick. Die Kaufleute konnten sich solche Dankbarkeit leisten. Zu viele von denen, die damals für sie gekämpft hatten, würden davon nie erfahren.

Leise antwortete er dem Leutnant: »Ihre Aufgabe ist bald beendet. Ich war kein guter Gesellschafter, fürchte ich.«

Der Leutnant schluckte schwer. »Ich bin stolz darauf, bei Ihnen gewesen zu sein, Sir. Mein Vater diente unter Ihrem Onkel, Sir Richard Bolitho. Weil er mir so viel berichtet hatte, bin ich in die Königliche Marine eingetreten.«

Trotz der Spannung dieses unwirklichen Augenblicks war Adam seltsam bewegt.

»Vergessen Sie das nie. Liebe, Loyalität – so etwas hat viele Namen. Es wird Sie immer halten.« Er zögerte. »Es muß Sie halten!«

Sie schauten sich beide um, als die Tür vorsichtig geöffnet wurde und der Hauptmann, der die Seesoldaten kommandierte, hereinblickte.

Er sagte nur: »Man erwartet Sie, Kapitän Bolitho!« Es schien, als wolle er noch etwas hinzufügen, vielleicht etwas Mutmachendes, Hoffnunggebendes. Aber der Augenblick verstrich. Er knallte zackig die Hacken zusammen und marschierte in den Korridor zurück. Der Leutnant starrte hinter ihm her, als ob er versuchte, sich diesen Augenblick genau einzuprägen, um vielleicht seinem Vater davon zu berichten.

Adam lächelte fast. Er hatte vergessen, ihn nach seinem Namen zu fragen.

Der große Raum war bis auf den letzten Platz besetzt.

Was wollten die wohl alle hier, und wer waren sie? Aber dann erinnerte er sich: Eine öffentliche Hinrichtung zog immer große Mengen Gaffer an.

Adam war sich der Entfernung sehr bewußt. Hinter ihm klickten die Schritte des Hauptmanns der Seesoldaten. Einmal rutschte er. Es lagen immer noch Reste von Puderkalk auf dem Boden als Erinnerung an den Weihnachtsball.

Als er an der letzten Reihe sitzender Zuschauer vorbeikam, um vor den Offizieren des Gerichts seinen Platz einzunehmen, sah er auf dem Tisch den geborgten Säbel. Der Griff zeigte auf ihn. Er war schockiert – nicht etwa, weil er wußte, daß das Urteil gerecht war, sondern weil er nichts fühlte. Absolut gar nichts. So als sei er, wie all die anderen, nur Zuschauer.

Der Vorsitzende, ein Konteradmiral, sah ihn ernst an.

»Kapitän Bolitho, der Spruch dieses Gerichts lautet: Sie sind in allen Ehren freigesprochen!« Er lächelte kurz. »Bitte, nehmen Sie Platz!«

Adam schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Ich stehe lieber.«

»Nun denn.« Der Admiral öffnete seine Papiere. »Dieses Gericht ist überzeugt, daß Kapitän Adam Bolitho nicht nur seine Pflicht nach bester Tradition der Königlichen Marine erfüllt hat, sondern sich in Erfüllung dieser Pflicht auch unendlichen Ruhm erworben hat, weil er sich hartnäckig gegen einen weit überlegenen Gegner verteidigte. Als er sein Schiff zwischen den Gegner und die Handelsschiffe, die er zu beschützen hatte, manövrierte, bewies er sowohl Mut als auch ungewöhnliche Initiative.« Er hob seine Augenbrauen. »Ohne diese Charaktereigenschaften hätten Sie höchstwahrscheinlich keinen Erfolg gehabt, vor allem angesichts der Tatsache, daß Sie von einer Kriegserklärung nichts wußten. Andernfalls …« Das Wort blieb in der Luft hängen. Er brauchte nicht weiter zu erklären, wie dann der Spruch des Kriegsgerichts gelautet hätte.

Alle Offiziere des Gerichts erhoben sich. Einige lächelten breit, offensichtlich sehr erleichtert, daß das alles nun vorbei war.

»Nehmen Sie Ihren Säbel wieder an sich, Kapitän Bolitho«, sagte der Admiral und reichte ihm den Säbel. »Ich hatte angenommen, Sie würden den Ehrensäbel tragen, von dem ich hörte – oder?«

Adam ließ den geborgten Säbel in die Scheide gleiten. Geh am besten. Red nicht. Aber er sah den Admiral und die acht Kapitäne des Gerichts an und sagte: »George Starr war mein Bootsführer, Sir. Mit eigenen Händen hat er die Ladung gezündet, die das schnelle Ende meines Schiffes bedeutete. Ohne ihn würde die Anemone heute unter der Flagge der Vereinigten Staaten kämpfen.«

Der Admiral nickte, sein Lächeln verblaßte. »Ich weiß das. Das habe ich schon in Ihrem Bericht gelesen.«

»Er war ein aufrechter und ehrlicher Mann, der mir und seinem Land gut gedient hat.« Ihm fiel plötzlich die Stille auf, in der nur das Knarren von Stühlen zu hören war. Die hinten Sitzenden lehnten sich vor, um die leise, unbewegte Stimme zu hören. »Aber dann hängte man ihn seiner Treue wegen wie einen gemeinen Dieb!«

Er starrte in die Gesichter auf der anderen Seite des Tisches, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Seine Haltung täuschte jeden. Er wußte, er würde zusammenbrechen, wenn er jetzt fortfuhr. »Ich habe den Ehrensäbel einem Sammler verkauft, der solche Dinge schätzt.« Hinter ihm hörte er überraschte Stimmen. »Was das Geld angeht, das habe ich George Starrs Witwe gegeben. Es ist sicher alles, was sie je empfangen wird, denke ich.«

Er verbeugte sich steif, drehte sich um und ging durch die Stuhlreihen mit der Hand an der Seite, als würde er den alten Schmerz gleich wieder fühlen. Er achtete nicht auf die Gesichter, die Mitgefühl, Verständnis, ja sogar Scham zeigten. Er sah nur auf die Tür, die ein Seesoldat mit weißen Handschuhen bereits für ihn öffnete. Seine eigenen Seesoldaten und Seeleute waren an jenem Tag gefallen, und kein Ehrensäbel konnte sie je wieder zum Leben erwecken.

Im Vorraum warteten schon ein paar Leute. Hinter ihnen sah er es schneien. Alles so sauber nach dem Vorgefallenen.

Ein Mann in Zivil trat vor und streckte ihm die Hand entgegen. Irgendwie schien Adam sein Gesicht vertraut, doch er wußte, er war ihm noch nie vorher begegnet.

Der Mann zögerte. »Entschuldigen Sie, Kapitän Bolitho! Ich sollte Sie nicht länger aufhalten nach all dem, was Sie eben durchgemacht haben.« Er suchte mit dem Blick nach einer Frau, die weiter hinten saß und sie genau beobachtete: »Meine Frau, Sir!«

Adam wollte am liebsten gehen. Bald würden ihn alle umringen, ihm gratulieren, ihn für seine Tat loben. Hätte die Säbelspitze auf ihn gedeutet, hätten sie ihn mit demselben Interesse beobachtet. Doch irgend etwas hielt ihn zurück, als habe jemand laut gesprochen.

»Was kann ich für Sie tun, Sir?«

Der Mann war sicher weit über sechzig Jahre alt. Als er sprach, spürte man seine Haltung und seinen Stolz. »Ich heiße Hudson, Charles Hudson, verstehen Sie …« Er schwieg sofort, als Adam ihn fassungslos anstarrte.

»Richard Hudson war mein Erster Offizier auf der Anemone«, sagte er. Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Hudson hatte die Flaggleine mit seinem Entermesser gekappt, als Adam verwundet auf dem Deck lag und sich nicht bewegen konnte. Wieder schien ihm, als sei er nur Zuschauer, als höre er andere sprechen. Ich habe Ihnen befohlen, mit dem Schiff zu kämpfen!

Jeder Atemzug wühlte in seiner Wunde wie glühendes Eisen. Während Anemone unter ihnen starb, als der Feind längsseits ging. Und dann Hudsons letzte Worte, ehe Adam in das Boot hinabgehievt wurde. Wenn wir uns je Wiedersehen …

Adam erinnerte sich genau an seine Antwort. Ich werde Sie töten, verdammt noch mal. Und Gott ist mein Zeuge.

»Wir haben nur einen einzigen Brief von ihm bekommen.« Wieder blickte Hudson zu seiner Frau hinüber, die ihm zunickte, als wolle sie ihm helfen. Sie sah zerbrechlich aus und unwohl. Die Reise hierher hatte sie Kraft und Überwindung gekostet.

»Wie geht es ihm?« fragte er.

Charles Hudson schien nicht zuzuhören. »Mein Bruder war Vizeadmiral. Er machte seinen Einfluß geltend, damit Richard auf Ihr Schiff kommandiert wurde. Er sprach immer sehr warm von Ihnen, wenn er an uns schrieb … war stolz, unter Ihnen zu dienen. Als ich von dem Kriegsgericht hörte – so wagen sie es ja wohl zu nennen –, mußten wir natürlich kommen. Wir wollten Sie sehen und Ihnen für alles danken, was Sie für Richard getan haben. Er war unser einziger Sohn.«

Adam riß sich zusammen. »Was ist passiert?«

»Er schrieb in seinem Brief, er wolle Sie finden, um etwas … um etwas klarzustellen.« Er ließ seinen Kopf hängen. »Man schoß auf ihn, als er zu fliehen versuchte, und tötete ihn.«

Adam fühlte den Raum schwanken wie das Deck eines Schiffes. Die vergangenen Monate, der Schmerz, die Verzweiflung, die Wut auf das Geschehene: Immer nur hatte er an sich selbst gedacht.

»Ich werde das meinem Onkel berichten, wenn ich ihn treffe. Ihr Sohn kannte ihn«, sagte er. Dann ergriff er den Arm des Mannes und geleitete ihn zu seiner Frau. »Richard hatte mir nichts zu erklären. Jetzt, da er seinen Frieden hat, wird er das wissen.«

Hudsons Mutter erhob sich, hielt ihm ihre Hand entgegen. Adam beugte sich vor und küßte ihre Wange. Sie fühlte sich wie Eis an.

»Danke.« Er sah sie beide an. »Ihr Verlust ist auch meiner.«

Er blickte sich um, als hinter ihm ein Leutnant leise hüstelte und murmelte: »Der Hafenadmiral möchte Sie gerne sprechen, Sir!«

»Hat das nicht Zeit?«

Der Leutnant fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Man sagte mir, es sei wichtig, Sir. Wichtig für Sie!«

Adam drehte sich um, um sich zu verabschieden. Aber beide waren schon gegangen, so leise und unauffällig, wie sie gewartet hatten.

Er fuhr sich über die Wange. Ihre Tränen oder seine?

Dann folgte er dem Leutnant durch all die Menschen hindurch, die ihm zulächelten oder ihn beim Vorbeigehen am Arm berührten. Er nahm keinen wahr.

Er hörte nichts als seine eigene Wut. Ich habe Ihnen befohlen, mit dem Schiff zu kämpfen. Das war ein Satz, den er nie wieder vergessen würde.


Lady Catherine Somervell trat leise ans Fenster und sah zurück auf das Bett. Sie lauschte seinem Atem. Stille. Er schlief jetzt nach all der Ruhelosigkeit, die er vor ihr zu verbergen gesucht hatte.

Ihr fiel auf, daß die Nacht sehr ruhig war und jetzt erst der Mond durchkam. Sie griff nach einem schweren Seidenschal, hielt aber inne, als Richard sich auf dem Bett bewegte.

Sie sah die gezackten Wolken langsamer ziehen. Mondlicht fiel auf die Straße, die von den Schauern der Nacht immer noch regennaß glänzte. Jenseits der Straße, die die Häuserreihe von der Themse trennte, konnte sie das strömende Wasser des Flusses gerade eben erkennen. Es sah im Mondlicht aus wie schwarzes Glas. Auch der Fluß schien voller Stille, doch so war London: In wenigen Stunden würden auf dieser Straße Händler zum Markt eilen und Leute ihre Verkaufsstände errichten – Regen hin, Regen her.

Sie spürte die Kühle trotz des warmen Schals und fragte sich, was der Tag wohl bringen würde.

Vor gut einem Monat erst war Richard Bolitho nach Hause zurückgekehrt. Die Batterien von St. Mawes hatten Falmouths berühmtesten Sohn mit Salut begrüßt. Ein Admiral Englands, ein Held, der alle begeisterte, die seiner Flügge folgten.

Doch diesmal fand er keine Ruhe. Sein Neffe war vor ein Kriegsgericht gestellt worden, unmittelbare Folge der Tatsache, daß er die Anemone an den Gegner verloren hatte. Richard hatte sie beruhigt. Das Urteil würde Adam freisprechen. Doch sie kannte ihn gut genug. Seine Sorgen und seine Zweifel konnte er vor ihr nicht verbergen. Weil er in der Admiralität zu tun hatte, konnte er nicht nach Portsmouth reisen, wo die Verhandlung stattfand. Sie wußte auch, worauf Adam bestanden hatte: dem Gericht allein gegenüberzutreten, ohne jede Hilfe. Adam wußte genau, wie sehr Bolitho Vetternwirtschaft haßte und Manipulationen, Einflüsse von außen. Sie lächelte traurig. Sie waren sich so ähnlich, fast wie Brüder.

Vizeadmiral Graham Bethune hatte Richard versichert, ihn sofort zu informieren, sobald er etwas hören würde. Der schnelle Telegraph zwischen Portsmouth und London würde eine Nachricht in weniger als einer halben Stunde in die Admiralität befördern. Das Gericht war gestern morgen zusammengetreten, doch noch immer gab es keine Nachricht, nur Schweigen.

In Falmouth hätte sie ihn ablenken können, hätte ihn mit den Angelegenheiten seines Besitzes beschäftigt, die sie sich während seiner langen Abwesenheit auf See ganz zu eigen gemacht hatte. Aber man brauchte ihn in London. Der Krieg mit den Vereinigten Staaten, der im letzten Jahr ausgebrochen war, schien an einem Wendepunkt angekommen. Bolitho war in die Admiralität beordert worden, um Zweifel zu vertreiben oder Zuversicht zu verbreiten. Sie fühlte wieder Bitterkeit. Gab es außer ihm niemanden, den man schicken konnte? Ihr Mann hatte genug geleistet und oft genug dafür bezahlt.

Ihr war klar: Sie würden sich wieder trennen müssen. Wenn sie wenigstens nach Cornwall zurückkehren könnten … Bei den heutigen Straßenverhältnissen würde das fast eine Woche dauern. Sie dachte an ihr Zimmer in dem grauen Gutshaus unterhalb von Pendennis Castle, an die Fenster zur See hinaus. Die Ausritte und die Spaziergänge, die ihnen so viel Freude machten. Sie zitterte wieder, aber nicht vor Kälte. Welche Geister würden auf sie warten, wenn sie wieder den Weg entlanggingen, von dem aus sich eine verzweifelte Zenoria in den Tod gestürzt hatte?

So viele Erinnerungen! Die andere Seite der Medaille zeigte Neid und Gerede, ja sogar Haß, der sich auf mancherlei Weise enthüllte, Skandale, die sie beide erlebt und überlebt hatten. Sie schaute auf sein dunkles Haar auf dem Kissen. Kein Wunder, daß dich alle verehren, mein liebster Mann.

Sie hörte Eisenräder rollen, erste Lebenszeichen auf der Straße. Da fuhr jemand ganz bestimmt, um Fisch vom Markt zu holen. Fisch gab es immer pünktlich, im Frieden genauso wie im Krieg.

Er hatte ihr Leben verändert wie sie seins. Ein Leben, das weit über die Forderungen von Pflicht und Gefahren hinausging, etwas, das nur sie beide teilten, das Leute veranlaßte, sich umzudrehen und sie beide anzustarren. So viele ungestellte Fragen, etwas das andere nie verstehen würden.

Sie berührte ihn. Wird er mich immer noch schön finden, wenn er von neuem Kampf aus fernen Ländern zurückkehrt? Ich würde für ihn sterben.

Sie griff nach den Vorhängen, um sie zu schließen, und stand dann still, als halte sie jemand fest. Sie schüttelte den Kopf, ärgerlich über sich selber. Es war nichts. Sie wischte mit dem Schal über die Fensterbank und starrte nach unten auf die Straße, den Walk, wie sie hier hieß. Mondlicht fiel auf schwarze, blattlose Baumskelette. Dann hörte sie es: Räder ratterten über Kopfsteine, die Hufe eines Pferdes klapperten. Es bewegte sich langsam, als schien es sich seines Weges nicht sicher. Ein höherer Offizier kehrte gerade zu seinem Quartier in der Kaserne zurück, nach einer Nacht am Kartentisch oder – viel wahrscheinlicher – in den Armen seiner Geliebten.

Sie sah genauer hin. Schließlich rollte ein kleines Gefährt durch einen Streifen Mondlicht. In seinem kalten Glanz sah sogar das Pferd silbrig aus. Zwei Kutschlampen brannten wie helle, kleine Augen auf der Suche nach dem Weg.

Sie seufzte. Da hatte sicher jemand zuviel getrunken. Der Kutscher würde ihm für diese Heimfahrt viel Geld abnehmen. Doch das Wägelchen drehte auf der Straße und kam genau auf ihr Haus zu.

Sie starrte nach unten, konnte kaum atmen. Die Kutschentür öffnete sich, ein weißes Hosenbein erschien und blieb unschlüssig auf dem Tritt stehen. Der Kutscher gestikulierte mit seiner Peitsche wie in einer Pantomime. Dann stieg der Gast aus der Kutsche auf das Pflaster. Die Goldknöpfe seiner Jacke glänzten wie Silbermünzen.

Plötzlich stand Richard neben ihr, legte den Arm um ihre Hüfte, und sie war sich nicht sicher, ob sie ihn gerufen hatte.

Auch er sah auf die Straße. Der Marineoffizier musterte das Haus, während die Kutsche wartete.

»Von der Admiralität?« Sie wandte sich ihm zu.

»Nicht zu dieser Stunde, Kate.« Er schien eine Entscheidung zu treffen. »Ich gehe nach unten. Es wird ein Irrtum sein.«

Catherine sah wieder auf die Straße, doch die Gestalt vor der Kutsche war verschwunden. Das Knallen der vorderen Haustür zerriß die Nacht wie ein Pistolenschuß. Ihr war das egal. Sie mußte bei ihm sein, gerade jetzt.

Sie wartete oben auf der Treppe. Die Kälte kroch ihre Beine empor, als Bolitho die Tür öffnete, die vertraute Uniform und das Gesicht erkannte.

»Catherine«, rief er, »es ist George Avery!«

Jetzt war auch die Haushälterin da, murmelte vor sich hin und holte neue Kerzen. Ganz offensichtlich mißbilligte sie solch nächtliche Besuche.

»Bringen Sie irgend etwas Warmes, Mrs. Tate«, sagte Catherine, »und auch etwas Cognac.«

George Avery, Bolithos Flaggleutnant, setzte sich, als ob er sich erst sammeln müßte. Dann sagte er: »In Ehren freigesprochen, Sir Richard!« Da entdeckte er Catherine und erhob sich. »Mylady!«

Sie kam nach unten und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Berichten Sie. Ich kann das alles noch gar nicht glauben.«

Avery sah auf seine schmutzigen Stiefel. »Ich war dabei, Sir Richard. Ich hielt es nur für richtig. Ich weiß, was es heißt, vor einem Kriegsgericht zu stehen – vor der Möglichkeit, in Ungnade zu fallen oder das eigene Ende zu erfahren.« Er wiederholte sich. »Ich hielt es nur für richtig. An der Südküste liegt sehr viel Schnee. Die Telegraphentürme waren vom einen zum anderen nicht mehr zu erkennen. Es hätte noch einen ganzen Tag dauern können, bis Sie die Nachricht bekommen hätten.«

»Aber Sie sind gekommen?« Catherine sah, wie Bolitho nach seinem Arm griff.

Überraschenderweise grinste Avery. »Die längste Strecke bin ich geritten. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich die Pferde gewechselt habe. Schließlich hab ich mich dem Kerl da draußen überlassen, weil ich sonst Ihr Haus sicher nicht gefunden hätte.« Er griff nach dem Glas Cognac. Seine Hand zitterte unkontrolliert. »Das kostet mich wahrscheinlich einen Jahressold. Und ich fürchte, die nächsten vier Wochen werde ich nicht bequem sitzen können.«

Bolitho trat ans Fenster. In Ehren freigesprochen. So gehörte sich das. Aber die Dinge liefen nicht immer so, wie es sich gehörte.

Avery leerte das Glas und hatte nichts dagegen, als Catherine es wieder füllte. »Ein paar Kutschen und Wägelchen habe ich von der Straße getrieben.« Er bemerkte Bolithos Gesichtsausdruck und fügte sanfter hinzu: »Ich war nicht im Gerichtssaal, Sir Richard, aber er wußte, daß ich da war. Ihr Neffe ging dann zum Hafenadmiral. Es hieß, er habe einen ausgedehnten Urlaub bewilligt bekommen. Das ist alles, was ich an Information habe.«

Bolitho sah Catherine an und lächelte. »Siebzig Meilen auf dunklen, gefährlichen Straßen. Wer würde das sonst noch tun?«

Sie nahm Avery das Glas aus der gefühllosen Hand, als er gegen das Kissen gesunken und eingeschlafen war.

Leise antwortete sie: »Deine Männer, Richard … Hast du jetzt Ruhe?«

Als sie wieder im Schlafzimmer standen, konnten sie den Fluß sehr deutlich erkennen und auch Menschen, die schon unten auf der Straße liefen. Es war unwahrscheinlich, daß jemand die plötzliche Ankunft der Kutsche oder den großen Marineoffizier bemerkt hatte, der an die Tür klopfte. Und wenn, würden sie nichts damit anfangen können. Hier in Chelsea kümmerte man sich vor allem um seine eigenen Angelegenheiten und sonst um wenig mehr.

Zusammen sahen sie zum Himmel auf. Bald würde es Tag sein, wieder ein grauer Januarmorgen. Doch dieser Tag wäre ganz anders.

Sie hielt seinen Arm an ihrer Hüfte fest und sagte: »Vielleicht ist dein nächster Besuch in der Admiralität für eine Weile dein letzter!«

Er spürte ihr Haar an seinem Gesicht, ihre Wärme. Sie gehörten einander.

»Und dann, Kate?«

»Bring mich nach Hause, Richard, egal wie lang die Reise dauert.«

Er führte sie zum Bett zurück, und sie lachte, als sie draußen die ersten Hunde bellen hörte.

»Dann kannst du mich lieben. Bei uns zu Hause.«


Vizeadmiral Graham Bethune stand schon, als Bolitho in sein großes Zimmer in der Admiralität begleitet wurde. Sein Lächeln war warm und ehrlich.

»Wir sind heute beide früh auf den Beinen, Sir Richard!« Sein Gesicht wurde eine Spur ernster. »Doch leider habe ich noch keine Nachricht über Ihren Neffen, Kapitän Bolitho. Zwar haben die Telegraphen viele unschätzbare Vorteile, aber gegen unser englisches Wetter kommen sie meistens nicht an.«

Bolitho nahm Platz, nachdem ein Diener ihm Hut und Mantel abgenommen hatte. Er war nur ein paar Schritte von der Kutsche in die Admiralität gegangen, doch der Mantel war schwer vor Nässe.

Er lächelte. »Adam ist in Ehren freigesprochen worden.« Es bereitete ihm Vergnügen, Bethunes Überraschung zu sehen.

Seit Bolithos Ankunft in London hatten sie sich einige Male getroffen, doch er war immer noch überrascht, daß Bethunes neues wichtiges Amt ihn so gar nicht verändert hatte. Äußerlich war er natürlich sehr gereift seit seinen Tagen als Midshipman auf Bolithos erstem eigenen Schiff, der kleinen Kriegsslup Sparrow. Der rundgesichtige Junge war verschwunden – ebenso wie seine dunklen Sommersprossen. Er hatte sich in einen scharfsichtigen, verläßlichen Flaggoffizier verwandelt, nach dem sich viele Frauen bei Hofe umdrehten und auch bei vielen anderen gesellschaftlichen Veranstaltungen, die er pflichtgemäß zu besuchen hatte. Bolitho erinnerte sich an Catherines anfängliche Ablehnung, als er berichtete, Bethune sei nicht nur jünger, sondern habe auch einen niedrigeren Rang. Sie war nicht die einzige, die über Entscheidungen der Admiralität verblüfft war.

Er sagte: »Mein Flaggleutnant Avery ritt von Portsmouth her die ganze Nacht, um mir die Nachricht zu bringen.«

Bethune nickte, war mit seinen Gedanken aber schon ganz woanders. »George Avery, o ja. Sir Paul Sillitoes Neffe.« Wieder dieses jungenhafte Lächeln. »Tut mir leid, Baron Sillitoe of Chiswick heißt er ja jetzt. Aber schön, das zu hören. Es war sicher schlimm für Ihren Neffen, Schiff und Freiheit gleichzeitig auf einen Schlag zu verlieren. Und dennoch haben Sie ihn zum Kommandanten der Zest gemacht beim letzten Treffen mit den Schiffen von Commodore Beer! Erstaunlich.« Er ging zu einem Tisch hinüber. »Ich habe meinen eigenen Bericht eingereicht, das war ja wohl klar. Auf Kriegsgerichte kann man sich kaum verlassen, wie wir ja selber immer wieder erfahren haben.«

Bolitho entspannte sich etwas. Also hatte Bethune Zeit gefunden, Adams wegen zur Feder zu greifen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß einer seiner Vorgänger, Godschale oder vor allem Hamett-Parker, für ihn auch nur einen Finger krumm gemacht hätte.

Bethune sah auf die Schmuckuhr neben dem Gemälde, das eine kämpfende Fregatte zeigte. Bolitho wußte, daß es Bethunes eigenes Kommando darstellte. Er hatte gegen zwei große spanische Fregatten gekämpft, hatte – geradezu unwahrscheinlich – eine auf Grund laufen lassen und die andere erobert. Das war ein guter Anfang, der seiner Karriere gewiß nicht geschadet hatte.

»Wir nehmen gleich eine Erfrischung.« Er hüstelte. »Lord Sillitoe kommt heute, und ich hoffe, wir erfahren etwas mehr von den Ansichten des Prinzregenten über den amerikanischen Konflikt.« Er zögerte, als sei er sich einen Augenblick lang nicht ganz sicher. »Eines ist so gut wie beschlossen. Man erwartet, daß Sie dorthin zurückkehren. Wie lange ist es her? Doch erst knapp vier Monate, daß Sie Beers Schiffe angegriffen und besiegt haben! Aber Ihre Meinung und Ihre Erfahrung sind unschätzbar. Ich weiß, es ist zuviel verlangt von Ihnen.«

Bolitho merkte, daß er sein rechtes Auge berührte. Vielleicht war das auch Bethune aufgefallen, oder aber die Nachricht über seine Verletzung und daß sie niemals ausheilen würde, hatte endlich auch dieses berühmte Haus erreicht.

Er antwortete: »Ich hatte es erwartet.«

Bethune sah ihn nachdenklich an. »Ich hatte das große Vergnügen, Lady Catherine Somervell zu treffen, Sir Richard. Ich weiß, was die Trennung für Sie bedeutet.«

»Ich weiß, daß Sie sie trafen«, antwortete Bolitho. »Sie erzählte es mir. Zwischen uns gibt es keine Geheimnisse, und es wird nie welche geben.« Catherine hatte Bethunes Frau auf einem Empfang in Sillitoes Residenz am Fluß getroffen. Über sie hatte sie nicht gesprochen, aber sie würde es tun, wenn der Augenblick kam. Hatte Bethune einen Blick für Damen? Hatte er vielleicht sogar eine Geliebte?

Bolitho sagte: »Sie und ich sind Freunde, das stimmt doch?«

Bethune nickte, obwohl er das Gemeinte nicht einordnen konnte. »Ein kleines Wort für so viel Bedeutung!«

»Stimmt.« Er lächelte. »Nennen Sie mich Richard. Ich glaube, daß unser Rang und die Vergangenheit uns nicht im Wege stehen sollten.«

Bethune trat an seinen Stuhl, und sie schüttelten sich die Hand. »Was für ein Tag! Viel besser als ich gehofft hatte.« Er grinste und sah dabei sehr jung aus. »Richard.« Wieder sah er zur Uhr. »Ich würde mit Ihnen noch gern etwas besprechen, ehe Lord Sillitoe eintrifft.« Er sah ihn einige Augenblicke an. »Sie werden es bald erfahren. Konteradmiral Valentine Keen wird ein neues Kommando übernehmen. Seine Basis ist Halifax in Neuschottland.«

»Ich habe so etwas schon gehört.« So schließt sich der Kreis, dachte er. Halifax – dort hatte er nach dem Befehl, nach London zurückzukehren, sein Flaggschiff, die Indomitable, zurückgelassen. War das wirklich erst vor so kurzer Zeit geschehen? Bei ihr lagen die beiden mächtigen Prisen, Beers U.S.S. Unity und die Baltimore. Gemeinsam hatten sie soviel Feuerkraft wie ein Linienschiff. Der Zufall hatte sie zu ihrem letzten Treffen zusammengeführt. Verbissenheit und ein verdammter Siegeswille hatten das Ende entschieden. Nach all den Jahren auf See gab es immer noch Bilder, die klar und deutlich in seiner Erinnerung waren.

Alldays Schmerz, als er einsam zwischen den keuchenden Überlebenden seinen toten Sohn an die Reling getragen hatte, um ihn der See zu übergeben. Und der sterbende Beer, ihr beachtlicher Gegner, der Bolithos Hand hielt. Beiden war klar, daß dieses Treffen und sein Ausgang unvermeidlich gewesen waren. Beer mit der amerikanischen Flagge bedeckt. Bolitho hatte der Witwe den Säbel nach Newburyport schicken lassen. Den Hafen kannte jedes Kriegsschiff und jeder Kaperer. Dort hatte einst sein eigener Bruder Hugh Zuflucht gefunden, vielleicht sogar Frieden.

Bethune sagte: »Konteradmiral Keen wird seine Flagge auf der Fregatte Valkyrie setzen. Ihr Kommandant, Peter Dawes, der Ihr zweiter Mann war, wird befördert und wartet schon auf ein neues Kommando.« Er machte eine diskrete Pause. »Sein Vater, der Admiral, meint, daß der Zeitpunkt richtig sei.«

Keen kehrte also in den Krieg zurück – immer noch in Trauer um Zenoria. Das also brauchte er, oder glaubte es zu brauchen. Bolitho kannte selbst den Tatendrang, während er trauerte – bis er Catherine wiedergetroffen hatte.

»Also ein neuer Flaggoffizier?« Als er die Frage stellte, kannte er schon die Antwort. »Adam?«

Bethune antwortete nicht direkt. »Sie haben ihm die Zest aus Not gegeben.«

»Er war der beste Kommandant einer Fregatte, den ich hatte.«

Bethune fuhr fort: »Als die Zest in Portsmouth einlief, mußte sie dringend gründlich ausgebessert werden. Mehr als vier Jahre im Einsatz, zwei Kapitäne, drei mit Ihrem Neffen, einige Seegefechte – das hat ihr schwere und dauernde Schäden zugefügt. Ohne eine richtige Ausbesserungswerft … der letzte Kampf mit der Unity gab den Ausschlag. Der Hafenadmiral erhielt den Befehl, all das Ihrem Neffen zu erläutern – nachdem der Spruch des Kriegsgerichts gefällt war. Es wird Monate dauern, bis die Zest wieder einsatzbereit ist. Und selbst dann …«

Nachdem der Spruch des Kriegsgerichts gefällt war. Bolitho fragte sich, ob Bethune wirklich wußte, was er da sagte. Hätte die Säbelspitze auf Adam gezeigt, hätte er von Glück reden können, in der Königlichen Marine zu bleiben, selbst mit einem Schiff, das so müde und schwach geworden war wie die Zest.

Bethune ahnte das zumindest. »Der Krieg könnte dann längst zu Ende sein. Und Ihren Neffen würde man, wie so viele andere auch, von der einzigen Aufgabe abhalten, die er liebt.« Er rollte eine Karte auf.

»Konteradmiral Keen und Kapitän Bolitho sind immer gut miteinander ausgekommen – unter Ihrem Kommando und auch anderswo. Es scheint mir eine befriedigende Lösung zu sein.«

Bolitho versuchte, Adams Gesicht zu verdrängen, das er an jenem Tag auf der Indomitable gesehen hatte, als er ihm Zenorias Tod mitteilen mußte. Sein Herz schien in Stücke zu brechen. Wie konnte Adam das neue Kommando annehmen? In dem Bewußtsein, jeden Tag auf den Menschen zu treffen und seine Befehle auszuführen, der Zenorias Mann gewesen war. Das Mädchen mit den Mondscheinaugen! Sie hatte Keen aus Dankbarkeit geheiratet. Adam hatte sie geliebt, liebte sie immer noch. Aber vielleicht war Adam für den Ausweg, den Keen ihm bot, dankbar? Ein Schiff auf See, keine Hulk im Hafen mit wenig Männern und all den Widrigkeiten einer Werft. Wie würde das gehen? Wie würde es ausgehen?

Er liebte Adam wie einen Sohn, hatte ihn seit jenem Tag geliebt, als der Junge den langen Weg von Penzance nach Falmouth gekommen war, um sich ihm nach dem Tod seiner Mutter vorzustellen. Adam hatte ihm seine Liebe zu Zenoria eingestanden, weil er meinte, Bolitho müsse es wissen. Catherine hatte sie schon längst in Adams Gesicht entdeckt und zwar an dem Tag, als Zenoria Keen in ihrer Heimatkirche in Zennor heiratete.

Wahnsinn, daran zu denken. Keen übernahm sein erstes wirklich verantwortliches Kommando als Flaggoffizier. Daran durfte nichts aus der Vergangenheit rütteln.

Er fragte: »Glauben Sie wirklich, daß der Krieg bald vorbei ist?«

Bethune war nicht überrascht über diese Wendung in ihrem Gespräch. »Napoleons Armeen ziehen sich an allen Fronten zurück. Das wissen die Amerikaner. Ohne ein alliiertes Frankreich werden sie ihre letzte Chance verspielen, ganz Nordamerika zu beherrschen. Wir werden immer mehr Schiffe freisetzen können, die ihren Geleitzügen auflauern und große Truppenbewegungen über See verhindern. Im September letzten Jahres haben Sie bewiesen, falls es denn überhaupt eines Beweises bedurft hätte, daß geschickt eingesetzte mächtige Fregatten nützlicher sind als sechzig Linienschiffe.« Er lächelte. »Ich erinnere mich noch an die Gesichter da drüben in dem Saal, als Sie Ihren Lordschaften sagten, daß der Kampf in Kiellinie vorbei wäre. Das hielten einige für Gotteslästerung. Unglücklicherweise gibt es aber noch viele, die Sie davon erst überzeugen müssen.«

Bolitho sah ihn wieder zur Uhr blicken. Sillitoe hatte sich verspätet. Er wußte genau, welchen Einfluß er hatte, lebte damit und wußte auch, daß Menschen ihn fürchteten. Bolitho hegte den Verdacht, daß Sillitoe daran sogar seine Freude hatte.

»All diese Jahre, Richard, bedeuten für manche ein ganzes Leben«, bemerkte Bethune. »Zwanzig Jahre fast ununterbrochen Krieg mit Frankreich. Und davor haben wir auf der Sparrow auch schon gegen Frankreich gekämpft. Während der amerikanischen Rebellion.«

»Wir waren damals sehr jung, Graham. Aber ich kann schon verstehen, daß der Mann auf der Straße nicht mehr an unseren Sieg glaubt, auch wenn er jetzt greifbar nahe ist.«

»Aber Sie haben nie daran gezweifelt?«

Bolitho hörte Stimmen auf dem Flur. »Ich habe nie daran gezweifelt, daß wir gewinnen würden, letzten Endes jedenfalls. Aber siegen? Ein Sieg ist etwas ganz anderes.«

Ein Diener öffnete die vornehmen Doppeltüren, und Sillitoe trat ein.

Catherine hatte ihm das Porträt von Sillitoes Vater beschrieben, das sie beim Empfang in seinem Haus gesehen hatte. Valentine Keen hatte sie damals begleitet. Als Sillitoe jetzt in schiefergrauem feinen Tuch und glänzenden weißen Kniestrümpfen vor ihnen stand, verglich Bolitho die Gesichter, als habe er das Porträt selber gesehen. Sillitoes Vater war Sklavenhändler gewesen, »ein Kapitän, der mit schwarzem Elfenbein handelte«, wie der Sohn meinte. Baron Sillitoe of Chiswick hatte es weit gebracht, denn als man den König für geisteskrank erklärt hatte, war Sillitoes Stellung als persönlicher Berater des Prinzregenten so mächtig geworden, daß es kaum etwas in der nationalen Politik gab, das er nicht beeinflussen oder gar lenken konnte.

Er verbeugte sich knapp. »Sie sehen sehr gut und sehr erholt aus, Sir Richard. Ich bin froh über die Entlastung Ihres Neffen!«

Offenbar verbreiteten sich solche Nachrichten unter Sillitoes Spionen schneller als auf den Fluren der Admiralität.

Sillitoe lächelte. Seine tiefliegenden Augen verbargen wie immer seine wahren Gedanken.

»Er ist ein zu guter Kapitän, als daß man auf ihn verzichten könnte. Ich bin sicher, er wird Konteradmiral Keens Bitte annehmen. Ich denke, er sollte es. Ich glaube, er will es.«

Bethune klingelte nach einem Dienen »Bitte, bringen Sie uns etwas zur Erfrischung, Tolan.« Das gab ihm Zeit, sich von dem Schock zu erholen, daß Sillitoe schneller informiert war als er selber.

Sillitoe wandte sich Bolitho zu.

»Und wie geht es Lady Catherine? Gut, wie ich annehme. Sicher freut sie sich, wieder in London zu sein.«

Es machte wenig Sinn, ihm zu erklären, wie sehr sich Catherine nach Falmouth und dem ruhigen Leben dort zurücksehnte. Doch man war sich dieses Mannes nicht sicher. Er, der scheinbar alles wußte, hatte das vielleicht auch schon erfahren.

»Sie ist glücklich, Mylord.« Er dachte zurück an die frühe Morgenstunde, in der Avery angekommen war. Glücklich? Ja, doch gleichzeitig verbarg sie, wenn auch nicht immer erfolgreich, ihre tiefe Furcht vor der unvermeidlichen Trennung. In der Zeit vor Catherine war das Leben einfacher gewesen. Er hatte immer akzeptiert, daß seine Pflichten dort lagen, wohin seine Befehle ihn führten. So mußte es wohl auch in Zukunft sein. Doch seine Liebe würde er dort lassen, wo Catherine war.

Sillitoe lehnte sich über die Karte. »Kritische Zeiten, meine Herren. Sie werden nach Halifax zurückkehren müssen, Sir Richard – als einziger kennen Sie alle Stücke des Puzzles. Der Prinzregent war überaus beeindruckt von Ihrem Bericht und den Schiffen, die Sie verlangen.« Er lächelte trocken. »Selbst die Kosten schreckten ihn nicht ab. Jedenfalls nicht mehr als einen Augenblick lang.«

Bethune sagte: »Der Erste Lord ist einverstanden, daß die Befehle in dieser Woche ausgestellt werden.« Er sah Bolitho verständnisvoll an. »Dann kann Konteradmiral Keen mit der ersten Fregatte ankerauf gehen, unabhängig davon, wen er sich als Flaggkapitän aussucht.«

Sillitoe trat an ein Fenster. »Halifax. Ein trostloser Ort zu dieser Jahreszeit, hörte ich. Wir können dann dafür sorgen, daß Sie ihm folgen, Sir Richard. « Er drehte sich nicht um. »Ende nächsten Monats – würde Ihnen das passen?«

Bolitho wußte, daß Sillitoe keine unnötigen Bemerkungen machte. Dachte er endlich auch einmal an Catherine und wie sie die Dinge aufnehmen würde? Grausam, nicht gerecht, zuviel verlangt – er hörte fast ihre Worte. Trennung und Einsamkeit. Weniger als zwei Monate, denn man mußte die unbequeme Reise nach Cornwall abziehen. Sie durften keine Minute verlieren, keine Minute ihrer Zweisamkeit.

Er antwortete: »Sie werden mich bereit finden, Mylord.«

Sillitoe nahm dem Diener ein Glas ab. »Gut.« Seine tiefliegenden Augen verrieten nichts. »Ausgezeichnet.« Damit meinte er sicher nicht den Wein. »Mein Wohl auf Sir Richard! Auf Sie und den Kreis verschworener Brüder.« Auch davon hatte er also gehört.

Bolitho nahm das weitere kaum noch zur Kenntnis. Im Geiste sah er nur sie, ihren herausfordernden Blick, der doch so schützte.

Verlaß mich nicht.