Emanzipation. 100 Seiten

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Warum ein Buch über Emanzipation? Ist das nicht ein ziemlich altmodisches Wort? Eines, das man heute kaum noch benutzt? Es stimmt wohl: Emanzipation klingt für viele nach einem Wort aus vergangenen Zeiten. War das nicht irgendwas aus den Siebzigern und mit Frauen? – Ja, auch. Aber Emanzipation ist viel mehr als das! Schaut man in die Geschichte der Menschheit, ist sie überall: Es beginnt mit der biblischen Geschichte von Adam und Eva, die Früchte vom Baum der Erkenntnis pflücken und sich damit von Gott emanzipieren – aber leider daraufhin aus dem Paradies fliegen. Um Emanzipation handelt es sich immer dann, wenn Menschen sich aus dem Zustand einer Unterdrückung oder Unmündigkeit befreien. Das Ende des Mittelalters und die einsetzende Renaissance, das aufstrebende Bürgertum, die Bibelübersetzungen Martin Luthers, die Revolutionen in den USA und in Frankreich, das Ende von Absolutismus und Monarchie sowie die Einführung der Demokratie in den neuen Republiken, die Gründung Israels, das Ende der Sklaverei und der Kolonialzeit, die Suffragetten im Kampf für das Wahlrecht der Frauen, die Anerkennung Homosexueller – die Geschichte der Menschheit ist bei genauer Betrachtung eine Geschichte vieler

Bis heute schlagen sich viele Staaten des Globalen Südens mit den Folgen der Kolonialzeit herum – für sie ist der Prozess der Emanzipation noch lange nicht abgeschlossen. Aber auch die reichen Industrienationen geben noch Anlass zu Befreiungsversuchen aller Art: Was ist etwa mit der Emanzipation des Mannes? Wie frei ist ein Mensch, wenn er ohne Geld nicht überleben kann? Gibt es wirklich nur zwei Geschlechter und nichts dazwischen? Auch im Kleinen spielt Emanzipation immer wieder eine Rolle: In Familien und Beziehungen, in unseren Arbeitsverhältnissen und nicht zuletzt in unserem Bild von uns selbst sind wir mit einer Reihe von Abhängigkeiten konfrontiert, die mit Zwängen und Unterdrückung zu tun haben. Viele kennen beispielsweise Konflikte mit einem herrischen Vater oder das Problem, dass die ganze Fürsorgearbeit an den Frauen in der Familie hängenbleibt.

Emanzipation hat daher kein richtiges Ende – weder für die einzelne Person noch global gesehen: Die ganze Menschheit erkämpft sich von Generation zu Generation neue Freiheiten, und doch scheint es, als ob jede neue Freiheit mit einer neuen Unterdrückungsform einhergehe. Jede Epoche erfordert deswegen neue Emanzipationen, etwa von der Kirche, von kolonialistischen Unterdrückern oder von den Männern, die über uns Frauen bestimmten. Ja, das Ende des Mittelalters, die Reformation, der Beginn des Kapitalismus und die Demokratie haben viele äußere Zwänge abgeschafft – aber bei genauem Hinsehen bringen sowohl die Neuzeit als auch Kapitalismus und Demokratie neue Formen von Ungleichheit und Diskriminierung mit sich.

Aus dem Wörterbuch

Emanzipation ist die Befreiung aus gesellschaftlichen oder persönlichen Abhängigkeiten und der Gewinn von Selbständigkeit. Oder auch: Befreiung aus entwürdigender Abhängigkeit. Mögliche Synonyme sind: (Akt der) Selbstbefreiung, Abnabelung, Kampf um Unabhängigkeit, Zugewinn an Selbständigkeit.

Emanzipation bedeutet wörtlich die »Entlassung aus der väterlichen Gewalt« oder auch die »Freilassung eines Sklaven« – so steht es zumindest im Etymologischen Wörterbuch von Kluge. Und wenn man die US-amerikanische Geschichte betrachtet, kommt man an diesem Begriff nicht vorbei: Da ist

Aber sowohl die väterliche Gewalt als auch die Sklaverei scheinen heute keine Themen mehr zu sein. Heute geht es vielmehr um die Frage: Wer oder was bestimmt über mich? Bewegungen wie Occupy sehen vor allem soziale und ökonomische Ungleichheit als Hindernisse für die persönliche Entfaltung eines jeden Menschen. Sie kritisieren Banken und Finanzspekulationen, die auf Kosten der Mehrheit einigen wenigen zu immensem Reichtum verhelfen. Damit stehen sie geschichtlich alles andere als alleine da: Schon Karl Marx hoffte auf eine große Emanzipationsbewegung durch das sogenannte Proletariat. Er sah im Kapitalismus vor allem ein ausbeuterisches und auch unterdrückerisches System – viele teilen diese Diagnose bis heute.

Emanzipation ist auch deswegen heute noch aktuell, weil sich unsere Art der Kommunikation und die Ausgestaltung politischer Debatten mit den digitalen Medien grundlegend verändert hat. Noch vor etwa 20 Jahren waren die Hierarchien eindeutig: Es gab Sender und es gab Empfänger. Radio, Fernsehen und Presse berichteten, interviewten, hoben hervor und wählten Themen aus – heute kann theoretisch jeder selbst zum Sender werden und sogar eine Revolution mithilfe der sozialen Medien besser koordinieren, wie es zum Beispiel im Arabischen Frühling geschah. Und doch haben uns die neue Freiheit und die neuen Möglichkeiten der Teilhabe an einem öffentlichen Diskurs, einem Diskurs, der nicht einmal vor

Meine erste Emanzipation habe ich im Alter von 14 Jahren erlebt. Jahrelang war ich ein Underdog in meiner Klasse gewesen, eine, die nicht »cool« war, es aber unbedingt sein wollte. Dummerweise kam ich aus der ehemaligen DDR, und das war in den 1990er Jahren in der westdeutschen Kleinstadt ein Stigma. Um dennoch cool zu sein, hängte ich mich an die Mitschüler, die »cool« waren: Sie rauchten, trugen stets »coole« Klamotten und trafen sich jeden Nachmittag, um miteinander »abzuhängen«. Damit ihr Glanz auch auf mich abstrahlen möge, verbog ich meine Identität, so weit es nur ging. Ich wurde eine Art Mitläuferin, für sie jedoch nur ein nützlicher Idiot. Nie war ich ein gleichberechtigter Teil der Clique, sondern eher ein fünftes Rad am Wagen – ganz praktisch für die anderen, aber im Grunde eher überflüssig.

Eines Tages beschloss eine Schülerin aus der Clique, dass sie meiner überdrüssig war. Es folgte eine Mobbingkampagne gegen mich, an der sich beinahe alle Mädchen aus meiner Klasse beteiligten. Bei gemeinsamen Treffen zog man dermaßen über mich vom Leder, dass ich am liebsten sterben wollte. Als Reaktion auf diese Ausgrenzung entwickelte ich selbstzerstörerisches Verhalten in Form einer Essstörung. Und obwohl diese Mädchen mich so tief verletzt hatten, wollte ich immer noch nur eines: dazugehören. Ich hatte mich selbst und mein eigenes Glück davon abhängig gemacht, ein Teil dieser Gruppe zu sein, und ich brauchte ein ganzes Jahr, um zu begreifen, wie

Tatsächlich blieb ich gar nicht lange alleine. Schnell entwickelte sich eine Freundschaft zu einem Mädchen, das einige Zeit vor mir schon einmal die Außenseiterin der Klasse gewesen war und das Mobbing kannte – auch sie hatte sich längst von dem Ideal verabschiedet, von den anderen »cool« genannt zu werden. Plötzlich war da außerdem ein Junge, der mich knutschen wollte, und noch einer, der mit mir gehen wollte – womit meine kühnsten Teenieträume wahr wurden, überraschenderweise ganz ohne dass ich zu den Coolen gehört hätte. Dann traf ich einen Jungen, der auch aus dem Osten kam. Er wurde mein erster Freund und wir verbrachten tolle Jahre miteinander. All das gelang mir, weil ich gelernt hatte, aus mir selbst heraus Sinn und Freude zu ziehen. Genau das machte mich dann für andere unwiderstehlich. Emanzipierte Menschen werden oft von anderen bewundert, denn sie haben meistens Mut bewiesen, Stärke und meistens auch Klugheit, indem sie eine Abhängigkeitssituation überhaupt als solche erkannt und sich dann entschieden haben, diese zu beenden. Sie wagen es, hinterher mit nichts von vorne anzufangen.

In der biblischen Geschichte von Adam und Eva emanzipieren sich die Menschen von Gott. Gerade noch lebten sie in Frieden und ohne Leid oder unerfüllte Bedürfnisse im Paradies, da setzen sie auch schon die ganze Sache aufs Spiel, denn sie wollen vom verbotenen Baum essen, dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Waren sie eben noch eins mit der Natur, verstoßen sie nun gegen die Regeln, die Gott aufgestellt hat. Seitdem ist der Mensch, wie er nun einmal ist: Er leidet wie ein Hund im Kampf um sein Überleben, er weiß, dass er sterben muss, er fühlt sich seltsam abgetrennt vom Rest der Natur wie auch von den anderen Tieren und so fort. Menschsein ist eine Zumutung – immer schon. Die Geschichte von Adam und Eva wurde erfunden, um diese Zumutung zu erklären und zu bewirken, dass sie sich weniger ungerecht anfühlt. Adam und Eva, so diese Erklärung, haben eine Sünde begangen, indem sie sich über Gottes Gebot hinweggesetzt haben. Also ist das, was der Mensch heute ist, nichts anderes als dessen gerechte Strafe für diese Ungehörigkeit!

Man könnte aber auch anders an die Sache herangehen und sagen: Hey cool – Adam und Eva haben sich von Gott emanzipiert! So sieht es auch der Philosoph Erich Fromm (19001980),

Mit einem Schaudern denken deswegen viele Menschen an das Mittelalter. Die Historiker können diese Zeit sicherlich besser erklären, als ich es kann, aber so viel habe ich doch verstanden: Die Strukturen im Mittelalter basierten in erster Linie darauf, dass man keine Wahl hatte. Man wurde in einen bestimmten Stand hineingeboren und gelangte so an einen Platz, der unverrückbar war. »Als Bauer geboren, als Bauer gestorben – Bauer ein Leben lang«, wie der kleine Ritter Trenk in der gleichnamigen Geschichte von Kirsten Boie. Tatsächlich rechtfertigte man diese Unfreiheit indirekt mit der Geschichte vom »Sündenfall«, also von Adam und Eva, denn das, was man war, was einem widerfuhr, das war von Gott genau so gewollt. Deswegen nahm man es auch so hin. Egal, wie arm oder reich einer war, wie gesund oder krank – Gott wollte es eben so. »Das Leben besaß für ihn einen Sinn, der keine Zweifel aufkommen ließ«, sagt Erich Fromm: »Jeder war mit seiner Rolle in der Gesellschaft identisch.« – Fast ein bisschen wie im Paradies also. Das Mittelalter bot damit auch ein gewisses Maß an Sicherheit – nur war diese an Knechtschaft gebunden.

Luther und die Reformation

1517 – ein halbes Jahrtausend vor unserer Zeit – schlug Martin Luther (14831546) seine berühmten 95 Thesen in Wittenberg an die Schlosskirche an. Darin richtete er sich gegen die Praxis der Kirche, von den Leuten, die ihrer Meinung nach Sünden begangen hatten, Geld zu verlangen und ihnen im Gegenzug