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Für Jonas und Valeska

Matthias Jung

Wilhelm Dilthey zur Einführung

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Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 1996 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelbild: akg images

E-Book-Ausgabe September 2018

ISBN 978-3-96060-057-2

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-088-8

2., vollständig überarbeitete Auflage 2014

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

1. Einleitung: Eine Kritik der historischen Vernunft?

2. Die Einleitung in die Geisteswissenschaften: Metaphysikkritik und »innere Erfahrung«

Diltheys formative Phase: Die Suche nach einer geisteswissenschaftlichen Methodik

Das historisch-systematische Doppelprofil der Einleitung

Eine Erkenntnisanthropologie innerer Erfahrung

Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften und Philosophie

Historische Vernunft als Kritik der Metaphysik

3. Diltheys mittlere Phase: Ästhetik, Pragmatismus und deskriptive Psychologie

Die Modellwissenschaft der Ästhetik

Der Interaktionszusammenhang von Selbst und Milieu: Diltheys »Pragmatismus«

Beschreibende versus erklärende Psychologie

4. Diltheys Spätwerk: Die Hermeneutik des objektiven Geistes

Hegel, Husserl und die Hermeneutik

Das Leben und seine Objektivationen

Erlebnis, Ausdruck und Verstehen

Der universalhistorische Zusammenhang

Die Weltanschauungslehre

5. Zur Wirkungsgeschichte

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

Vorwort

Vor fast zwei Jahrzehnten erschien die erste Auflage dieser Einführung in das Denken Diltheys, die nun in einer überarbeiteten Fassung neu vorgelegt wird. Dilthey war damals ein oft erwähnter, aber wenig gelesener Klassiker, den man mit der methodologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften und mit dem hermeneutischen Denken verband. Solide und gediegen, aber nicht radikal genug, theoretisch wenig aufregend und insgesamt doch schon vom Staub des 19. Jahrhunderts bedeckt – das waren gängige Deutungsmuster für diesen Autor, dessen Rezeptionsgeschichte etwas Tragisches an sich hat: Bereits zu seinen Lebzeiten kam es immer wieder zu Missverständnissen, wurden Projekte abgebrochen und Fehldeutungen verfestigt. In der Mitte des 20. Jahrhunderts kam Dilthey dann vor allem als Inspirator für Heidegger und Gadamer in den Blick, beides Autoren, die für seinen eigensten Ansatz wenig Verständnis hatten. Und erst mit der verdienstvollen Publikation der bedeutenden Nachlasstexte im Rahmen der Gesammelten Schriften konnten die systematischen Intentionen Diltheys überhaupt wirklich deutlich werden – zu einem Zeitpunkt also, an dem seine Kanonisierung als Begründer der Geisteswissenschaften schon abgeschlossen war. Die rege internationale Dilthey-Forschung hat zwar, besonders durch die zahlreichen Tagungen und Publikationen rund um seinen hundertsten Todestag im Jahr 2011, das Bild dieses enzyklopädisch gebildeten und systematisch ambitionierten Gelehrten viel deutlicher hervortreten lassen; sie ist dabei aber weitgehend unter sich geblieben. Bisher ist es nicht geglückt, Dilthey als ernst zu nehmende Stimme in wirklich aktuellen und brisanten Debatten zu etablieren.

Doch genau dort gehört er hin, und es gibt durchaus Anzeichen dafür, dass die Dinge sich nun langsam ändern. Ich nenne drei Beispiele: Dilthey hat erstens einen lebenslangen Kampf gegen reduktionistische Positionen geführt, die sozialen Sinn mittels dafür ungeeigneter, naturwissenschaftlicher Konzepte erfassen wollen, dabei aber nie aus den Augen verloren, dass solcher Sinn immer verkörpert ist, also mit der physischen Realität eng verbunden und von ihr abhängig bleibt. Das macht sein Denken zu einem wichtigen Bezugspunkt der Debatten um eine gleichzeitig antireduktionistische wie antidualistische Methodologie in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Er hat darüber hinaus zweitens in immer wieder neuen Anläufen versucht, den Begriff des Lebens ins Zentrum seiner Theorie der Geisteswissenschaften zu rücken, und diese damit an (evolutions-)biologische Denkformen anschlussfähig gemacht. Das kognitionswissenschaftliche Nachdenken über embodied cognition und den extended mind findet in Diltheys Lebensphilosophie und seiner Theorie des objektiven Geistes zahlreiche systematisch weiterführende Anknüpfungspunkte. Schließlich stellt drittens Diltheys Weltanschauungslehre einen innovativen Beitrag zu den aktuellen Naturalismus-Debatten dar, indem sie den Unterschied zwischen methodischem und weltanschaulichem Naturalismus klar herausstellt und dabei auf die zentrale Bedeutung affektiver und willensbasierter Generalisierungen für Letzteren verweist. – Es ist also an der Zeit, Dilthey aus den Schubladen herauszuholen, in die er in den ersten zwei Dritteln des zwanzigsten Jahrhunderts hineingesteckt wurde, und sich mit ihm kritisch, das heißt auf Augenhöhe der für uns aktuellen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Das lohnt sich.

1. Einleitung: Eine Kritik der historischen Vernunft?

Wilhelm Dilthey gilt zu Recht als Klassiker des geisteswissenschaftlichen und speziell des hermeneutischen Denkens, jener philosophischen Richtung also, die das geschichtliche Verstehen von kulturellem Sinn in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gestellt hat. Mit seiner methodischen Konzeption der inneren Erfahrung und des Verstehens, der daraus resultierenden Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften, schließlich mit seinen Ansätzen zur Integration geschichtlicher und systematischer Analyse hat er die Entwicklung der Philosophie im 20. Jahrhundert mitbestimmt. Martin Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit wäre ohne Diltheys Einfluss so wenig denkbar gewesen wie Hans-Georg Gadamers Entwurf einer universalen Hermeneutik in Wahrheit und Methode. Wo immer die Philosophie sich seit der Wende zum 20. Jahrhundert Themen wie der geisteswissenschaftlichen Methode, der geschichtlichen Verfasstheit menschlicher Subjektivität und Kultur, dem Verhältnis von Rationalität und Lebenspraxis gewidmet hat, war Diltheys Denken ein unentbehrlicher Bezugspunkt.

Das Schlagwort Hermeneutik, unter dem die philosophischen Bemühungen Diltheys meist gefasst werden, birgt allerdings die Gefahr, dass wichtige Bestandteile des Dilthey’schen Werks ausgeblendet werden. Dilthey selbst hat erst in seinen letzten Schriften das eigene Denken mit dem Begriff Hermeneutik zusammengebracht, den er in einem recht engen Sinn verwendet: als Bezeichnung für die Wissenschaft von dem »kunstmäßigen Verstehen dauernd fixierter Lebensäußerungen« (GS VII, 217).

Über diesen eher technischen Begriff der Hermeneutik gehen die philosophischen Intentionen Diltheys jedoch weit hinaus. Sie lassen sich vielleicht am besten als Suche nach einem begrifflichen Konzept beschreiben, das menschlicher Erfahrung in ihrer geschichtlichen Eigenart besser gerecht wird als die kausalen Erklärungsmuster der Naturwissenschaften. Dilthey versuchte sein ganzes Leben lang, seine ursprüngliche Intuition zu explizieren, dass unverkürzte Erfahrung nicht nur kognitive, sondern gleichursprünglich auch affektive und voluntativ-praktische Dimensionen einschließt. Diese Ganzheit der Erfahrung wird ihm zufolge von der klassischen Metaphysik ebenso ausgeblendet wie von der Perspektive der dritten Person, von der die Naturwissenschaften ausgehen. Seine Hochschätzung der Geisteswissenschaften resultiert aus der Überzeugung, dass die Dreidimensionalität des vortheoretischen Erlebens eine reichere Wirklichkeitserfahrung ermöglicht, die dann durch die geisteswissenschaftlichen Methoden zugänglich gemacht werden kann. Ich werde daher Diltheys Gesamtwerk aus der Perspektive dieser Orientierung an ursprünglicher Lebenserfahrung und ihren Objektivationen darstellen. Der hermeneutische Zug des späten Dilthey ist in ihr als Teilaspekt enthalten.

Diltheys theoretische Bemühungen galten der philosophischen Rechtfertigung und Begründung der Wissenschaften von der im menschlichen Erleben präsenten und durch menschliche Interaktionen erzeugten Realität – im Unterschied zur vom Menschen unabhängigen Natur. Der Ausdruck Geisteswissenschaften für die Erforschungen dieser Realitäten ist dabei, wie Dilthey selbst gesehen hat, nur ein Notbehelf. Geist darf nicht als etwas Selbständiges, vom Handeln realer Menschen und von natürlichen Bedingungen Unabhängiges gedacht werden, und die Unterscheidung, die Dilthey, auch aus wissenschaftspolitischen Gründen, zwischen Geistes- und Naturwissenschaften trifft, darf nicht zu einer Trennung verdinglicht werden.

Sein (nach der monumentalen Schleiermacher-Biografie) erstes großes Werk, die Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883, bezeichnete Dilthey in der Widmung als eine »Kritik der historischen Vernunft« (GS I, IX). Mit diesem an Kants Vernunftkritik anknüpfenden Programmtitel wollte er darauf hinweisen, dass die bisherige Selbstkritik menschlicher Rationalität durch Autoren wie Hume und Kant die Einbettung von kognitiven Akten in den historischen Lebensprozess der Menschen nicht genügend berücksichtigt hatte. Insbesondere ging es ihm darum aufzuzeigen, wie das im engeren Sinn Kognitive nur als unselbständiger, wenngleich zentraler Bestandteil eines reicheren Wirklichkeitsverhältnisses begreifbar wird, das Willensimpulse, Stimmungen und intentionale Gefühle immer einschließt.

Aus Diltheys Interesse an einem nicht-reduktionistischen Erfahrungsbegriff, der vom Erleben, nicht vom Denken ausgeht, ergibt sich eine doppelte Abwehrhaltung, die sein Denken charakterisiert. Zum einen nämlich wendet er sich entschieden gegen alle Formen von Metaphysik, von theoretischen Systemen, die Wirklichkeit in ihrem Ansich-Sein zu erfassen beanspruchen; die Überzeugung, dass die geschichtliche Entwicklung jedes metaphysische Weltverhältnis obsolet gemacht hat, bildet eine Konstante im Denken Diltheys von den frühesten Arbeiten bis zum Spätwerk. Zum anderen aber argumentiert er immer wieder gegen den Anspruch naturwissenschaftlich orientierter Philosophen, mit dem methodischen Werkzeug der Naturwissenschaften die Wirklichkeit im Ganzen begreifen zu wollen. Dilthey war vielleicht der erste Theoretiker, dessen Analysen durchgängig von der Einsicht geprägt waren, dass die methodische Einstellung auf allgemeine Gesetze und kausale Beziehungen zwischen Ereignissen beim Verständnis der Welt sozialer und geschichtlicher Erscheinungen nur begrenzt fruchtbar sein kann.

»Alle Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft« (GS I, XVII): Diese Überzeugung, und mit ihr die Ablehnung aller metaphysischen Spekulation, teilte Dilthey mit dem philosophischen Empirismus. Während allerdings die Empiristen atomare Sinneserfahrungen als Bausteine aller Erkenntnis betrachteten, war Dilthey an einem lebensweltlichen, in Zusammenhängen zentrierten Erfahrungsbegriff interessiert, der das vorwissenschaftliche Weltverhältnis aufgreifen und vertiefen sollte: »Empirie, nicht Empirismus« (GS XIX, 17). Während er in seinem Frühwerk dabei noch davon ausging, dass das bewusste Erleben als solches den Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Verstehens bilden muss, rückt er später die Verkörperung des Erlebens in Ausdrücken (Bildern, Sprache, Handlungen, Institutionen etc.) ins Zentrum und erklärt Erlebnisse ohne Ausdruck schlicht für unverständlich. Indem Dilthey das wissenschaftliche Verstehen auf Erlebnisausdrücke bezieht, die immer Kognitionen, Volitionen und affektive Wertungen einschließen, erweitert er den methodischen Geltungsbereich der Geisteswissenschaften über das rein Kognitive hinaus.

Mit der Beschreibung als »Kritik der historischen Vernunft« ist Diltheys umfangreiches und vielfältiges Lebenswerk seiner Intention nach vielleicht am besten getroffen. Das Adjektiv »historisch« hat dabei zwei verschiedene Bedeutungen: Historische, auf das Verstehen geschichtlicher Prozesse abzielende Vernunft ist Gegenstand der Kritik, die die Möglichkeiten und Probleme geschichtlicher Erkenntnis aufzeigen soll. Wenn die Kritik reflektiert wird, zeigt sie sich aber dann ihrerseits als geschichtliche Selbstkritik der Vernunft. Es gibt kein Außen, keinen Gottesstandpunkt, von dem aus die Leistungsfähigkeit historischer Vernunft beurteilt werden könnte. Der Ausdruck »historische Vernunft« ist dabei nicht so zu verstehen, als ob es neben ihr etwa noch eine unhistorische, systematische Vernunft geben könnte. Vernunft ist für Dilthey vielmehr durch und durch historisch in dem Sinn, dass ihr Gebrauch eine soziale Geschichte hat und in Wirkungszusammenhängen verläuft, von denen sie entscheidend geprägt ist. Es ist der zu rekonstruierende historische Prozess selbst, der die Einsicht in diese geschichtliche Bedingtheit der Vernunft hervorgebracht hat. Indem die Vernunft versucht, ihre Genese reflexiv einzuholen, kritisiert sie sich selbst und versetzt sich in die Lage, ihre Reichweite und Grenzen zu erkennen. Diese Fähigkeit der menschlichen Rationalität, sich auf sich selbst zurückzuwenden und die eigenen Bedingtheiten zu realisieren, ist für Dilthey die einzige Form, in der Subjekte sich, in ihrer Geschichte stehend, über diese erheben können. So verstanden ist die Historisierung der Vernunft ein Akt der Selbstaufklärung und steht keineswegs im Gegensatz zum Vernunftvertrauen der historischen Aufklärung.

Die kognitiven Fähigkeiten des Menschen sind nun nicht nur historisch bedingt, sie stehen auch mitsamt der Geschichte in einem funktionalen Verhältnis zum Leben. Dieser wohl wichtigste Begriff im Gesamtwerk Diltheys übergreift geistige und organische Zusammenhänge und meint den Vollzug der Interaktion zwischen dem Organismus und seiner physischen wie kulturellen Umwelt, der nur teilweise kognitiv aufgehellt werden kann. Damit sind drei charakteristische Begriffe umrissen, die für das Verständnis Diltheys zentrale Bedeutung haben: »Hermeneutik«, »Historismus« und »Lebensphilosophie«. Sie sollen im Folgenden kurz erläutert werden.

– Hermeneutik: Diltheys Philosophie weist dem Verstehen (von Sinnzusammenhängen) eine methodisch zentrale Rolle zu und kontrastiert es mit der erklärenden Vorgehensweise der Naturwissenschaften, die Einzelereignisse unter covering laws subsumieren möchte. Dabei bleibt zunächst aber völlig unklar, ob hermeneutische Verfahren sich nur auf die Geisteswissenschaften beziehen oder ob Dilthey sie auch in der Philosophie – auf einer Ebene, die der Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften vorausliegt – anwenden möchte. Auf diesen Punkt werde ich noch zurückkommen. Darüber hinaus sind vonseiten so unterschiedlicher Positionen wie dem Neomarxismus, der Kritischen Theorie und dem Kritischen Rationalismus gegen Diltheys hermeneutisches Ideal des Verstehens schwerwiegende Vorwürfe erhoben worden: Wer alles verstehe, billige auch alles, akzeptiere Missstände und werfe den kritischen Anspruch des Denkens über Bord. Es wäre also zu fragen, wie sich Verstehen und Kritik zueinander verhalten.

– Historismus: Diltheys Philosophie gilt allgemein als eine Ausprägung des Historismus, einer geistigen Strömung des 19. Jahrhunderts, zu der Gelehrte wie Friedrich Carl von Savigny, Leopold von Ranke und Johann Gustav Droysen gerechnet werden. Die Betonung des geschichtlichen Gewordenseins aller Kulturformationen und geistigen Gebilde ist das zentrale Merkmal dieser Richtung, mit der verschiedentlich eine Skepsis gegenüber universalistischen Vernunftansprüchen einhergeht. Der Begriff des Historismus wird deshalb oft kritisch verwendet (meist in der terminologisch abwertenden Variante »Historizismus«), im Sinne eines orientierungslosen historischen Relativismus, als Leugnung aller überzeitlichen und transkulturellen Geltungsansprüche. In seinem Briefwechsel mit Edmund Husserl hat Dilthey den Vorwurf des Relativismus und Skeptizismus ausdrücklich zurückgewiesen.1 Es wird daher genau zu überprüfen sein, in welchem Sinn Dilthey als Historist bezeichnet werden kann.

– Lebensphilosophie: Auch dieses Etikett wird – ähnlich wie Historismus – nicht selten abschätzig gebraucht. Als Lebensphilosophen in diesem Sinne gelten Autoren, deren Streben nach Lebensnähe sie zur Vernachlässigung wissenschaftlicher Tugenden wie begrifflicher Strenge und argumentativer Konsistenz verleitet hat. Tatsächlich sind sich so unterschiedliche, aber gleichermaßen der Lebensphilosophie zugerechnete Philosophen wie Friedrich Nietzsche, Dilthey und William James darin einig, dass eine vollständige rationale Beherrschung des Lebensprozesses unmöglich ist, weil im Erleben immer mehr steckt als das, was kognitiv erfasst werden kann. »Leben« gilt Dilthey daher als eine letzte Gegebenheit, als »dasjenige, hinter welches nicht zurückgegangen werden kann« (GS VII, 261). Darin drückt sich die Einsicht in die Unmöglichkeit einer ausschließlich vernunftbestimmten Existenzform aus. Ob allerdings in dieser lebensphilosophischen Einsicht bereits ein Irrationalismus liegt, ist damit noch nicht gesagt. Schließlich ist es nicht irrational, auf real bestehende Nichtrationalität hinzuweisen. Jedenfalls ist hier schon festzuhalten, dass der Begriff des Lebens bei Dilthey in erster Linie einen terminologischen, deskriptiven Sinn hat und nicht normativ zu verstehen ist, etwa als weltanschauliche Lebensbejahung und Theoriefeindlichkeit. Leben – zum Beispiel in dem Grundbegriff Erlebnis – weist darauf hin, dass die Äußerungsformen von Rationalität immer als Teilaspekte der menschlichen Daseinsform verstanden werden müssen, in die auch Nichtrationales – Gefühle, Willensimpulse, biologische Prägungen etc. – eingeht. Aus Diltheys wissenschaftlichem Interesse an der Einbettung von Erkenntnisakten in den Lebensprozess ergibt sich auch eine sachliche Nähe zu den Grundannahmen des amerikanischen Pragmatismus, die von Diltheys hermeneutischen Erben bislang nicht erkannt worden ist. Die Entstehung und Weitergabe von sinnhaften Strukturen im sozialen Handeln sowie der Primat des Lebensvollzugs vor der Beobachterperspektive bilden gemeinsame Themen beider Richtungen, wobei der Pragmatismus stärker die Zukunftsorientierung, Historismus und Hermeneutik stärker die prägende Kraft der Vergangenheit im Auge haben. Diese unleugbare Differenz verdankt sich aber eben einer unterschiedlichen und als komplementär zu begreifenden Akzentsetzung innerhalb einer geteilten Grundidee, nicht unüberwindlichen Gegensätzen der Denkform. Für Dilthey sind Bedeutungen dann verständlich, wenn sie in einen erfahrbaren Lebenszusammenhang eingegliedert werden können. Dem entspricht im Pragmatismus die Überzeugung, dass der Sinn eines Begriffes vollständig von seiner möglichen Wirkung auf die Lebensführung seiner Verwender abhängig ist.

Mit den Stichwörtern »Hermeneutik«, »Historismus« und »Lebensphilosophie« ist die begriffliche Konstellation markiert, in der sich Diltheys Lebenswerk bewegt. Sein zentrales Motiv, die Suche nach wissenschaftlichem Zugang zu unreduzierter, mehrdimensionaler Erfahrung, hat allerdings im Laufe von Diltheys Entwicklung recht unterschiedliche Lösungsansätze hervorgebracht. Es bietet sich deshalb an, die Einheit und Vielfältigkeit seines Werkes entwicklungsgeschichtlich zu erschließen. In diesem Sinne möchte ich drei Stadien des theoretischen Prozesses unterscheiden, denen die drei Hauptkapitel des Buches entsprechen.

– Die frühe Phase (Kap. 2): Diltheys (frühes) Hauptwerk, die Einleitung in die Geisteswissenschaften (im Folgenden Einleitung), erschien 1883 mit dem programmatischen Untertitel Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. In diesem nie vollendeten Buch und den zahlreichen Entwürfen, die Dilthey seiner systematischen Weiterführung gewidmet hat, geht es um die theoretische Begründung der Geisteswissenschaften als eigenständige Disziplinen. Dabei argumentiert Dilthey einerseits historisch, indem er den Untergang der Metaphysik und den Aufstieg der Geisteswissenschaften in einen engen Zusammenhang bringt, andererseits systematisch, indem er eine Erkenntnistheorie der inneren Erfahrung entwickelt.

– Die mittlere Phase (Kap. 3): In seinen Schriften aus der Zeit um die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts entwickelt Dilthey seinen Ansatz weiter, indem er den psychischen und sozialen Lebensprozess im Sinne eines praktischen, aktiven Wechselverhältnisses zwischen Mensch und Natur deutet. Seine Nähe zum Pragmatismus ist während dieser Zeit am offensichtlichsten. Ein weiteres Merkmal der mittleren Phase besteht in der stärkeren Einbeziehung ästhetischer Kategorien in die Interpretation des Lebensprozesses. Dilthey greift stärker als bisher auf psychologische Begriffe zurück, was ihm den Vorwurf des Psychologismus, der Verwechslung sachlicher und logischer Verhältnisse mit solchen des Seelenlebens, eingebracht hat. Auch hier wird es darauf ankommen, die Bedeutung des psychologischen Vokabulars bei Dilthey genau zu bestimmen.

– Die späte Phase (Kap. 4): In der Zeit nach der Jahrhundertwende gelangt Dilthey, nicht zuletzt durch eine intensive Beschäftigung mit Husserl und Hegel, zu einem Verständnis psychischer und sozialer Sinnzusammenhänge, das auf psychologische Kategorien weitgehend verzichtet und sich am Begriff des »objektiven Geistes« orientiert. Das 1910 erschienene, ebenfalls unvollendete zweite Hauptwerk Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (im Folgenden Aufbau) entwickelt diesen hermeneutischen Ansatz. In diese späte Phase fällt auch die Ausarbeitung der Weltanschauungslehre, mit der Dilthey seine lebensphilosophischen Einsichten an der Genese von umfassenden Systemen der Sinndeutung (wie etwa Stoa oder Christentum) erproben wollte.

Das Buch schließt mit einem Kapitel über die Wirkungsgeschichte und gegenwärtige Bedeutung der Dilthey’schen Philosophie. Beides ist mit der Editionsgeschichte seines Werkes eng verknüpft, denn die Umrisse von Diltheys theoretischem Projekt waren für seine Zeitgenossen kaum erkennbar. Selbst die Existenz eines solchen Projektes blieb weitgehend im Dunkeln, weil Dilthey nur den historischen Teil der Einleitung und an versteckter Stelle einige systematische Entwürfe zu ihrer Ergänzung veröffentlichte. Erst der in den letzten Lebensjahren erschienene Aufbau und die Beiträge zum Weltanschauungsproblem ließen ansatzweise die systematischen Intentionen Diltheys sichtbar werden.

Zu seinen Lebzeiten galt Dilthey als Autor der großen Schleiermacher-Biografie und zahlreicher historischer Abhandlungen, als feinsinniger Kenner der Geistesgeschichte ohne größere philosophische Ambitionen. Nach seinem Tod wurden durch die fortschreitende Edition der Gesammelten Schriften Ausmaß und Anspruch seiner systematischen Intentionen langsam deutlicher. Doch erst mit dem Erscheinen der systematischen Entwürfe zum geplanten zweiten Band der Einleitung und wichtiger Vorlesungen ist es in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, über siebzig Jahre nach Diltheys Tod, erstmals möglich geworden, sein philosophisches Projekt in den Grundzügen zu rekonstruieren.

2. Die Einleitung in die Geisteswissenschaften: Metaphysikkritik und »innere Erfahrung«

Diltheys formative Phase: Die Suche nach einer geisteswissenschaftlichen Methodik

In den Jahrzehnten zwischen 1850 und 1870 entwickelte Dilthey jene Grundüberzeugungen, die sein Lebenswerk bestimmen. Die Philosophie war zu dieser Zeit in eine tiefe Identitätskrise geraten.2 Nach dem Tod Hegels im Jahr 1831 hatte sich der deutsche Idealismus unter dem Druck der aufkommenden Erfahrungswissenschaften nicht mehr halten können. Als theoretisches Leitbild wurde die Philosophie im öffentlichen Bewusstsein von den Naturwissenschaften abgelöst, deren Erfolge bei der praktischen Gestaltung und Beherrschung der Realität so augenfällig waren, dass man in ihnen weithin den Maßstab aller Wirklichkeitserschließung sah. Daran hat sich, wie der enorme Erfolg naturalistischer Positionen zeigt, bis in unsere Gegenwart wenig geändert. Der große Versuch einer Synthese aller Wissens- und Kulturformen – Religion, Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Politik –, wie Hegel ihn als Letzter unternommen hatte, musste einer zunehmenden Verselbständigung und Isolierung der einzelnen Wirklichkeitsbereiche weichen, die mit einer wachsenden Skepsis gegenüber der Bedeutung philosophischer Bemühungen einherging.

Der von Dilthey bewunderte Naturforscher Hermann von Helmholtz verkörperte für ihn in positiver Weise das empiristisch-naturwissenschaftlich geprägte Fortschrittsdenken seiner Zeit. Philosophie hatte sich nach diesem Denken im Wesentlichen auf die erkenntnistheoretische Aufklärung naturwissenschaftlichen Forschens zu beschränken, während künstlerische und religiöse Weltdeutungen dem Reich der mehr oder minder subjektiven Gemütsbedürfnisse zugewiesen wurden.

Die Orientierung am Erfahrbaren und mit ihr die Abneigung gegenüber metaphysischen Spekulationen teilte Dilthey mit den naturwissenschaftlich ausgerichteten Philosophen seiner Zeit; schon früh gelangte er aber auch zu der Überzeugung, dass die geschichtlich-gesellschaftlich geprägte Welt des Menschen sich dem methodischen Zugriff der Naturwissenschaften entzieht. Als er Anfang der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts zum Studium nach Berlin kam, lehrten dort die großen Gründergestalten der historischen Wissenschaften: die Gebrüder Grimm, Barthold Georg Niebuhr, August Boeckh, Theodor Mommsen und vor allem Leopold von Ranke. In der geistigen Bewegung, für die diese Namen stehen, entstand jenes »historische Bewußtsein« (GS V, 7), das Dilthey bei den großen Naturforschern seiner Zeit vermisst hatte: das Wissen um die Eigenbestimmtheit der geschichtlichen Realität, deren Formationen nicht nur als Resultat naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten, sondern auch als Ausdruck des menschlichen Lebensprozesses verstanden werden müssen. Anders ausgedrückt: Naturkausalität ist eine notwendige, nicht jedoch hinreichende Bedingung für sozialen und geschichtlichen Sinn. Das historische Bewusstsein machte Dilthey sich nun zu eigen, indem er – über die historische Schule hinausgehend – nach dessen Möglichkeitsbedingungen fragte. So entstand schon früh der Plan zu einer »neuen Kritik der Vernunft«, die zeigen sollte, wie »Kunst, Religion und Wissenschaft« aus den »Wirkungsweisen des menschlichen Geistes«3 hervorgehen. Rückblickend spricht Dilthey von dem »herrschenden Impuls in meinem philosophischen Denken, das Leben aus ihm selber verstehen zu wollen« (GS V, 4). Aus dieser Perspektive entsteht die naturwissenschaftlich geprägte Wirklichkeitsauffassung durch Abstraktion vom lebensweltlichen Realitätszugang. Sie kann diesen daher keineswegs ersetzen.

In der Einleitung argumentiert Dilthey für die Existenzberechtigung einer Gruppe von Wissenschaften, die den geschichtlichgesellschaftlichen Lebensprozess selbst zu ihrem Gegenstand machen: die Geisteswissenschaften. Die theoretische Begründung dieser Wissenschaften möchte Dilthey leisten, indem er einen neuartigen Begriff von Erfahrung entwickelt, der sich sowohl vom naturwissenschaftlichen Erfahrungsverständnis als auch von metaphysischen Begründungsformen radikal unterscheidet.

Dieser zweite Aspekt – die Ablehnung jeder Metaphysik – lässt sich am besten durch einen Blick auf Diltheys geistige Herkunft erläutern. Er begann seine wissenschaftliche Ausbildung mit dem Studium der Theologie, fühlte sich aber schon bald zur Philosophie und zu den historischen Wissenschaften hingezogen, weil er den dogmatischen Gehalt des christlichen Glaubens nicht mehr als verbindlich ansehen konnte, sondern das Christentum nur noch als »eine Lebensanschauung unter Lebensanschauungen«4 verstand. Damit ist ein Motiv angesprochen, das Diltheys Arbeiten als Historiker und systematischer Philosoph gleichermaßen prägt: die Auffassung religiöser, künstlerischer und metaphysischer Lebensdeutungen als »einseitige, doch aufrichtige Offenbarungen der menschlichen Natur«5. Die kritische – und in der Wirkungsgeschichte Diltheys oftmals übersehene – Dimension dieser Würdigung kultureller Ausdrucksformen besteht in ihrem Bezug auf die geschichtliche Subjektivität von Menschen. Religionen und metaphysische Systeme offenbaren das jeweilige Selbstverständnis geschichtlicher Epochen, verraten uns jedoch nichts über die vom Menschen unabhängige Realität.

Diltheys frühe Entwicklung lässt sich als Übergang von der Binnenperspektive einer Weltdeutung – der christlichen Tradition seiner Herkunft – zu einer umfassenderen, allerdings die Wahrheitsfrage ausklammernden Betrachtungsweise verstehen, die prinzipiell alle Weltdeutungen als gleichrangige Ausdrucksformen des Menschlichen, als Teile eines nie zu vollendenden Ganzen anerkennt.6 »Der Mensch vollendet sich allein in der Anschauung aller Formen des menschlichen Daseins.«7 Die Fülle und Vielgestaltigkeit kultureller Formen erscheint Dilthey als etwas eminent Positives, weil er sie nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Nähe oder Ferne zu einer absoluten – religiösen oder metaphysischen – Wahrheit, sondern als Artikulation menschlicher Lebensmöglichkeiten betrachtet. In einer charakteristischen Formulierung aus dem Jahr 1861 ist von der »individuellen Fülle der Welt«8 die Rede, die der religiös-metaphysischen Lebenseinstellung entgehen muss.

Seinen eigenen Ansatz, die Suche nach einem wissenschaftlichen Verständnis des geschichtlichen Lebens, konnte Dilthey also nur entwickeln, indem er sich von der naturwissenschaftlichen Philosophie und ihrer Geschichtsblindheit ebenso distanzierte wie von den theologischen Gegnern dieser Philosophie, die alle erfahrbare Wirklichkeit umstandslos auf einen transzendenten Grund – auf Gott – zurückführen wollten. Dieser doppelten Frontstellung entsprach die Suche nach einem methodischen Konzept, das der Binnenperspektive des menschlichen Lebensprozesses besser gerecht werden könnte. Im Laufe dieser Suche entwickelte Dilthey seinen Begriff der geschichtlichen Erfahrung und mit ihm jene eigentümliche Verschränkung geschichtlicher und systematischer Argumentationsformen, die seine Schriften kennzeichnet. Dabei sind Kant und Schleiermacher die beiden Gestalten, mit denen er sich immer wieder auseinandersetzt.

Durch die Lektüre Kants wurde Dilthey davon überzeugt, dass gegenständliche Erkenntnis immer humanspezifische Erfahrung voraussetzt und wir daher über die Beschaffenheit einer vom Subjekt unabhängigen Wirklichkeit keine Aussagen treffen können. Gleichzeitig kritisiert Dilthey aber Kants Lehre von der Zeit als einer subjektiven Anschauungsform, weil diese es unmöglich mache, die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des menschlichen Lebensprozesses zu denken. Dieser Prozess, so argumentiert Dilthey, ist eine Realität, die nicht durch ein zugrunde liegendes Zeitloses erklärt werden kann. »In dem Lebensverlauf, in dem Wachsen aus der Vergangenheit und Sichhinausstrecken auf die Zukunft, liegen die Realitäten, die den Wirkungszusammenhang und den Wert unseres Lebens ausmachen.« (GS V, 5) Kant hatte das in unserem Wirklichkeitsverhältnis Gegebene als die raumzeitlich strukturierten, begrifflich verarbeiteten Erscheinungen eines unbekannt bleibenden Dinges an sich interpretiert. Diltheys Kritik richtet sich gegen die Anwendung dieses Konzepts auf die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit. Die Selbstgegebenheit des menschlichen Lebens kann danach nicht als zeitliche Erscheinung eines unzeitlichen Wesens verstanden werden. Kants Kritik der reinen Vernunft bedarf entsprechend einer Ergänzung und Korrektur zur Kritik der historischen Vernunft, die es ermöglicht, ihre Einbettung in den geschichtlichen Lebensprozess der Menschen zu denken. Die zentrale Einsicht Kants, dass wir keinen Zugang zu uninterpretierter, von unserem Erkenntnisvermögen unabhängiger Wirklichkeit haben, bleibt dabei gewahrt, gewinnt aber in Bezug auf die vom Menschen selbst hervorgebrachte Realität einen ganz anderen Sinn. Die unaufhebbare Subjektivität unseres Wirklichkeitszugangs bedeutet im Fall geschichtlicher Erfahrung keine Einschränkung, weil diese Selbsterfahrung der Subjekte ist. Diltheys Hochschätzung der Geisteswissenschaften ist nicht zuletzt in seiner Überzeugung begründet, dass diese – im Unterschied zu den Naturwissenschaften – mit dem geschichtlich-gesellschaftlichen Lebensprozess denjenigen Aspekt der Realität zum Gegenstand haben, der nicht bloße Erscheinung ist, sondern die uns nächste, unreduzierte Wirklichkeit.

Kants Einsicht in die aktive Rolle der Subjektivität im Erkenntnisprozess, seine Kritik metaphysischer Ansprüche auf ein Wissen vom Unbedingten und seine Orientierung an der Frage nach der Allgemeingültigkeit unseres Wissens bildeten für Dilthey den Rahmen, in den sich auch seine Zuwendung zur geschichtlichen Welt einzuordnen hatte. Für die positive Eröffnung eines Zugangs zur geschichtlichen Selbsterfahrung des Lebens spielte dann allerdings die intensive Beschäftigung mit Friedrich Schleiermacher die entscheidende Rolle.

Schleiermacher, der große protestantische Theologe und Philosoph, einer der bedeutendsten Vertreter des deutschen Idealismus, wurde für Dilthey zum Gegenstand lebenslang betriebener Forschungen, die ihren Niederschlag in der Schleiermacher-Biografie gefunden haben, einem unvollendeten Werk von mehr als 1500 Seiten Umfang. Nur der erste Teil des ersten Bandes ist zu Diltheys Lebzeiten erschienen, nämlich 1870. 1922 und 1966 wurde dann aus dem Nachlass das Material zu den anderen Teilen dieses monumentalen Opus herausgegeben. Aber schon mit dem 1870 erschienenen Halbband, der sich auf den jungen Schleiermacher konzentriert, konnte Dilthey seinen Ruf als Meister der Methode geisteswissenschaftlichen Verstehens begründen. Das Leben Schleiermachers galt lange Zeit als Modell der biografischen Erschließung des komplexen Zusammenhangs von zeitgeschichtlicher Situation, individueller Lebensführung und theoretischer Wirklichkeitsdeutung.

Der umfassende Anspruch des Buches erklärt sich dadurch, dass Schleiermacher für Dilthey in zweifacher Weise exemplarisch bedeutend wurde: In der Beschäftigung mit dem intellektuellen Werdegang dieses Theologen ging ihm die zentrale Bedeutung innerer Erfahrung für die Herausbildung religiöser und metaphysischer Überzeugungen (Weltanschauungen) auf. Gleichzeitig wurde die Beschäftigung mit Schleiermachers Leben zur Bewährungsprobe für Diltheys methodische Grundannahme, dass Lebensprozesse von innen, aus der in sich selbst zentrierten Subjektivität der Handelnden heraus verstanden werden müssen. Die geistige Entwicklung Schleiermachers deutet Dilthey dementsprechend als »Wendung von der religiösen Transzendenz zu jener Innerlichkeit, welche die entscheidenden Züge des Lebens zu einer Form des Erlebens zusammenfaßt, in der auch die Beziehung zum unsichtbaren Zusammenhang der Dinge ihre Stelle hat« (GS XIII, 149).

Der Begriff der »Innerlichkeit«, den Dilthey hier verwendet, ist äußerst missverständlich. Man kann ihn als Entwertung der äußeren Realität, als Rückzug in die private Geistigkeit verstehen, und in diesem Sinne ist er in der geisteswissenschaftlichen Tradition auch nicht selten interpretiert worden. Innerlichkeit hat aber, wie Dilthey später in der Einleitung zeigen wird, auch einen methodischen Sinn und meint dann die ursprüngliche Gegebenheitsweise geistiger, sinnhafter Strukturen im Lebensprozess: Alle Wirklichkeit wird nur zugänglich im Lebensvollzug der Subjekte, die sich die Welt nicht als neutrale Beobachter, sondern mit ihren Bedürfnissen und Gefühlen zueignen.

Leben Schleiermachers