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Mattias Iser/David Strecker

Jürgen Habermas zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Weimar †

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2010 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelbild: © Privatarchiv Jürgen Habermas,

Starnberg/Suhrkamp Verlag

E-Book-Ausgabe September 2018

ISBN 978-3-96060-064-0

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-668-2

2., ergänzte Auflage 2016

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Dieter Thomä
Cornelia Vismann

Inhalt

Einleitung: Das Projekt der Moderne verteidigen

1.Ein Spürsinn für Relevanzen – Habermas’ Leben als öffentlicher Intellektueller

1.1 Habermas’ Jugend und die Erfahrung des Zivilisationsbruchs

1.2 Der akademische Werdegang und erste Interventionen

1.3 Der junge Professor und die Studentenbewegung

1.4 Die Zeit in Starnberg und der ›Deutsche Herbst‹

1.5 Rückkehr nach Frankfurt und der Historikerstreit

1.6 Wiedervereinigung, Europa und die Frage nach einer neuen Weltordnung

1.7 Neue Herausforderungen: Fundamentalismus, Naturalismus und die Rolle der Religion

2.Das Versprechen der Moderne – die theoretischen Grundlagen

2.1 Die Begründung des Projekts der Moderne: Drei Modelle

2.2 Die Rationalitätstheorie: Der Begriff der kommunikativen Vernunft

2.3 Die Handlungstheorie: Der Begriff des kommunikativen Handelns

2.4 Die Gesellschaftstheorie: Lebenswelt und System

3.Die Gefährdungen der Moderne – Dimensionen der Kritischen Theorie

3.1 Verdrängte Kommunikation: Die Kolonialisierungsthese

3.2 Verzerrte Kommunikation: Die Diskursethik und die Frage nach der Macht

3.3 Die Inhalte der Verständigung: Moralphilosophie oder Demokratie?

3.4 Eine exemplarische Kritik: Das Problem des Klonens

4.Die Hoffnung der Moderne – der demokratische Rechtsstaat

4.1 Politik zwischen Recht und Demokratie?

4.2 Deliberative Demokratie: Öffentlichkeit und politische Macht

4.3 Deliberative Demokratie jenseits des Nationalstaats

5.Kritische Einwände

5.1 Kritik der Theorie

5.2 Kritik der Kritik

5.3 Kritik der Politik

Anhang

Danksagung

Siglen

Literatur

Zeittafel

Über die Autoren

Einleitung: Das Projekt der Moderne verteidigen

Jürgen Habermas ist der wohl bekannteste deutsche Philosoph und Gesellschaftstheoretiker der Gegenwart. Zudem hat er spätestens seit den 1960er Jahren als einer der führenden Intellektuellen die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland mit seinen kritischen Interventionen maßgeblich beeinflusst. Mit dieser Verbindung von Theorie und Praxis steht er in der Tradition jener ›Frankfurter Schule‹, die seit den 1930er Jahren eine kritische Gesellschaftstheorie begründen wollte. ›Kritisch‹ sollte diese Art der Theorie sein, weil sie sich ganz ausdrücklich dem Ziel verschrieb, zur Emanzipation des Menschen beizutragen, und Einfluss nehmen wollte auf die sozialen Kämpfe ihrer Zeit. Wer Wissenschaft in ›traditioneller‹ Weise als wertneutrale Erkenntnis des Seienden verstehe, also dessen, was ist und was sich beobachten lässt, der gebe sich der Illusion hin, die Wissenschaft spiele nicht selbst eine Rolle im sozialen Leben. Diese – eben auch politische – Rolle müsse stets mitreflektiert werden.

Die Vertreter der sogenannten ersten Generation dieses Ansatzes, allen voran Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, aber auch Walter Benjamin sowie Herbert Marcuse, wollten den Marxismus zeitgemäß reformulieren und griffen dabei auch auf die Einsichten der Psychoanalyse und der Kultursoziologie zurück. Allerdings verloren Adorno und Horkheimer unter dem Eindruck des nationalsozialistischen Terrorregimes ihr Zutrauen in jene Kräfte der Vernunft, welche die Menschheit seit der Aufklärung von Vorurteilen und aus Verhältnissen der Unterdrückung befreien sollten. An deren Stelle trat in ihrem gemeinsamen Hauptwerk Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno 1944) vielmehr das düstere Bild einer Rationalität, die nur die effektivsten Mittel für den Zweck bestimmt, die Herrschaft über die Natur und andere Menschen zu vergrößern. Die Blindheit gegenüber dem Wert jedes Einzelnen durchdringe nach und nach alle Lebensbereiche. Dabei sollten sich die Ursprünge dieser Fehlentwicklung bis weit in die Urgeschichte des Menschen zurückverfolgen lassen. Gegen diesen Pessimismus der frühen Kritischen Theorie wendet sich Habermas energisch, obgleich er viele der kritischen Motive aufnimmt und verändert fortführt.

So steht im Zentrum des Denkens von Jürgen Habermas eine Idee: Das Projekt der Moderne muss verteidigt werden. Was aber ist das Projekt der Moderne? Es besteht, grob vereinfacht, darin, dass die Menschen ihre Lebensumstände selbstbestimmt, also freiwillig und ungezwungen gestalten können. Weder sollen einige allen anderen ihre Vorstellungen vom guten (Zusammen-)Leben aufzwingen können, noch dürfen überkommene Traditionen, wie in der Vormoderne, unhinterfragt herrschen. Allzu oft spiegeln solch traditionelle Vorstellungen nämlich nur frühere Machtverhältnisse wider. Damit nimmt Habermas die Idee der Aufklärung auf, die – wie Immanuel Kant es formulierte – dem Menschen dabei helfen sollte, sich aus seiner »selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Kant 1784: 20) zu befreien und seine Verhältnisse mit Willen und Bewusstsein zu gestalten. Das beinhaltet für Habermas auch, die Menschenrechte eines jeden gegen Vorurteile, etwa nationalistischer, rassistischer oder sexistischer Art, zu verteidigen – insbesondere das Recht, an demokratischen Entscheidungsprozessen als gleichberechtigter Autor der gemeinsamen Gesetze teilzunehmen.

Was diese grundlegende Idee genau bedeutet, soll dieses Buch ebenso verständlich machen wie jene drei Motive, die das Denken von Habermas nachhaltig prägen. Diese drei Motive sollen im Folgenden in ersten Umrissen skizziert werden. Es handelt sich hierbei erstens um das Motiv der herrschaftsfreien Kommunikation, zweitens das Motiv einer sich selbst gefährdenden Moderne und drittens das Motiv der Selbstkorrektur durch eine vitale demokratische Öffentlichkeit.

Zum ersten Motiv der herrschaftsfreien Kommunikation: Habermas geht von der Überzeugung aus, dass es die menschliche Sprache ist, die uns dazu bringt, Vorstellungen von geglückter Interaktion auszubilden. In der Sprache tauschen wir nämlich nicht nur Informationen aus, sondern wir sprechen miteinander, um gemeinsam unsere Angelegenheiten zu regeln. Dabei verpflichten wir uns, auf Nachfragen stets Gründe angeben zu können, die auch unser Gegenüber überzeugen sollen. Wir setzen also immer schon voraus, dass unsere Aussagen – und Handlungen – nur dann legitim sind, wenn auch die anderen sie akzeptieren können. Stets kann man auf eine Äußerung mit der Nachfrage »Warum eigentlich?« antworten. In dieser Möglichkeit des Infragestellens – und auch Abweichens vom Althergebrachten – besteht laut Habermas unsere Freiheit, unsere Autonomie. Wir müssen nur das akzeptieren, was wir uns selbst mit guten Gründen zu eigen machen können. Und indem wir uns dem anderen gegenüber zur Rechtfertigung verpflichtet wissen, erkennen wir auch seine Autonomie an. Insofern wohnt nach Habermas der Sprache das normative Ideal der Herrschaftsfreiheit inne, das sich gegen jede Form von Manipulation oder Zwang richtet. Habermas will hiermit zeigen, dass die Vorstellung von der Wünschbarkeit eines gleichberechtigten Zusammenlebens nicht nur eine beliebige ist, nicht nur eine, die ihn als Erben einer bestimmten, nämlich der abendländischen Kultur prägt. Vielmehr soll diese Idee der Weise eingeschrieben sein, wie Menschen schlechthin leben, weil alle unabhängig von ihrer besonderen Kultur auf Sprache angewiesen sind. ›Eingeschrieben‹ soll heißen, dass man die Sprache nur sinnvoll verwenden kann, wenn man diese Idee zumindest stillschweigend voraussetzt. Das bedeutet aber auch, dass das Projekt der Moderne mit seinen Ideen von Menschenrechten und Demokratie einen historischen Fortschritt gegenüber früheren Formen der gesellschaftlichen und politischen Ordnung markiert. Umso stärker kritisiert Habermas all diejenigen, die sich auf die bloße Autorität von Traditionen berufen. Schließlich können Menschen nur in einer Kultur gedeihen, die alle Individuen in ihrer Andersheit als Gleichberechtigte anerkennt. Habermas geht nämlich davon aus, dass Menschen nur mittels der Reaktionen anderer Subjekte, die stets gesellschaftliche Vorstellungen widerspiegeln, eine Vorstellung davon gewinnen können, wer sie eigentlich sind und sein wollen. Daher sind sie in fundamentaler Weise von der Haltung anderer Subjekte (und letztlich der Gesellschaft als Ganzer) abhängig. Wer Anerkennung erfährt, wird nicht nur als Person mit bestimmten Eigenschaften erkannt, sondern hierin auch positiv bestätigt. Erst solche Anerkennung ermöglicht einen Zustand positiver Freiheit, in welchem man sich mit sich selbst und den eigenen Projekten zu identifizieren vermag. Je offener daher die Gesellschaft gegenüber abweichenden Vorstellungen ist, desto leichter wird es dem Einzelnen fallen, sich in seiner Individualität anerkannt zu fühlen. Dieses Motiv hat Habermas in einem Interview aus dem Jahre 1981 so formuliert: Es gehe um eine Weise des Zusammenlebens, »in der wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhältnis treten; daß man aufrecht gehen kann in einer Gemeinsamkeit, die nicht die Fragwürdigkeit rückwärtsgewandter substantieller Gemeinschaftlichkeiten an sich hat. Diese Intuition stammt aus dem Bereich des Umgangs mit anderen; sie zielt auf Erfahrungen einer unversehrten Intersubjektivität […]. [E]s sind immer Vorstellungen von geglückter Interaktion.« (NU: 202) Hierum geht es im Kern beim Motiv der herrschaftsfreien Kommunikation, auf dem ein großer Teil der theoretischen Annahmen von Habermas beruht. Es wird im Einzelnen im zweiten Kapitel dieser Einführung erläutert.

Allerdings ist das Projekt der Moderne latent gefährdet. Die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen alle Menschen ihr Leben ungezwungen und solidarisch gestalten können, müssen nämlich stets (neu) geschaffen und gehütet werden. Ihre Gefährdung geht von bestimmten Entwicklungen innerhalb der Moderne selbst aus, kommt also von innen. Die Analyse dieser Gefährdungen ist das zweite zentrale Motiv, welches das Habermas’sche Werk antreibt. Die in der Sprache verkörperte Vernunft hat sich im historischen Prozess nämlich höchst einseitig entfaltet. Deshalb gibt es innerhalb der Moderne eine sich verstärkende Tendenz, nur das als vernünftig bzw. rational zu begreifen, was nach den geeigneten Mitteln für einen vorgegebenen Zweck fragt. Was aber, wenn der Zweck illegitim ist? Weil der moderne Mensch danach oft gar nicht mehr fragt und allzu häufig einem szientistischen, also an den Naturwissenschaften ausgerichteten Selbst(miss)verständnis aufsitzt, schlägt die angestrebte Aufklärung immer wieder in Barbarei um. Hiermit folgt Habermas seinen Vorgängern Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Auschwitz wäre ohne die moderne Technik und die modernen Formen der Organisation nicht möglich gewesen. Und zugleich wäre Auschwitz nicht möglich gewesen, wenn die Ideen der Französischen Revolution, nämlich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bzw. Solidarität, im Sinne der Aufklärung für alle Menschen anerkannt worden wären. Dasselbe gilt für den Abwurf der Atombombe, den Kalten Krieg, aber auch den fundamentalistischen Terror der Gegenwart. Angesichts dieser barbarischen Seite der Moderne verteidigt Habermas die These, dass man durchaus von legitimen und illegitimen Zwecken sprechen kann. Praktische Fragen, also Fragen, die sich nicht nur auf die Wahl von Mitteln, sondern die Bestimmung von Zwecken beziehen, müssen von den Betroffenen in einer allgemein zustimmungsfähigen Weise gelöst werden. Nur dann können die Ergebnisse legitim sein. Und was allgemein zustimmungsfähig ist, lässt sich wiederum nur dann angemessen klären, wenn die Subjekte sich ihrer Bedürfnisse und Gefühle hinreichend bewusst sind. Das Motiv der sich selbst gefährdenden Moderne entfaltet Habermas im Rahmen einer kritischen Theorie, die die Ursachen gesellschaftlicher Selbstmissverständnisse und Ungerechtigkeiten aufspürt – und zwar vor allem in Form von Zwängen, die von Markt und Staat ausgehen. Die Moderne schöpft nicht das ganze Potenzial der bereits verfügbaren Vernunft aus, leidet also an einer einseitigen Rationalisierung. Dadurch aber droht, was längst schon überwunden sein könnte: der Rückfall in unhinterfragte Traditionen und das Verharren in ungerechten oder für uns alle schädlichen Zuständen. Das ist das Thema des dritten Kapitels dieses Buches, in dem wir die verschiedenen Arten von Gefährdungen analysieren, die Habermas diagnostiziert.

Darin, den Prozess der Modernisierung als ambivalent zu verstehen, unterscheidet sich Jürgen Habermas, der als führender Kopf der zweiten Generation der Kritischen Theorie gilt, also nicht von Horkheimer und Adorno. Allerdings glaubt Habermas – anders als diese – nicht, dass der Modernisierungsprozess notwendigerweise unheilvoll verlaufen muss. Denn die Moderne bringt zugleich Gefahren und Chancen hervor. Und die Gefahren sollen genau dann bewältigt werden können, wenn die Chancen, die die Moderne bereithält, ergriffen werden. Diese Chance, und das ist das dritte Motiv, liegt in der Belebung einer demokratischen Öffentlichkeit, die so institutionalisiert ist, dass die Frage nach den Zwecken politischen Handelns jederzeit auf die Tagesordnung gesetzt und auch befriedigend beantwortet werden kann. Diese Öffentlichkeit soll, auch informiert durch Theorien wie die von Habermas, in Diskursen jene Ideale zur Geltung bringen, die bereits in der Sprache angelegt sind. Zudem soll sie mögliche Gefährdungen der demokratischen Praxis erkennen und sich ihnen entgegenstellen. Habermas sieht deshalb, anders als die frühe Kritische Theorie, im demokratischen Rechtsstaat eine historische Errungenschaft. Zwar ist dieser stets bedroht; aber er bedeutet doch einen echten Gewinn an Freiheit, und zwar individuell wie kollektiv. Um das Motiv der demokratischen Öffentlichkeit geht es im vierten Kapitel.

Die drei Motive, die das Werk von Jürgen Habermas strukturieren, spiegeln sich somit auch im Aufbau der vorliegenden Einführung wider. Das fünfte Kapitel wird dann die wichtigsten Einwände diskutieren, die gegen Habermas’ Einlösung dieser drei Motive ins Feld geführt wurden.

Zugleich hat Habermas diese drei Motive nicht nur in seinem akademischen Werk verfolgt. Vielmehr haben sie ihn immer wieder dazu bewegt, in öffentlichen Debatten Stellung zu beziehen und seine Theorie ganz konkret in die Praxis zu überführen. Dabei spielen sich die meisten seiner politischen Einflussnahmen vor dem spezifischen Hintergrund der deutschen Geschichte ab. Erst nach 1945 hat sich die Bundesrepublik dem Projekt der Moderne mit seinen Ideen von Demokratie und Menschenrechten geöffnet. Gegen alle tatsächlichen oder von Habermas für solche gehaltenen Versuche, diese historische Errungenschaft zu relativieren oder rückgängig zu machen, insbesondere von konservativer Seite, kämpft er energisch an. Diese Interventionen, die Habermas zu einem der, ja, vielleicht sogar zu dem einflussreichsten Intellektuellen der deutschen Nachkriegsgeschichte gemacht haben, stellen wir im ersten Kapitel dar. Zugleich spüren wir hier den biografischen Wurzeln nach, aus denen sich die drei skizzierten Motive speisen, um so in das komplexe Werk von Jürgen Habermas einzuführen.

1.Ein Spürsinn für Relevanzen –Habermas’ Leben als öffentlicher Intellektueller

Habermas’ Karriere als öffentlicher Intellektueller beginnt bereits im Alter von 24 Jahren. In einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der bundesweit Aufsehen erregt, kritisiert er den damals bekanntesten deutschen Philosophen, Martin Heidegger, in scharfer Weise. Was war passiert? Heidegger hatte 1935 unter dem Titel Einführung zur Metaphysik eine Vorlesung gehalten, die er 1953 ohne weitere Erläuterung veröffentlicht. Habermas wird durch seinen älteren Freund Karl-Otto Apel darauf aufmerksam gemacht, dass sich in dieser Vorlesung ein äußerst problematischer Satz findet. Es ist nämlich von der »inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung« (zit. n. PPP: 66) die Rede, was für Apel, Habermas und viele andere unmissverständlich auf die nationalsozialistische Bewegung anspielt. Empört schreibt Habermas jenen denkwürdigen Artikel, in welchem er insbesondere Heideggers mangelnde Aufarbeitung der Vergangenheit kritisiert. Heidegger scheint mit seiner Veröffentlichung den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus schlicht zu ignorieren. Aber auch inhaltlich nimmt Habermas hier bereits Argumente voraus, die sein späteres Werk maßgeblich prägen sollen (vgl. auch NR: 24). So sieht er in Heideggers Text einen Beleg dafür, dass der Nationalsozialismus sich zwar nicht notwendig, aber doch keineswegs zufällig aus typisch deutschen Traditionen speisen konnte (PPP: 66). Es ist vor allem die Abwehr der universalistischen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die für Habermas zu jenen überlieferten Einstellungen gehört, die ein für allemal überwunden werden müssen. Zwar erkennt Habermas durchaus an, dass sich in der Zeit zwischen 1935 und 1953 Heideggers Ansichten geändert haben, aber die elitäre Stoßrichtung gegen das Alltägliche und Durchschnittliche bleibe doch bestehen. Zudem würde der bloß aufrufende Charakter des Texts Argumente vermissen lassen. Das aber ist Habermas zufolge politisch gefährlich, weil sich darin die Überzeugung ausdrückt, es komme weder darauf an, Probleme klar zu benennen, noch darauf, andere zu überzeugen. Wenn aber die Ehrfurcht vor dem Unverstandenen innerhalb der Politik desaströse Folgen zeitige, dürfe auch die Philosophie nicht so verfahren (vgl. TK: 49ff.).

Bereits hier deutet sich ein Schema an, das sich im Laufe von Habermas’ Karriere als öffentlicher Intellektueller mit erstaunlicher Regelmäßigkeit wiederholen wird. Er sieht in bestimmten Äußerungen eine Gefährdung der demokratischen politischen Kultur, die auf den grundlegenden Werten von Freiheit und Gleichheit beruht. Die Gegenseite – die nicht immer, aber doch zumeist dem konservativen Lager zugehört – sieht sich hingegen vorschnell verdächtigt, sieht Moralismus und Alarmismus am Werk: Habermas wolle die freie Meinungsäußerung im Namen der political correctness unterbinden. Dieses Schema greift auch hier. In der damals noch konservativen Wochenzeitung Die Zeit erscheint prompt ein Kommentar, in dem Habermas’ Lesart als einseitig kritisiert wird. Heidegger habe sich über den Nationalsozialismus lediglich mokieren wollen, und Habermas’ Entlarvungsgeste zeuge von »Verfolgungssucht« (zit. n. Wiggershaus 2004: 30). Spätere Enthüllungen über Heideggers Text legen hingegen nahe, dass Habermas recht hatte (ebd.: 31). Solch angebliche »Verfolgungssucht« lässt sich – positiv gewendet – auch als eine besondere Sensibilität für Gefahren verstehen, die Habermas als »avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen« bezeichnet (AE: 84). Der öffentliche Intellektuelle müsse »sich zu einem Zeitpunkt über kritische Entwicklungen aufregen können, wenn andere noch beim business as usual sind« (AE: 84).

In all den Debatten, die wir im Folgenden skizzieren werden und mit denen Habermas die wissenschaftliche und politische Landschaft der Bundesrepublik nachhaltig geprägt hat, war es ihm stets wichtig, die Rollen des akademischen Gelehrten und des politisch engagierten Intellektuellen klar voneinander zu trennen. Zu groß erscheint ihm die Gefahr, dass die fachliche Reputation des Wissenschaftlers – und noch stärker die des Moralphilosophen – dazu missbraucht wird, der Öffentlichkeit autoritative, nicht zu hinterfragende Antworten vorzugeben. Was innerhalb demokratischer Verfahren als legitim gelten kann, soll der Philosoph gerade nicht vorentscheiden.

Aber auch wenn Habermas gegenüber inhaltlichen Empfehlungen seitens der Philosophie skeptisch ist, will er doch sein philosophisches und sozialwissenschaftliches Wissen nutzen, um Gefährdungen der Verständigungspraxis auch dort aufzuspüren, wo sie der Alltagsverstand gar nicht vermuten würde. Insofern können und sollten sich Philosophen und Sozialwissenschaftler seines Erachtens als Intellektuelle dazu »provozieren« lassen, »ungefragt, also ohne Auftrag und Abstimmung, von ihrem beruflichen Wissen jenseits ihrer Profession einen öffentlichen Gebrauch zu machen« (AE: 79f., Hervh. M.I./D.S.). Auch wenn man sich den »avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen« nicht aneignen könne wie eine Theorie, bedürfe es doch innovativer theoretischer Sichtweisen, damit der Gesellschaftskritiker »wichtige Themen aufspürt, fruchtbare Thesen aufstellt und das Spektrum der einschlägigen Argumente erweitert, um das beklagenswerte Niveau öffentlicher Auseinandersetzungen zu verbessern« (AE: 81).

Allerdings lassen sich diese Rollen bei allem Bemühen nicht immer ganz trennen. Das wird bereits daran deutlich, dass sich Habermas auch als Wissenschaftler durch eine Tugend auszeichnet, die er eigentlich dem Intellektuellen zuschreibt, nämlich über »eine argwöhnische Sensibilität für Versehrungen der normativen Infrastruktur des Gemeinwesens« (AE: 79) zu verfügen. Gerade weil Habermas’ Denken einen prinzipiell eingreifenden Charakter hat, scheinen sich mitunter verschiedene Rollen zu überlagern. Auch seine großen Werke sollen letztlich politische Auswirkungen zeitigen, ohne damit ihren wissenschaftlichen Anspruch aufzugeben. Und auch die eher polemischen Interventionen sind im Falle von Habermas unterfüttert durch seine theoretischen Ansichten. Dabei lassen sich natürlich Grade der Zuspitzung unterscheiden. Die Interventionen, vor allem veröffentlicht in den Kleinen Politischen Schriften, tendieren zu provokanteren und klarer politischen Thesen (ST: 7f.). Aber obgleich im Einzelfall nicht immer ganz deutlich sein mag, welche dieser Rollen Habermas gerade einnimmt, ist ihm die Trennung von Staatsbürger, Intellektuellem, Sozialwissenschaftler und Philosoph äußerst wichtig. Zu sehr fürchtet Habermas, der Sozialwissenschaftler und insbesondere der Philosoph könnten eine Autorität reklamieren, die ihnen im demokratischen Prozess gar nicht zukommt.

Doch kehren wir zurück zu jenem ersten Ausrufezeichen, das der junge Habermas mit seiner Kritik an Heidegger setzt. Dieses speist sich – wie auch die drei Motive, die wir in der Einleitung in ersten Strichen umrissen haben – aus frühen biografischen Erfahrungen.

1.1Habermas’ Jugend und die Erfahrung des Zivilisationsbruchs

Am 16. Juni 1929 in Düsseldorf geboren, lebt Habermas bis zu seinem Abitur in Gummersbach, einem oberbergischen Städtchen etwa fünfzig Kilometer östlich von Köln. Sein Vater arbeitet dort als Geschäftsführer der Zweigstelle der Deutschen Industrie- und Handelskammer. Wie sehr unsere Identität abhängig ist von der Weise, wie die anderen sich uns gegenüber verhalten, erfährt der junge Habermas bereits früh. Aufgrund einer »verzerrten Artikulation« (NR: 19), die von einer Gaumenspalte herrührt, kann er sich gegenüber anderen Kindern nicht immer verständlich machen. Hieran können auch zwei Operationen, kurz nach der Geburt und im Alter von fünf Jahren, nichts Wesentliches ändern. Damit wird der Wechsel von der schützenden Privatsphäre der Familie in die Öffentlichkeit des Schulhofs zu einer Erfahrung des Andersseins und der Ausgrenzung (NR: 20). Habermas selbst glaubt im Rückblick, dies habe seine Sensibilität für die – insbesondere sprachliche – Abhängigkeit von den anderen geschärft, die sein ganzes Werk bestimmen wird (NR: 17ff.).

Verstärkt wird diese Erfahrung durch ein Erlebnis kurz nach dem Krieg, als er wegen der Nahrungsmittelknappheit auf einem Bauernhof arbeitet. Erneut wird er Opfer einer verbalen Kränkung: »Da war meine Gaumenspalte auch nicht gerade ein Privileg […] und dann machte wieder irgendeiner von den Jungen eine Bemerkung. Ich hatte diese Heugabel in der Hand, ich hab die in den Heuwagen gestoßen, hab mich wortlos umgedreht, bin in mein Zimmer, hab meine Sachen gepackt, ohne jedes weitere Wort, und bin abgehauen. Emanzipation, das hat für jeden von uns ja eine andere Konnotation in der eigenen Lebensgeschichte, aber das war eine Emanzipation.« (zit. n. Wiggershaus 2004: 13) Emanzipation bedeutet demzufolge die Befreiung von all jenen Zuständen, in denen sich kein gelingendes Miteinander einstellt und man nicht aufrecht gehen kann.

Natürlich muss man sich davor hüten, ein Werk angesichts solch biografischer Anekdoten vorschnell zu psychologisieren. Aber hier dürfte doch zumindest ein Schlüssel zu dem ersten der in der Einleitung genannten drei Motive liegen, die Habermas zeitlebens antreiben: dem Ziel gelingender Kommunikation. Er selbst schreibt denn auch: »Mir schwebt das Bild einer Subjektivität vor, die man sich wie einen nach außen gestülpten Handschuh vorstellen muss, um die Struktur ihres aus Fäden der Intersubjektivität gesponnenen Gewebes zu erkennen.« (NR: 18) Die Identität des Einzelnen wird also geprägt durch die sozialen Beziehungen (und damit auch die an ihn gestellten Erwartungen), in denen er sich vorfindet. Menschen sind in fundamentaler Weise von anderen Menschen und der Gesellschaft abhängig, weil sie nur mittels des ›Blicks‹ bzw. der Reaktionen der anderen eine Vorstellung davon gewinnen können, wer sie sind. Umso wichtiger ist es dann aber, diese sozialen Beziehungen ebenso hinterfragen zu können wie die Erwartungen und Normen, die ihnen zugrunde liegen. Ansonsten wäre man diesen gesellschaftlichen Vorstellungen (und dem Bild, das sie einem vermitteln) schutzlos ausgeliefert. In besonderer Weise sind solche ›Kämpfe um Anerkennung‹ deshalb möglich innerhalb eines demokratischen Rechtsstaats mit einer Öffentlichkeit, in der Missachtungserfahrungen zur Sprache gebracht werden können.

Die Betonung von Demokratie und Öffentlichkeit, einem weiteren zentralen Motiv im Werk von Jürgen Habermas, ist eng mit der Erfahrung des Nationalsozialismus verbunden. Habermas erlebt diesen im Alter zwischen drei und fünfzehn Jahren. Das bürgerliche Elternhaus identifiziert sich zwar nicht mit den nationalsozialistischen Zielen, passt sich aber unkritisch an. Dementsprechend geht Habermas, wie die meisten seiner Mitschüler, in die Hitlerjugend, auch wenn er nicht besonders darauf erpicht ist, sich an den Militärübungen zu beteiligen. In der Absicht, später Arzt zu werden, leitet er Erste-Hilfe-Kurse. Kurz vor Kriegsende dient er noch als Sanitäter am Westwall. Die Kapitulation und die Besetzung durch die Alliierten nimmt er dann als sehr positiv wahr: »Zunächst mal war 1945 eine Befreiung, historisch und persönlich. Es war, in meiner Erinnerung, übrigens sehr schönes Wetter. Ich habe das alles naiv, intuitiv als schön empfunden.« (KPS: 512)

Wie viele seiner Altersgenossen sieht er dann im Kino die Dokumentationen über die Greueltaten und den Massenmord an den Juden in den Konzentrationslagern, verfolgt im Radio die Nürnberger Prozesse. »[N]atürlich bestand damals der Eindruck einer Normalität, die sich hinterher als Schein herausstellte. Daß man plötzlich sah, das waren Verbrecher: Das hat schon eine andere Qualität.« (KPS: 512) Die Skepsis gegenüber dem unkritischen Rückbezug auf überkommene Traditionen entspringt dieser prägenden Erfahrung. Das Gleiche gilt für Habermas’ Ablehnung einer Politik, die statt auf Argumente auf Gefühle oder ästhetische Erfahrungen setzt – wie etwa die Inszenierung der nationalsozialistischen Parteitage. So wittert Habermas fortan immer dann eine Gefahr für die moderne Idee der Demokratie, wenn unkritisch auf die Idee der Nation und die Vorstellung eines Volkes rekurriert wird – ganz besonders innerhalb der deutschen Debatte.

Insofern erschreckt es den jungen Habermas, dass bei der Wahl zum ersten deutschen Bundestag im Jahre 1949 fast alle Parteien explizit auf die deutsche Nation Bezug nehmen und sich um eine Aufarbeitung der Vergangenheit gar nicht erst bemühen. Selbst bei der SPD fürchtet der Vorsitzende Kurt Schumacher, ohne nationale Rhetorik bei der Wahl allzu viele Stimmen zu verlieren. Habermas denkt hingegen schon damals dezidiert postnational, tritt also für ein politisches Gemeinwesen ein, das sich über seine demokratischen Prinzipien versteht und nicht als Ausdruck einer Nation, die auf den vorpolitischen Banden einer gemeinsamen, angeblich ›ursprünglichen‹ Kultur oder gar auf Abstammung und Blutsverwandtschaft beruht.

Die Idee der rechtsstaatlichen Demokratie, die sich aus dem Pro und Kontra öffentlicher Debatten speist, erscheint ihm als einzig gangbarer politischer Weg. In diesem Sinne hat er sich selbst als ein »Produkt der ›reeducation‹« (KPS: 513) bezeichnet. So prägt die ›Westbindung‹ an die Ideale der amerikanischen Verfassung und der Französischen Revolution auch sein gesamtes Denken. Zugleich glaubt Habermas jedoch, dass die Ideale von Demokratie und einem menschenwürdigen Leben immer noch ihrer Verwirklichung harren, nicht zuletzt deshalb, weil es eine unaufhebbare Spannung zwischen Demokratie und Kapitalismus gibt. Daher setzt er sich für einen demokratischen Sozialismus ein, der die gleichberechtigte Teilnahme eines jeden am gesellschaftlichen Leben gewährleisten kann (so auch noch Habermas in Funken 2008: 182f.).

Habermas wurde aus diesem Grund regelrecht zu einem roten Tuch für jene neokonservativen Kreise, mit denen er sich jahrzehntelang eine intellektuelle Schlacht lieferte. Er selbst meint denn auch: »Der Kampf um die mentale Ausrichtung der Bundesrepublik ist unter unfriedlichen Prämissen geführt worden. […] Es gab so etwas wie eine Front. Diese verlief zwischen denen, die sich durch die stupende Uneinsichtigkeit der intellektuellen Vorreiter des NS-Regimes herausgefordert sahen, und denen, die das nicht kümmerte und [die sich] stattdessen dafür einsetzten, das nationale, insbesondere das jungkonservative Erbe trotz aller Schweinereien unbeschädigt in die Republik zu übernehmen.« (Habermas in Funken 2008: 184)

1.2Der akademische Werdegang und erste Interventionen

Von der späteren Verbindung von theoretischer Beschäftigung und politischem Engagement in der Praxis ist in dieser ersten Phase allerdings noch nicht viel zu spüren. Von 1949 bis 1954 studiert Habermas Philosophie, Geschichte, Psychologie, deutsche Literatur und Ökonomie in Göttingen, Zürich und Bonn. In Bonn besucht er vor allem Lehrveranstaltungen bei Erich Rothacker, der ihn für Fragen der philosophischen Anthropologie interessiert. Wie unterscheidet sich der Mensch vom Tier? Welche Rolle spielt hierbei die Sprache? Wie müssen politische Institutionen beschaffen sein, die dem angemessen Rechnung tragen? Diese Fragen, wenn auch nicht Rothackers Antworten, werden für das weitere Werk wichtig bleiben. Erst zaghaft setzt nun Habermas’ Bemühen um die Vermittlung seiner politischen und seiner philosophischen Überzeugungen ein. So stößt er in den frühen 1950er Jahren über Karl Löwith auf den jungen Marx, liest Georg Lukács, Karl Korsch, Ernst Bloch, bald Horkheimer und Adorno sowie Herbert Marcuse (NU: 168f.). Habermas beginnt erst jetzt, sich intensiver mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis auseinanderzusetzen.

Die Bonner Jahre sollten sich auch in anderer Hinsicht als prägend für Habermas’ weitere Karriere als Wissenschaftler und Intellektueller erweisen. Habermas freundet sich nämlich in Bonn mit dem sieben Jahre älteren Karl-Otto Apel an. Dieser wird in den 1960er Jahren die Grundidee der Diskurstheorie formulieren, die Habermas dann modifiziert übernimmt und zur normativen Grundlage seiner Theorie macht. Zudem ist es Apel, der dem jungen Habermas den entscheidenden Hinweis auf Heideggers unkommentierte Veröffentlichung seiner Vorlesung aus dem Jahre 1935 gibt und damit jene Auseinandersetzung mit Heidegger auslöst, die ebenfalls aus den Bonner Jahren heraussticht.

Sein Studium schließt Habermas 1954 mit einer Dissertation über Schelling ab, in die er noch kurz vor der Fertigstellung Motive der Marx’schen Entfremdungskritik aufnimmt (AG: 79ff.). Marx hatte neben der Ausbeutung durch das Lohnverhältnis vier Formen der Entfremdung diagnostiziert. Der Arbeiter entfremde sich nicht nur vom mechanischen Arbeitsprozess und dem übermächtigen Produkt, sondern auch von den anderen Subjekten und schließlich von sich selbst (Marx 1844: 510ff.). Marx aktualisiert damit ein zentrales Motiv Schellings: dass nämlich die Welt verkehrt sei und einer radikalen Umkehrung bedürfe (Keulartz 1995). Auch für Habermas ist die Gesellschaft durch eine grundlegende »Verkehrtheit« im Marx’schen Sinne charakterisiert (etwa TP: 222): Denn nicht der Mensch gebietet über seine Erzeugnisse, sondern die Waren herrschen in Form eines naturwüchsigen Kapitalismus über den Menschen. Allerdings betont Habermas schon damals mit Schelling gegen Marx die Bedeutung des freien menschlichen Handelns, das keineswegs durch den Gang der Geschichte vollständig bestimmt sei. Vielmehr schaffe der Mensch selbst diese Geschichte, müsse sich dessen bewusst werden und sie sich erneut aneignen (AG: 239ff.).

Nach der Promotion folgt Habermas seiner Neigung und arbeitet zunächst als Journalist. Er schreibt insbesondere kulturkritische Artikel. Diese beschäftigen sich vor allem mit den Auswirkungen der Industriearbeit auf Kultur und Konsum und handeln etwa von der »Konsumkritik – eigens zum Konsumieren« (AEF: 47ff.) oder der »Illusion auf dem Heiratsmarkt« (AEF: 81ff.). Einer dieser Artikel, der für das gesamte spätere Werk wegweisend werden sollte, trägt den Titel »Dialektik der Rationalisierung«. In diesem Aufsatz, der 1954 im Merkur erscheint, nimmt Habermas das Motiv der Verkehrung wieder auf. Zwar habe der Wohlstandszuwachs durch die Industrialisierung dazu geführt, dass das materielle Elend der Arbeiterklasse überwunden werden konnte. Gleichwohl bestehe ein subtilerer Pauperismus weiter, der dem Arbeiter angesichts sinnentleerter Arbeit jegliche Kreativität raubt. Das Problem wohne aber nicht der modernen Technik selbst inne, sondern der Art und Weise, wie wir mit ihr umgehen. Den fehlenden Sinn könne der Arbeiter auch nicht in seiner Freizeit wiedergewinnen. Denn hier konsumiere er aufgrund ›unechter‹ Bedürfnisse, die ihm die Reklamebranche nur eingeredet habe, um die kapitalistische Überproduktion absetzen zu können (AEF: 23). Der Mensch nehme die Dinge nur noch aus einer großen Distanz wahr und verfehle damit letztlich sich selbst.

Dieser Artikel schwankt noch zwischen einem durch Heidegger inspirierten Kulturkonservatismus, der die ›Seinsvergessenheit‹ der Moderne beklagt, und linker Kapitalismuskritik. Er wird aber von Theodor W. Adorno gelesen. Als der junge Habermas durch den Feuilletonchef beim Handelsblatt, für welches er auch schreibt, die Möglichkeit erhält, sich mit Adorno in Frankfurt am Main zu treffen, fährt er sofort dorthin (Wiggershaus 2004: 35f.). Adorno erkennt sein Potenzial und macht ihn zu seinem Assistenten. So arbeitet Habermas zwischen 1956 und 1959 als Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS).

Zeitschrift für Sozialforschung