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Celeste Ealain

Hart erkämpfte Sehnsucht


© 2018 Celeste Ealain Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage Umschlaggestaltung: © Clarissa Yeo, http://yocladesigns.com Korrektorat/Lektorat: Zoe Clod, Petra Schäfer Portrait: © Peter Berger, www.peterberger.at ISBN: 978-1980244707 Printed in Germany Dieser Roman enthält Passagen, die für Jugendliche unter 16 Jahre nicht geeignet sind. Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Dieses Dokument ist doppelt urheberrechtlich geschützt!


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Danksagung

Die Macht der Worte.

Sie bewirkt mehr als Schwarz auf Weiß. Sie sind die Möglichkeit, Leser durch die Augen des Autors

sehen, riechen, schmecken, fühlen und hören zu lassen.

 

Ich bin dankbar für die Möglichkeit, meine Worte in die Welt zu tragen und hoffe, dass sie dort ankommen, wo sie sollen.

Nämlich in den Herzen jener, die sich in andere Welten entführen lassen, die mit Protagonisten mitfiebern und Antagonisten lieben, nur um sie bis aufs Blut zu hassen. Bei jenen, die Rätsel jagen, um sie zu lösen und mitschmachten, -weinen oder -lachen. Für all die Abenteurer unter euch, die auch für etwas Prickeln und Fantasie immer zu haben sind.

Danke an die treuen Leser, die mich durch ihre Rezensionen motivieren, durch ihre Kritik wachsen und durch ihr Lob neue Pfade beschreiten lassen.

Und danke an die besten Eltern der Welt, denen ich nie genug Anerkennung zukommen lassen kann. I L U

 

Dass diesem Buch in rechtlichen Belangen so viel Realität eingehaucht werden konnte, habe ich
Herrn Jens-Uwe Thümer,

Rechtsanwalt, Lehrbeauftragter und Vorstand von Recht in Europa

(www.recht-in-europa.eu)

zu verdanken, der auch Poet von ganzem Herzen ist.

Das Maislabyrinth

 

Gedicht von Jens-Uwe Thümer, Poet aus Leidenschaft

 

 

Komm zu mir.

Du bist nicht so sensibel,

dass du Sirenengesang benötigen würdest.

Ich biete dir leere Bierdosen,

Zigarettenkippen

und reichlich Sackgassen.

Nachts, wenn die letzte Straßenbahn

Funken sprühend um die Ecke walzt

und das Nachtregiment schwächer wird,

rufe ich dich.

Du glaubst mich nur zu kennen

vom Kirmeslabyrinth.

Fettspiegelnd und neonblinkend.

Dabei vergisst du allerdings,

dass ich schon vor der Stadt da war.

Immer schon.

Hinterfrage deine Alpträume.

Vielleicht waren die Menschenopfer ja echt …

Jedenfalls durchschaue ich deine Masken.

Um es genau zu sagen langweilen sie mich sogar.

Dein größtes Problem ist allerdings,

dass ich unsichtbar bin

und so lasse ich dich einmal mehr ratlos zurück.

Prolog

Ich bin nicht gerade stolz darauf, sie so im Stich zu lassen. Mir ist auch bewusst, dass sie früher oder später den Kampf ohne Hilfe verlieren wird. Aber was soll ich sagen? Versteht mich bitte nicht falsch, sie ist um einiges jünger als ich, hübsch … zu hübsch, um sich mit einem wie mir abzugeben. Alle da draußen würden mich für komplett verrückt erklären, wenn ich mir so eine Gelegenheit entgehen lasse. Immerhin verstehen wir uns gut, es ist für alles gesorgt und ich brauche mich um nichts kümmern. Obwohl … das ist nicht korrekt. Für eine einzige, verflucht simple Sache muss ich ohne zu überlegen herhalten. Egal, was kommt.

Zu Beginn war das alles aufregend und spontan, doch nun … ich kann schlicht gesagt nicht mehr. Sie jedes Mal in diesem Zustand zu sehen, ist nicht gerade einfach. Es kann zu jeder Zeit, zu jedem denkbar unmöglichsten Augenblick, am dümmsten Ort passieren und dann? Dann muss der liebe Frank funktionieren. Wie soll man da standhaft sein, wenn ein Häufchen Elend vor einem zittert und um Hilfe bettelt? Zuerst habe ich mir eingeredet, ich tue das ihr zuliebe. Ich hab’ ein großes Herz und versuche ihren Schmerz so schnell wie möglich abzuwürgen. Noch dazu dieser Zeitdruck. Ich bin aber auch nur ein Mensch! Und nun hab ich ehrlich keine Kraft mehr. Ich weiß schon, was ihr jetzt sagen wollt. Wie konnte ich einfach so gehen, ohne mich zu verabschieden und darauf zu hoffen, dass sie einen neuen Helfer finden wird, denn ohne ihn könnte der nächste Vorfall der letzte sein.

1 | Flucht vor der Welt

Als er den großen Tramperrucksack für seinen Aufenthalt in Amerika gepackt hatte, hätte er nie für möglich gehalten, dass selbst die dreifach wohl überlegten Inhalte ihm nun tonnenschwer in die Nieren drücken würden. Gerade er war derjenige, der mit wenig glücklich war und mit dem Notwendigsten auskam. Aber nun war er sich nicht mehr im Klaren, was er sich dabei gedacht hatte. War es tatsächlich vernünftig gewesen, alles hinter sich stehen und liegen zu lassen, ins erstbeste Flugzeug zu steigen und nach North Carolina zu fliegen? Alex wusste, dass er seinen Problemen nicht ewig entfliehen können würde, selbst ein anderer Kontinent würde ihn auf lange Sicht nicht vor dem Unausweichlichen bewahren.

Er seufzte laut, wischte sich mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn und schritt seinem nächsten Ziel entgegen. Die Straße nach Franklin war unbefahren und schien nicht enden zu wollen. Obwohl er nun seit sechs Wochen ab Charlotte zu Fuß und per Anhalter unterwegs gewesen war, konnte er sich an die Distanzen nicht gewöhnen. Er war es gewohnt, Auto zu fahren und da waren lächerliche 400 km ein Katzensprung. Andererseits hatte er es nicht mehr so eilig, den Bundesstaat Tennessee zu durchqueren. Denn ob er dort fand, wonach er suchte, war unklar. Noch dazu war die ungewisse Reise durch ein unbekanntes Land, die pittoresken Eindrücke, die freundlichen Menschen mit ihren ach so kleinen Problemen Ablenkung und auf ihre Art und Weise eine Wohltat für seine Seele. Alex genoss diesen weiten Frieden, die leichte Brise, die ihm ins Gesicht blies und diese unendliche Ruhe. Amerika hatte er stets mit pulsierendem Leben, gestressten, schrillen Menschen und Kaufgelegenheiten ohne Ende in Verbindung gebracht. Doch an diesem Fleckchen Erde hier inhalierte man noch einen Hauch des alten Klischees des Cowboydaseins. Die Städte wurden Richtung Franklin immer kleiner, die Menschen wurden neugieriger, gastfreundlicher und die charakteristischen roten Backsteinhäuser hatten ihren eigenen Charme. Nichts von pompösen Leuchtreklamen, hupenden, gelben Taxis und geschniegelten Anzugtypen war hier zu sehen. Und diese Vorurteile endlich aufbrechen zu lassen war Alex’ ganz persönliches Abenteuer geworden.

 

Er blickte sich um. Noch immer war auf der schnurgeraden Straße in beiden Richtungen kein Wagen zu erkennen. Nur ein paar Zikaden bildeten eine Geräuschkulisse. Was Alex besonders wunderte, war die üppige und grüne Vegetation. Alles roch so ungewohnt sauber. Seit Charlotte, die als einzige größere Stadt seit seiner Ankunft einzuordnen gewesen war, kam die Natur wieder mehr in den Vordergrund. Selbst wenn diese Stadt nicht im Geringsten mit seiner Heimatstadt zu vergleichen gewesen war, war sie ihm positiv im Gedächtnis geblieben. Diese grauen, modernen Wolkenkratzer hatten sich wie Gebilde fremden Ursprungs direkt aus dem Boden gekämpft. Rund herum war dafür alles mit sattem Grün, Parks und liebevoll gestalteten Gärten versehen. Wie zwei Welten, die zwar künstlich zusammengepresst wurden, doch auf ihre Art harmonierten. Besonders nachts war die Skyline dieser Stadt ein Highlight gewesen, was Alex dazu bewogen hatte, ein paar Tage länger dort zu verweilen als in den anderen Städten. Ziel dieser Pause war es, sich von den Strapazen der letzten Monate zu erholen. Und geschlafen hatte Alex genug. Wohl gemerkt auch gefeiert und getrunken. Daher wollte sich der Erholungsfaktor noch nicht so richtig einstellen. Die späteren Zwischenstopps von der Ostküste Richtung Westen waren kürzer ausgefallen, die Wanderungen wurden anspruchsvoller und seine neu gekauften Trekkingschuhe hatten bereits ihre Schrammen. Die Jeans, die er trug, sahen verwegen aus. Selbst wenn es als modern verkauft werden könnte, hätte er die letzten Tage alles für einen Waschsalon und eine Badewanne voll Schaumparadies gegeben. Und als Alex seine Aufmerksamkeit wieder von seinen schmerzenden Beinen auf die Straße lenkte, konnte er seit langem Gebäude am Horizont erkennen.

Endlich! Das sieht nach einer Tankstelle aus, überlegte er. Vielleicht sollte ich einmal einen Anruf wagen. Schon allein der Gedanke bereitete ihm Magenschmerzen oder war es doch nur der Durst, der sich ankündigte? Dieser ganz spezielle Durst, der sich häufte, selbst wenn Alex es nicht wahrhaben wollte. Doch so setzte er einen Fuß vor den anderen und redete sich mit jedem Meter ein, dass es schließlich Zeit wurde und er es nicht für immer hinauszögern konnte.

 

 

Nervös schloss Alex die transparente Tür hinter sich. Seine Handflächen waren schweißnass, als er nach dem Hörer des öffentlichen Telefons langte. Spinnweben zierten die Ecken des rostansetzenden Rahmens der Zelle. Das ehemalige Dunkelgrün dominierte hier schon lange nicht mehr. Selbst die Fenster waren trüb und verdreckt, als wären sie noch nie mit einem Wischlappen in Berührung gekommen. Alex musste dreimal schlucken, bevor er zwei Münzen einwarf, um dann dem Geräusch der herabfallenden Metallhelfer zu lauschen. Trotzdem blieb sein Mund trocken. In Zeitlupe drückte er die Vorwahl, dann die Nummer, die er vorab vom Handydisplay ablesen musste, da er sie nicht auswendig kannte. Mit geschlossenen Augen versuchte er, sich die Worte zurechtzulegen, während das Klingeln ertönte. Es war viel zu laut für seine Gedanken und jeder Gesprächsanfang in seinem Kopf wirkte grotesk. Immerhin war etwas Zeit vergangen …

„Hallo?“, erklang Matthias’ Stimme. Kurz war Alex überfordert, bis ihm bewusst wurde, dass er nicht mit seinem Handy Kontakt aufnahm und somit die andere Seite keinen Anrufer erkennen konnte. Wie oldschool sich das anfühlt. Dennoch in seiner aktuellen Lage notwendig, musste er feststellen.

„Hallo?! Wer ist da? Wenn das ein Scherz sein soll, leg ich sofort auf“, ergänzte Matthias bereits leicht genervt.

Alex öffnete den Mund, doch es wollte nichts von allein herauspurzeln. In diesem Moment wünschte er sich den Mut, zu seinen Taten zu stehen und Matthias reinen Wein einzuschenken. Ihm zu sagen, was für einen Versager und furchtbaren Menschen er zum Freund hatte. Wieder und wieder strich er sich seine strähnigen Haare aus dem Sichtfeld.

„Was soll’s, dann kann es nicht wichtig gewesen sein. Bye“, kam es nun desinteressiert. Alex konnte förmlich vor seinem inneren Augen sehen, wie sein rothaariger Freund den Daumen bereits auf den roten Hörer am Display legte.

„Bitte warte, Matti! Ich bin’s.“ Das Herz sprang Alex bis zum Hals. Er lehnte seinen Kopf erschöpft gegen die Telefonanlage trotz des verkrusteten Schmutzes, der daran klebte. Dann schlug er seine Stirn dreimal leicht dagegen, weil er nicht weiter wusste. Er verfluchte sich längst, nicht einfach aufgelegt zu haben.

„Alex? Bist du das? Ich fasse es nicht.“

Alex stieß laut Luft in den Hörer als Antwort, damit er zumindest ein Lebenszeichen von sich gab.

„Verdammt noch mal! Wo treibst du dich rum? Wir alle machen uns Sorgen!“

Alex rutschte nun ein verächtliches Lachen raus, denn er wusste, dass kein Hahn nach ihm krähte und falls doch, nicht der richtige. Jedenfalls nicht der, den er zum Glücklichsein benötigte.

„Hat es dir die Sprache verschlagen oder bin ich es nicht wert, dass du nach all der Scheiße mit mir sprichst? Du hast mich einfach hier sitzen lassen! Ich verstehe schon, dass es furchtbar für dich war. Aber ich wäre für dich da gewesen. So wie früher.“

Alex ließ die Erinnerungen mit Matthias Revue passieren. Von klein auf waren sie unzertrennlich gewesen. Sie hatten die gleiche Grundschule besucht, verloren sich jedoch in der Mittelschule aus den Augen. Nur das gemeinsame Fitnesstraining oder das regelmäßige Fußballspielen hatte sie verbunden. Erst das gleiche Studium hatte sie wieder zusammengeschweißt und unterm Strich hatte Matthias recht. Er war Alex’ bester und ältester Freund und sie hatten bisher sehr viel durchgemacht. Doch Alex wusste auch, dass er die jüngsten Ereignisse nicht nachvollziehen konnte und niemals verstehen würde. Alex schämte sich in Grund und Boden und ein starker Druck stieg in ihm auf.

„Es tut mir alles so schrecklich leid, Matti. Ich konnte einfach nicht mehr. Ich musste so schnell wie möglich raus. Mir ist die Decke auf den Kopf gefallen.“

„Ja, das habe ich gemerkt. Dein letzter Auftritt in der Disse war nicht zu übersehen. Und vor allem habe ich dich jüngst nur noch hageldicht angetroffen. Mit Alkohol kannst du das Geschehene nicht ewig von dir wegschieben. Früher oder später …“

„… dann wohl eher später“, schloss Alex nun kühl, weil er keinen Bock auf eine Standpauke hatte. Immerhin war er vierundzwanzig und kein Kind mehr. Diesmal hörte er ein schweres Seufzen aus der Leitung.

„Gut, wie du meinst. Zumindest scheint es dir gut zu gehen. Wann kann ich in der Uni wieder mit dir rechnen? Rektor Wagner sitzt mir schon im Nacken und mir gehen langsam die Ausreden aus. Jeder hier hat Verständnis für deine Situation, aber du musst dich irgendwann am Riemen reißen.“

„Ich komme nicht mehr zurück.“

„WAS? Spinnst du? Du bist in ein bis zwei Semester durch. Du hast dich so reingekniet, geschuftet und nun willst du alles hinschmeißen? Geht’s noch? Was würde …“ Matthias bremste sich offenbar mit dem Wissen, Alex würde es nicht dulden, wenn er es auch nur wagte, ihren Namen als Ansporn für seine Vernunft einzusetzen.

„Was fällt dir nur ein?“ Wut stieg in Alex auf und seine Augen wurden feucht. Im Augenwinkel erkannte er, wie seine Hand sich zu einer Faust ballte. „Falls es dir um meinen Anteil bei der Miete geht – schön – ich kümmere mich drum. Keine Sorge! Und was ich aus meinem Leben mache oder wie ich mit meinem Schmerz umgehe, ist verflucht noch mal allein mein Problem! Okay? Ich bereue es zutiefst, dich angerufen zu haben. Vergiss es einfach!“

„Sag mir wenigstens, wo du steckst? Alex, ich bin nicht dein Feind, sondern dein bester Freund!“

„Gut, dann verhalte dich auch wie einer.“ Mit diesen Worten knallte Alex den Hörer zurück in die Halterung. Im gleichen Moment kam er sich schäbig vor, denn ihm wurde klar, dass er überreagiert hatte. Als Rechtfertigung redete er sich jedoch ein: Vielleicht bin ich noch nicht so weit. Sein ganzer Körper bebte und die Emotionen drohten ihn zu überrollen. Daher tat er das, was ihm am Logischsten schien. Er schritt zielstrebig in den angrenzenden, kleinen Laden der Tankstelle und öffnete den erstbesten, gekühlten Bereich, den er fand.

 

 

Der helle Lichtkegel wirkte unruhig. Rundherum war tiefdunkle Nacht. Die Musik war viel zu laut und der grölende Versuch, den Sänger zu begleiten, scheiterte kläglich. Doch es schien egal. Alles war egal, denn es fühlte sich so leicht an, so unkompliziert und einfach. Bis zu dem Moment, als im Sichtfeld etwas kurz aufflackerte, ein dumpfer Knall ertönte und alles aus den Fugen geriet …

 

Alex wurde aus seinen Träumen gerissen, als mehrfach jemand unsanft gegen seinen Fuß stieß. Nur mit Mühe konnte er seine verquollenen Augenlider öffnen. Der Schrecken der Vergangenheit vermischte sich mit dem Hier und Jetzt. Als ihn erneut ein Fußtritt zur Besinnung zwang, blickte er auf und erkannte einen zornigen, alten Mann mit Cowboyhut, der ihn anbrüllte. Doch was sagt er da? Ich verstehe überhaupt nichts. Bis Alex registrierte, dass der Mann englisch redete, er diese Sprache fließend beherrschte und offenbar nur in diesem verwirrten Zustand vergessen hatte. Als er sich umsah, saß er am Boden, den Oberkörper gegen den maroden Holzpfosten der Terrasse des Ladens gelehnt und hielt nur mit Mühe vier leere Bierflaschen fest umschlungen in seinen Armen. Direkt neben ihm lag zum Glück sein ungeöffneter Tramperrucksack. Sein einziges Hab und Gut.

„Verflucht, du Bengel! Du solltest dich schämen! Schlaf deinen Rausch woanders aus und nicht vor meinem Laden, sonst hole ich die Bullen! Hast du mich verstanden?“ Der gepflegte, weiße Schnauzer des Mannes bewegte sich hektisch, während er sprach und die faltigen Augen wirkten stocksauer. Alex wurde bewusst, dass es für jedes Problem eine Lösung gab, solange er selbst nicht das Problem war.

Alex ließ die Flaschen beiläufig von seinem Schoß rollen und versuchte, sich mit den Händen hochzustemmen. Er konnte sich weder daran erinnern, dass er Alkohol gekauft, noch dass er ihn in einem Sog geleert hatte. Als er aufrecht stand, wurde ihm schwindelig und der alte Mann konnte ihn noch rechtzeitig stützen, bevor Alex umzukippen drohte.

„Und das am helllichten Tag! Du bekommst einen starken Gratiskaffee und eine kleine Wasserflasche aufs Haus, und dafür lässt du dich hier nie wieder blicken, hast du gehört?“

Alex war es unangenehm und er konnte dem Blick des offensichtlichen Ladenbesitzers nicht länger standhalten. Mehr als ein Nicken brachte er nicht fertig.

2 | Ganz normaler Tag

Deleila lehnte lässig über die Stahlbande vor der ersten Sitzreihe. Für sie waren diese Ausflüge zu den Rodeofestivals immer ein Highlight. The ‚Beast of the East’ in Franklin fand einmal jährlich statt, weswegen sie sich diesmal sogar ein Motel in der Nähe gegönnt hatte. Sie musste ohnehin mal wieder raus aus Nashville. Deleila verbrachte gerne Zeit in kleinen Orten, wo sie keiner kannte und alles noch so ländlich und einfach wirkte. Vor ihren Augen jagten gerade Kinder Kälber durch die sandige Arena, eine Attraktion zwischen den tatsächlichen Rodeos, um die Masse etwas zum Schmunzeln zu bringen. Der Nachwuchs hatte sichtlich Spaß in seinen bunten Hemden, Jeans, Fransenjacken und Cowboyhüten. Der Sand wirbelte leicht auf, das Gelächter der Kinder hallte und selbst so kleine Hufe waren unüberhörbar. Sogar zwei Mädchen hetzten den Ministieren mit breitem Grinsen hinterher. Deleila brachte es zum Lächeln. Und zum Träumen, da sie als Kind mit ihren Eltern eben diese Veranstaltungen besucht hatte und es immer ein Wunsch von ihr gewesen war, als Erwachsene mit Pferden zu arbeiten. Doch damals hatte sie noch nicht gewusst, dass dieser Traum ewig unerfüllt bleiben sollte.

„Ich bin sauer, dass Steve ‚Wild One’ nur fünfzig Sekunden lang im Zaum halten konnte. Der Mistkerl ist sonst nicht so leicht abzuwerfen.“ Frank saß in der ersten Reihe schräg hinter ihr und als sie ihn skeptisch betrachtete, biss er beiläufig in seinen Hotdog. Deleila sah Ketchup-Reste an seinem linken Mundwinkel kleben, als seine Augen wie gebannt an der Anzeigetafel hingen, an der die nächsten Anwärter aufgelistet standen. „Ich hab eindeutig auf den falschen Reiter gesetzt“, bemerkte er mürrisch, während Deleila sich erneut der Arena widmete.

„Steve kann froh sein, dass er ein paar Zentimeter an seiner Kastration vorbeigeschlittert ist. Der Hengst wäre ihm beinahe in den Schritt getreten.“ Trotz der ernsten Message musste sie grinsen, da sie Steve in Gedanken wie eine Comicfigur vor sich sah, die als Strichmännchen brüllend durch die Arena flitzte vor Schmerz.

Frank biss erneut in den Hotdog und bekleckerte sich dabei die Jeans mit Ketchup.

„Ich würde behaupten, Berufsrisiko“, erklärte er kauend, bis er das Desaster auf seiner Hose entdeckte. „So ein Mist!“ Er sprang hektisch auf und wischte die Sauce mit der beigelegten Serviette weg. Doch anstatt sie abzureiben, verstrich er zeitgleich noch den Senf, den er unbewusst an einem anderen Finger hatte, hinzu. Bei diesem Anblick begann Deleila herzhaft zu lachen.

„Also, die Kunst des fleckenfreien Essens wirst du wohl nie lernen. Ich habe dich kein einziges Mal länger als zwei Stunden mit sauberem Hemd oder sauberer Hose gesehen. Du bist wirklich ein Phänomen, Frank!“

„Ja, ja, ja, lach du nur“, grummelte er vor sich hin.

Wie er so verzweifelt seinen Oberkörper hinab zum bunten Schlachtfeld neigte, musste Deleila feststellen, dass er die ersten kahlen Stellen am Hinterkopf bekam. Tja, Frank wird auch nicht jünger.

„Na ja, ein paar Jährchen gebe ich dir noch, um es zu lernen, dann kommt die Kehrtwende, wo du dich wieder zurückentwickelst, bis hin zur Windel.“ Sie musste erneut laut auflachen, bis ein ungehaltener Zuschauer hinter ihr eine Ladung Pommes nach ihr schmiss und sich beschwerte, sie solle leiser sein.

Diesmal musste Frank lachen, als er sie ansah.

„Zumindest kann ich mir nun Nachschub aus deinen Zöpfen pflücken. Die Pommes stehen dir gut zu Gesicht und bringen deine blauen Augen zur Geltung.“

Deleila blickte wütend zurück in die hinteren Reihen, konnte jedoch nicht sicher sagen, wer der Übeltäter war. Denn alle starrten nur konzentriert zur Box, in der der nächste Reiter vorbereitet wurde. Schmollend strich sie sich über ihre mühsam geflochtene Mähne, um klebrige Pommesreste rauszukämmen. Aber zum Glück fand sie nur ein paar, die übrigen waren auf dem Boden neben ihr gelandet. Vorsorglich schüttelte sie sich kurz durch, um unentdeckte Essensreste an ihrer Kleidung ebenfalls loszuwerden.

Dann sah sie wieder zu Frank, der sie angrinste und sie konnte nicht anders, als es zu erwidern. Es war einer dieser Tage, an denen sie glücklich war. Ein Tag, an dem sie niemand anderes als eine junge Frau bei einer Rodeoveranstaltung war, in Begleitung und voller Vorfreude auf die nächsten Spektakel, die das Festival noch beworben hatte.

Plötzlich klingelte Franks Handy und Deleila konnte ihm ansehen, dass er beim Aufleuchten des Displays nur ungern das Gespräch entgegennahm. Er zögerte förmlich, was sie veranlasste wegzusehen, um ihm etwas Privatsphäre zu gönnen. Ihr Blick fiel indes auf ein schmusendes Pärchen ein paar Sitzplätze weiter rechts von ihm. Zwei Teenager, die nur pausierten, um sich verliebt und strahlend anzuschmachten. Doch je länger sie die Turteltauben beobachtete, desto unruhiger wurde es in ihrem Inneren. Noch viel mehr, sie begann die beiden zu hassen, obwohl sie sie überhaupt nicht persönlich kannte. Und das alles nur, weil sie etwas hatten, das ihr verwehrt blieb.

„Hey Larry, altes Haus. Schön, mal wieder von dir zu hören.“

Wegzusehen war leicht, aber die Ohren nicht zu spitzen fiel Deleila schwer. Vor allem, wenn es um Frank ging.

„Schon gut, ich weiß. Ähm … Du hast recht, ich hätte wenigstens einmal zurückrufen können.“

Deleila spürte förmlich, wie Frank hinter ihr zu zappeln begann, weil ihm das Gespräch unangenehm war. Sie wusste, dass sie sich nicht ständig in sein Leben einmischen durfte, er der Erwachsenere von ihnen beiden war und alleine mit seinen Sachen klarkommen musste. Dennoch juckte es ihr auf der Zunge, eine dumme Meldung zu schieben. Noch konnte sie sich zurückhalten, bis sich der Wind drehen würde. Plötzlich hob sich Franks Stimme und es klang erheitert.

„Was, echt? Er feiert seinen 45igsten? Unfassbar, wie die Zeit vergeht. Ich habe ihn so verflucht lange nicht mehr gesehen. Und er begießt ihn ausgerechnet in Estill Springs? Das wäre ein Katzensprung von mir.“

Frank wurde merklich lockerer, scherzte mit dem Anrufer, was Deleila veranlasste, vorsichtig über ihre Schulter zu ihm zu lugen. Sie wusste, dass falls sich ihre Blicke treffen würden, sich schlagartig seine Laune ändern würde. Doch bisher Fehlanzeige. Er lachte laut auf, strich sich sein schütteres, braun meliertes Haar zurück. Sein Bart war wieder lang geworden, sodass seine schmalen Lippen schon fast dazwischen verschwanden. Aber am meisten stachen nun seine hellbraunen Augen hervor, weil sie samt seiner Lachfalten zu strahlen begannen.

„Verflucht will ich sein, wenn ich da nicht dabei bin. Natürlich … wo denkst du hin?“

In Deleila kroch Panik empor und ein Knoten bildete sich in ihrem Hals. Instinktiv presste sie ihre Beine beim Stehen fester zusammen und klammerte ihre Hände fest an die Bande vor sich. Diesen Druck zu spüren machte es nicht gerade leichter. Durch den kurzen Jeansrock fühlte sie direkt ihre Haut, die aufgrund ihrer Horrorvisionen mit Gänsehaut reagierte. Deleila versuchte, sich auf ihren Körper zu konzentrieren, denn sie wusste, dass Stress das letzte war, was sie in der breiten Masse nun gebrauchen konnte. Ruhig einatmen, ausatmen. Du schaffst das, Deleila! Du hast die Kontrolle! Doch die Angst stieg so ins Unermessliche, dass sie sich nun Frank zuwandte und sich lautstark räusperte. Und es wirkte. Wie elektrisiert richtete er den Blick auf sie. In nur einer Sekunde fielen seine Mundwinkel nach unten, die Lachfalten glätteten sich und sein Ausdruck glich einem Menschen, der jegliche Freude verloren hatte.

„Ähm, Larry? Kumpel? Hörst du mir zu? Ich …“ Franks Lippen bebten, seine Augen flehten sie an, als wünschte er sich ein klein wenig Verständnis. Doch Deleila musste hart bleiben. Sie zwang ihre Augenbrauen nach oben, wie im Befehlsmodus und sah ihn nun ohne zu blinzeln herausfordernd an.

Frank atmete tief durch, dann senkte er sein Haupt. Das reichte Deleila aus. Sie wandte sich wieder der Arena zu, ließ ihre Mundwinkel ein Lächeln zaubern und feuerte den nächsten Reiter lautstark an.

„So gerne ich möchte, Larry. Ich muss leider passen.“

3 | Stiller Schmerz

 

Ich erkenne mein Leben nicht wieder. Es stimmt schon. Ich bin ein arbeitsloser, fauler Sack mit wenig Perspektiven. Und ja, es stimmt auch, dass es mir kurzzeitig das Gefühl gegeben hat, etwas Sinnvolles zu leisten. Etwas Gutes zu tun. Aber unterm Strich gesehen bin ich nur eine Kurzzeitlösung für das Unvermeidliche. Sie hat eindeutig Besseres verdient. Niemand sollte so unsagbar leiden und in Angst leben wie sie. Doch der Weg, den wir gehen, ist der falsche. Oder besser gesagt, den Weg, den sie bewusst gewählt hat, macht sie zum Menschen, der rücksichtslos über Leichen geht.

 

 

„Ich weiß, ich sollte mich mittlerweile an diesen Anblick gewöhnt haben, aber es ist noch immer herzzerreißend“, erklärte Agatha gefasst, als sie in das Krankenzimmer blinzelte. Es war gerade Schichtübergabe und daher üblich, die wichtigsten Punkte der letzten Schicht mit der nächsten Krankenschwester zu besprechen.

„Der Vater muss sehr unter Druck stehen. Jeden Tag diese Ungewissheit, ob seine Tochter heute oder gar jemals wieder aufwachen wird“, ergänzte Sylvia zu dem Thema und sah ebenfalls in das Zimmer, in der die junge Frau ruhte. Die Patientin lag so friedlich da, als schliefe sie bloß. Nur ihre blasse Gesichtsfarbe und leichten Augenringe wiesen darauf hin, dass ihr Körper tapfer gegen den unsichtbaren Feind kämpfte. Die Monitore piepsten regelmäßig, die Atmung verlief flach und ruhig.

„Ich schätze, noch viel schlimmer sind unsere Blicke und jene der Ärzte. Denn die innere Stimme lässt einen realisieren, dass wir die Ausgänge solcher Fälle viel öfter sehen und besser einschätzen können. Selbst wenn jeder Komapatient individuell zu betrachten ist, so lesen wir die Anzeichen. Nach sechs Wochen hat jeder im Team ein Urteil für die Zukunft gefällt und das erkennt der Vater gewiss aus unserem Gesichtsausdruck. Und ich glaube, das schmerzt mich viel mehr, da ich eine schlechte Schauspielerin bin.“ Agatha seufzte und umschlang die Patientenakten nun fester, während Sylvia zustimmend nickte. Beide Frauen wussten um ihre Arbeit und dass es immer Glücksmomente geben würde, die von der kalten Realität überschattet wurden. Und auch in diesem Fall war es schwer, noch hoffnungsvolle Worte an die Angehörigen zu richten.

„Zum Glück müssen wir diese Entscheidung nicht fällen, sondern die Ärzte. Ich wüsste nicht, wie ich diese Situation neutral beschreiben sollte.“

„Wie wahr … nun gut. Wir haben ausreichend geplaudert. Die Schicht hat begonnen.“

 

 

Er las den Brief immer und immer wieder durch. Dazwischen blickte er auf die vermeintliche Todesanzeige, die ebenfalls in dem Kuvert mitgeschickt worden war. Er konnte darin zwar nicht alles entziffern, aber er war nicht dumm. Die Zeilen des Briefes waren am Computer geschrieben und mit Bedacht formuliert worden. Die Person war dem Briefkopf nach zu urteilen Anwältin und dazu beauftragt worden. Und er wusste ganz genau von wem. Konzentriert versuchte er, in seinen Erinnerungen zu kramen. Es waren so viele Jahre ins Land getreten, sodass er für sich nicht mehr sagen konnte, ob ihn der Tod der Person in der Anzeige traf oder nicht. Dennoch war es ein mulmiges Gefühl, da das Begleitschreiben den Anschein erweckte, es gebe Handlungsbedarf. Sein Herz raste und sein Kopf plagte sich, die Stimme der Vernunft in sich zu finden, doch es wollte nicht funktionieren. Sein Leben lag bereits in Trümmern und Chaos. Er wollte sich partout nicht mit weiteren Problemen beschäftigen, die womöglich gerade auf dem Weg zu ihm waren.

„Wer hat dir da geschrieben? Das sieht nach einem Schreiben der Behörden aus. Was ist es diesmal? Hast du schon wieder eine Vorladung erhalten?“, kam es unerwartet von der Seite.

Er zuckte zusammen, da sie offenbar über seine Schulter starrte. Wie lange hat sie mich bereits im Visier? Ihre Stimme war von fragend zu tadelnd umgeschlagen, wodurch er komplett dicht machte. Sicherheitshalber knüllte er den Brief samt Kuvert vor ihr zusammen, um ihr die Wichtigkeit des Inhalts zu verdeutlichen. Er hatte zudem Lust, ihn vor ihren Augen zu kauen und runter zu würgen. Schon allein ihren verdutzten Gesichtsausdruck, ihren vor Schock erstarrten Mund zu sehen und für ein paar Sekunden im Haus Ruhe zu erleben, wären es wert gewesen. Doch das ging selbst für ihn zu weit. Die Nörgelei würde nicht enden, trotz allem. Die Beweismittel leichtfertig in den nächsten Müll zu werfen traute er sich dennoch nicht, denn er wusste, seine Frau war nicht zu unterschätzen. Sie würde auf die Suche gehen und fündig werden, egal, wie tief sie dafür in den Dreck fassen müsste. Daher stopfte er den Papierball in seine Hosentasche und verließ langsam den Raum. Dabei ignorierte er ihre zusätzlichen Fragen gekonnt, die ihn bombardierten. Langjährige Erfahrung hatte ihn mittlerweile abgestumpft.

4 | Schwesternliebe

 

Jedes Mal, wenn Deleila die Schwelle des ‚Rebel Hill Florist’ übertrat, stieg ihr der süßliche Geruch der Bouquets in die Nase und sie musste unweigerlich strahlen. Seit ihre Schwester den Laden vor ein paar Jahren eröffnet hatte, verband sie den Duft von Blumen immer mit Gabrielle und fühlte sich geborgen und zu Hause. Dazu gehörte auch, beim Vorbeigehen an den Margeriten und Astern zwei oder drei rasch abzupflücken, um sich diese ins Haar zu stecken. Was ihre Schwester jedes Mal genervt seufzen ließ.

„Du kannst es nicht lassen, oder, Deleila?“

„Warum auch? Dafür liebst du mich doch zu sehr. Noch dazu weiß man nie, wie lange du dich über meine Ticks ärgern musst, also genieße es einfach. Später landen sie nicht in meinen Haaren, sondern auf meinem Sarg.“

Mit diesen Worten wurde Gabrielle mit einem Mal blass.

„Ich hasse es, wenn du so anfängst. Du bist hier, um mir unter die Arme zu greifen und nicht, um mir den Tag zu vermiesen.“

Deleila hüpfte heiter zu ihr, als wäre nichts dergleichen ausgesprochen worden und platzierte einen Kuss auf Gabrielles rechten Wange.

„Ich liebe dich auch, Schwesterherz“, flüsterte Deleila, um ihr danach frech die Zunge zu zeigen. Gabrielle antwortete darauf mit einem Augenrollen und lud Frank mit einem Zeichen in den Laden ein, der im Eingang herumlungerte, als wäre er am falschen Bahnsteig ausgestiegen.

„Hey Frank, wie geht’s?“, fragte Gabrielle lapidar, obwohl es ihr offenbar schwerfiel, wahres Interesse in die Worte zu packen.

Dieser kannte die Floskeln bereits und winkte mit einem Lächeln ab, während er schnurstracks ins Lager im hinteren Teil des Ladens spazierte, als wäre dies der einzig erträgliche Ort für ihn. Deleila wusste, dass er dort murrend einen der Blumenkataloge herausziehen und bei jeder Seite lautstark ausatmen würde, da er sich langweilen musste. Wie jedes Mal. Doch so war nun mal der Deal, dachte sie sich und verschwendete keinen weiteren Gedanken daran. Viel mehr freute sie sich, dass sie endlich mal wieder nützlich sein konnte, und wartete auf Instruktionen ihrer Schwester.

Erst jetzt fiel Deleila die neue Frisur an ihr auf und war merklich überrascht.

„Sind diese Locken nur gedreht oder hast du dir eine Welle verpassen lassen?“

Gabrielle vergaß offenbar sogleich Deleilas scharfe Worte der Begrüßung und präsentierte voller Stolz ihr aufgestecktes Haar.

„Und? Ist das alles? Siehst du auch die rötliche Tönung darin? Die Friseurin meinte, es bringe meine hellbraunen Augen besser zur Geltung.“

Deleila betrachtete das Endergebnis nachdenklich, kräuselte leicht ihre Lippen und begleitete dies mit einem zustimmenden Nicken.

„Sieht wirklich klasse aus, Gabrielle. Ich muss zugeben, dass es dir sehr gut steht.“

„Ich kann mich nur anschließen!“, kam Franks Stimme von hinten, während beide Schwestern mit den Augen rollten, da sie wussten, ihm war es weder aufgefallen, noch würde er es da hinten im Dunkeln nachholen.

„Danke, Frank“, gab Gabrielle beiläufig zurück und machte Deleila nun auf ein paar Kartons aufmerksam, die neben dem Eingang aufgestapelt standen.

„Könntest du so lieb sein und die neuen Töpfe und Dekogegenstände auspacken und sie im Verkaufsraum so platzieren, dass sie direkt ins Auge fallen? Danach die Lieferscheine kontrollieren, in die Ablage geben und zuletzt die Kartons entsorgen.“ Gabrielle sah sie bei der Anweisung gar nicht an, da sie mittlerweile ein eingespieltes Team waren, selbst wenn Deleila nur ein- bis zweimal wöchentlich vorbeischaute. Währenddessen kreierte ihre Schwester die schönsten Blumensträuße, die Nashville wohl je gesehen hatte. Deleila bewunderte ihre Kreativität und die ständig neuen Ideen. Was Gestaltung und Innovationen in der Branche anbelangte, war ihre Schwester ihres Erachtens nach nicht zu toppen. Und während Deleila an die Arbeit ging, begann sie wie üblich mit Smalltalk.

„Und wie geht es Roger so? Wieder alles paletti, nachdem er sich beschwert hatte, dass du zu viel Zeit in deine Selbständigkeit steckst?“

„Ja, du kennst ihn ja. Im Grunde genommen ist es nicht meine Arbeit …,“ erklärte sie, konzentriert auf ihren Blumenstrauß vor sich.

Deleila hielt inne und überlegte, bevor sie den schweren zweiten Karton auf die Kassentheke hievte.

„Es ist das Thema Kinderplanung, stimmt’s?“ Deleila suchte Gabrielles Blick, diese ließ sich jedoch nicht ablenken, da sie gerade ihr Werk mit zarten Zierdrähten samt weißen Minirosen vollendete. Zumindest nickte sie als Antwort.

„Darf ich dich was fragen, ehe du mir erklärst, du bist mit deinen 26 noch nicht so weit?“

Diesmal schaute Gabrielle kurz auf und stoppte ihre Arbeit.

„Tja, habe ich eine Wahl? Du kommst mir ohnehin wieder mit deiner schonungslosen Direktheit.“

„Korrekt“, konterte Deleila schnippisch, lehnte sich nun mit beiden Händen an die Theke und starrte Gabrielle gnadenlos an. „Ihr seid nun seit drei Jahren verheiratet. Du wirst mir sicher nicht widersprechen, dass dein Shop fantastisch läuft und du es mit Ma’s und meiner Hilfe auch schaffen könntest, wenn du kürzer trittst.“

Gabrielle zupfte nervös an den Blättern und der Deko vor sich, obwohl bereits alles in Perfektion gebracht war.

„Und ich wage zu behaupten, dass ihr euch abgöttisch liebt. Also komme ich bei deiner Verzögerungstaktik nur zu einem schlüssigen Punkt.“

„Ach ja, und der wäre?“ Gabrielle sah sie nun herausfordernd an. Ein paar lockige Strähnen hingen ihr in die Stirn. Die ersten Sorgenfalten zogen sich darauf zusammen und ihre Lippen waren zu einer geraden Linie gezogen vor Anspannung. Dieser Ausdruck wirkte gefasst und dennoch etwas traurig.

„Du hast Angst, dass es vererbbar ist. Du willst verhindern, dass euer Kind die gleichen Symptome wie ich entwickelt und du fürchtest dich vor den Konsequenzen.“

Deleila ließ ihre Schwester nicht aus den Augen. Diese schloss kurz die Lider, dann blickte sie hoch, als wollte sie der Konfrontation aus dem Weg gehen, und Deleila lag richtig. Gabrielle eilte wie gehetzt zum Kartonstapel am Eingang und begann eigenständig mit dem Auspacken. Sie wollte offenbar nicht darauf antworten, aber Deleila wollte es nicht auf sich beruhen lassen. Sie lief zu ihr, legte eine Hand auf Gabrielles Schulter, um sie kräftig zu sich zu drehen.

„Willst du es etwa leugnen?“

Gabrielle sah sie mit glasigen Augen an, verzog ihre Lippen zu einem hysterischen Lächeln.

„Ha! Wo denkst du hin? Es ist nur noch nicht die Zeit gekommen. Ich möchte erst eine Mitarbeiterin als Aushilfe fix einstellen und einschulen und dann sehen wir weiter.“

Doch die Art und Weise, wie sie versuchte, der Diskussion zu entrinnen und an die Arbeit zu gehen, sprach Bände. Und diesmal wollte Deleila nicht nachhaken. Es reichte. Offenbar würde sie heute bei ihr nicht weiterkommen. Daher schritt sie erneut zum Karton an der Theke und holte einen bunten Topf nach dem anderen heraus, um sich zumindest nützlich zu machen.

„Und wie geht es dir so? Mir scheint, als hättest du wieder abgenommen. Dein Lieblings-Jeanshemd saß schon mal enger.“

Deleila fasste es nicht, dass ihre Schwester und sie es nicht fertig brachten, über etwas anderes als die Erkrankung, die Symptome oder deren Konsequenzen zu sprechen. Es war ein Kreislauf, der nicht enden wollte. Vor allem entwickelte sich der Verlauf ihrer Gespräche nicht weiter.

„Ja, leider. Ich muss gestehen, dass es in letzter Zeit nicht so klappen will …“ Deleila deutete auf das Lager und Gabrielle zuckte mit den Schultern. „… wie gewohnt.“

„Ich kann euch übrigens hören“, murrte Frank von hinten und Deleila ignorierte es.

„Ich musste in letzter Zeit ein paar Mal zur Notmedikation greifen und du weißt, dass die Nebenwirkungen mich immer mehr belasten: Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Schwindelgefühl, Schwächeanfälle. Aber es wird wieder bergauf gehen. Wie sagt man so schön: Unkraut vergeht nicht.“ Deleila bemühte sich um einen heiteren Ton und ein Lächeln.

 

Gabrielle sah ihre Schwester an. Sie war nur noch Haut und Knochen. Sie versuchte, mit top modischem, buntem Outfit, aufwendigen Flechtfrisuren und Make-up über ihre Erkrankung hinwegzutäuschen, doch sie selbst konnte sie nicht irreführen. Es ging ihr von Mal zu Mal schlechter und Gabrielle machte sich Sorgen. Sie wollte ihrer kleinen Schwester nicht beim Sterben zusehen.

„Denkst du nicht, dass es nach vier Jahren der versuchten Eigenheilung wieder an der Zeit wäre, einen Spezialisten aufzusuchen? Es könnte doch sein, dass es neue Erkenntnisse darüber gibt.“ Gabrielle erkannte an ihrer Stimme, dass sie zögerlich und leiser wurde, da ihr bereits jetzt bewusst war, was für ein Orkan nun über sie hinwegfegen würde.

„Sag mal, hat dir mein Anblick im Krankenhaus etwa gefallen? So lethargisch, nicht ansprechbar und blass?“

Gabrielle schüttelt den Kopf und wollte ihre Schwester unterbrechen, aber Deleila kam gerade erst in Fahrt.

„War es in deinen Augen eine bessere Lösung, mich mit Drogencocktails runterzufahren, um meinen Körper zu kontrollieren? Soll das mein neues, unbeschwertes und schönes Leben sein? Oder glaubst du nicht, ich habe verdient, selbst über mein Leben und den Inhalt darin zu bestimmen? Ich bin mir sicher, ich habe ein Recht darauf!“

Gabrielle sah, wie wütend ihre Schwester war. Nur noch geistesabwesend stellte Deleila die Töpfe auf den Regalen ab und platzierte sie nicht so liebevoll wie sonst. Sie war so rasend, dass sie rot anlief, was nicht unbedingt ein gutes Zeichen war.

„Bitte beruhige dich. Natürlich solltest du dein Leben selbst bestimmen, versteh mich nicht falsch. Aber sieh dich einmal um. Ist das wirklich ein Leben für dich? Oder vielleicht für Frank? Soll es immer so weiter gehen? Ich meine es nur gut.“

Gabrielle wollte auf sie zugehen, hatte das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen, doch beim ersten Kontakt schob Deleila sie wütend von sich.

„Lass das sein! Ich brauche kein Mitleid. Von niemandem! Ich bestimme mein Leben selbst. Ich muss mir Tag für Tag einreden, mich zu lieben und so zu akzeptieren, denn jemand anderes wird es nicht machen. Mir ist bewusst, dass mein eigener Körper mein Gefängnis ist, so als würde er mich hassen. Doch es ist nun einmal nicht zu ändern. Und sollten eines Tages nicht mehr genug Kraft und Kampfwille in mir übrig sein, werde ich mich eigenständig darum kümmern.“

Als Gabrielle den Ernst und die stolze Haltung hinter dieser Meinung sah, bekam sie Gänsehaut. Sie ertrug es nicht, ihre dreiundzwanzigjährige Schwester so über den Tod reden zu hören. Selbst wenn Deleila das Thema immer lapidar anging, als würde es sie nicht berühren, hoffte die Floristin inständig, dass es nur eine Maske war. Lediglich der Versuch, stark nach außen zu wirken. Dennoch konnte Gabrielle die ersten Tränen nicht unterdrücken, die ihr gerade über die Wangen liefen. Sie stand nur einen halben Meter von Deleila entfernt und trotzdem wirkte sie meilenweit weg. Instinktiv versuchte sie erneut, ihre Arme um sie zu legen und diesmal glückte es. Sie drückte sie so fest gegen ihre Brust, wie es nur ging.

„Bitte sag so etwas nicht. Ich ertrage das nicht und du weißt das. Überlegst du nie, wie ich damit umgehen würde, wenn du einmal nicht mehr da bist, oder was dann aus mir wird?“ Doch die innige Umarmung hielt nicht an. Gabrielle spürte, wie Deleilas Körper in ihren Armen sich verkrampfte und sie sich nur mehr mit Mühe auf den Beinen halten konnte.

Oh mein Gott! Bitte nicht hier!

„FRANK!!!!“, brüllte Gabrielle hysterisch, drückte ihre Schwester kurz von sich, um ihr in die Augen zu blicken. Noch drehten sie sich nicht in den Höhlen. Frank sprang aus dem Lager in den Verkaufsraum und sah beide schockiert an. Er eilte zur Hilfe, als Deleilas Finger sich plötzlich an den Oberarmen von Gabrielle festkrallten und sie sich eigenständig stabilisierte.

„War nur ein kurzer Aussetzer. Alles wieder gut“, versicherte Deleila und atmete schwer, als hätte sie soeben Sport getrieben. Ihre Pupillen fokussierten sich langsam wieder, was Gabrielles Alarmglocken dennoch kein bisschen beruhigten. Sie konnte dennoch nicht loslassen, hielt Deleila mit dem linken Arm aufrecht und streichelte ihr mit der rechten Hand über den Kopf und das Gesicht.

„Bist du dir sicher?“ Gabrielle konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. Sie war so erleichtert. Indes hatte auch Frank einen schützenden Arm um Deleila gelegt und kümmerte sich fürsorglich um sie.

„Ja, ich bin mir sicher. Ich sollte mich wohl nicht so aufregen“, scherzte Deleila beiläufig, auch wenn Gabrielle nicht wirklich zu Scherzen aufgelegt war. Ihre Schwester drückte sich nun aus Franks und ihrem Schutz heraus, um auf eigenen Beinen zu stehen. Und mit der Erleichterung keimte nun in Gabrielle der Zorn auf.

„Du weißt, du sollst in meinem Shop solche Ausbrüche unterlassen. Ich habe keine Lust, wenn das hier in meinem Verkaufsraum losgeht. Die Kunden erhalten den Schock ihres Lebens und kommen nie wieder!“

„Als könnte ich das so steuern“, ätzte Deleila und zupfte sich ihr Hemd und ihren Rock zurecht. Doch als ein Klingeln den Eintritt eines neuen Kunden signalisierte, drehten sich alle drei wie automatisch mit breitem Lächeln zum Eingang. Gabrielle war noch in Stockstarre, als Deleila leichtfüßig zur betagten Stammkundin Gerti hintrabte und sie begrüßte.

„Misses Gerti, wie schön, Sie zu sehen. Es ist uns immer eine Freude.“

Die alte Dame war sichtlich geschmeichelt und schritt mit ihrem Gehstock mühsam tiefer ins Geschäft.

„Deleila, mein Kind, ich hab’ dich schon viel zu lange nicht mehr hier angetroffen. So ein Sonnenschein ist schön zu sehen“, erwiderte die Dame freundlich und hängte sich bei Deleila ein, so wie sie es immer bei ihren Besuchen zu tun pflegte.

„Und was dürfen wir Ihnen heute Gutes tun, Misses Gerti? Wir haben gerade eine neue Lieferung an Blumenvasen und Töpfen reinbekommen. Die sollten Sie sich auf keinen Fall entgehen lassen.“

Gabrielle hörte im Hintergrund, wie sich Frank zurück ins Lager schlich, während Deleila einen kurzen Seitenblick zu ihr wagte. Es war schwer, daraus zu lesen.