Cover

Kapitel

Titelblatt

Widmung

Impressum

Kapitel 1 - Gärtner, Frauen und die Sache mit den Eseln

Kapitel 2 - Brötchen, Mord und ein Gedicht

Kapitel 3 - Schlechte Nachrichten, Eltern und ein Professor

Kapitel 4 - Ein Haus, ein Buch und viele Gedichte

Kapitel 5 - Bier, Frustration und ein Brief

Kapitel 6 - Zweifel, Sehnsucht und ein Wunder

Kapitel 7 - Schmerzen, eine Schule und Rumpelstilzchen

Kapitel 8 - Morgengrauen an der Ilmund das Mädchen im Park

Kapitel 9 - Fahrradfahrer, Erstaunen und der Professor

Kapitel 10 - Herzklopfen, die Bibliothek und ein Zettel

Kapitel 11 - Das alte Mütterchen auf der Bank und viele Fragen

Kapitel 12 - Erinnerungen, Mut und die Schönheit

Kapitel 13 - Reifenabdrücke, Zettelchen und Chaos

Kapitel 14 - Bücher, Dunkelheit und eine ewige Liebe

Kapitel 15 - Noch ein Zettel, verwirrte Gefühle und ein Todesfall mehr

Kapitel 16 - Käse, Herder und ein letzter Plan

Kapitel 17 - Ein Anruf, eine heiße Nacht und der Friedhof

Kapitel 18 - Das falsche Grab und ein Schrei zu viel

Kapitel 19 - Gefahr, Erde und Endspurt über den nächtlichen Friedhof

Kapitel 20 - Jugendfehler und ein Geständnis

 

Sandra Rehschuh

VERGANGENHEIT

TÖTET

Ein Thüringen - Weimar - Krimi

Für

Marion, Annemarie, Andreas und Gerhard

Danke, dass ihr mir Weimar gezeigt habt!

 

1. Auflage

Vergangenheit tötet von Sandra Rehschuh

SoTo Media | Verlag Sandra Oelschläger

Quirlweg 1 | 01824 Königstein OT Pfaffendorf

Druck: Printed in Germany

ISBN: 9783965080249

 

www.soto-media.de

 

Kapitel 1

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Gärtner, Frauen und die Sache mit den Eseln

 

 

Tick – Tack – Tick – Tack.

Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte Mitternacht. Es gab niemanden, der ihm auf seiner Fahrt entgegen kam; niemand, der ihn an seinem Vorhaben hindern konnte. Er bog von der Hauptstraße auf einen Feldweg ein, ohne den Blinker zu betätigen.

Ja, setzt das mit auf meine Rechnung, dachte er und umklammerte das Lenkrad so fest er es vermochte. Darauf kommt es nicht mehr an.

Er blickte starr auf den Weg, der gerade so breit war, dass er ihn mit dem Transporter befahren konnte. Was links und rechts von diesem lag, nahm er nicht länger wahr. Tunnelblick, glaubte er, nannten das die gewöhnlichen Menschen. Ein heißeres Lachen drang aus seiner Kehle. Gewöhnliche Menschen. Das waren sie alle und er verabscheute sie zu tiefst.

Er konzentrierte sich wieder auf die Fahrt und verstummte. Morgen würde niemand auch nur ahnen, dass ein Fahrzeug hier entlanggerollt war. Die Besucher des Belvedere würden die Spuren zertrampelt haben, noch bevor irgendwer ihre Bedeutung erkannte.

Ein Reifen erwischte einen Stein, brachte das Gefährt zum einen Moment aus der Spur und verschwand dann unbeachtet in der Dunkelheit. Irgendwo neben ihm existierte ein Abgrund, das wusste er. Er kannte diesen Park in und auswendig. Es war ein mit Sträuchern bepflanzter, steil abfallender Hügel. Eine Sekunde lang stockte ihm der Atem, bei dem Gedanken, die Kontrolle über den Transporter zu verlieren und da hinunterzustürzen. Doch dann hob er die Oberlippe ein Stück, gleichbedeutend mit einem Grinsen, und konzentrierte sich auf den Pfad. Ihm passierte nichts. Niemals. Er musste nur auf den Weg Acht geben, den normalerweise kein Fahrzeug befuhr. Höchstens der Gärtner mit seiner Schubkarre. Ob dieser am morgigen Tag seine Arbeit weiterhin liebte? Wahrscheinlich nicht. In der Regel fiel der erste Verdacht, spätestens seit Edgar Wallace, stets auf den Gärtner. Das Leben dieses armen Mannes war jetzt schon ruiniert. Dabei ging die Sonne noch nicht einmal auf. Aber was scherte ihn das? Ihn behandelte man auch nicht fair und nie beklagte er sich darüber. Wenn man etwas an der Realität ändern wollte, musste man es selbst in die Hand nehmen.

Wie um seine Gedanken zu bekräftigen, hörte er von der Ladefläche ein Poltern. Gefolgt von Stille. Nach einigen Sekunden wiederholte es sich – lauter.

Die Kleine wachte endlich auf. Lächelnd blickte er durch die Windschutzscheibe. Perfektes Timing! Langsam ging er vom Gas.

Den Brunnen am Ende des Weges konnte er trotz der Finsternis gut erkennen. Oft war er an diesem Ort gewesen und hatte das Wasser beobachtet, das aus einem Felsen herausströmte. Am Boden sammelte es sich in einem Becken, gerade so groß, dass er sich hätte hineinsetzen können.

Er schüttelte den Kopf und verschwendete nicht länger seine Gedanken daran. Er musste weiter, durfte keine Zeit verlieren.

Hinter dem Brunnen führte ein Weg entlang. An dessen Ende befand sich eine künstliche Ruine, die »Große Grotte« genannt. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er kam seinem Ziel näher.

Als er vor wenigen Wochen – Herrgott, waren es ernsthaft nur ein paar Wochen? – das erste Mal den Schlosspark von Belvedere in Weimar besuchte, war es dieser Anblick gewesen, der ihm den Atem raubte. Konnte ein eingestürztes Gebäude tatsächlich solch eine magische Anziehungskraft auf ihn ausüben?

Hastig nickte er.

Magie, ja, die herrschte an diesem Ort, an dem die Vergangenheit lebendig schien. Stunden, sogar Jahre schrumpften zu winzigen Augenblicken zusammen und er fühlte sich wieder jung; sah sich selbst als Kleinkind.

Er ließ den Wagen ausrollen und verharrte mit der Hand auf dem Zündschlüssel. Ein Zurück gab es seit Langem nicht mehr. Zu weit war er gegangen, zu viel hatte er riskiert, um an diesen Punkt zu gelangen. Seine Erlösung schien zum ersten Mal greifbar nahe.

Bald konnte er die Zeit zurückdrehen, alles ungeschehen machen und ein neues Leben beginnen.

Sein Herz hämmerte wie bei einem der wenigen Marathonläufe, an denen er teilgenommen hatte. Früher. Doch das lag hinter ihm, nur noch die staubige Erinnerung daran blieb. Er würde sie vergessen. Irgendwann.

Er stellte den Motor ab.

Das Mädchen musste zur Ruine hinauf laufen. Unmöglich konnte er den Weg dahin befahren. Es war ein heiliger Ort, an dem banale Dinge wie ein Auto keine Existenzberechtigung besaßen. Das Risiko, den Zauber dieses Platzes zu zerstören, erschien ihm zu groß.

Er stieg aus, drückte die Tür hinter sich ins Schloss und öffnete die Schiebetüre des Transporters auf der Beifahrerseite.

Schreckgeweitete Augen starrten aus der Dunkelheit zu ihm empor. Er konnte die Farbe nicht erkennen, aber letztendlich spielte sie auch keine Rolle. Ein nebensächliches Detail.

Dennoch wusste er, dass er diesen Anblick höchstwahrscheinlich seinen Lebtag nicht mehr vergaß.

Lächelnd trat er einen Schritt näher. Er verspürte weder Angst, noch Trauer oder gar Mitleid. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft hatte ihn mit eisernen Klauen an diesen Ort getrieben und schütze ihn vor diesen unbedeutenden Empfindungen.

Tief atmete er die kühle Nachtluft ein, die für die kommenden Stunden einen Regenschauer versprach.

Die Kleine kroch zurück, tollpatschig, mit ihren gefesselten Händen, und stoppte erst, als sie die Trennwand zwischen Ladefläche und Fahrerkabine erreichte.

Mit dem Zeigefinger winkte er sie heran.

Sie reagierte nicht.

Er biss sich auf die Lippen, unterdrückte einen Fluch und beugte sich zu ihr herab. An einem Fuß zog er sie durch das Fahrzeug. Wie von Sinnen warf sie den Kopf umher, versuchte zu schreien, doch der Schal vor ihrem Mund erstickte jeden Klang. Er packte sie an den Haaren, zerrte sie auf die Beine. Im nächsten Moment sackte sie in seinen Armen zusammen. Lautlos fluchend ergab er sich seinem Schicksal. Dann musste er sie halt hinter sich herschleifen. Ein notwendiges Übel. Seine Pläne blieben davon unberührt.

Im nächsten Moment bäumte sie sich erneut auf, schlug um sich, versuchte, ihn zu treten. Einmal. Zweimal. Sie erwischte ihn nicht und gab den Widerstand so abrupt auf, wie sie ihn begonnen hatte.

Ihr Wille zu leben ist nicht gerade groß, stellte er überrascht fest und zerrte sie weiter.

Keuchend verlangsamte er den Schritt. Er wünschte sich, sie würde ihm ein wenig entgegen kommen, wenigstens ein paar Schritte allein gehen, denn sie war verdammt schwer. Doch letzten Endes war es bedeutungslos. Frauen waren dumme Esel, die nur arbeiteten, wenn sie sich eine Belohnung davon versprachen. Der Fluch dieses Zeitalters. Warum konnten sie nicht wie früher sein? Zuhause am Herd bleiben, ihre Männer und Kinder versorgen und gehorchen? Diese verfluchte Emanzipation hatte alles zerstört.

Egal. Sein Kontakt zu dieser Spezies Mensch war kaum erwähnenswert. Frauen strengten ihn an - in sämtlichen Lebenslagen. Distanz war die einzige Art von Beziehung, die er mit ihnen einging. Weshalb sollte es ihn also scheren, wenn er dieses eine Mal in den sauren Apfel biss?

Verflucht! Warum macht sie sich so schwer?

Schniefend erreichte er den Eingang zur Großen Grotte. Jeder Atemzug brannte in seinem Brustkorb wie flüssiges Feuer. Doch der Anblick der Ruine ließ ihn die Schmerzen vergessen. Durch den Bauzaun starrte er einen Moment lang in ihr Inneres. Sein Traum, einmal darin zu stehen oder gar irgendwann in ihr zu leben, rückte in weite Ferne.

Die Decke war eingebrochen und der Zugang lebensgefährlich. Obwohl er sich nur vor wenigen Dingen fürchtete, schaffte es die Vorstellung, bei lebendigem Leib begraben zu werden, ihm Angst einzujagen.

Er konnte warten. Warten, dass irgendwer das wunderbare Gemäuer instand setzte und ihm somit eine neue Heimat schuf.

Das Jammern der Kleinen riss ihn aus seinen Gedanken.

Er wollte nicht, dass sie Tränen vergoss. Sie sollte sich dieses Meisterstück der Baukunst anschauen, ehrfürchtig den Atem anhalten und den Anblick genießen.

Den Atem anhalten – oh ja. Er biss sich auf die Lippen, unterdrückte ein Kichern, und wandte sich von ihr ab.

Er durfte nicht den Fehler machen, eine Beziehung zu ihr aufzubauen. Weder durch ein unkontrolliertes Lachen noch durch einen Dialog. Jede dieser Abweichungen von seinem Plan brachte ihn in Gefahr. Seine Aufgabe musste er jetzt erledigen. In dieser Nacht, bevor er den Mut verlor.

Fest packte er sie an der Schulter, zerrte sie an der Ruine vorbei, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Der Weg wurde ab hier steiler. Eine unangenehme Nebensächlichkeit, die ihn aber kaum störte. Konzentriert sah er zu Boden, setzte einen Schritt nach dem anderen, spürte kaum noch das Gewicht dieser jungen Frau, die seine Fahrkarte in die Freiheit bedeutete.

Eine kühle Nachtbrise umgab ihn, ließ ihn einen Moment innehalten und aufsehen. Vor sich erkannte er sein endgültiges Ziel. Die Endstation, wenn man es so nennen wollte. Das Blut rauschte in seinen Ohren, übertönte das Keuchen seines Opfers.

Vor ihm erhob sich die Aussichtsplattform der Ruine. Einst stand die Elite der Poeten auf ihr; sie ließen ihre Blicke in das Tal schweifen. Dass diese Plattform das Dach seiner geliebten Grotte darstellte, war nur das Tüpfelchen auf dem berühmten ›I‹.

Heutzutage hatte man sie abgesperrt. Zu groß schien die Gefahr, dass das Bauwerk darunter einstürzte. Dennoch fand er an diesem Ort die absolute Perfektion:

Die allgegenwärtige Freiheit; der Wunsch, den Wind im Gefieder zu spüren wie ein Habicht. Nur an dieser Stelle kam er seinem Traum so nah. Aufsteigen und davonfliegen. Keine Sorgen, keine Verpflichtungen zu haben. Einfach nur glücklich sein.

Sekunden verstrichen, in denen er die Aussicht genoss und beinahe vergaß, weswegen er eigentlich gekommen war.

Das Zerren an seinem Arm riss ihn in die Realität zurück. Brummend blickte er die Studentin an und kontrollierte ihre Handfesseln. Sicher war sicher.

Erst nachdem er sich überzeugt hatte, dass sie sich unmöglich daraus befreien konnte, ließ er von ihr ab und wandte sich dem Gebüsch neben dem Weg zu.

Wo ist dieser ... Ah, ja!

Seine Finger glitten über die raue Oberfläche eines Seiles, das er hier versteckt hatte. Beherzt griff er zu, schüttelte die anhaftenden Blätter ab und drehte sich herum.

Die große Eiche. Das Symbol für die Ewigkeit.

In voller Pracht streckten die Bäume ihre Zweige über den Park, verdeckten den wolkenverhangenen Himmel, an dem der Mond in dieser Nacht nur selten zu sehen war.

Zielsicher ging er auf sie zu, schwankte zwischen zwei Stämmen und entschied sich für den Rechten. Diese Eiche war stark, doch niedrig genug, um bequem an ihre unteren Äste zu gelangen. Er warf seinen Strick über einen Ast, den ein großer Mann vielleicht mit seinen Fingerspitzen erreicht hätte. Das Mädchen jedoch würde keine Chance haben, den Boden darunter zu berühren.

Die Enden des Seils verknotete er, bis eine Schlaufe entstand. Zufrieden trat er zurück, betrachtete sein Werk und nickte anerkennend. Es erfüllte seinen Zweck.

Die Kleine schien endlich zu begreifen, auf welche Art ihr Schicksal endete. Sie erwachte aus ihrer Starre, schrie nicht, sondern rannte, soweit es ihre Fesselung zuließ, ohne Vorwarnung los. Sie stolperte über den Weg, den sie gekommen waren, und geriet mehr als einmal ins Straucheln. Wie durch ein Wunder schaffte sie es, sich auf den Beinen zu halten.

Seufzend blickte er ihr nach. Wenn sie den Abhang hinabrutschte, gab das Spuren, die er nicht brauchte. Ausgerissene Grasbüschel, geknickte Zweige oder gar Fußabdrücke. Das musste er verhindern!

Ohne eine weitere Sekunde zu zögern, lief er los.

Die Distanz zwischen ihnen verringerte sich mit jedem Schritt. Ihre Schuhe mit den Trichterabsätzen waren eindeutig nicht für einen Wettlauf geeignet.

Der Kies knirschte unter ihm und er konnte das süßliche Parfüm der Studentin riechen, das sich mit ihrem Schweiß vermischte. Süß und streng zugleich. Tief sog er den Duft ein und beschleunigte noch einmal.

Auf Höhe des Transporters bekam er sie endlich zu fassen und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige. Wie in Zeitlupe sah er ihren Kopf zur Seite fallen, Speichel spritze aus ihrem Mundwinkel, die Augen riss sie weit auf. Sie fiel auf die Knie und blickte winselnd zu ihm auf.

Warum musste sie ihm solche Probleme bereiten? Er packte nach ihrem Oberarm und zerrte sie brachial hinter sich her, ohne auch nur einen Ton über seine Lippen zu bringen. Der Widerstand brach; Sie folgte ihm ohne weitere Gegenwehr.

Vor der Eiche, seinem endgültigen Ziel, blieb er stehen. Sie wäre weitergelaufen, hätte er sie nicht am Arm gehalten.

Er schüttelte den Kopf, führte sie an den Stamm und drückte sie gegen diesen. Die Kleine sah nicht einmal auf.

Keine zehn Schritte entfernt befand sich ein Holzstück, das wahrscheinlich bei den letzten Baumfällarbeiten liegengeblieben war. Nun diente es für sie als eine natürliche Treppe. Eine Treppe, die in den Himmel, in die Freiheit führte.

Oh ja, er tat ihr einen Gefallen. Nie wieder würde sie lernen oder sich mit Jungs plagen müssen. Vorbei die Angst um Zensuren, eine gute Ausbildung. Kein Ärger mit ihren zukünftigen Kindern. Sie würde am Ende ihres Lebens nicht alleine und vergessen sterben müssen. Gleich verfiel sie in einen tiefen Schlaf, in dem sie sich ihre Welt zusammenträumen konnte. Eine perfekte Welt. Ja, er machte ihren Traum wahr. Er half ihr, den Weg zu gehen, der ihr zustand. Wie ihre kleine perfekte Welt wohl aussah? Weite Felder und Wiesen, blauer Himmel und Sonnenschein? Ein Strand, an dem sie lag und den Wellen lauschte? Keine Regeln, keine Verpflichtungen. Nur tun, was sie wollte. Ach, zu gern würde er in ihre Fantasie eintauchen wollen. Nur für einen Moment.

Er rollte das schwere Stück eines abgesägten Stammes heran. Der Gärtner. Er schmunzelte über seinen detektivischen Verstand. Gewiss doch hat er es liegengelassen. Also trug er im Endeffekt eine unstrittige Verantwortung an dem, was jetzt geschehen würde. Spätestens nach Sonnenaufgang ärgerte er sich seines Fehlers wegen schwarz.

Ein Eichelhäher lärmte im angrenzenden Forst. Flügelschläge waren zu vernehmen, die Laute näherten sich und verklangen in der Finsternis. Die Stille kehrte zurück.

Er kletterte auf seine provisorische Treppe, blickte zu ihr herab. Sie stand einfach da, rührte sich nicht und ließ den Kopf hängen. Warum sie nicht versuchte zu fliehen, verstand er nicht. Nur ihre Hände waren aneinandergebunden. Sie konnte also laufen. Oder wusste sie, dass sie keine Chance hatte?

Es war ihm egal. Er zuckte mit den Schultern, zog die Schlaufe auseinander, stieg herab und ging langsam auf sie zu. Noch immer schaute sie nicht auf. Sanft legte er seine Hand auf ihren Unterarm, spürte die Kühle, die von ihr Besitz ergriffen hatte, und führte sie zu dem Holz.

Ohne ihn anzusehen, stieg sie auf diesen. Selbst als er ihr die Schlinge um den Hals legte, ging ihr Blick an ihm vorbei gen Himmel. Suchte sie sich vielleicht einen Punkt am Firmament, an dem sie als Stern leuchten wollte?

Bei dieser Idee lief ihm ein wohliger Schauer über den Rücken. Sie würde strahlen. Heller als jeder einzelne andere Stern da oben. Eine romantische Vorstellung, die ihm doch auch ein melancholisch werden ließ. Zu gern hätte er ein letztes Mal den Schrecken in ihren Augen gesehen.

Er konnte es nicht ändern. Frauen und Esel. Die ganze Zeit musste er daran denken. Dumme, starrköpfige Esel.

Mit dem Fuß stieß er das Holz an.

Es rückte keinen Zentimeter vom Platz.

Fest biss er sich auf die Lippen, unterdrückte den Wunsch zu fluchen. Er kniete nieder, packte mit beiden Händen zu. Der Stamm ähnelte in der Größe einem Eimer; sein Umfang jedoch überbot diesen um Dimensionen. Dennoch hatte er nicht mit dessen Gewicht gerechnet. Ein Fehler! Er hatte nicht alle Eventualitäten einberechnet. Wie konnte er solch einen wichtigen Punkt übersehen? Rasch überlegte er nach Alternativen, verwarf seine Idee wieder, einen Wagenheber zu holen oder einen anderen Baumstamm zu suchen. Alles viel zu kompliziert, zu unsicher. Was, wenn sie doch noch davon lief? Er war zu weit gegangen, um jetzt alles wegen eines dummen Fehlers zu riskieren. Es gab es kein Zurück.

Mit seiner ganzen Masse warf er sich gegen das Holz. Wieder und wieder. Schweiß rann ihm über die Stirn, sein Atem ging pfeifend. Doch endlich, endlich bewegte sich dieses verfluchte Ding!

Einen Herzschlag später kippte es zur Seite, setzte sich in Bewegung und rollte den Weg hinab.

Ein erstickter Schrei drang über die Lippen des Weibes, als es den Boden unter den Füßen verlor. Sie griff nach dem Seil um ihren Hals. Doch sie konnte ihrem Schicksal nicht entkommen.

Sein Brustkorb hob und senkte sich im raschen Tempo, das Blut rauschte in seinen Ohren. Erschöpft ließ er sich an dem Stamm der Eiche nach unten gleiten, blieb dort sitzen, atmete tief ein. Er fuhr sich durch das Gesicht, ehe sein Blick in Richtung des Mädchens wanderte. Sie kämpfte; zappelte; versuchte zu kreischen, aber nur ein ersticktes Gurgeln war zu vernehmen.

Es hätte nicht so kommen müssen. Doch die Freiheit war ein wichtiges Gut. Wichtiger noch als das Leben eines unbedeutenden Menschen.

Ein kurzes, heißeres Lachen drang über seine Lippen und vermischte sich mit dem Krächzen des Eichelhähers.

Kapitel 2

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Brötchen, Mord und ein Gedicht

 

 

»Hier Borgi! Fang!« Ein rundes, in weißes Papier verpacktes Ding auf dem Fettflecke schimmerten, beschrieb einen hohen Bogen quer durch das Büro und landete zielsicher in Arnold Borges Hand.

»Danke. Genau das, was ich jetzt brauche.« Er nickte seinem Kollegen Christian Griso zu. Sein Magen grummelte schon seit geraumer Zeit, schmerzte und meldete sich erneut mit einem bitterbösen Knurren. Lachend wickelte er sein Hackepeterbrötchen aus und biss hinein. »Du bist mein Lebensretter, weißt du das?«

»Gelle, ich bin doch der Beste?« Christian ließ sich hinter seinem Schreibtisch in den Bürosessel sinken und machte sich über seinen Proviant her. »Mensch, dass sich der Monat wieder so hinzieht. Nichts tut sich in diesem Kaff. Man könnte meinen, sämtliche Straftäter wären im Urlaub«, nuschelte er zwischen zwei Bissen, und stand auf, um sich und seinem Partner Kaffee einzuschenken.

»Sei froh. Oder willst du bei der Hitze da draußen rumsappen? Da lobe ich mir unser Büro mit seiner Klimaanlage.« Arnold schloss die Augen. Mittlerweile wurde es wirklich langweilig und die Tage schienen endlos. Der Stapel an alten Akten auf seinem Schreibtisch machte die Sache nicht besser. Gähnend würdigte er sie eines Blickes und wandte ihn wieder ab. Papier war geduldig. Ob er seine Berichte heute oder morgen schrieb, wen kümmerte das?

»Man kann es auch so sehen: Kein Auftrag, kein Mord. Also das, was wir immer wollten.« Chris knüllte das Packpapier zusammen und warf es in Richtung Mülleimer. Es landete einen guten Meter entfernt von ihm. »Mist.«

»Eigentlich hast du Recht«, stimmte Arnold zu und unterdrückte nur mühsam ein Lachen. »Aber was das Werfen angeht, ist deine Trefferquote mehr als schlecht.«

»Zum Glück nur da.«

»Jepp.« Seit die Kommissare gemeinsam in Weimar ermittelten, war die Stadt so gut wie frei von Verbrechen. Natürlich gab es ab und an Diebstähle oder Parksünder. Morde allerdings ... Nein, die Fälle, die im Laufe eines Jahres stattfanden, konnten sie an einer Hand abzählen. Nicht zu Letzt lag dies auch an Christian Grisos nahezu übermenschlicher Intuition, die beinahe jedem Schwindel auf die Schliche kam.

»Was hast du heute Abend vor?«, erkundige sich Arnold und nahm einen Schluck Kaffee.

»Im Atrium soll ein Sommerfest stattfinden. Eventuell schnei ich dort rein. Sonst ist nicht viel los. Das nennt sich nun Sommer.«

Ach, verflucht! Was hatte er mit dieser Frage bezwecken wollen? Mit ein wenig Smalltalk die Zeit bis zum Feierabend überbrücken? Chris war ein Windhund, den niemand zum Stillsitzen überreden konnte. Natürlich würde er zu diesem Fest gehen, sich eine Frau aussuchen, diese mit nach Hause nehmen und am Montag ihm davon berichten. Nichts mit einem gemütlichen Abend im Biergarten, dachte er enttäuscht.

»Geh doch mit! Da besorgen wir dir gleich etwas Ordentliches für dich zum Anziehen. Du und deine Jacketts mit Jeans … Wird Zeit, dass sich dein persönlicher Stylingberater Chris mal darum kümmert, gelle?«

Einen Atemzug lang überlegte Arnold tatsächlich, ihn zu begleiten. Vielleicht wäre das genau das Richtige, um auf andere Gedanken zu kommen? Seufzend blickte er auf das Foto auf seinem Schreibtisch. Die Farben waren ausgeblichen, doch ein Neues würde es nicht geben. Nie wieder. Susanne und Lischen strahlten ihn aus der Vergangenheit an. Zwei Jahre lag ihr gemeinsamer Todestag beinahe zurück. Zwei Jahre, in denen er noch immer nicht begreifen konnte, warum man sie ihm genommen hatte. Er spürte, wie Tränen seine Augen füllten und wischte sie hastig davon. Auch wenn Christian sein bester Freund war, vor ihm wollte er nicht weinen. Er sollte heute Abend mit ihm gehen und den ganzen Trübsinn ersäufen.

»Was ist, Borgi? Kommst du nun mit?«

Bevor er zu einer Antwort ansetzen konnte, wurde die Glastür aufgezogen.

»Jeanette, mein zauberhafter Schmetterling in der untergehenden Abendsonne«, fing Christian an zu flirten, noch ehe die Sekretärin das Büro betrat.