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Inhalt

Impressum

Widmung

Lasst jede Hoffnung fahren 1 Davos

2 Gorduno

3 Goldau

4 Traslochi

Frauen 5 Seline

6 Luca in Österreich

7 Margrit

8 Ruth

9 Mac, der Frauenheld

10 Lara

11 Carla

12 Luca, der Feigling

13 Motorrad

14 Basel – Rebekka

15 Sex und Gesundheit

16 Die Liebe

17 Verweile doch, du schöner Augenblick, du bist so schön

18 Empathie

19 Die Axt im Hause

20 Patrizia und Luca fangen Feuer

21 Das erste Geständnis und die Zurechtweisung

22 Brief an Patrizia

23 Der lieben Worte Antwort

24 Was sich Luca und später Raffaele dabei dachten

25 Das alte Telefonbuch

26 Dritter Jahrestag

27 LOBGESÄNGE

28 Wunderschöner Traum

29 Mein Name ist Nobody

30 Die Verantwortung eines hellsichtigen Menschen

31 Die Verlorenheit des Menschen im Leben

32 Äonen/Summertime

33 Der 6. Schöpfungstag

34 Der blaue Himmel

35 Julie Hendersen

36 Besame mucho/Antizipiertes Ableben

37 Frauen-Ärztin Rachel Carlton Abrams

38 Gegenliebe/Der Besuch in der Nacht

39 Das helle wunderbare Licht

40 Luca an Patrizia

41 Leidenschaft

42 Die Flaschenpost

45 Die große Leere

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2018 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99064-141-5

ISBN e-book: 978-3-99064-142-2

Lektorat: Susanne Schilp

Umschlagfoto: NASA/hubblesite.org, Cnx0591 | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Zeitungsartikel aus der Weltwoche

www.novumverlag.com

Widmung

Allen

Liebenden

Lasst jede Hoffnung fahren
1 Davos

Wir fallen ins Nichts,
wenn wir aus der
Geschichte treten.
(C. Jaspers)

An die Ankunft in Davos erinnert sich Luca nicht mehr. Wie sollte er auch, mit damals entweder zwei oder drei Jahren? Frisch verpflanzt vom Kinderheim in Steinen, Kanton Schwyz, bestand sein Weltbild vorher doch aus einigen Räumlichkeiten im Kinderheim, inklusive Kinderbett. Er erinnerte sich auch nicht an die eingekleideten Schwestern eines deutschen Ordens, die ihn dort betreuten. Vor seinem geistigen Auge sah er höchstens noch eine Schaukel im Garten oder Park und lachende, fröhlich schaukelnde Kinder.

Wieso zwei oder drei Jahre alt? Woher diese Unsicherheit? Seine Mutter hatte ihm später erzählt, er sei zwei Jahre im Kinderheim in Steinen gewesen und weitere zwei Jahre in Davos. Bei wem er in Davos war, konnte sie ihm eigenartigerweise auch nicht sagen.

40 Jahre später sprach Luca deshalb in Davos beim Einwohneramt vor und wollte etwas über seinen Aufenthalt in den Dreißigerjahren in Davos wissen.

Ja, Herr Auressi, sie waren bei der Familie Bircher, Kaufmann, untergebracht. Ein weiterer Aufenthalt irgendwo in Davos ist amtlich nicht registriert. Die Familie Bircher sei nach Weesen, St. Gallen, verzogen.

Sie sind vorher von Birchers weggezogen nach Gorduno, Tirol.

Luca fand die Adresse Birchers im Telefonbuch. Er schrieb Herrn Bircher in Weesen. Er erhielt von ihm Fotos zugeschickt. Am Rande dieser Fotos stand in Handschrift gekritzelt: „7.Okt. Unser Luca, 3 Wochen bei uns (sehr blutarm 32 % und englische Krankheit).“

Auf dem Foto saß Luca auf dem Boden und schaute scheu und verängstigt drein. Offenbar nannten ihn die Birchers Luca.

Auf einem weiteren Foto stand: „12. Dez. Unser Luca 1/4 Jahr später bei uns, geht ihm viel besser, 70 % Blut.“ Diesmal war Luca stehend auf dem Foto und er machte einen gesunden, fröhlichen, ja sogar einen draufgängerischen Eindruck.

Englische Krankheit, so wie man es damals nannte, ist Rachitis.

Bircher erzählte in seiner Antwort an Luca, dass seine damalige Frau, ein ehemaliges Kindermädchen, gestorben sei und er nochmals geheiratet habe. Bircher schreibt am Schlusse: „Warum man Sie von uns wieder weggenommen hat, wurde nie gesagt, vielleicht deshalb, weil wir selber ein Kind erwarteten.“

Das schien Luca merkwürdig, da kann doch nicht irgendwer kommen und ihn wie eine Ware ohne Begründung mitnehmen und tschüss!

Nach Lucas Meinung konnte die oben erwähnte Blutarmut und Rachitis (Mangel an Vitamin D in den Knochen) unmöglich vom Kinderheim Steinen stammen. Dort sollen, natürlich immer gemäß Aussagen seiner Mutter, die Ordensschwestern liebevoll mit ihm gewesen sein. Außerdem bezahlte die Mutter Lucas monatlich ihren halben Zahltag an das Kinderheim. Sie arbeitete im Hotel Du Lac in Luzern, hatte Fr. 80.- Monatslohn nebst Kost und Logis. Das war anfangs der Dreißigerjahre für ihre Anstellung ein guter Lohn.

Warum Luca von Steinen nach Davos weggebracht wurde, wollte ihm niemand sagen. Fragte er seine Mutter, so bemerkte sie nur, dass sie sich immer gegrämt habe deswegen, aber den Grund nannte sie ihm nicht. Gemäß den amtlichen Angaben wäre Luca nur acht oder neun Monate in Davos gewesen. War er etwa nach Steinen an einem anderen Ort untergebracht worden? Wurde er etwa vorher zuerst an einem völlig unzweckmäßigen Pflegeplatz untergebracht und danach wieder verpflanzt?

Seine Schwachheit deutete darauf hin, aber niemand konnte auf seine Fragen etwas sagen. Die Blutarmut, die offenbar ärztlich festgestellt wurde, deutet auf ein Drama hin, das man nach allen Seiten verschwieg.

Ohne große Hoffnung wandte sich Luca an das Einwohneramt Steinen, um von dort sein Abreisedatum in den Dreißigerjahren zu erfahren. Nach einigem Warten am Telefon meldete sich der Beamte bedauernd: „Herr Auressi, wir haben diese Unterlagen nicht mehr, schon deshalb, weil das Kinderheim bei Antritt von Hitlers Macht aufgehoben wurde. Die deutschen Schwestern wurden in ihre Heimat zurückberufen und niemand führte das Kinderheim fort.“

Das konnte die Erklärung für den Fortzug von Steinen sein. Dies wäre allerdings etwas später gewesen und nicht, wie dies bei einem zweijährigen Aufenthalt der Fall gewesen wäre! Gemäß den damaligen Normen des Zivilgesetzbuches erhielt ein ohne Vater geborenes Kind einen Beistand. Sollte Luca doch vorher weggezogen sein, dann hatte offenbar eine Vormundschaftsbehörde etwas verschlampt in Sachen Unterbringung oder Überwachung?

Über die mangelhafte Überwachung erschien 70 Jahre später in der Tageszeitung ein Artikel.

Fast gleichzeitig in der Weltwoche. Danach war die Erziehungsmethode bei den deutschen Schwestern „Die Erniedrigung als pädagogisches Prinzip“, mit Martyrium im Dunkeln!

Die Sündenkinder sollten für die Sünden der Mütter büßen!

Damals hatten prozentual nur wenige ledige Mütter Kinder. Anfangs 21. Jahrhundert waren es bereits 20 %.

War’s in Steinen etwa doch nicht so, wie Lucas Mutter meinte? Aber Luca wollte keine möglicherweise falschen Schlüsse ziehen.

Leider hat Luca Birchers nicht sofort nochmals angeschrieben. Er hätte den vorherigen Aufenthaltsort sicherlich gewusst, nachher war es durch das Ableben Birchers nicht mehr möglich.

Wahrscheinlich hätte eine Anfrage beim Vormundschaftsamt Luzern, der Geburtsstadt Lucas, die Unsicherheit beseitigt. Aber Luca scheute solche Anfragen immer instinktiv. Er hatte das Gefühl, ihm unbekannten Leuten seine Randständigkeit offenbaren zu müssen, sich vor ihnen „nackt“ zeigen zu müssen. Früh hatte er gelernt, sich hinsichtlich seiner Herkunft sehr bedeckt zu halten. Damals war eine solche Herkunft ein Makel. Man wurde als Außenseiter behandelt, dabei pflegten ja die Eltern eine außereheliche Beziehung und nicht das Kind.

Verglichen mit dem heutigen Sexualverhalten der Menschen eine fast unglaubliche Haltung gegenüber einer Frau und ihrem Kind. Man konnte Jahre danach lesen, dass „fromme“ Kinderheime solche Kinder besonders heimtückisch und quälerisch behandelten.

Am 23. Januar 2013 strahlte das Schweizer Fernsehen SFR 1 sogar in den Abendnachrichten aus, man habe in einem Kinderheim der Ingenbohler Schwestern in Rathausen, Kanton Luzern, zwischen 1930 und 1970 Kinder misshandelt. Das stehe nach zweijährigem Abschluss einer Untersuchung fest. Schläge mit Ruten, Bambusrohren oder Teppichklopfern gehörten genauso zu den damaligen Erziehungsmethoden wie das Unterwasserdrücken des Kopfes, bis ein Kind nicht mehr atmen konnte.

Die Provinzoberin zeigte sich sehr bestürzt und bat um Verzeihung für das zugefügte Leid.

Das mit dem Makel war keine Einbildung. Spätestens wenn dem jungen Außenseiter etwa einfallen sollte, aus seiner untersten Kaste aufsteigen zu wollen, hielt man den „Emporkömmling“ in Schach. Zu oft hatte Luca dies in seinem Leben erfahren, trotz relativ großem Erfolg später.

Bei diesen Gelegenheiten fiel ihm jeweils folgender Fantasiedialog ein:

„Ist ein Schwarzer auch ein Mensch?“

„Was ist das für eine dumme Frage! Natürlich ist das auch ein Mensch, wie jeder andere auch.“

„Na, dann bin ja beruhigt. Du arbeitest doch in einer Maschinenfabrik?“

„Ja, warum fragst du?“

„Weil ich von deinem obersten Chef vernommen habe, dass du nächsten Monat einen neuen Vorarbeiter erhalten wirst. Es soll ein Schwarzer sein!“

Na, wie schlägt nun das Herz bei denjenigen Weißen, die die Beförderung für sich erhofft hatten? Vorher, als alles noch unverbindlich war, kostete es nichts, menschenfreundlich zu sein. Aber nachher.

Was! Dieser Nigger wird bevorzugt!

Luca verschwieg seine Herkunft gegenüber seinen Kindern, der Tochter und dem Sohn. Rebecca half ihm dabei wirksam. Da sie in einer liberaleren Zeit lebten, hätten die Kinder vielleicht nicht die gleiche Schweigesorgfalt beobachtet und sich und womöglich ihm geschadet.

Noch kannte er weder deren künftige Arbeitgeber oder Lebenspartner und weiteren umgebenden Menschen sowie deren Einstellung. Wie leicht entschlüpft bei einem Disput ein unbedachtes und verletzendes Wort seitens der genannten, ihm noch unbekannten Personen. Auch hier nach gleichem Muster. Solange man friedlich nebeneinander lebte, ist man voller Verständnis für das von anderen erlittene Schicksal.

Bei Streit dient dieses Wissen dann als Pfeil im Köcher.

Und dieser Gefahr wollte er sie nicht aussetzen.

Zurück zu den drei Fotos:

Im ersten und zweiten Bild wurde er „unser Luca“ genannt.

Im dritten Bild wird nur noch Luca geschrieben und Lucas Gesichtsausdruck ist wieder ganz verängstigt. Offenbar hat man ihn hier bereits wieder abgeschrieben und innerlich verabschiedet, da er ja bald wieder verpflanzt wurde. Das geschah denn auch zwei bis drei Monate später. Das Vorgehen bei dieser neuerlichen Verpflanzung war auch wieder eigenartig, so wenigstens gemäß Brief von Bircher.

Die persönlichen Erinnerungen Lucas an Davos

Diese sind nur bruchstückhaft vorhanden. Sie sind deshalb ohne Zusammenhang aufgereiht:

Das Mehrfamilienhaus, in welchem die Birchers wohnten, befand sich am nordöstlichen Ende der dort vorhandenen Flugpiste. Soweit sich Luca erinnerte, war das Innere mit viel dunkel gebeiztem Holz ausgebaut, und die Birchers wohnten im ersten Stock. Die Wohnung war mit einer verglasten Holzeingangstüre versehen, und das Dunkel des Holzes flößte ihm eher Furcht ein, als dass es wohlige und heimelige Gastlichkeit ausgestrahlt hätte.

In seiner Erinnerung sieht er sich oft allein auf dem Sträßchen neben dem Flugplatz laufen, vorbei am Hangar, wo die Doppeldecker, die „Bücker“, draußen standen und von Mechanikern gewartet wurden. Nie sieht er jemanden neben sich, auch nicht seine neue Pflegemutter, noch weniger erinnert er sich an ihr Gesicht, noch an dasjenige des Pflegevaters.

Oft beobachtete Luca das Starten und Landen der Eisenvögel. Ja, ihr Landen glich tatsächlich demjenigen der Krähen. Sie stachen herab und hockten bei ganz kurzer Landefahrt direkt auf den Boden und standen schnell still.

Luca spielte die ganze Zeit auch mit Spiel-Flugzeugen und ahmte deren Manöver immer wieder nach. Er wollte unbedingt auch so ein Pilot werden. Daraus wurde dann nichts.

Der Philosoph Wittgenstein fragte seinen Lehrer Russel: „Denken Sie, dass ich ein völliger Idiot bin?“

„Warum wollen Sie das wissen?“ – „Weil ich, wenn ich einer bin, Pilot werde, wenn nicht, Philosoph.“

Allerdings wurde Luca auch nicht Philosoph. Aber damals hätte er sowieso nicht gewusst, was ein Philosoph ist.

Philosophie gehört zur „vita contemplativa“, mit Betrachtung der Lebensform also. Es ist ein Prozess der Selbstbildung. Philosophie kann man nicht lernen, man kann nur philosophieren.

Auf der Ostseite der Flugpiste war ein großer Schlittelabhang. An sonnigen Tagen schlittelte eine riesige Menge von Leuten diesen Abhang kreuz und quer hinunter, so wie wir heute eine breite Skipiste kennen, war hier eine breite Schlittelpiste vorhanden. Luca bettelte zuhause, dass er auch dort beim Abhang schlitteln gehen wolle.

Die Pflegemutter hatte keine Zeit, Luca zu begleiten.

Luca, hör bitte auf, mich müde zu machen mit deiner Bettelei. Ich habe jetzt sowieso keine Zeit, mit dir schlitteln zu gehen.

Dann kann ich doch allein gehen, nur ein Stückchen hoch, Mutti.

Na gut, aber pass auf die andern Schlittenfahrer auf.

Mit großer Mühe kraxelte Luca ein kleines Stück den Abhang hinauf.

Sein Schlitten kam ihm sehr schwer vor. Bei gestreckter Schnur hielt er jeweils an und zog mit großer Mühe den Schlitten einige Dezimeter näher an sich. Irgendwann hatte er genug von der Plackerei. Bei den vorbeiflitzenden Fahrern sah er, dass er sein Gefährt umkehren musste. Endlich konnte er sich reitend daraufsetzen und schon fuhr der Schlitten los. Haaaaa, jaaa, oh wie schön!

Luca konnte sich nicht mehr erinnern, ob er mehrmals den schweren Schlitten hochzog. Irgendwann landete er mit seinen Füßchen in einer Wasserlache und fror in der Folge ganz jämmerlich. Luca hockte am Fuße des Abhangs auf seinem Davoser Schlitten und weinte. Da beugten sich zwei große, schöne Fräulein zu im herab und trösteten ihn lieb und fragten nach seinem Zuhause.

Er durfte auf dem Schlitten sitzen bleiben. Sie zogen ihn darauf heim und lieferten ihn bei Birchers ab. Seine Pflegemutter war so liebenswürdig zu den jungen Damen, dass Luca keine Schelte fürchtete. Aber kaum hatte sich die Tür hinter den schönen Damen geschlossen, wurde er einer harten Prozedur unterworfen.

Er hatte infolge des Eiswassers an seinen Füssen eingenässt.

Warum hatte sie einen kleinen dreieinhalbjährigen Buben allein in diesem Schlittelvolk schlitteln lassen, anstatt ihn zu begleiten! So ungefährlich wie bei einem kleinen Hügel im eigenen Garten war diese Schlittelpiste gar nicht.

Ausziehen und in einem Zuber baden. Nachher setzte die aufgebrachte Pflegemutter die verhasste heiße Milch vor, die der arme Kleine gar nicht trinken konnte. Sie war regelmäßig zu heiß. Gewöhnlich setzte dies ein Donnerwetter mit frommen Ermahnungen ab. Sie meinte wohl, Luca sträube sich eigenwillig gegen die Milch, dabei kann ein Kind im Mund eine heiße Flüssigkeit kaum vertragen. Ich habe dir erzählt Luca, dass Gott will, dass wir gehorsam seien. Die ersten Menschen wurden wegen Ungehorsam aus dem Paradies geschickt. Und uns kann Gott sogar ewig in die Hölle werfen, wenn wir schwer gegen seine Gebote sündigen. Sei also folgsam und trinke jetzt die Milch.

Nachdem sich Luca den Mund aus lauter Gehorsam fast verbrüht hatte, musste er anschließend mit ihr beten und nachher ins Bettchen. Wahrscheinlich erlebte dies Luca in der „absteigenden Phase“, wo man sich innerlich bereits von ihm verabschiedet hatte, also ungefähr im Februar/März 1934.

Später erinnerte sich Luca an ein Indiz für sehr strenge und engstirnige Frömmigkeit in der Erziehung seiner Pflegeeltern anhand folgender Begebenheit

Luca stand draußen auf der Wiese unterhalb der Balkone des Hauses. Der Boden war tief mit Schnee bedeckt. Jemand vom oberen Balkon muss noch warmes Wasser aus einem größeren Becken über das Balkongeländer ausgeleert haben. Der Schwall Wasser bildete bei seinem Fall ein etwa menschengroßes, längliches Gebilde. Dieser Schwall Wasser fiel einige Meter neben seinem Standort in den Schnee und bohrte dort ein tiefes Loch in den Schnee und versickerte augenblicklich darin.

Von seinem Beobachtungsstandort aus hatte er den Eindruck, es werde ein Mensch über den Balkon geworfen. Dieser Mensch verschwand im Boden.

Luca lief deshalb neugierig zum Loch und betrachtete es lange und nachdenklich.

Da muss jemand nicht gehorcht haben und jetzt in die Hölle geworfen worden sein, so stellte er sich dies vor. Nicht umsonst war der Sünder jetzt im tiefen Loch verschwunden und von nun an unauffindbar. So also musste die von der Pflegemutter gepredigte Strafe vollzogen werden. Schrecklich!

Die Warnung der Pflegemutter war also berechtigt.

Ein weiterer Hinweis für die Frömmelei ist der Brief von Bircher. Luca weiß nicht mehr genau, was er Bircher geschrieben hatte, sicher nichts besonders Frommes, aber Bircher schrieb: Was mich noch mehr freut, ist meine Vermutung, dass wir auch in religiöser Hinsicht parallel gehen, und wenn die Tatsache, dass Sie bei uns immer mitbeten mussten, dazu beigetragen hat, dann wären wir erst noch stolz darauf.

Eine andere Erinnerung hatte Luca an einen Kindergarten oder ein Kinderhort.

Dieser muss sich einige hundert Meter südöstlich von „zuhause“ befunden haben. Auf jeden Fall hatte es in einem größeren Zimmer sehr viel Spielzeuge. Luca spielte unermüdlich mit hölzernen Flugzeugen, den Abflug und die Landung erprobend. Einer der Spielkameraden muss Valentin geheißen haben, den er sehr in sein Herz geschlossen haben muss.

An sein Gesicht konnte sich Luca beim besten Willen nicht mehr erinnern.

Überhaupt konnte er sich an kein Gespräch oder gemeinsames Spiel mit ihm erinnern. Da fragt man sich, wieso Luca wusste, dass er einen Valentin ins Herz geschlossen hatte.

Berechtigte Frage. Das ist in der Tat erklärungsbedürftig:

An sich wird diese „black box“ für immer verschlossen bleiben. Die Erinnerung an einen Valentin rührt von einer späteren Erinnerung in Gorduno, Tessin, her. Als er dorthin verpflanzt wurde, soll er auf die Frage „Luca, che cosa vorresti tu?“ immer wieder weinerlich gewünscht haben: „Valentin z’go“ (Valentin zu gehen).

Man hat aber im Tessin diesen alemannischen Dialektausdruck überhaupt nicht verstanden, man hatte nur eine phonetische Ähnlichkeit mit einem italienischen Dialektausdruck herausgehört, nämlich „Valentinzücong“, was so viel wie „Valentin ist ein zuccone“ (Dummkopf) heißt.

Erst später, als Luca italienisch sprechen gelernt hatte, wurde ihm klar, welch Missverständnis bei seinem früheren Ausdruck „Valentin z’go“ entstanden war, insbesondere wenn er etwa gefragt wurde, ob er immer noch an den Valentinzüccong denke. Viel später sollte Luca nochmals Bekanntschaft machen mit diesem Ausdruck.

In der Rekrutenschule in Bellinzona mussten sie lernen, das Maschinengewehr sozusagen im Schlaf handhaben zu können.

So übten die Rekruten immer wieder die gleichen Handgriffe bis zur Bewusstlosigkeit.

Eines Tages, es war noch am Anfang der Übungen, erschien ein Oberst Respini im Generalstab von Locarno und inspizierte die Truppe. Beim Zug Lucas stand er vor jeden Rekruten und fragte ihn nach dem Namen. Ausgerechnet Luca musste das bereits Gelernte am Maschinengewehr vor Respini demonstrieren. Irgendwo im Ablauf verhaspelte sich Luca und hielt nicht die genaue Reihenfolge der Griffe ein.

Der Oberst beugte sich zu ihm hernieder, riss Lucas Helm heftig nach oben, damit er ihm ins Gesicht sehen musste. Der Oberst zischte Luca heftig an: „Zücong!“ und ließ dann den Helm wieder fahren.

Aber Luca wetzte die Scharte etwa drei Monate später wieder aus. Ihre Kompagnie war von Tesserete auf den Colla di Lago hoch verlegt worden, wo sie intensiv Schießübungen absolvierten.

Luca war in einer Dreiergruppe beim Maschinengewehr. Der Befehl lautete, so schnell wie möglich aus der Deckung auf die Hügelkette zu hasten und den supponierten Feind, dargestellt mit stehenden Attrappen in Menschenform, sofort zu beschießen.

Der Offizier gab uns mit Handzeichen den Befehl: „Jetzt.“

Wir stürmten hinauf, schossen mehrere Salven auf die verschiedenen Attrappengruppen, mähten treffsicher sofort alle um und waren wenige Sekunden danach schon wieder in Deckung.

Diesem gelungenen Spektakel schaute ein welscher Korpskommandant zu.

Er war von der Schnelligkeit und der Treffsicherheit so beeindruckt, dass er nach der Übung vor der ganzen Kompagnie sagte: „Diese drei Mann bekommen drei Tage Urlaub!“

Eine der Davoserinnerung ist diejenige der Milch, die er nach seinem Gefühl viel zu heiß trinken musste. Wahrscheinlich fehlte es den Pflegeeltern an Einfühlungsvermögen in das feinere Hitzeempfinden eines Kindes, sonst wären sie nicht der Ansicht gewesen, er widersetze sich ihrer Anordnung die „warme“ Milch zu trinken. Es folgten Strafpredigten und Bußbeten. Er fühlte sich nicht geliebt, nicht angenommen und schrecklich einsam.

An einem Frühlingstag, Luca war wieder ins Spielen im Kinderhort vertieft, erschien dort ein Mann, der ihn bei seinem Tun ansprach. Er sprach davon, ihn zu seiner Mutter nach Gorduno im Tessin zu bringen.

Luca erfuhr eigentlich nie, was Mutterliebe ist. Für ein Kind ist Mutterliebe alles, es ist der Himmel auf Erden. Ein Baby lebt in einer Symbiose mit der Mutter, auch als Kleinkind noch. Ohne Mutter und ihre Liebe fühlt sich das Kind wie amputiert. Oder gar wie im Brutschrank, wo jedes Überleben einem Wunder gleichkommt.

Die Reise

Bei jeder Verpflanzung schaltete das Bewusstsein Lucas offenbar zu seinem seelischen Schutz auf „off“. Ähnlich wie bei Personen, die eine Katastrophe überleben und sich danach nicht erinnern können, wie sie aus dem brennenden Flugzeug oder Gebäude herausgekommen sind. Er muss dies als große Katastrophe erlebt haben. Er kann sich an rein gar nichts erinnern. Weder an seine Reaktion, als ihm klarer mitgeteilt wurde, dass man weit weg reisen würde, noch an den Abschied von Birchers. Er weiß nicht einmal, ob der Onkel mit ihm überhaupt nochmals bei Birchers vorbeiging. Dies dürfte allerdings selbstverständlich sein, weil man dort alle Sachen abholen musste. Auch an die lange Reise bis nach Gorduno, Lucas neuen Heimat, taucht kein einziges Erinnerungsbild auf.

Ebenso fehlte jede Erinnerung an den Empfang und an den Eindruck der ihm fremden Sprache noch der vielen neuen fremden Leute um ihn herum.