Rolf Düfelmeyer


Einer fehlt beim Hochzeitsfest





Langeoog-Krimi

















ProlibrisVerlag






Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.








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ISBN E-Book: 978-3-95475-180-8
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Der Autor

Rolf Düfelmeyer, geboren 1953 in Herford, war lange Jahre als evangelischer Pfarrer und Religionslehrer in Werther und Lübbecke tätig. Seit 2012 schreibt er Krimis. Dabei legt er Wert auf eine spannende Handlung, die eingebettet ist in das gesellschaftliche Leben unserer Zeit. Er lebt mit seiner Frau am Nordrand des Teutoburger Waldes. Die Insel Langeoog kennen er und seine Frau von zahlreichen Besuchen.








Für Irmela
Prolog
Nur sein Tod würde mich erlösen. Je länger ich diesen Gedanken mit mir herumtrug, desto deutlicher wurde mir, was schließlich unausweichlich erschien.
Nie hatte mir ein Mensch mehr Schaden zugefügt, nie wurde ich von jemandem so enttäuscht. Die Erinnerung an ihn quälte mich jeden Tag. Er hatte mich zerstört. Er war verantwortlich für alles, was in der letzten Zeit schiefging. Ich wollte leben, endlich wieder leben. In meinen schlaflosen Nächten malte ich mir aus, wie es sich anfühlte, wenn er seine gerechte Strafe bekäme. Ich musste mich befreien von der Last, die er mir aufgebürdet hatte. Mehr und mehr sah ich nur einen Weg, dies zu erreichen. Er musste sterben!
Ziemlich lange hatte ich mich mit der Entscheidung herumgeplagt, war ihr aus dem Weg gegangen. Anfangs dachte ich noch, die Zeit könnte alle Wunden heilen, auch diese. Ich wartete darauf, dass die Wut verrauchte. Das Gegenteil jedoch war der Fall.
Die Kränkung saß zu tief. Manchmal ging es eine Weile gut, aber dann, oft aus nichtigem Anlass, war sie erneut da, die tiefe Verzweiflung. Wie ein Stachel, der sich nicht entfernen ließ und an dem sich die Wunde immer wieder entzündete.
Dieser Mann hatte mich verletzt, hatte mir die Zukunft geraubt und mich finanziell ruiniert. Ich musste zur Ruhe kommen. Endlich! Tritt finden, dem Getriebensein entkommen. Deshalb stand der Entschluss fest. Ich würde es tun, tun müssen. Mir blieb keine andere Wahl.
Zu meiner Überraschung verschaffte mir bereits die Entschlossenheit einen tiefen, inneren Frieden. Seelenfrieden, das schöne alte Wort fiel mir dazu ein. Ich bin nicht religiös, aber das, was ich empfand, hatte etwas mit weihevoller Würde zu tun.
Von da an sah ich alles glasklar vor mir. Mein Denken und Fühlen bekam eine Ausrichtung. Ich war vorausschauend und zielgerichtet, funktionierte wie ein Uhrwerk. Und deshalb konnte ich mit einer Präzision, die ich vorher nicht für möglich gehalten hatte, das Notwendige planen: seinen Tod.
9
In der Redaktion erarbeitete Enno mit Cordula Sonntag und dem Online-Redakteur Thomas Apkers den Bericht, den sie auf ihrer Homepage veröffentlichen und zu Facebook verlinken wollten. Als geübte Rechercheurin hatte Cordula schnell die wichtigsten Hintergrundinformationen zu Botulinumtoxin herausgefunden.
»Schaut euch das mal an. Hier steht, es ist das stärkste Gift der Welt. Und dazu noch eins, das natürlicherweise überall vorkommt. Ein echtes Bio-Gift sozusagen, nichts als reine Natur und natürlich tödlich.« Sie grinste verschmitzt über ihr eigenes Wortspiel. »Ein Bakterium mit dem Namen Clostridium Botulinum produziert es. Es überlebt beinahe unbegrenzt in Form von Sporen im Erdboden oder Schlamm, um dann bei passender Gelegenheit zum Bakterium zu reifen. Dann bildet es sein überaus tödliches Gift, zum Beispiel in Konserven, die nicht steril genug hergestellt wurden. Immer wieder kommt es vor, dass Menschen sich an verdorbenen Lebensmitteln mit diesem Teufelszeug vergiften.«
»Steht da auch, wie hoch die tödliche Dosis ist?«, wollte Apkers wissen.
»Einen Moment, ich hab’s gleich. Ja, hier.« Cordula zeigte mit dem Finger auf den Bildschirm. »Die letale Dosis ist … Ich glaub’s ja nicht!« Sie wirkte sichtlich überrascht. »Ein einhunderttausendstel Gramm reicht aus, um einen erwachsenen Menschen umzubringen. Eine so kleine Menge kann man sich ja gar nicht vorstellen.«
»Und dann hier, guck mal!« Auch Enno wies jetzt mit dem Finger auf den Monitor. »Mit dem Zeug sind sogar schon terroristische Anschläge verübt worden. 1990 und dann noch einmal fünf Jahre später, jedes Mal in Japan von einer obskuren Sekte mit dem Namen Aum Shinrikyo. Damals mit einem Aerosol, also mit allerfeinsten in der Luft zerstäubten Tröpfchen, was besonders gefährlich ist. Zum Glück war die Konzentration dann doch sehr klein. Und – verdammt, das war ja zu erwarten – es wird auch als Biowaffe eingesetzt und zwar schon seit dem Zweiten Weltkrieg, auch wenn es damals nicht zum Einsatz kam. Bei Saddam Hussein und in Syrien aber womöglich doch. Eins dieser Nervengase. Letzte Beweise fehlen allerdings.«
»Komm, lass es«, fiel Apkers ihm ins Wort. »Das können wir unmöglich alles schreiben. Wir wollen doch keine Panik auslösen. Wie sieht das mit dem Gegenmittel aus?«
»Das Serum«, mischte sich wieder Cordula Sonntag ein, »wird von Pferden gewonnen. Muss aber möglichst frühzeitig gespritzt werden, da es nur auf noch frei im Blut befindliche Moleküle wirkt. Wenn sie erst an den Nerven angedockt haben, wirkt das Mittel nicht mehr. Das Tückische: Man bemerkt die Wirkung lange nicht und dann ist es meist zu spät.«
»Okay, das reicht. Ich fahr jetzt zu Katharina Brodersen. Mal sehen, ob sie mir erzählt, wie das genau bei unserem Chef abgelaufen ist.«

Enno Jaspers machte sich mit einem Wagen des Verlages auf den Weg zu Brodersens Wohnhaus draußen an der Harle. Es stellte sich heraus, dass es in der Nähe des Kanuclubs lag, in dem Enno selbst immer noch Mitglied war, auch wenn er schon längere Zeit nicht mehr am Vereinsleben teilgenommen hatte. Immer wieder gern berichtete er jedoch von dessen Aktivitäten. Genaugenommen lag das Anwesen des Chefredakteurs auf der dem Bootshaus gegenüberliegenden rechten Flussseite. Und die war nur auf einem kleinen Umweg über Funnix zu erreichen.
Als er das Haus sah, war er begeistert. Schöner kann man kaum wohnen, dachte er. Ein altes Bauernhaus, stilvoll restauriert, umgeben von Wiesen und Feldern idyllisch direkt am Flüsschen Harle gelegen. Von hier aus konnte man bis nach Harlesiel paddeln, wo es durch ein Siel hindurch in die Nordsee mündete.
Aber idyllisch war nach Brodersens Tod hier nichts mehr. Er mochte sich kaum vorstellen, wie es in Katharina Brodersen aussah. Beinahe noch am Tag der Hochzeit schon zur Witwe geworden. Nun, zumindest finanziell wird sie keine Sorgen haben, dachte Enno, als er das Anwesen sah. Und dann war da auch noch das Ferienhaus auf Langeoog.
Er fuhr auf den gepflasterten Hof und parkte unter alten Eschen, die äußeren zum angrenzenden Feld hin vom Wind gebeugt. Rechter Hand gab es eine langgestreckte Scheune mit drei großen Toren. Wahrscheinlich standen jetzt Autos, wo früher Traktor und Pflug untergestellt waren. Die Ländereien waren, so vermutete Enno, an andere Landwirte der Umgebung verpachtet oder sogar verkauft worden. Wie groß das Grundstück war, das nun noch zum Haus gehörte, war nicht genau zu erkennen. Heckenartig war es umgeben von einem Ring aus Sträuchern und Bäumen, die es vor dem ständig von der Nordsee her wehenden Wind schützten. Auch heute bei dem deutlichen Ostwind war es innerhalb dieser Einfriedung erstaunlich ruhig. Vor allem bei den oft starken Herbst- und Winterstürmen waren solche Einfriedungen auch ohne Belaubung ein großer Vorteil.
Die Bauweise des Hauses war typisch für diesen vom Meer geprägten Landstrich. Ein tief heruntergezogenes und nach Westen abgeflachtes Walmdach stemmte sich gegen den Wind. Auch zur windabgewandten Seite gab es eine nur vergleichsweise niedrige Giebelfront. Geduckt hinter den schützenden Bäumen war das Haus hervorragend an die vorherrschende Witterung angepasst. Eine effektive und sichere Bauweise, die sich über Jahrhunderte hinweg bewährt hatte.
Enno ging auf den Eingang zu, der seitlich lag. Er klingelte und nach kurzer Zeit wurde ihm geöffnet. Carsten Rehling, Katharina Brodersens Bruder begrüßte ihn, allerdings mit einer gewissen Zurückhaltung.
»Ach, Sie sind es. Herr Jaspers. Das ist doch Ihr Name? Ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, meine Schwester heute zu behelligen. Ich nehme doch an, Sie sind als Journalist gekommen.«
»Carsten, wer ist es denn«, rief eine Frau von innen. Enno erkannte Katharina Brodersens Stimme. Sie klang ein wenig gequält, was ihn nicht überraschte.
»Es ist dieser Journalist von gestern, der von der Feier für die Zeitung berichten sollte«, rief Carsten zurück, aber seine Schwester stand schon hinter ihm. Alle Fröhlichkeit, alle Zuversicht, aller Glanz des gestrigen Tages waren aus ihrem Gesicht gewichen. Die Haare schlecht geordnet, mit dunklen Rändern unter den Augen und in einem lieblosen, grauen Jogginganzug stand sie da. Sie hatte Ennos tiefes Mitgefühl.
»Frau Brodersen, es tut mir so unendlich leid, was passiert ist. Ich kann Ihnen kaum sagen, wie sehr mich und uns alle in der Redaktion die Nachricht vom Tod Ihres Mannes erschüttert hat.«
»Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen«, antwortete sie matt. »Aber kommen Sie doch herein. Wir müssen schließlich nicht in der Tür stehen.«
Mit einer Handbewegung ließ Rehling den Reporter ins Haus treten und Katharina Brodersen wies Enno den Weg ins Wohnzimmer. Dort trafen sie auch auf Carstens Frau Conny, die ihn allerdings ebenfalls eher kühl begrüßte, während er sich im Raum umsah. Ein großes Fenster, das sicher nicht zum ursprünglichen Bestand des Hauses gehört hatte, gab den Blick frei auf einen parkähnlichen Garten und den schützenden Ring aus Bäumen und Sträuchern. Im Hintergrund schimmerte die Harle, und Enno glaubte sogar, weiter weg das Bootshaus des Kanuclubs zu erahnen.
»Bitte setzen Sie sich doch«, forderte die Hausherrin ihn mit einer einladenden Geste auf. »Möchten Sie etwas trinken?«, fragte sie dann noch. »Einen Tee vielleicht oder ein Wasser?«
»Gern ein Wasser«, antwortete Enno.
Mit einem Blick bat sie ihre Schwägerin, das Gewünschte aus der Küche zu holen.
»Frau Brodersen, Sie sollten wissen, dass wir morgen in großer Aufmachung vom tragischen Tod Ihres Mannes berichten werden. Das sind wir unserem Chefredakteur schuldig. Im Übrigen hat die Polizei eine Pressekonferenz angesetzt, auf der über den Todesfall berichtet worden ist und auch über die, sagen wir, ungewöhnlichen Umstände. Die verantwortliche Hauptkommissarin ist nach dem Obduktionsergebnis zu dem Schluss gekommen, dass Raimund ermordet wurde.«
Ein spitzer Schrei unterbrach Enno. Dieser kam aber von Conny Rehling, die soeben mit dem Wasser zurückkam. Katharina Brodersen selbst nahm das fast unbeweglich entgegen. Allerdings hielt sie sich eine Hand vor den Mund. Einen Augenblick später nickte sie, als ob das, was Enno ihr berichtete, nur ihre Ahnung bestätigte.
»Also hat er Recht gehabt, dass er nicht von allein gestürzt ist.«
»Stimmt, er wurde niedergeschlagen. Und dann hat ihm jemand eine sehr große Menge des Botulinum-Giftes gespritzt. Ich weiß das von der ermittelnden Polizistin, und dasselbe wird sicher auch bei der Pressekonferenz mitgeteilt werden.«
»Wie, ich verstehe nicht.« Katharina Brodersen schien angestrengt zu überlegen. »Auf der Toilette wurde er erst niedergeschlagen und dann, als er benommen war, hat ihm jemand das Zeug gespritzt?« Sie unterbrach sich, offensichtlich um nachzudenken. Keiner wagte, sie zu unterbrechen.
»Aber ... aber«, fuhr sie stammelnd fort, »heißt das etwa, dass er das Gift schon in sich hatte, als wir die Feier verließen? Hätte man ihn retten können, wenn wir ...?« Wieder hielt sie sich die Hand vor den Mund. »Er hat davon nichts gesagt. War er ... dann war er ohne Bewusstsein, als ... als es geschah.« Ihrer Mimik konnte Enno entnehmen, dass sie diese Erkenntnis hart traf. Erneut breitete sich Stille im Raum aus, die einen quälend langen Augenblick anhielt. Dann war es Carsten Rehling, der fragte: »Hätte ihn das Gegenmittel gerettet, wenn es ihm rechtzeitig gegeben worden wäre?«
Allen im Zimmer war die Antwort klar, was Enno den Mienen entnehmen konnte.
»Ich habe ihn umgebracht«, platzte es aus Katharina heraus. »Dieser Inseldoktor, wir alle haben ihn auf dem Gewissen. Weil wir nichts getan haben. Wir hätten das wissen müssen. Warum hat das keiner bemerkt?«
»Frau Brodersen, das dürfen Sie nicht sagen. Ein hinterhältig vorgehender Mörder hat Raimund umgebracht. Der Plan war so bestialisch ausgeheckt, dass Sie keine Chance hatten. Nicht die geringste.«
»Warum auf diese Weise? So qualvoll? Mit einem teuflischen Gift. Er hätte ihn doch auch ...« Sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.
»Vielleicht, weil er dadurch unerkannt bleiben und rechtzeitig die Insel verlassen konnte.« Oder weil er eine solche Stinkwut auf Brodersen hatte, dass ihm kaum eine Todesart grausam genug war, dachte Enno, sagte aber nichts.
»So ein elendes Schwein«, schluchzte Katharina. »Was ist das nur für ein Mensch?«
Enno nahm einen Schluck Wasser. Er überlegte, wie es ihm gelänge, das Gespräch so weiterzuführen, dass er noch wichtige Informationen über den Ablauf der Ereignisse im Krankenhaus erhalten konnte. Leise und vorsichtig fragte er: »Sie sprachen von einem Gegenmittel, das Ihren Mann eventuell gerettet hätte. Hat er das noch bekommen? Wir haben in der Redaktion recherchiert. Es gibt ein Antiserum, das von Pferden gewonnen wird. Aber es hilft tatsächlich nur, wenn es rasch gegeben wird.«
Katharina Brodersen schien gar nicht zuzuhören. Stattdessen antwortete ihr Bruder. »Ja, sie hat erzählt, dass das Mittel extra mit dem Hubschrauber eingeflogen wurde. Aber es war einfach zu spät und die Menge des Giftes entschieden zu groß. Wenn Sie mich fragen: Da wollte jemand auf Nummer sicher gehen und«, Carsten musste schlucken, »und er wollte, dass Raimund leiden sollte.«
»Aber das ist doch krank«, brach es aus seiner Frau heraus und Katharina Brodersen begann hemmungslos zu weinen.
Enno ließ einen Moment verstreichen. »Sagen Sie«, fragte er schließlich, »haben Sie gewusst, dass Ihr Mann vor etwa einer Woche tatsächlich eine Botoxbehandlung gegen Gesichtsfältchen bekommen hat?«
»Ja, das stimmt, das war aber schon am …«, sie überlegte, schien aber zu keinem Ergebnis zu kommen. »Also jedenfalls schon vor mehr als einer Woche«, ergänzte sie am Ende.
Jetzt war Enno neugierig geworden. »Und wissen Sie auch, wo das gemacht wurde? In welcher Arztpraxis. Ich frage aus echter Neugier. Wenn’s nicht von Bedeutung ist, schreibe ich kein Wort darüber.«
»Nein, bitte schreiben Sie nichts. Das geht doch keinen was an. Aber gemacht wurde das auf Langeoog, in dieser Schönheitsklinik am östlichen Rand der Inselgemeinde. Haus Dünenwellness. Sie kennen das bestimmt.«
»Ja, das sagt mir was. Am Pirolaweg, aber auf der Seite, die vorher nicht bebaut war, habe ich Recht? Meine Eltern haben sich gründlich aufgeregt damals.«
»Ja, genau. Pirolaweg Ecke Willrath-Dreesen-Straße. Jeder Urlauber kennt das inzwischen. Es ist schließlich der wichtigste Weg Richtung Meierei. Hat allerhand Aufruhr gegeben deswegen. Zehn Jahre ist das jetzt her.«
»Sie sagten Schönheitsklinik. Aber Wellnessangebote gibt es doch auch?«
»Ja, beides«, mischte sich Carsten Rehling ein, der seine Schwester damit zu entlasten suchte. »In dem Haus werden Schönheitsoperationen durchgeführt, natürlich alles privat und für eine sehr exklusive Kundschaft. Aber es gibt auch eine Wellnessabteilung, in der man es sich einfach für ein paar Tage gutgehen lassen kann. Auch auf hohem Niveau versteht sich.« In seiner Stimme meinte Enno, einen leicht abschätzigen Unterton herauszuhören.
»Und warum hat er sich gerade da die Spritzen geben lassen?«, hakte er nach. »War es das Einfachste, im Ferienhaus Am Wall zu wohnen und von dort aus die Behandlung im Haus Dünenwellness ambulant machen zu lassen? Ich vermute, diese Injektionen werden immer ambulant gegeben.«
»Ja überwiegend. Viele Urlauber, nutzen ihre Zeit auf der Insel, um sich spritzen zu lassen. Aber manche buchen auch extra einen Aufenthalt im Hotelteil. Vor allem Promis machen das gern. In dem Haus ist Diskretion Ehrensache. Und bei den Preisen sind sie unter sich, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Aber für meinen Chef war Diskretion nicht so entscheidend?«
»Nee, natürlich nicht. Warum sollte er diskret sein? Er ging da ja ohnehin ständig ein und aus. Das Haus gehörte ihm doch, jedenfalls zur Hälfte.«
Enno spitzte die Ohren. Was er hier und jetzt beinahe beiläufig erfuhr, ließ ihn aufhorchen. Sein Chef Brodersen, Miteigentümer einer Schönheitsklinik auf Langeoog? Und keiner in der Redaktion hat das gewusst? Jedenfalls hatte der Flurfunk darüber nie etwas verlauten lassen.
Bevor er jedoch weiter darüber nachdenken konnte, platzte Conny Rehling dazwischen: »Ja, und die andere Hälfte gehört seiner Ex-Frau.«
Enno blieb fast die Sprache weg.
»Und was glauben Sie, wie viel Ärger die gemacht hat«, fuhr sie in Rage fort. »Diese Ex ist …«, sie unterbrach sich, vielleicht, um ein Schimpfwort zu vermeiden. »Sie ist eine ganz unmögliche Person«, sagte sie schließlich, aber ihr Gesichtsausdruck sprach Bände darüber, was sie von Brodersens erster Frau hielt.
Ein Blick auf Katharina Brodersen verriet Enno, dass ihr das alles mehr als unangenehm war. »Bitte schreiben Sie nichts davon. Es ist so schon alles schlimm genug«, sagte sie schließlich mit leiser Stimme.
»Herr Jaspers, haben Sie das verstanden?«, unterstützte Carsten mit Nachdruck seine Schwester. »Das bleibt unter uns. Eigentlich haben wir uns jetzt schon zu weit aus dem Fenster gelehnt.« Dabei blickte er seiner Frau ins Gesicht. »Wir wollen davon nichts in der Zeitung lesen. Obwohl, irgendwelche wildfremden Journalisten werden es vielleicht auf anderen Wegen doch herauskriegen.«
»Das könnte sein, muss es aber nicht. Sie dürfen nur selbst nichts davon verlauten lassen. Ich fürchte nämlich, dass Sie von dem ein oder anderen sogenannten Kollegen, auch aus dem Fernsehen, bald Besuch bekommen werden. Die stehen mitunter einfach vor der Tür und halten Ihnen sofort ein Mikro unter die Nase. Darauf sollten Sie sich einstellen.« Enno hielt einen Moment inne. Nun sah er Katharina Brodersen an »Darf ich Ihnen noch eine letzte Frage stellen? Wo haben Sie sich eigentlich kennengelernt? Wenn Sie dazu etwas sagen könnten, würde das unsere Leser sicher interessieren.«
»Na ja, genau da, im Haus Dünenwellness. Ich war dort in der Buchhaltung tätig und hatte deswegen mit Raimund zu tun. Natürlich auch mit seiner Ex-Frau, Ute. Aber wenn Sie das schreiben, kommen doch alle sofort auf die Klinik und zählen eins und eins zusammen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, dass ihm vielleicht da das Zeug gespritzt worden ist, ich meine, in zu hoher Dosis.«
»Nein, nein. Das kommt zeitlich überhaupt nicht hin. Dann wäre er schon vorher gestorben. Das Botox wurde ihm eindeutig auf der Toilette des Strandkruges verabreicht. Aber dass er Miteigentümer am Haus Dünenwellness ist, ist natürlich für die Polizei wichtig. In der Zeitung sollten wir dies Detail jedoch im Augenblick noch zurückhalten. Jedenfalls solange wir nicht wissen, ob die Beteiligung an der Klinik irgendeine Bedeutung für den Tod Ihres Mannes hat.«
Katharina Brodersen sah Enno unsicher, aber auch zufrieden an. Sie konnte jedoch nicht mehr antworten. Das Telefon läutete genau in dem Moment. Der Festnetzanschluss. Sie sah zu ihrem Bruder hinüber, der auf den Wink reagierte und das Gespräch entgegennahm. Auf der anderen Seite der Leitung wurde sehr laut gesprochen. Das konnte Enno hören, eine Frau, aufgebracht, fast keifend. Er verstand allerdings nicht, was sie sagte.
»Wie bitte?«, reagierte Carsten, »was reden Sie da? Wer sind Sie eigentlich?«
Die Frau ließ sich nicht unterbrechen.
»Wissen Sie was«, ging Rehling energisch dazwischen, »ich schalte jetzt auf laut, damit alle, die hier im Raum sind, mitbekommen, was Sie für einen Unsinn verbreiten. Drei Zeugen sind außer mir hier.«
Enno, Katharina und Conny gerieten mitten in einen Satz, als Carsten die Lautsprechertaste betätigte.
»... wird Ihnen noch leidtun!«
»Können sie das bitte noch einmal wiederholen? Wir haben nicht verstanden, was uns noch leidtun wird.«
»Alles, was er ist und besitzt, hat er durch mich! Die Beteiligung an der Klinik, mit fünfzig Prozent ist er da eingetragen. Dabei stammt fast das ganze Geld von mir. Er selbst hat nur einen kleinen Teil mitgebracht. Ich könnte mich heute noch ohrfeigen. Wie bescheuert bin ich gewesen, die Hälfte des Stammkapitals auf ihn übertragen zu lassen. Und das Haus auf Langeoog. Das steht eigentlich auch mir zu. Wir haben es zusammen gekauft. Aber nach der Scheidung wollte er davon nichts mehr wissen. Der Mistkerl.«
Starr vor Entsetzen hörte vor allem Katharina, was die Frau ins Telefon schrie. »Ute«, sagte sie mit schwacher Stimme zur Erklärung für die anderen. »Das ist sie. Ute Wolters, Raimunds erste Frau.«
»Frau Wolters, beruhigen Sie sich doch.« Carsten versuchte sich in Stimmlage und Lautstärke so zurückhaltend wie möglich auszudrücken. »Raimund ist doch erst ein paar Stunden tot. Und da haben Sie nichts Besseres zu tun, als hier wegen des Erbes anzurufen? Woher wissen Sie überhaupt von seinem Tod?«
»Das geht Sie nichts an. Ich weiß, was ich weiß!« Dann legte sie auf.

Für Enno war klar: Auch sein Gespräch mit der Witwe war beendet. Aber er hatte bereits sehr viel erfahren, obwohl er noch nicht wusste, was er davon veröffentlichen würde und vor allem nicht, wann. Er spürte mehr als deutlich, dass das keineswegs sämtliche Informationen waren, die Katharina Brodersen ihm geben konnte. Um die zu bekommen, durfte er jedoch mit voreiligen Veröffentlichungen das eben aufgebaute Vertrauen nicht aufs Spiel setzen. Schließlich erhob er sich und wollte sich von den dreien verabschieden, aber an der Tür klingelte es.
Carsten Rehling und Enno sahen sich erschrocken an. Noch jemand? In Katharina Brodersens Blick lag sogar Angst.
»Ich gehe schon.« Diesmal ging Conny Rehling zur Tür. Augenblicke später kam sie mit Sven Große-Lindemann zurück. Er stutzte, als er Jaspers sah. Dennoch begrüßte er zunächst Katharina Brodersen und sprach ihr sein Beileid aus. Ebenso ihrem Bruder und dessen Frau, allerdings deutlich kürzer und knapper. Wieder an die junge Witwe gerichtet fragte er dann: »Hat Sie der Journalist da bereits mit Fragen belästigt? Alles, was Sie wissen, sollte zuerst die Polizei erfahren.«
»Nein, Herr Jaspers hat uns nicht belästigt.« Sie bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen. »Im Gegenteil, er war gestern schließlich dabei und eine große Hilfe für mich. Ich glaube, ich kann ihm vertrauen.«
»Trotzdem würde ich es vorziehen, wenn Sie jetzt gingen, Herr Jaspers. Dies ist schließlich ein dienstlicher Besuch, der dem Ermitteln des Täters gilt.« Dann wandte er sich wieder an die junge Frau Brodersen. »Es ist wichtig, dass Sie sich an alles zu erinnern versuchen, was gestern geschehen ist.«
»Aber Herr Jaspers hat Raimund doch gefunden, nicht ich.«
»Das wissen wir. Er hat uns schon davon berichtet. Aber jetzt geht es um Ihre Wahrnehmungen.«
Das Letzte hörte Enno nur noch aus dem Hintergrund. Mit einem kurzen Nicken war er zur Tür gegangen. Umgehend machte er sich auf den Weg zurück in die Redaktion. Die Artikel für den nächsten Tag mussten geschrieben werden. Erst danach hätte er wieder Zeit, sich weiter seinen Recherchen in diesem Mordfall zu widmen. Er konnte es nicht leugnen, sein Mitgefühl galt zunehmend Katharina Brodersen. Sie war wirklich heftig vom Schicksal gebeutelt. So etwas wünscht man nicht einmal seinen ärgsten Feinden. Oder doch, dachte er. Einer hat es ihr und ihrem Mann gewünscht. Der Mörder nämlich. Enno fühlte sich mehr und mehr verpflichtet, ihn zu finden. Wegen Katharina Brodersen, aber auch aus eigenem journalistischem Interesse.
10
Am nächsten Morgen fuhr Jaspers wieder nach Langeoog. Sein Ziel war das Haus Dünenwellness. Das Handy klingelte, kaum dass er auf dem Schiff war. Gesas Nummer.
»Moin, was gibt’s?«
»Was mischt du dich eigentlich in meine Ermittlungen ein? Was hast du bei Katharina Brodersen gestern gewollt?«
»Ich mache meinen Job. Schon vergessen? Ich bin bei der Zeitung, und die berichtet in der Regel über Dinge, die die Menschen interessieren.«
»Ich will wissen, was Katharina gesagt hat. Du kannst nicht einfach rumschnüffeln, ohne mich auf dem Laufenden zu halten. Und zwar ständig!«
»Wie bitte? Bin ich etwa bei dir angestellt? Ich bin kein Polizist mehr. Schon vergessen?«
»Wenn du etwas für die Ermittlungen Wichtiges erfährst, dann musst du mir das sagen. Das ist deine Pflicht!«
»Nun mach mal halblang! Ich recherchier für die Zeitung. Und wenn’s dich interessiert, dann lies doch die Zeitung. Im Übrigen ist doch gleich nach mir dein Hilfssheriff gekommen und hat Frau Brodersen befragt. Sie wird ihm sicher dasselbe erzählt haben wie mir.«
»Und was ist mit dem Anruf von Brodersens Ex bei der Witwe? Da wüsste ich schon gern, worum es ging.«
»Da bin ich dran. Und ich verspreche dir: Du erfährst es von mir, bevor wir es drucken.«
»Wehe, du hältst das nicht ein!«
»Mach’s gut, Gesa. Hast bestimmt viel zu tun.« Damit legte Enno auf.

Was war als Nächstes zu tun? Er musste sich umgehend in diesem Schönheitstempel umhören. Was erzählte man sich über Raimund und seine Ex-Frau? Wie war die Stimmung gegenüber der neuen Frau? Wie würde es wirtschaftlich weitergehen? Erbte die junge Frau Brodersen jetzt den Anteil ihres Mannes? Wahrscheinlich. Oder gelang es der Ex, einen juristischen Keil dazwischenzutreiben? Das konnte er sich eigentlich nicht vorstellen. Aber man wusste ja nie.
Nach einem kurzen Gespräch gestern Abend waren sie in der Redaktion übereingekommen, dass Enno an der Mordsache dranbleiben sollte. Mäder hatte natürlich heftig widersprochen.
»Auf eine solche Sache kann man doch nicht den Klatschreporter loslassen«, schimpfte er. »Bisher hat er es immer abgelehnt, Polizeireporter zu sein. Das ist und bleibt meine Aufgabe. Ich hab doch die guten Kontakte zur Polizei.«
»Vergiss nicht, Ennos Ex ist die Ermittlungsleiterin«, erinnerte ihn der Chef vom Dienst, Jonas Fehring. »Im Übrigen hat er sich die Story nicht ausgesucht. Es war eher umgekehrt. Sie hat ihn gefunden. Deshalb bleibt er da auch dran. Ende der Diskussion!«
»Scheiße. Und für mich wieder nur so was wie Fahrraddiebstähle.«
»Das hat dich bislang auch ausreichend beschäftigt. Überbeschäftigt sogar, wenn ich daran denke, wie oft du die zu große Arbeitsbelastung beklagt hast.«
Das stellte Mäder ruhig. Er biss die Lippen zusammen, drehte sich um und verließ den Raum mit heftigem Türknallen.

Erst am späten Vormittag kam Enno auf Langeoog an. Am Bahnhof musste er sich entscheiden. Entweder erst das Fahrrad von seinem Elternhaus holen oder direkt zu Fuß zum Haus Dünenwellness gehen. Mit dem Rad wäre er beweglicher, liefe aber Gefahr, von seiner Mutter in Beschlag genommen zu werden. Dennoch entschied er sich dafür, zunächst zu Hause vorbeizugehen, nahm sich aber fest vor, nur ganz kurz mit Foline und Ubbo zu reden. Er hatte Glück. Mutter war zum Einkaufen, und Vater reichte es zu hören, dass er nur rasch das Rad holen wollte und später noch mal vorbeikäme.
Die Lage der Schönheitsklinik Haus Dünenwellness war tatsächlich exklusiv. Offenbar sollte eine spezielle, gut betuchte Zielgruppe angesprochen werden. Spannend auch die Architektur, die typisch ostfriesische Elemente aufnahm, ohne klischeehaft zu werden. Das tief heruntergezogene Reetdach war schon von Weitem ein Hingucker. Im Inneren überraschte der Empfangsbereich mit gediegenem Ambiente in zurückhaltendem Design. Aber in sehr edlen Materialien. Das alles war nicht billig, dachte Enno, als er durch die Eingangstür trat. Die Preise für eine Behandlung oder gar einen Aufenthalt würden entsprechend exklusiv sein. Nicht zu vergessen die Schönheitsoperationen. Dafür gab es immer ein zahlungskräftiges Publikum.
»Guten Morgen, Frau Jensen.« Ihren Namen las er von einem kleinen Schild ab, das sie angesteckt hatte. »Frau Editha Jensen«, ergänzte er. »Schöner Vorname. Ungewöhnlich für eine junge Frau wie Sie, aber sehr schön.«
»Na ja, wenn Sie es sagen. Ich bin heilfroh, dass meine Eltern wenigstens die lateinisierte Fassung gewählt haben. Edith – das hätte nun wirklich sehr bieder geklungen. Und alt, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Aber mit großen Vorbildern. Die Schauspielerin Edith Hancke, Edith Stein, jüdisch stämmige Frauenrechtlerin, von den Nazis ermordet und natürlich Edith Piaf, der Spatz von Paris.«
»Ja, berühmt. Das hat mein Klassenlehrer auch immer gesagt. Aber alle tot. Und vollkommen out. Niemand kennt sie und kein Mensch heißt mehr so. Interessieren Sie sich für Namen oder warum sind Sie hier?«
»Wenn’s so besondere Namen sind ... Aber im Ernst. Ich würd mich hier gern einmal umsehen. Vielleicht ist das ja etwas für mich und meine Frau.«
Routiniert reichte die Rezeptionistin ihm eine bunte Hochglanzbroschüre. »Warum haben Sie die Dame nicht gleich mitgebracht?«
»Ach, wissen Sie, sie hat heute Morgen eine Massage gebucht im Spa-Bereich unseres Hotels. Ich mache in der Zeit einen Spaziergang. Bin eher zufällig hier vorbeigekommen.« Dann fiel sein Blick auf die Tageszeitungen, die für die Gäste bereitlagen. Auch die Wittmunder Nachrichten waren darunter. »Ist das nicht furchtbar, was da auf dieser sonst so ruhigen Insel passiert ist?« Enno zeigte auf die riesige Schlagzeile. »Ein Giftmord.« Er schüttelte den Kopf. »Auf der eigenen Hochzeit wird der arme Mann umgebracht.«
»Ja, wir sind ganz erschüttert. Heute Morgen kann hier kaum jemand richtig arbeiten. Wir kannten ihn doch alle hier.«
»Ach tatsächlich. Sie haben den Herrn ...«, Enno sah bewusst deutlich auf seinen eigenen Artikel, »Brodersen gekannt?«
»Ja, sicher. Raimund Brodersen gehörte das alles. Wenigstens zur Hälfte. Der war hier sehr oft. Ein charmanter Mann.« Editha Jensen schaute sich um. »Ich verrat Ihnen noch was. Seine Frau, also die, die er vorgestern geheiratet hat, die war auch in diesem Haus beschäftigt. Und hier hat er sie kennengelernt. War ein Riesenaufreger. Ich hab mit ein paar Kolleginnen die Hochzeit am Seemannshus verfolgt.« Sie stutzte. »Sagen Sie, habe ich Sie da nicht auch gesehen?«
»Äh, ja, Ich kam da zufällig vorbei. War doch ’ne tolle Hochzeit oder?«
Die Rezeptionistin sah ihn kritisch an, so als ob sie nicht ganz mit dieser Antwort zufrieden sei. Zum Glück redete sie dann aber weiter, als sei nichts gewesen. »Ja stimmt, ganz wunderbar. Also wie der Chef mit dem Klinkerstein – egal. Jetzt ist er tot. Und Katharina? Sitzt kaum verheiratet schon wieder allein da.«
»Sagen Sie, haben Sie die ehemalige Frau Brodersen auch ...«
»Guten Morgen. Frau Jensen, Sie sollten hier nicht über Interna reden.« Enno wurde jäh von Ute Wolters unterbrochen, die er von Bildern kannte. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ach, dann sind Sie die Ex-Frau des Ermordeten. Herzliches Beileid.«
»Wer will das wissen? Geht Sie das überhaupt irgendetwas an?«
»Entschuldigung, dass ich mich nicht vorgestellte habe. Enno Jaspers ist mein Name. Ich bin Journalist und arbeite bei dieser Zeitung.« Er wies auf die Wittmunder Nachrichten.
»Wie bitte? Haben Sie das gewusst, Frau Jensen?«
»Nein, habe ich nicht«, antwortete sie spitz. Enno sah sie an, und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Editha Jensen ignorierte ihn. War sie entrüstet über Enno oder hatte sie Angst vor der Wolters?
»Ihr Ex-Mann wird von vielen als sehr charmant beschrieben, besonders von der Damenwelt. Ich kenne ihn ja nur aus der Redaktion unserer Zeitung. Da konnte er oft sehr hart sein, wenn es um redaktionelle Angelegenheiten ging. Wie haben Sie ihn erlebt? Sie waren beruflich und privat mit ihm verbunden.«
Wolters verzog den Mund. Sie wird darüber nachdenken, ob sie mir etwas erzählen soll oder nicht, ging es Enno durch den Kopf.
»Kommen Sie mit in mein Büro«, sagte sie schließlich.

Das Büro erwies sich überraschenderweise als schlicht. Fast als wäre es Gesas Dienstzimmer, dachte er. Es war in einem hinteren Anbau untergebracht. Ein einfacher Verwaltungstrakt, den man von vorne gar nicht einsehen konnte. Äußerlich auf den vorherrschenden Stil abgestimmt, aber innen war gespart worden. Warum auch nicht, dachte Enno. Solche Räume mussten funktional sein. Aufwändiges Interieur zum Anlocken wohlhabender Kundschaft war nur im Empfangsbereich sinnvoll.
»Bitte setzen Sie sich«, forderte Ute Wolters ihn auf, als sie den Raum betraten. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
»Nein danke. Ich will Ihnen nicht unnötig die Zeit rauben. Durch den Tod Ihres geschiedenen Mannes kommt sicher auch auf Sie einiges zu.«
»Mit der Beerdigung habe ich nichts zu tun. Mal sehen, ob seine Neue das hinbekommt.« Der bittere Unterton war nicht zu überhören. »Aber Raimund war hier zu gleichen Teilen mit mir als Gesellschafter eingetragen. Nur war es mein Geld, von dem das alles bezahlt worden ist. Schließlich war er die große Liebe für mich. Da hab ich es ihm geschenkt. Obwohl mich meine Familie gewarnt hatte. Das gleiche galt auch für das Ferienhaus und unser Wohnhaus in Wittmund. Aber bei der Scheidung habe ich mich dazu hinreißen lassen, meinen Anteil an dem Haus auf Langeoog gegen seinen am Wohnhaus aufrechnen zu lassen.«
Enno sah sie verwundert an. Dass diese Frau sich zu irgendetwas hinreißen ließ, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Offenbar sah Ute Wolters ihm seine Irritation an. Deshalb ergänzte sie: »Ich weiß auch nicht mehr, was mich geritten hat. Eine Immobilie auf Langeoog ist doch viel mehr wert als ein eher bescheidenes Einfamilienhaus in Wittmund.«
Warum erzählt sie mir das, überlegte Enno. Ist sie wirklich der Meinung, sie könnte Brodersens Anteile an der Klinik zurückbekommen und zudem noch Ansprüche auf das Ferienhaus geltend machen? Das kann sie nicht im Ernst hoffen. Oder geht es nur darum, die junge Witwe zu zermürben, sie fertig zu machen, egal welche realistische Aussicht auf Erfolg ihr Vorgehen hat? Merkwürdige Frau, dachte Enno. Voller Hass. Die möchte man nicht zum Gegner haben.
»Ihr Verhältnis zu Ihrem Ex-Mann war also nicht das beste.«
»Das können Sie laut sagen. Allerdings erst seit sie aufgetaucht ist. Dies Flittchen hat sich ihm doch regelrecht an den Hals geworfen. Alles hat sie kaputtgemacht. Ich könnte mich heute noch schwarzärgern, weil ich Katharina« – zum ersten Mal nannte sie ihren Namen – »selbst hier eingestellt habe. Als Verstärkung für die Buchhaltung. Und das ist dann der Dank«, schloss Wolters sichtlich aufgebracht.
Enno wurde immer verlegener. Sie erzählte ihm Details, die normalerweise niemand in der Zeitung lesen möchte. Dafür waren sie viel zu intim. Dahinter konnte er nur Absicht erkennen. Oder hatte sie schlicht vergessen, wer er war? Wohl kaum.
»Sie lieben ihn immer noch?«
Als Antwort sah sie starr aus dem Fenster. »Das hat er nicht verdient, so zu enden«, erläuterte sie nach einer Weile. »Aber wie konnte er mir das antun und irgendwie auch sich. Raimund war am Ende nicht mehr er selbst.«
»Und wirtschaftlich? Sie sagten, es war Ihr Geld, mit dem dieses exklusive Haus bezahlt worden ist.«
»Ja, ich habe geerbt. Meine Familie ist recht wohlhabend. Aber ganz gereicht hat es natürlich nicht. Da musste schon eine Bank mithelfen. Das war aber kein Problem. Da Raimund zur Hälfte als Miteigentümer eingetragen worden ist, haben wir uns natürlich auch die Schulden geteilt. Dieser Tempel der Schönheit, so haben wir ihn immer genannt, war unser gemeinsames Ding. Bis …« Sie unterbrach sich und schien zu überlegen, ob sie weiterreden sollte. »Und jetzt muss ich mich mit diesem Flittchen auseinandersetzen, um Raimund und mein Werk fortzusetzen«, fügte sie hinzu. »Ganz schön steile Karriere, was? Aber die Klinik läuft gut. Das dürfen Sie ruhig schreiben.«
»Selbstverständlich. Und das Private, worüber Sie geredet haben?«
Sie stockte einen Moment. »Das auch. Aber bitte nicht aufbauschen. Obwohl – Katharina ist keine Heilige. Die wusste genau, was sie wollte.«
»Frau Wolters, ich will Sie jetzt nicht länger aufhalten. Danke für das Gespräch.«

Als Enno wieder an der Rezeption vorbeikam, ging er bewusst noch einmal auf Editha Jensen zu.
»Tut mir leid, wenn Sie Unannehmlichkeiten wegen mir haben. Ich hatte inzwischen ein intensives Gespräch mit Ihrer Chefin und glaube nicht, dass Sie Ihnen böse sein wird. Im Gegenteil, sie schien die Gelegenheit genossen zu haben, mir etwas zu erzählen.«
»Da wär ich mir nicht so sicher. Lassen Sie sich man nicht täuschen.« Editha Jensen sah nicht gerade glücklich aus.
»Ich möchte mich wirklich gern bei Ihnen entschuldigen. Sagen wir mit einem schönen Essen heute Abend. Oder haben Sie Dienst?«
»Nein, das nicht, aber ...«
»Schön. Im Steuerbord in der Barkhausenstraße zum Beispiel. Oder lieber bei Kröger oder eventuell im Logierhus. Sie entscheiden das.«
»So viel ist es Ihnen wert, sich mit mir zu treffen und mich auszuhorchen? Ich glaube allerdings kaum, dass Sie für heute Abend einfach so einen Tisch bekommen. Wir sind doch mitten in der Saison.«
»Stimmt. Daran habe ich gar nicht gedacht. Aushorchen ist allerdings kein Wort, das ich benutzen würde. Aber ich würde schon gern mit Ihnen sprechen.« Enno überlegte einen Moment. »Ich glaube, ich habe die Lösung. Aber nicht falsch verstehen. Sie müssen wissen, dass ich hier von der Insel stamme. Meine Eltern leben in der Mittelstraße ganz in der Nähe vom Seemannshus. In dem Haus habe ich ein eigenes Apartment. Ich könnte mir vorstellen, dass wir uns heute Abend dort auf der Terrasse treffen. Ein paar Snacks und ein gutes Glas Wein? Und dann reden wir über das Haus Dünenwellness und über Brodersen und seine Frauen. Na, wie wär das?«
»Was wird das hier gerade?«, fragte sie etwas verwirrt. »Ein privates Date, und das bei Ihrer Mutter?«
»Nein, um Himmels willen, nein!« Enno wurde rot im Gesicht, sehr zu seinem Ärger. »Ich würde auch meine Lebensgefährtin einladen. Anke Eilers, Fotografin aus Wittmund. Wenn ich ihr gut zurede, macht sie sicher ein paar schöne Fotos von Ihnen. Wie wär’s? Einverstanden? Sagen wir heute Abend um halb acht?«
»Okay. Aber die Bilder sind Bedingung. Rufen Sie am besten sofort an, damit Ihre Lebensgefährtin Bescheid weiß.«
»Selbstverständlich.«
»Sie haben es gehört«, wandte Enno sich wieder an Editha Jensen. »Dann geh ich jetzt mal. Bis heute Abend.«
Um nicht, wie in der Hauptsaison vorgeschrieben, im Ortszentrum das Rad schieben zu müssen, wählte er einen kleinen Umweg, der ihn aber dennoch schneller ans Ziel brachte, als es zu Fuß durch das Gewühl der Barkhausenstraße möglich gewesen wäre. Unterwegs überlegte Enno, wie er es am besten anstellte, Mutter seine Pläne möglichst schonend und überzeugend nahezubringen. Er würde sie bestechen. Eine gute Flasche Wein für das Treffen mit der Jensen müsste er ohnehin einkaufen. Am besten bei Kramps in der Hauptstraße. Die waren gut sortiert, und er fand, was er suchte. Für Foline kaufte er ein Flasche Sekt, halbtrocken, süßen fand er nicht. Er hatte aber auch keine Lust, lange zu suchen. Ubbo trank nach dem Schlaganfall so gut wie keinen Alkohol mehr. Auch den steifen Grog, den er früher geliebt hatte, genoss er nur noch selten, und wenn dann mit seinem alten Freund Frerk, der ihn hin und wieder besuchte.





»Das ist doch eine wildfremde Person. Was soll ich denn mit der anfangen?«, beschwerte sie sich.




»Frau Jensen, herzlich willkommen«, begrüßte sie die junge Frau »Vielleicht zurerst einen kleinen Begrüßungsschluck. Und dann sollten wir zügig die versprochenen Bilder machen, jetzt sind die Lichtverhältnisse noch gut. Und danach können wir ja miteinander ins Gespräch kommen.«



»Auf jeden Fall ’ne ganze Menge. Und dann können Sie sich zwei davon aussuchen. Ist das okay?«

Enno wollte sich das nicht mit ansehen. Nach kurzer Zeit ging er ins Wohnzimmer zu Foline und Ubbo, die es sich tatsächlich mit dem Sekt vor ihrem Fernseher gemütlich gemacht hatten.


»Der ist übrigens, wie heißt das, wenn man da auch Internet mit gucken kann?«, steuerte Ubbo bei.



Secretarius

»Das heißt doch nix. Vormann is Vormann, oder nich? Aber egal, nu isses, wie es is. Willst du übrigens auch ’nen Schluck von deinem Gesöff? Ist echt lecker.«
Obwohl der Krimi recht spannend war, reagierte er erleichtert, als Anke ihm das Ende der Fotosession verkündete. Jetzt konnte er endlich seine Fragen loswerden. Allerdings stieß ihn die Jensen gleich vor den Kopf, als er in den Garten kam.








»Was glauben Sie? Wie gut kannten Brodersen und der Minister sich?«



»Ich glaube, das war’s dann wohl«, unterbrach Jensen Ennos Gedanken. »Ich muss jetzt wirklich gehen. Die Bilder schicken Sie mir zu?«








Wieder allein mit Enno auf der Terrasse, griff Anke zur Weinflasche, die noch fast unberührt auf dem Gartentisch stand. »Merkwürdig«, sagte sie, »die Jensen hat ihr Glas kaum angerührt. Na egal, dann bleibt mehr für uns. Komm, setz dich.«