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Möge dir dieses Buch ein Lichtstrahl sein.

Diana Hochgräfe

Aus der Dunkelheit ins Licht

Mein Weg aus den Depressionen

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Meine persönliche Krankheitsgeschichte

Meine Kindheit – Bereits damals fühlte ich mich oft einsam und traurig

Die ersten offensichtlichen Anzeichen meiner Depression

Meine Ausbildungszeit – Die depressive Symptomatik verstärkt sich

Meine Zeit in Rheinland Pfalz – Meine Seele verdunkelt sich immer mehr

Meine Weiterbildung in Hamburg – Erschöpfungsdepression und kompletter Zusammenbruch

Meine einjährige Auszeit und der Beginn neuer Freundschaften

Der Abschluss meiner Weiterbildung und Start in die Selbstständigkeit

Wie zwei bernsteinfarbene Augen und vier samtig weiche Pfoten mein Leben von heute auf morgen veränderten

Depressive Phasen und Selbstzweifel während meiner Partnerschaften

2. Aus der Dunkelheit zurück ins Licht – meine vollständige Genesung

3. Meine Erkrankung und deren Ursachen aus damaliger und heutiger Sicht

4. Was mir tatsächlich half, wieder gesund zu werden

5. Was mein Leben heute prägt

6. Stimmungsaufhellende Nahrungsergänzungsmittel

7. Wie der Darm auf die Psyche wirkt

8. Selbsthilfe-Tipps für Betroffene

9. Tipps für Angehörige

Nachwort

Danksagung

Über die Autorin

Impressum

Einleitung

Auch ich litt unter Depressionen – jahrelang. Ich kenne sie: die innere Leere, die absolute Dunkelheit, die abgrundtiefe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Beharrlich trug ich meine Maske, damit niemand etwas merkte und lebte wie in einer anderen Welt.

Mit Anfang 20 hätte ich nicht gedacht, dass ich eines Tages emotional und mental derart gefestigt sein würde wie heute und meine Erkrankung tatsächlich der Vergangenheit angehört. Weder Medikamente noch bestimmte Personen holten mich aus meinem Loch heraus - letztlich war ich es selbst, wenn auch mit diverser Unterstützung. Es war ein langer Prozess über Jahre hinweg, mit vielen Tälern und steinigen Wegen. Und ich hatte wohl hunderte von Schutzengeln, die mich in dieser Zeit begleiteten.

Ja, es ist möglich, gesund zu werden, was ich lange bezweifelt hatte. Und gerade deshalb lebe ich jetzt umso mehr voller Achtsamkeit, Wertschätzung und Dankbarkeit. Nun ist es endlich an der Zeit, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, um anderen Betroffenen Mut zu machen.

Dies war für mich eine größere Herausforderung, als ich vorab angenommen hatte. Um all meine Erlebnisse möglichst authentisch wiederzugeben, musste ich mich erneut in die damaligen Situationen hineinversetzen. Mit den Erinnerungen an diese Zeit tauchten unerwarteter Weise damit verbundene körperliche Symptome von Neuem auf: Schlafstörungen, Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Essstörungen, Schwindelgefühle und Herzstechen. Ebenso kamen zahlreiche Tränen an die Oberfläche, denen ich freien Lauf ließ. Körper, Geist und Seele sind eben untrennbar miteinander verbunden. Sämtliche gemachten Erfahrungen werden im Unterbewusstsein gespeichert und können jederzeit getriggert werden. Inzwischen weiß ich, dass all diese Gefühle gesehen und gelebt werden wollen. Zudem bin ich glücklicherweise stark genug, um diese zwar wahrzunehmen, mich jedoch nicht darin zu verlieren.

Aus meiner heutigen Sicht sind Depressionen vor allem auch eine Erkrankung der Seele. Früher hätte ich sicherlich –zig andere Gründe hierfür genannt. Paulo Coelho, einer meiner Lieblingsautoren, schrieb: „Stress, Angst und Depression entstehen, wenn wir leben, um es anderen recht zu machen.“ Aufgrund meiner eigenen Erlebnisse kann ich dies bestätigen.

Es gibt zahlreiche Ursachen und Auslöser, um an einer Depression zu erkranken und jeder Betroffene erlebt diese unterschiedlich. Ratgeber zu der Thematik gibt es mittlerweile viele – welche verschiedenen Arten es gibt, Therapie-Möglichkeiten usw. Hierauf werde ich in meinem Buch nicht weiter eingehen, sondern erzählen, wie ich das Ganze erlebte und was mir persönlich half, gesund zu werden.

Ich hoffe, dass meine Geschichte inspiriert und ermutigt, den Kampf nicht aufzugeben. Verliere nie den Glauben an dich selbst! In uns allen steckt eine Kraft, mehr zu meistern, als wir glauben imstande zu sein.

Ich wünsche dir für deinen Weg alles erdenklich Liebe und Gute, Diana Hochgräfe.

1. Meine persönliche Krankheitsgeschichte

Meine Kindheit – Bereits damals fühlte ich mich oft einsam und traurig.

Im April 1978 erblickte ich das Licht der Welt in Bernau/ bei Berlin. Meine Großeltern lebten in der Nähe und meine Mutter war dort aufgewachsen. Sie studierte in Leipzig, wo ich meine ersten beiden Lebensjahre verbrachte. An den Wochenenden fuhren wir stets nach Bad Düben. Im Juni 1980, nachdem meine Mutter ihr Studium abgeschlossen hatte, erfolgte der Umzug in den kleinen Kurort mit ca. 9.000 Einwohnern.

Als ich 4 Jahre alt war, verließ uns (das heißt meine Mutter, meine Schwester – gerade ein Jahr alt – und mich) mein leiblicher Vater. Danach habe ich ihn nie wieder gesehen und nichts mehr von ihm gehört. Dieses Erlebnis hatte eine große Auswirkung auf meine persönliche Entwicklung und war mit ein Auslöser für meine späteren Depressionen. Nicht unbedingt dadurch, was geschehen war, sondern aufgrund dessen, wie ich die Situation als Kind wahrnahm.

Unser Verstand sammelt Informationen bereits ab dem dritten Monat der Schwangerschaft. Insbesondere in den ersten sieben Lebensjahren entwickelt sich die eigene Identität und alles in dieser Zeit Erlebte hinterlässt Prägungen. Diese Erfahrungen werden im Unterbewusstsein abgespeichert. Kinder sind noch nicht in der Lage, Dinge zu hinterfragen oder zu analysieren und interpretieren Zusammenhänge anders als Erwachsene. Sie geben sich häufig selbst die Schuld, wenn sie von einem Elternteil verlassen werden. Infolgedessen fühlen sie sich mitunter hilflos, wertlos und ungeliebt, was sich später durch mangelndes Selbstvertrauen und ein fehlendes Selbstwertgefühl bemerkbar machen kann. So war es auch bei mir der Fall.

Ich weiß nicht mehr, wie ich die Trennung meiner Eltern erlebte. Wie sehr ich darunter litt, wurde mir erst bewusst, als ich mit meiner Oma offen über meine Erkrankung sprach. Sie berichtete mir, dass ich im Alter von vier Jahren plötzlich zu meinem Onkel gesagt hätte: „Dann stecken wir den Papa in die Mülltonne und du setzt dich oben drauf.“ Diesen Satz äußerte ich während eines Besuches bei meinen Großeltern. Er hat sich bis heute bei meiner Oma eingeprägt und sie fragte sich damals, was in mir vorging. Nachts schrie ich oft im Schlaf und sie und mein Opa konnten mich teilweise überhaupt nicht beruhigen.

Außerdem erinnerte sich meine Oma an ein Ereignis, bei dem ich sechs oder sieben Jahre alt war. Meine Großeltern besuchten uns in Bad Düben und ich wollte sie an der Bushaltestelle abholen. Sie sahen mich nicht und fuhren eine Station weiter, weil sie vermuteten, ich würde dort auf sie warten. Als sie mir zu Fuß entgegenkamen, saß ich todtraurig und in mich versunken auf einer Bank – wie ein Häufchen Elend. Meine Oma erzählte mir, ich wäre total verschlossen gewesen und sie hätten kein Wort aus mir herausbekommen. Obwohl ich mich an diesen Moment nicht erinnern kann, berührt es mich zutiefst. Und zwar dermaßen, dass mir in dem Augenblick, wo ich es zu Papier bringe, die Tränen über die Wangen laufen.

Mir selbst ist noch ein Vorfall präsent, bei dem mir während des Schulunterrichts aus heiterem Himmel die Tränen kamen. Ich war gerade in der vierten Klasse und etwa neun Jahre alt. Meine Klassenlehrerin ging mit mir vor die Tür und fragte mich, was mit mir los sei. Darauf konnte oder wollte ich ihr keine Antwort geben. In meinem Zeugnis gab es später die Anmerkung: „Oft wirkte Diana sehr verschlossen.“ Es kann gut sein, dass dies bereits die Anfänge meiner Erkrankung waren, denn tiefe Traurigkeit – scheinbar grundlos – war eines der Hauptsymptome meiner depressiven Phasen.

Vielfach erlebte ich Situationen, in denen ich mich alleine, hilflos oder im Stich gelassen fühlte. Einmal war ich beispielsweise im Kindergarten die letzte, weil meine Mutter länger arbeiten musste. Außer mir und der Erzieherin war niemand mehr anwesend. Ausgerechnet an dem Abend gab es ein heftiges Gewitter, dem ich sozusagen schutzlos ausgeliefert war. Ängstlich verkroch ich mich unter einem Tisch und wünschte mir nichts sehnlicher, als bald abgeholt zu werden. Im Alter von sechs Jahren wurden mir zudem die Rachenmandeln herausgenommen und das Mädchen neben mir bekam täglich von ihren Eltern Besuch und Eis mitgebracht. Meine Mutter und mein Stiefvater konnten es vermutlich aus beruflichen Gründen nicht sooft einrichten. Als Kind schlussfolgerte ich: „Keiner hat mich lieb. Wahrscheinlich bin ich allen egal.“ Ebenso ging ich davon aus, dass mein leiblicher Vater mich nicht geliebt hatte. Sonst hätte er mich sicherlich nicht verlassen…

In meiner Schulzeit war ich überwiegend die graue Maus und galt als Streber, da ich mit zu den Besten der Klasse zählte. Sofern jemand seine Hausaufgaben vergessen hatte, wurde ich meist von der- oder demjenigen gefragt: „Du, kann ich schnell von dir abschreiben?“ Abgelehnt habe ich dies – soweit ich mich entsinne – nie. Schließlich wollte ich von den anderen akzeptiert und gemocht werden. Zugleich beneidete ich die, die zu den beliebtesten Mädchen der Klasse gehörten. Sie hatten das Selbstbewusstsein, das mir gänzlich fehlte. Trotzdem ging ich weitestgehend gern zur Schule, war im Gruppenrat, im Schulchor, beim Kindertanzen und Orientierungslauf – bei letzterem sogar als Anführerin unserer Gruppe. Ich nahm erfolgreich an Mathematikolympiaden teil und erreichte beim Rollschuhschnelllauf in der vierten Klasse den ersten Platz. Ab dem siebten Schuljahr belegte ich neben Russisch und Englisch als Pflichtfächer zusätzlich Französisch und Spanisch. Sprachen lagen mir von jeher – es fiel mir leicht, sie zu lernen und machte mir viel Spaß. Obendrein ebneten sie mir meinen späteren Berufsweg.

Durch den Literaturzirkel, dem ich freiwillig von der fünften bis zur siebten Klasse beiwohnte, entdeckte ich meinen Zugang zum Schreiben. Einerseits verfasste ich Gedichte und Kurzgeschichten, andererseits schrieb ich Tagebuch, in dem ich meine Gedanken und Gefühle notierte. Leider warf ich die Tagebücher bei einem Umzug weg, was ich aus heutiger Sicht äußerst schade finde. Rückblickend hätte ich anhand der Aufzeichnungen sicher einiges in Bezug auf meine Erkrankung besser reflektieren können.

Mit zehn Jahren gewann ich beim Preisausschreiben einer Jugendzeitschrift den zweiten Preis - dotiert mit einem Plüschpapagei. Dabei ging es darum, ein Gedicht über die eigenen Haustiere zu schreiben. Meines handelte von meinen beiden Wellensittichen Pippi und Bubi. Bedauerlicherweise hob ich dieses nicht auf und erinnere mich bloß an folgende Zeile: „Pippi flog mir auf den Kopf und Bubi in den Blumentopf.“ Als das Päckchen bei uns ankam, waren meine Eltern (hiermit sind stets meine Mutter und mein Stiefvater gemeint) zunächst verärgert und wollten wissen, was ich für einen Unsinn bestellt hätte. Unter Tränen erwiderte ich: „Gar nichts. Ich weiß nicht, was das ist“. Über den Gewinn freute ich mich riesig und dies spornte mich an weiterzumachen.

Im Alter von elf Jahren erhielt ich von der Schule eine Urkunde „Für hervorragende künstlerische Leistungen beim Treffen der jungen Talente im Genre Erzählung – Prädikat sehr gut“. (Dies war mir gar nicht mehr bekannt und ich fand es bei meiner Recherche zu diesem Buch heraus.) Des Weiteren gewann ich bei einer Schullandesausschreibung einen einwöchigen Aufenthalt in einem Literaturkamp. Allerdings nahmen mehrere Schüler daran teil, die meiner Ansicht nach viel besser schreiben und dichten konnten als ich, was meine Zuversicht wiederum schwächte. Dass die meisten der anderen Teilnehmer älter waren, hatte ich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht bedacht. Ein Jahr später bekam ich die Gelegenheit, aufs Gymnasium zu gehen. Dort gab es bedauerlicherweise keinen Literaturzirkel, weswegen ich, abgesehen von meinen regelmäßigen Tagebucheinträgen, das Schreiben vorerst ad acta legte.

Ich war von meinem Naturell überaus fantasievoll und verbrachte viele Stunden mit Tagträumereien. In dieser Fantasiewelt malte ich mir die Welt so, wie ich sie mir wünschte. Ab und an erfand ich kleine Geschichten, was mir zuweilen als Unehrlichkeit ausgelegt wurde. In meinem Zeugnis der ersten Klasse gab es den Vermerk: „Gegenüber ihren Mitschülern muss Diana ehrlicher werden.“ In dem der dritten Klasse hieß es erneut: „Diana muss unbedingt versuchen, Probleme selbstbewusster und auf ehrliche Art zu lösen.“

Mein fehlendes Selbstbewusstsein wurde leider von anderen dafür missbraucht, mir die Schuld für gewisse Dinge in die Schuhe zu schieben. Schon in der Grundschule war ich mehrfach der Sündenbock. Wenn zum Beispiel jemand – aus welchem Grund auch immer - seinen Abfall nicht in, sondern neben den Papierkorb warf, war es einfach, es auf mich zu schieben. Ich gab es irgendwann auf, mich zu verteidigen und sagte letzten Endes gar nichts mehr.

Da es mir an Selbstwertgefühl mangelte, verglich ich mich andauernd mit anderen Mädchen und beneidete diejenigen, die meiner Meinung nach hübscher und schlanker waren als ich. Ich wünschte mir, ich hätte blonde Haare und blaue Augen gehabt, weil diejenigen bei uns die beliebtesten waren. Ich hatte zwar einige Freundinnen, aber keine von ihnen bot mir Schutz an oder verteidigte mich. Oft stand ich alleine da – besonders in komplizierten Situationen – und wurde nach und nach zur Einzelgängerin.

In meinem Zeugnis der zweiten Klasse gab es die Anmerkung: „Zu ihren Klassenkameraden müsste Diana besseren Kontakt finden“. Positiv stand geschrieben „Wieder gehörte Diana zu den leistungsstarken Schülern der Klasse. Ihre Zensuren konnte sie durch viel Fleiß festigen. Sie nahm mit einer Zeichnung erfolgreich an der Bezirksgalerie der Freundschaft teil.“. Eine kreative Ader hatte ich unverkennbar von klein auf. Das Zeichnen rückte jedoch später in den Hintergrund und ich fand den Kunstunterricht in der Oberstufe zum Teil anstrengend. Möglicherweise lag es an den Vorgaben, die meine individuelle Kreativität einschränkten.

In der fünften Klasse wurde mir eine neue Klassenlehrerin zugeteilt, mit der ich besser klarkam. Nun hieß es in meinem Zeugnis unter anderem: „Dianas Wesen ist ruhig und zurückhaltend. Sie sollte künftig als Mitglied des Gruppenrates selbstbewusster und lebhafter auftreten.“ Mein fehlendes Selbstbewusstsein war mir wohl anzumerken, jedenfalls fiel es meiner Lehrerin sofort auf. Im nachfolgenden Jahr schrieb sie: „Diana ist eine ruhige und sachliche Schülerin. Sie ist verträglich und kameradschaftlich, sodass sie von ihren Mitschülern geachtet und anerkannt wird.“ Das war die Sichtweise von außen - vermutlich der Tatsache geschuldet, dass ich meist kleinbeigab, nie konterte und anderen beim Lernen behilflich war. Ich selbst empfand dies etwas anders. Offensichtlich war ich stets in Momenten gefragt, sobald irgendjemand etwas von mir wollte.

Bei der Wiedervereinigung Deutschlands war ich elf Jahre alt und in der siebten Klasse. Bis dahin existierte in meinem Heimatort nur eine Gesamtschule und kurz danach wurde ein Gymnasium errichtet. Dieses besuchte ich von der achten bis zur zwölften Klasse. Ich hatte zu dem Zeitpunkt einen Notendurchschnitt von 1,3 und war mir dennoch unsicher, ob ich wechseln sollte. Meine Klassenlehrerin bestärkte mich mit dem Satz: „Wenn du nicht gehst, wer bitte dann?“ Zu Hause wurden von mir Einsen und Zweien „erwartet“ und meine Mutter zeigte uns stolz ihre guten Zeugnisse. Das spornte mich an, es ihr gleich zu tun. Sicherlich ging es meinen Eltern in erster Linie darum, dass wir zukünftig eine gute Ausbildungsstelle und einen Arbeitsplatz bekämen, was auch verständlich war.

In der elften und zwölften Klasse (im Alter von 16 – 18 Jahren) ging es mit meinen Schulnoten zunehmend „bergab“. Ich konnte mich schlechter konzentrieren und mir fiel das Lernen nicht mehr so leicht. Aufgrund meines Faibles für Sprachen belegte ich in Deutsch und Englisch Leistungskurse. Sogar in diesen verschlechterten sich meine Noten – wobei verschlechtern relativ ist – ich rutschte von Eins auf Zwei. Wahrscheinlich lag es unter anderem daran, dass vieles auswendig gelernt werden musste. Dies fiel mir wegen meiner zunehmenden Konzentrationsprobleme deutlich schwerer als sonst.

Im zehnten Schuljahr kamen die ersten Dreien hinzu - zunächst im ersten Halbjahr in Mathe und Gemeinschaftskunde, im zweiten ebenso in Physik, Geographie und Geschichte. Diese komplexen Fächer bereiteten mir plötzlich Schwierigkeiten, die ich vorher nicht hatte. Vielleicht zeigte bereits in dieser Phase meine damals noch unerkannte Erkrankung ihre ersten Auswirkungen. Ich fühlte mich häufig überfordert, während ich sonst gerne gelernt hatte und mir eine rasche Auffassungsgabe nachgesagt wurde. Ein Jahr später reichte es im Zeugnis in Mathe gerade mal zu vier und fünf Punkten bei Themenschwerpunkten wie Integralund Differenzialrechnung – Dinge, die mir nicht lagen und die ich in meinem zukünftigen Berufsalltag zudem nicht brauchte. Bloß in meinen Lieblingsfächern Deutsch und Englisch konnte ich mich weiterhin zwischen Eins und Zwei behaupten. Französisch war eines meiner besten Grundfächer – am Ende der zwölften Klasse erreichte ich 15 Punkte. Immerhin bestand ich mein Abitur mit einer Durchschnittsnote von 2,3, womit ich überhaupt nicht zufrieden war. Im Vergleich zu meinen Noten bis zur achten Klasse sowie gegenüber anderen meines Jahrgangs empfand ich dies als „schlecht“.

Aufgrund meines Faibles für Sprachen wollte ich gerne in Leipzig Dolmetscherin oder Übersetzerin studieren. Bei einer Berufsberatung wurde mir mitgeteilt, dass die Studenten nach dem Abschluss selten einen Job bekämen. Der Sachbearbeiter empfahl mir deshalb eine Ausbildung im Dualen System. Er teilte mir mit, dass die Firmen die Absolventen überwiegend übernehmen würden. Ich bekam eine Broschüre mit entsprechenden Unternehmen, die dies anboten. Anschließend bewarb ich mich bei mehreren Firmen (alle in den alten Bundesländern) um einen Ausbildungsplatz zur Kauffrau für Bürokommunikation mit Zusatzqualifikation Fremdsprachenkorrespondentin Englisch sowie zur Fremdsprachensekretärin für Englisch und Französisch.

Ich schickte nur sieben oder acht Bewerbungen ab, weil ich mich darauf konzentrierte, was ich wirklich wollte und mir die Sprachen ungemein wichtig waren. Dies fanden meine Eltern gar nicht toll. Sie meinten, ich solle lieber noch weitere Firmen anschreiben, da es voraussichtlich hunderte von Bewerbern gäbe. Andere boten wiederum eine Ausbildung zur Industriekauffrau oder Bürokauffrau ohne Fremdsprachen an, was ich jedoch nicht anstrebte. Deswegen bewarb ich mich nicht auf diese Stellen. Überraschenderweise erhielt ich direkt fünf Einladungen zu Eignungstests und Vorstellungsgesprächen. Daraufhin fuhr ich entweder allein per Zug oder zusammen mit meinem Vater mit dem Auto, nach Weinheim, Calw, Düsseldorf, Duisburg und Leverkusen. (Mit meinem Vater ist mein Stiefvater gemeint. Zu meinem leiblichen gab es keinen Kontakt mehr.)

Mein Favorit war die Bayer AG in Leverkusen. Das Unternehmen bot Fremdsprachensekretärin Englisch und Französisch an, während bei den anderen Firmen einzig Englisch Bestandteil war. Obendrein war es möglich, ein Zimmer im Wohnheim für Auszubildende anzumieten. Nach dem Einstellungstest, bei dem mehrere hundert oder gar tausende von Abiturienten teilnahmen, bekam ich leider eine Absage, worüber ich unsagbar enttäuscht war. Infolgedessen unterschrieb ich einen Ausbildungsvertrag bei einem Unternehmen in Weinheim, von dem ich eine feste Zusage erhalten hatte. Bald darauf erhielt ich ein weiteres Schreiben von Bayer. Sie informierten mich darüber, dass eine zusätzliche Ausbildungsklasse zur Kauffrau für Bürokommunikation und Fremdsprachenkorrespondentin Englisch etabliert wurde, bei der ich herzlich willkommen sei. Glücklicherweise war es noch möglich, von meinem zuerst unterzeichneten Vertrag zurückzutreten. Bedenken oder Angst, in eine mir unbekannte Stadt zu ziehen und circa 600 Kilometer von meiner Familie entfernt zu sein, hatte ich interessanterweise überhaupt nicht. Dass ich mit 18 von zu Hause ausziehen wollte, wusste ich lange vorher – unter anderem dadurch bedingt, dass ich mich teilweise fehl am Platz fühlte.

Von meinen Eltern fühlte ich mich nicht sonderlich verstanden – wobei die Betonung darauf liegt, dass ich dies als Kind derart wahrnahm. Als ich sechs Jahre alt war, wurde mein Bruder geboren. Einerseits freute ich mich darüber, andererseits fühlte ich mich nach und nach als „fünftes Rad am Wagen“. Ich war sehr in mich gekehrt und machte viel mit mir selbst aus, wohingegen meine drei Jahre jüngere Schwester genau das Gegenteil von mir war. Sie verschaffte sich Luft, setzte sich größtenteils durch und zeigte zuweilen das Verhalten, was eigentlich für mein Sternzeichen Widder typisch gewesen wäre. Für mich schien es so, als würden meine Mutter und meine Schwester ein Zweiergespann bilden sowie mein Vater und mein Bruder – ich stand gefühlt häufig außen vor.

Laut Aussage meiner Mutter war ich diejenige gewesen, die äußerte: „Onkel Lutz kann uns doch helfen.“, als sie nach der Trennung mit uns Mädels alleine dastand. Sie kannte meinen Stiefvater bereits mehrere Jahre, da er mit meinem leiblichen Vater befreundet war. Dennoch wurde ich während meiner Kindheit und Teenagerzeit nicht wirklich mit ihm warm – es gab andauernd Dispute und Auseinandersetzungen. Mehrfach wünschte ich mir, meine Mutter hätte mir beigestanden und den Rücken gestärkt. Meistens stand sie nicht hinter mir, sondern auf der Seite meines Vaters (oder der meiner Geschwister), was mich stets traurig stimmte. Vielleicht hatte sie Angst, wieder verlassen zu werden und wollte etwaigen Konflikten lieber aus dem Weg gehen. (Häufig agieren und reagieren wir in bestimmten Situationen aufgrund unbewusster Ängste oder vergangener Erfahrungen, ohne es zu bemerken. Hierauf werde ich detailliert in einem späteren Kapitel eingehen.) Als Kind konnte ich ihr Verhalten absolut nicht nachvollziehen und fragte mich, was ich falsch gemacht hätte.

Während eines Urlaubs waren meine Schwester und ich meinen Eltern mal zu laut und erhielten deswegen Redeverbot und ein Pflaster auf den Mund. Sobald ich angeschrien wurde oder Ähnliches, schüchterte mich dies zusätzlich ein und ich bekam Angst vor den Konsequenzen. Deshalb traute ich mich letztendlich überhaupt nicht mehr, irgendetwas zu sagen und zog mich immer mehr zurück. Ich schwieg lieber anstatt etwas zu erwidern, was leider zum Teil fehlinterpretiert wurde und zu Missverständnissen führten.

Als die Älteste von drei Kindern hatte ich es nicht einfach. Beispielsweise musste ich oft meine Geschwister suchen, wenn diese nicht pünktlich zum Mittagessen anwesend waren. Manchmal passierte es, dass sie in der Zwischenzeit zu Hause waren, während ich noch nach ihnen Ausschau hielt. Folglich gab es Ärger, denn ich war diejenige, die letztlich zu spät kam. Alle anderen saßen schon am Essenstisch und warteten auf mich. Im Grunde waren dies nur „Kleinigkeiten“, die sich jedoch im Laufe der Zeit summierten. Sie gaben mir das Gefühl, nicht geliebt zu werden beziehungsweise meinen Eltern egal oder weniger wichtig zu sein. Meine Schwester und meinen Bruder hatten sie in meinen Augen viel lieber als mich. Wenn es Streit unter uns Geschwistern gab, wurde häufig mir die Schuld in die Schuhe geschoben und ihnen Recht gegeben.

Ich erinnere mich beispielweise an ein Ereignis während meiner Zeit auf dem Gymnasium. Eine Klausur stand an, für die ich lernen wollte, und mein Bruder saß bei mir im Zimmer an meinem PC. Diesen hatte ich mit 14 Jahren von meinen Eltern zur Jugendweihe geschenkt bekommen. Mein Bruder war in ein Computerspiel vertieft und weigerte sich vehement, den Platz zu räumen. Wir stritten uns, mein Vater kam herein und mein Bruder durfte zu Ende spielen. Ich fand mich damit ab und lernte fortan meist abends und nachts. Für Klausuren saß ich nach dem Abendessen solange an meinen Unterlagen, bis ich müde wurde oder ins Bett sollte. Ich stellte mir für ein, zwei oder drei Uhr den Wecker, um weiter zu lernen, bis nichts mehr in meinen Kopf ging. Also paukte ich konsequent in Etappen – lernen, schlafen, lernen, schlafen, lernen… Insofern meine Eltern zwischendurch wach wurden und sahen, dass bei mir Licht brannte, bekam ich die Anweisung, schlafen zu gehen. Diese Umstände machten sich zugleich bei meinen Noten bemerkbar, wobei ich hier niemanden die Schuld für irgendetwas geben möchte. Meine Eltern beriefen sich darauf, dass Schlaf wichtig sei. Überdies meinten sie, so kurzfristig würde ich mir sowieso nichts mehr merken können, wobei mein Kurzzeitgedächtnis recht gut funktionierte. Dass ich möglicherweise aufgrund einer Erkrankung unter Konzentrationsproblemen litt, konnte schließlich niemand ahnen.

Bedauerlicherweise kann ich mich nicht daran erinnern, dass mich meine Mutter oder mein Vater mal in den Arm nahmen und mir sagten, dass sie mich lieb hätten. Vielleicht existierten solche Momente, dennoch sind sie meinem Gedächtnis völlig entschwunden. Vermutlich liebten sie mich auf ihre Weise und konnten es mir nicht in der Art sagen oder zeigen, wie ich es mir gewünscht hätte. Trost fand ich bei meinen Großeltern und ich war glücklich darüber, dass ich in den Sommerferien stets für zwei Wochen bei ihnen sein durfte – entweder zusammen mit meiner Schwester oder allein. Ich freute mich riesig, wenn wir bei ihnen im Garten waren – Beeren pflückten, Schnecken sammelten, Unkraut zupften, Blumen gossen oder in der Sonne lagen und uns anschließend im Planschbecken abkühlten. Außerdem kochte Omi meistens unser Lieblingsessen – ich liebte ihre Eierpfannkuchen und Kirschsuppe mit Grießklößchen.

Was mir zuhause fehlte, war ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Vermeintlich konnten mir meine Eltern das aufgrund ihrer eigenen Erlebnisse in ihrer Kindheit nicht geben. Sicherlich hatten sie es auch nicht leicht. Ich beneidete meine Freundinnen, die mit ihren Eltern bestens klarkamen. Gelegentlich fragte ich mich, ob ich eventuell adoptiert wurde und mich deshalb so wenig zugehörig und ungeliebt fühlte. Es kann gut sein, dass dies ebenfalls Anzeichen meiner Erkrankung waren – die schmerzlich erlebte Einsamkeit und das Gefühl, ausgeschlossen zu werden.

Das Tagebuch-Schreiben war für mich ein wichtiger „Puffer“, denn ich hatte niemanden, dem ich mich vollständig anvertrauen konnte. Abgesehen davon fühlte ich mich von jeher zu Tieren hingezogen. Zu Hause hatten wir erst Wellensittiche und später Hamster, um die ich mich liebevoll kümmerte. Des Weiteren fütterte ich eine streunende Katze, die ich irgendwann bei uns im Wohnviertel antraf. Ich nannte sie Minka und stellte ihr regelmäßig Milch und ein paar Scheiben Wurst unter die Treppe im Keller. Eine der Nachbarinnen tat es mir gleich und äußerte, es wäre ein Kater und er hätte wohl kein Zuhause. Wenn es draußen kalt war, nahm ich ihn manchmal mit zu uns in die Wohnung, sofern meine Eltern nicht da waren. Einmal machte Minki (ich benannte ihn nach der Aussage der Nachbarin um) dummerweise sein Geschäft bei uns im Flur neben das „Katzenklo“, während ich in der Schule war. Ausgerechnet an dem Tag kam mein Vater früher nach Hause und es gab ordentlich Krach deswegen. Eines Tages verschwand Minki plötzlich und tauchte nicht mehr auf. Die Nachbarin mutmaßte, dass er vielleicht überfahren wurde. Ich weinte bittere Tränen und hoffte, ihn doch noch wiederzusehen. Selbst jetzt beim Schreiben kullern mir einige Tränen über die Wangen. Obwohl es nicht mein Kater gewesen war, war er mir enorm ans Herz gewachsen.

Eines Nachmittgags kam ich bei einem Spaziergang mit meinen Eltern an einer Pferdekoppel vorbei (diese gehörte den Großeltern eines Klassenkameraden meiner Schwester). Die Pferde zogen mich magisch an und von diesem Zeitpunkt an war ich fast täglich dort. Ich schaute ihnen ewig zu, streichelte sie und brachte ihnen hartes Brot oder Äpfel mit, die ich heimlich von zuhause mitnahm. Wie fast jedes Mädchen hätte ich am liebsten ein eigenes Pferd besessen und war begeisterte Leserin der Zeitschriften „Conny“ und „Wendy“. Offenbar waren Tiere für mich von Anfang an die besten Seelentröster.

Ich behaupte nicht, dass ich keine schönen Kindheitserlebnisse hatte – selbstverständlich gab es diese. Jedoch gehe ich zusammenfassend nur auf die Erinnerungen und Erfahrungen ein, die mit meiner Erkrankung in Zusammenhang stehen beziehungsweise Auswirkungen auf mein Gefühlsleben hatten.

Im Juli

Im Juli steh ‘n die Bäume still

und geh ‘n nicht mehr spazieren.

Kein Blatt bewegt sich, keines will

den Kreislauf strapazieren.

In dieser heißen Sommerglut,

wo alle Leute schwitzen,

trägt jeder einen Sonnenhut

und bleibt im Schatten sitzen.

Im Schwimmbad ist kein Platz mehr frei,

es ist ein frohes Treiben.

Ein kleiner Junge macht Geschrei,

er möcht ‘ so gerne bleiben.

Er ist der erste Sommerspaß,

den sich die Leute machen.

Auf die Sonne ist Verlass,

Regen bringt uns nur zum Lachen.

(geschrieben im Alter von 11 Jahren)

Die ersten offensichtlichen Anzeichen meiner Depression

Rückblickend betrachtet und mit den Kenntnissen von heute litt ich wohl bereits als junges Mädchen oder spätestens im Teenageralter unter Depressionen, ohne dass jemand etwas ahnte. Bei mir zeigten sich schon früh Symptome wie tiefe Traurigkeit und Gefühle von Einsamkeit – oft weinte ich mich in den Schlaf. Später kamen Schlaf- und Konzentrationsprobleme, mangelndes Selbstwertgefühl und Essstörungen hinzu. In meinen wiederkehrenden Albträumen wurde ich häufig verfolgt, ich schrie gelegentlich nachts und schlafwandelte. Vielfach wurden meine Eltern oder Großeltern davon wach und berichteten mir von meinen nächtlichen „Aktivitäten“, ohne dass ich mich daran erinnern konnte.

In meiner Freizeit fuhr ich von klein auf Rad und war als Teenager fortwährend mit meinem Mountainbike unterwegs. Wahrscheinlich tat ich dies vor allem auch, um den Kopf freizubekommen. Meistens schwang ich mich auf mein Fahrrad, sobald es Streitereien zu Hause oder Konflikte in der Schule gab und ich mich unverstanden oder auf mich allein gestellt fühlte. Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich war (wohl zwischen 14 und 17 Jahren), als ich eines Tages mit meinem Rad an einem Abhang hoch oberhalb der Mulde (ein Fluss bei uns im Ort) stand. Ich schaute in die Fluten und fragte mich, was wäre, wenn ich mich einfach hinabstürzte. „Vermissen würde mich gewiss niemand“, ging es mir in dem Augenblick durch den Kopf.

Im Alter von 16 Jahren schnitt ich mir das erste Mal mit einer Rasierklinge ins Handgelenk. Dies geschah in einem Moment, in dem ich mich total traurig, einsam und missverstanden fühlte. Nachdem es aufgehört hatte zu bluten, klebte ich ein Pflaster drauf, als wäre nichts geschehen. Meinen Eltern erzählte ich, ich hätte mich beim Abwaschen geschnitten, was zur allgemeinen Belustigung beitrug. Dies machte das Ganze für mich nicht unbedingt besser. Während einer darauffolgenden Klassenfahrt im elften Schuljahr machte plötzlich mein Kreislauf schlapp – anscheinend emotional bedingt. Als ich anschließend bei meiner Ärztin zur Untersuchung war, fiel ihr die Narbe an meinem Handgelenk auf. Sie informierte meine Eltern und stellte den Kontakt zu einer Psychologin her, bei der ich ein paar Sitzungen hatte. Worüber gesprochen wurde und wie oft ich dort war, weiß ich nicht mehr. Vermutlich brachte es mir nicht viel, denn irgendwann fuhr ich nicht länger hin. Das Wort Depressionen war dabei nie gefallen und ich hatte bis dahin noch nie von dieser Krankheit gehört. Ich war halt in der Pubertät und da können solche Dinge schon mal vorkommen…

Meine Ausbildungszeit – Die depressive Symptomatik verstärkt sich.

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