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Band 187

 

Schwarzschild-Flut

 

Ruben Wickenhäuser

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Prolog: Der Bündler

1.

2.

3. Thomas Rhodan da Zoltral: Aus dem Wasser ...

4.

5. Thomas Rhodan da Zoltral: Vision

6. Thora da Zoltral: Sei kein Frosch

7. Thomas Rhodan da Zoltral: ... ins Weltall

8. Thora da Zoltral: Die Wendung

9.

10. Jie Tao: Whiskygespräche

11. Marcus Everson: Impuls und Wirkung

12.

13.

14. Maui John Ngata: GHOST als Dank

15.

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit öffnet er den Weg zu den Sternen – ein Abenteuer, das den Menschen kosmische Wunder offenbart, sie aber immer wieder in höchste Gefahr bringt. Zeitweilig muss sogar die gesamte Erde evakuiert werden.

2058 ist die Menschheit mit dem Wiederaufbau ihrer Heimat beschäftigt und findet immer mehr zu einer Gemeinschaft zusammen. Die Terranische Union, Motor dieser Entwicklung, errichtet bereits Kolonien auf dem Mars und dem Mond.

Auf Luna tauchen mysteriöse Fremdwesen auf. Sie können sich unsichtbar machen und werden deshalb Laurins genannt. Kurz darauf bläht sich die Sonne auf, ihre Glut bedroht die inneren Planeten.

Während Perry Rhodan am Rand der Milchstraße den Laurins nachspürt, taucht im heimatlichen Sonnensystem ein Feind auf, mit dem niemand mehr gerechnet hat. Es kommt zur SCHWARZSCHILD-FLUT ...

Prolog

Der Bündler

 

»Die Flotte gibt Klarmeldung für Verschlusszustand. Alle Schiffe bereit für Bündlertransit. Alle internen Systeme bereit für Bündlerdurchgang. Kommandowalze bereit für Bündlertransit.«

»Gut.«

Wie ein Berg stand Grek-1 Khroonas vor der Taktikdarstellung im Holodom. Er trug die Verantwortung für die Angriffsflotte Phosphorrot, achttausend Maahkwalzen neuester Bauart. Phosphorrot war für Vernichtungsschläge durch gestaffelte Verteidigungsringe hindurch ausgelegt. Wenn die Vorhut den Feind studiert und die Hammergruppen dessen mobile Einheiten geschwächt hatten, kam Phosphorrot ins Spiel. Ihre Spezialität war, in Asteroidengürteln verankerte, engmaschige Abwehrsysteme des Gegners auszuschalten, in ihren Orbits hängende Festungsmonde zu knacken und schließlich die Schirme der planetaren Verteidigung zu durchschlagen.

Die Verschiedenartigkeit der Begleitschiffe spiegelte die Herausforderungen wider, denen Khroonas sich bereits ausgesetzt gesehen hatte. Seine Flotte umfasste vor Strahlenkanonen starrende, kleine Kreuzer mit jeweils nur geringer Stärke, aber insgesamt umso effektiverer Wirkung auf Abwehrschirme; segmentierbare Rammwalzen, die sich innerhalb von Augenblicken in ein Dutzend flacher Scheiben trennen ließen und mit enormer Reaktionsmasse an Bord auf stationäre Ziele niederstürzten; scheinbar träge dahintrottende Lafetten, deren wenige Geschütze eine Zerstörungskraft in ihre gebündelte Energielanze legen konnten, die von keinem anderen Maahkschiff erreicht wurde. Dazu Hunderte von bauchigen 200-Meter-Raumern, die Schwärme von Invasionsfähren auf einen schutzlosen Planeten entlassen konnten, damit die darin transportierten Maahks ihn zu Ehren der Neunväter von Oxyds säuberten.

Obwohl ein Großteil der Kriegsflotte Phosphorrot erst kürzlich von den Werften ausgespien worden war, hatte sie bereits ebenso riskante wie erfolgreiche Einsätze hinter sich. Khroonas' 2000-Meter-Kommandowalze trug die Bedeutung WELTENZERSTÖRER zu Recht in ihrem Namen.

Khroonas fühlte den Stolz des erfolgreichen Heerführers auf sein bedingungslos loyales Heer. Vielleicht lag es an diesem Stolz, dass seine Schuppen wie von gefrorenem Methan überzogen glänzten und nicht stumpf waren wie die vieler seiner Leute. Die Schiffsatmosphäre, die im Unterschied zum Heimatplaneten Maahkaura stets stillstand und daher den natürlichen Abrieb der Schuppenhaut vermissen ließ, machte ihm nichts aus.

Vielleicht liegt es auch am Feuer, das ich ständig in mir spüre, dachte Khroonas. Es ist, als tobe der Permazorn ohne Unterlass in meinem Innern, einzig zurückgehalten von einer hauchdünnen Trennhaut. Es ist großartig.

Khroonas stieß ein Brüllen aus, das durch die Kommandozentrale der Maahkwalze rollte wie ein Blitzgewitterschlag auf Maahkaura. Seine Untergebenen reagierten mit einem bestätigenden Heulen. Sie kannten ihren Grek-1, und sie liebten ihn.

Ich bin der Schlachtenlenker und Richter. Ich bin der, der die Oxyds aus ihren schwersten Festungen treibt und jedem Maahk das zuteil werden lässt, was er verdient. Ich bin der Hammer auf dem Amboss der Neunväter. Ich bin Khroonas!

Khroonas sog tief den Wasserstoff durch die Bronchialkanäle. Ein neues Ziel lag vor ihnen. Oxyds, die von den Vorauseinheiten bereits weichgeklopft worden waren. Die Feinde nahmen vermutlich an, dass sie die Schlacht gegen die Maahks gerade noch einmal gewonnen hatten. Sie ahnten nicht, dass nur noch Stunden sie von der absoluten Vernichtung trennten.

Vor ihm gähnte der schwarzblaue und vor allem bodenlose Schlund des Bündlers. Das Abstrahlfeld schimmerte dunkelrot auf und gewann rasch an Farbkraft. Der gewaltige Trichter hatte die Kodes akzeptiert und den Transfer freigegeben.

Durch das rückwärtige Kommunikationsholo schenkte Khroonas dem Stellvertretenden Flottenkommandanten Arghraak einen raschen Blick. Arghraak folgte dem Führungsschiff auf der BROOMAS. Er wäre anderen vielleicht merkwürdig, entrückt oder gar schwächlich vorgekommen, wie Arghraak inmitten von Kontrollkonsolen in gelbgrünes Licht getaucht in seiner vom Holodom überwölbten Zentrale stand und geradezu andächtig den Ablauf beobachtete. Zumal er nicht etwa einen Zweitausender als Kommandoschiff gewählt hatte, sondern nur eine achthundert Meter lange und zweihundert Meter durchmessende Walze.

»Ein Maßverhältnis von vier zu zwei«, hatte Arghraak gegenüber Khroonas einmal geschwärmt. »Perfekte Harmonie. Das ist mein Schiff.«

Khroonas wusste jedoch, dass sein Stellvertreter weder weltfremd noch schwächlich war. Wenn es jemanden gab, auf den Khroonas sich verlassen konnte, war es Arghraak. Es mochten genau diese Momente der scheinbaren Entrückung sein, die seinem Stellvertreter die Fähigkeit verliehen, auch den schwierigsten Anforderungen zu genügen – ja, die Erwartungen sogar zu übertreffen.

Khroonas war stolz auf seine Flotte. Und er barst schier vor Tatendrang. Das Ziel lag vor ihnen.

Er hämmerte auf den Bündlerimpulsgeber. Sämtliche Kampfschiffe der Maahkflotte Phosphorrot gaben Vollschub.

 

Das Transmissionsfeld erstrahlte inzwischen in tiefem Rot. Arghraak schaltete das dreidimensional wiedergegebene Bild des Bündlers auf seine Station. Dazu aktivierte er die lokalen Bläser, die dafür sorgten, dass ein Miniorkan aus Wasserstoff seine Schuppen umfegte, fast wie in der wilden Atmosphäre des Heimatplaneten Maahkaura.

Die Augenblicke vor dem Bündlertransit hatten für ihn stets etwas Erhebendes. Das Zusammenspiel der zunehmend hektischer blinkenden, dunkelblauen Kontrolllampen, das plötzliche Abdunkeln im Kommandodom, das damit einhergehende Hochfahren der Triebwerke auf Volllast, der Reigen der rasch wechselnden holografischen Darstellungen, die raschen Kontrollblicke und geraunten Abfragen der Kommandobesatzung, das Ganze untermalt vom Wachsen des Abstrahlfelds: All das berührte etwas in dem Stellvertretenden Flottenkommandant, was sonst tief in seiner Seele verborgen schlummerte.

Für kostbare Augenblicke fühlte er sich eins mit ... ja, mit dem Universum. Ein Gefühl, das außerordentlich unlogisch und von erschütternder logischer Klarheit zugleich war.

»Durchtritt beginnt«, bestätigte er dem Flottenkommandanten per Funk.

 

Khroonas erwartete den Transmitterdurchgang wie ein Maahk, der ein Weibchen mit voller Geschwindigkeit auf sich zurasen sieht. Vielleicht kooperieren Arghraak und ich deswegen so gut. Weil wir beide diese Dinge wie kein anderer wahrnehmen können. Jeder von uns auf seine eigene Art. Vielleicht ...

Ein Schlag erschütterte die Maahkwalze. Der WELTENZERSTÖRER bockte und schüttelte sich. Alarmpfeifen erschollen, die gelben Blitze der Katastrophenwarnung erhellten die Zentrale.

»Status!«, brüllte Khroonas. Seine langen Gliedmaßen pflügten sich durch die Holokontrollen. Diese flackerten auf, stabilisierten sich, flackerten erneut. Die Bildübertragung zu Arghraak begann, sich in sich zu verdrehen. Sein Stellvertreter hatte offensichtlich mit ähnlichen Störungen auf seinem Raumschiff zu kämpfen.

Hinter Khroonas war der Grek-2 nicht weniger hektisch damit beschäftigt, sich über die Situation zu informieren. Seine Arme peitschten in einer Geschwindigkeit umher, dass sie nur mehr als wirbelnde Schemen zu erkennen waren.

»Ausfall der Fusionsreaktoren drei, fünf, sechs«, »Energieverteilung unstet«, »Kontrollverlust Atmosphäre«, trafen die Schadensmeldungen ein.

»Ich will nicht wissen, was beschädigt ist – ich will wissen, was passiert ist!«, forderte Khroonas lautstark. Gleich darauf verzerrte sich die Umgebung – als wäre sie selbst ein gestörtes Hologramm. Das vorherrschende Graublau des Kontrolldoms wurde von roten Schlieren durchzogen.

Als führe das Transmitterfeld des Bündlers hier mitten durch den Raum!, schoss es Khroonas durch den Kopf. Und dann ... verschob sich der hintere Teil des Kommandodoms. Obwohl es sich nur um ein winziges Stück handelte, sah es Khroonas in erschreckender Deutlichkeit.

Es gab keine Funken, kein Kreischen der überlasteten Struktur des Schiffs. Wie bei einer optischen Täuschung hatte sich der hintere Teil der Zentrale gegenüber dem vorderen um vielleicht einen Maahkfinger breit verzogen, wand sich und flimmerte. Dort, wo er nun in den vorderen Teil hineinragte, konnte Khroonas einen Spalt zum Innern hinter der Verkleidung sehen: als habe ein unsichtbares Messer den hinteren Teil von dem vorderen getrennt und ein Stück verschoben.

Dann schwebte vor Khroonas flachem Gesicht plötzlich ein einzelner Speicherkristall wie ein schwefelgelber Glutpunkt in der Luft. Von nichts gehalten, bewegungslos. Etwas, was völlig unmöglich war.

Lautes Krachen und das schriller werdende Heulen der Alarmpfeifen bewiesen ihm, dass es sich bei den Verschiebungen keineswegs nur um optische Täuschungen handelte.

Khroonas sah Arghraak weiterhin durch die Holoübertragung. Sein Stellvertreter öffnete den breiten Mund und rief etwas zu Khroonas herüber, aber kein Laut drang durch. Erst mit erheblicher Verspätung erreichten ihn Arghraaks Worte: »Funktionsfehler im Bündler! Starke Hyperfluktuationen!«

Khroonas erwachte wie aus einer Starre. Hastig brüllte er Befehle. »Alle Einheiten, Anflug abbrechen! Notsignal absetzen!«

Wieder veränderte sich die Umgebung. Das hektische Blinken der Warnlampen wurde mit einem Mal langsamer, träger, jede Bewegung schien wie durch zähen Brei zu erfolgen.

»2000«, las Khroonas von einer Anzeige ab. Zweitausend Einheiten hatten bereits das Abstrahlfeld durchflogen. Immerhin funktionierte die Technik also noch, allerdings ...

Plötzlich wurde Khroonas von einem merkwürdigen Gefühl ergriffen, als risse ihn eine unbekannte Kraft nach vorn und stelle ihn dann an exakt demselben Platz wieder auf die Füße.

»4186«, lautete die Anzeige von einem Augenblick auf den anderen. Sämtliche Passagezähler waren mit einem Mal weitergesprungen. Das Ganze wiederholte sich mehrfach.

Fassungslos beobachtete Khroonas, wie gerade aktivierte Holokontrollen erloschen und seine Arme daraufhin wie von selbst exakt die Bewegung vollführten, die sie schon Momente zuvor getan hatten.

»Chronale Dislokation!«, rief er warnend. Er hatte keine Ahnung, ob Arghraak ihn hörte.

Khroonas sah seinen Stellvertreter immer noch, aber es war, als hätte sich das Holo vervielfältigt: Nun schwebten mehrere Rahmen über- und nebeneinander, flackerten, zeigten Arghraak bei verschiedenen Handlungen, übertrugen: »Funktionsfehler im B...«, »Durchtritt begrrr ...«

Wieder irisierte Rot vor Khroonas' Augen. Und dann ... fragmentierte die Zentrale. Nein, die ganze Walze! Die geschlitzten, grünen Augen weit aufgerissen, machte der Kommandant der Maahkflotte Phosphorrot die eigentlich unmögliche Beobachtung, dass sich seine zwei Kilometer lange Walze in sich verschob und verdrehte, einem Stapel gefrorener Methanplatten gleich, die gegeneinander verrückt wurden. Der Effekt verschob ringsum Wände und Konsolen, ja sogar Besatzungsmitglieder scheibenartig in sich, erreichte Khroonas ...

... und dann war da nichts mehr.

 

Arghraak atmete durch. Die Bläser standen auf Maximalleitung, und trotzdem fühlte sich seine Haut an, als habe sie seit Ewigkeiten keinen Abrieb mehr bekommen.

»Keine einzige Großwalze hat es geschafft«, meldete ihm sein Grek-6 und rieb sich über die Haut.

In den Ortungsholos schwebte ein Meer von Wrackteilen. Viele von ihnen erinnerten an Scheiben, als wären die Walzen sauber geschnittene Groohinkawürste.

»Masse und Zahl der Wrackteile sind weitaus niedriger, als es dem Gesamtbestand der fehlenden Raumschiffe entspräche. Selbst wenn wir nur jene rechnen, deren Transfer uns bekannt ist.« Der Grek-6 schubberte nervös seine Handfläche an der aufgerauten Konsole, sodass feine Hautschuppen abfielen.

»Kein Kontakt mit dem vor dem Bündler zurückgelassenen Teil der Flotte«, informierte der Grek-8.

Arghraak schüttelte seine Arme. »Sie wären ohnehin zu weit entfernt. Gibt es Zeichen von der WELTENZERSTÖRER?«

»Unsere Instrumente zeigen ihren Eintritt in die Transferzone an. Analyse läuft. Wir haben Beschädigungen in den meisten Systemen, es kann leider etwas dauern.«

Wenig später grollte der Grek-6 und presste die vorderen Augenlider zusammen. »Einige Wrackteile konnten als zum Kommandoschiff gehörig identifiziert werden.«

Arghraak dachte an Khroonas. Unmöglich, dass ein Maahk das überlebt haben konnte. Noch nicht einmal als Wrack hatte das Schiff den Übertritt komplett geschafft, es fehlten zu große Teile.

»Was war das?«, fragte er. Die Antwort war unbefriedigend, aber daran war nichts zu ändern.

»Eine Art interdimensionale Gravitationswelle hat uns während des Transits in den Normalraum zurückfallen lassen. Deshalb steht hier kein Bündler in der Nähe.« Der Wissenschaftler wusste um die Defizite seiner Erklärung. »Die Energiespitzen waren enorm und haben viele Schiffe während des Rücksturzes förmlich zerrissen. Je größer die Einheit, desto größer war das auftreffende Energiequantum. Wir haben die Welle zurückverfolgt. Sie scheint von irgendwo jenseits des galaktischen Zentrums gekommen zu sein. In der Ostlage. Außerdem haben sich etliche Konstellationen verschoben. Einen konkreten Zeitfaktor konnten wir nicht bestimmen.«

»Wie viele sind wir noch? Vor allem: Wie viele Kampfschiffe sind noch einsatzbereit?«, wollte Arghraak erfahren. Selbstverständlich würde er nicht trauern. Der Gedanke allein wäre ihm absurd vorgekommen. Aber den Erwartungen seines verstorbenen Kommandanten gerecht werden, das wollte er.

»Ich kompensiere defekte Systeme durch Abgleich mit der Flotte. Verlust sämtlicher Einheiten über 1200 Meter. Der Effekt hat sie offenbar besonders getroffen. Wir zählen exakt 3200 Kampfschiffe, die überwiegend bedingt einsatzklar sind. In diesem Rahmen ist der Verband gefechtstüchtig.«

Die Schönheit der Zahl berührte Arghraak tief: hundert mal vier mal acht. Acht, die Zahl, die dem Ideal am nächsten kam. Trotz allem war das Schicksal ihnen also gewogen.

Wie zur Bekräftigung spürte er die Vorzeichen des Permazorns. »Ortung, was sagt unser Kurs?«

»Vor uns liegt ein bewohntes Sonnensystem«, antwortete der Grek-6. »Die Taster arbeiten zwar unzuverlässig. Es ist aber in jedem Fall ein System der Oxyds.«

Arghraak grollte leise. Wenn die Sensoren Unschärfen meldeten, bedeutete das nur, dass sie dringend instand gesetzt werden mussten.

Aber erst später. Er spürte den Permazorn in sich rumoren, wusste, dass die Mannschaften der Flotte nun, wo ein Ziel vor Augen lag, danach lechzten, den Angriff zu starten. Er teilte dieses Gefühl. Sie würden den Feind angreifen, wo auch immer er sich zeigte.

»Genauere Einschätzung unserer Kampfkraft?«

»Eingeschränkt, insbesondere die Leistung der Feinerfassung. Unsere Jägerstaffeln sind auf rund zehn Prozent geschrumpft. Außer für extrem mobile Gegner genügt die Erfassung jedoch. Die Schutzschirme sind ebenfalls beeinträchtigt, aber stabil. Waffensysteme größtenteils einsatzbereit. Normmeilerleistung bei im Durchschnitt achtzig Prozent.«

Zweiunddreißig. Eine Glückszahl. Dazu der Permazorn, der nach langer Zeit des Wartens ein Ventil suchte. Ein Ziel, das bereits geschwächt war. Arghraak horchte in sich hinein. Logik und Gefühl waren in Harmonie. »Troohmek stolt Korkklit oon! Der Sieg und der Tod sind unser!«, brüllte er.

Die Flotte Phosphorrot gab Vollschub.

1.

 

 

Jie Tao: Angst

 

Für Jie Tao war das Leben ein Kampf. Und zwar im Wortsinn. Im Stillen dankte er seinen Eltern jeden Abend dafür, dass sie ihn zu den etwas altbackenen Kung-Fu-Lektionen geschickt hatten.

Damals hatte er sie gehasst. Nach der Schule einen Weg von fünf Kilometern zu Fuß zurücklegen, sich in das Raster der Schüler einreihen, aus dem er als hochgewachsener Junge mit japanischem Einschlag und kräftigerem Teint zwischen den bleichen anderen Kindern herausstach. Nicht enden wollende Stunden mit irgendwelchen anstrengenden Übungen verbringen zu müssen, getadelt zu werden, weil er das rechte Bein nicht genug und dann wieder zu viel gebeugt, die Deckung nicht schnell genug hochbekommen oder bei einem Hieb schmerzvoll aufgestöhnt hatte ... Nein, Jie Taos Welt war das so ganz und gar nicht gewesen. Aber seinen Eltern zu Ehren hatte er die Pein auf sich genommen, ohne zu murren.

Sein Vater arbeitete als Ingenieur an der Drei-Schluchten-Talsperre. Sie waren weit weg von ihrer Heimat gezogen. Der Vater hatte Jie erlaubt, Spanisch zu lernen, wie es der Traum des Jungen war.

»Aber damit du deine Wurzeln nicht vergisst, gehst du zum Gottesanbeterinnen-Kung-Fu«, hatte er zusätzlich bestimmt.

Das alles lag viele Jahre zurück. Spanisch hatte ihm in den bald drei Jahren seit der Rückkehr in der memetischen Arche auf ganz besondere Weise geholfen.

Kein bisschen jedoch hätte es ihm gegen das genützt, was gerade auf seinen Kopf zupfiff: Um Haaresbreite verfehlte ihn eine rostige Kette, wand sich in der Luft wie eine fliegende Schlange, beschrieb eine enge Kehrtwende und kam mit kaum verminderter Wucht zurück.

Stattdessen rettete ihm Kung-Fu die Haut. Dank der trainierten Körperspannung gelang es ihm, rechtzeitig über die heranzischende Kette zu springen, und dank der endlosen Übungen in Auge-Hand-Koordination konnte er seine eigene Kette mittels einer komplizierten Verrenkung des Körpers in Richtung der Gegnerin schnalzen lassen – und trotzdem aus dem Augenwinkel die Gefahr erkennen, die sich in Gestalt eines zweiten Angreifers von der Seite näherte. Er konnte einen, aber nicht beide Gegner gleichzeitig im Blickfeld behalten.

Ein Bein weit ausgestreckt, das andere Knie dicht angewinkelt, duckte er sich aus dem Sprung auf den Boden hinunter, ohne den Blick zu senken, vermied damit einen Keulenhieb, und rollte sich geschickt nach hinten ab. Seine Füße suchten nach festem Stand auf dem matschigen Boden. Rasch blinzelte er den Schweiß weg, den das feuchtwarme Klima ihm in die Augen trieb. Nun befanden sich seine Gegner beide vor ihm: Er konnte sie leichter im Blick behalten.

»Ich krieg dich!«, schrie die Frau erbost. Sie hatte ihr Gesicht hinter einer Maske verborgen, die genauso aus zusammengestückelten Teilen bestand wie der Rest ihrer Flickenrüstung. Unter Leder, Gummi und Wollstücken glänzten sehnige Arme.

Ihr Kumpan war ein Schrank von einem Mann. Er trug eine abgewetzte Lederjacke, die aussah, als hätte sie seit der Evakuierung der Erde auf einem rostigen Autodach gelegen. Verschlungene Tätowierungen krochen über die Haut, die sich über die Muskeln seiner Arme spannte. Die schwarzblauen Muster wanden sich aus seinem Kragen heraus und die Kehle hinauf bis zu seinen Wangen. Diese Art von Motiven ließ sich die üblere Sorte von Straßenbanden stechen. Der Doppelschläger wirkte in seinen Pranken wie ein Spielzeug. Es war ein stumpfes, allerdings äußerst fieses Gebilde, umwickelt mit Ketten und Metallstücken.

Die Stimme des Tätowierten dröhnte wie eine angerissene Bassbox. »Das war's, mein Junge!« Er schwang die Doppelkeule zu einem mächtigen Schlag und stürmte vor.

Nun zeigte sich ein weiterer Vorteil von Jies jahrelanger Schinderei: Er unterschätzte die Frau nicht. Das rettete ihm vermutlich erneut seine Haut. Anstatt sich von der scheinbar geringeren Gefahr der Gegnerin abzuwenden, folgte Jie ihrer blitzschnellen Bewegung, mit der sie ihn erneut von der Seite in die Zange zu nehmen versuchte.

Er brachte sie zwischen sich und den Muskelprotz und verhinderte dadurch einen schmerzhaften Treffer mit der Kette. Stattdessen peitschte er seine eigene Kette schräg von oben auf den Anstürmenden nieder. Sie glitt ihm beinahe aus den schweißnassen Händen, wickelte sich um die erhobene Doppelkeule und vereitelte immerhin einen Hieb.

Als der Tätowierte kräftig an ihr zog, ließ sich Jie von dem Ruck wie ein Laubblatt in einer Windböe mittragen, tänzelte leichtfüßig um die eigene Achse, sodass er den Schwung optimal ausnutzen konnte, führte zugleich die Fäuste mit der Kette über den Kopf und kam so in den Rücken seines Gegners. Das brachte ihn direkt in die Angriffslinie der Kämpferin.

Überrascht von seinem Manöver, schlug die Frau zu. Eben darauf hatte Jie gehofft. Es gelang ihm, dem Hieb auszuweichen, wobei er auf der nassen Erde ausrutschte und stürzte. Aber das war unwichtig, denn die Kette der Angreiferin schlug ihrem Kumpan mit voller Wucht über den Rücken.

Zweifellos wäre Jie zermalmt worden, wenn seine Gegner Zeit gehabt hätten, sich mit ihm zu beschäftigen.

Stattdessen schrie die Frau: »Der hat uns verarscht! Nach hinten!« Sie sprang an ihm vorbei, ohne ihn weiter zu beachten.

Der Tätowierte wirbelte mit einer für seine Leibesfülle beachtlichen Behändigkeit herum und brüllte einen Fluch. »Verdammte Axt!« Seine Füße stampften wie Stahlpressen in den schlammigen Boden.

Keine drei Sekunden später erklang Jubelgeschrei. Jie Tao hob das dreckverschmierte Gesicht und musste grinsen. Er hatte die beiden lange genug hingehalten, dass seine Mannschaft einen Punkt hatte machen können. Nichts anderes zählte bei dem Spiel. Erschöpfung und Schmerz überwältigten ihn, und sein Kopf fiel in den Morast zurück.

 

Musik, Lachen und Gesang lagen in der Luft.

»Gut gemacht, Costa!«

»Mann, Junge, und ich hab dich mal Bohnenstange ohne Muckis genannt. Das war super, ey! Mann, Junge!«

»Wirklich gut. Ich habe dir was vom Grill beiseitegelegt. Und 'n halbes echtes Bier. Hau rein!«

Jie Tao nahm lächelnd die Glückwünsche seiner Mannschaftskameraden entgegen und ergriff mit zitternden Fingern Braten und Flasche, die ihm gereicht wurden. Es kostete ihn große Anstrengung, sich aus dem Liegen weit genug aufzurichten.

»War höchste Zeit. Sterbe vor Hunger«, sagte er mit zittriger Stimme und brachte ein schmerzhaftes Lachen hervor.

»Also echt ... Costa, ich hätte unseren Kornfraß nicht länger sehen können.« Bene, eine Frau mit Streichholzfrisur, die sich irgendwann mal mit allzu kruden Mitteln »Warchick« in die Stirn hatte ritzen lassen, strahlte ihn aus ihren stahlgrauen Augen an. Sie war natürlich viel älter als der junge Jie und die unumstrittene Anführerin des Teams, aber in ihrem Blick lag die Anerkennung der Ebenbürtigen.

Das Fleisch roch wunderbar, und es schmeckte sogar noch besser. Nur war Jie so erschöpft, dass er es trotzdem nur mit Mühe herunterbrachte. Das Bier half.

El Commandantessa, wie Bene sich bar aller grammatikalischen Konventionen nennen ließ, hatte es tatsächlich geschafft, sogar eine Flasche mit einer Spur Kohlensäure zu beschaffen.

»Die Leute sind sehr zufrieden mit dem Spiel. Sie behaupten, seit der Rückkehr der Arche kein spannenderes erlebt zu haben.« Sie lachte. »Okay, das Spiel wird erst seit einem Jahr wirklich gespielt ... Aber das Wichtigste ist, sie sagen das nicht nur, sie haben auch extra ein Schwein und eine Ziege geschlachtet, nur für uns.« Sie deutete auf die Flasche in Jies Hand. »Das da habe ich ihnen allerdings von ihren Biervorräten mit sehr viel Geduld abschwatzen müssen. Jede Begeisterung hat halt ihre Grenzen.«

Nicht, dass du viel Geduld beim Überzeugen hättest, dachte Jie und rechnete es Bene umso höher an, dass sie ihm von ihrer Beute eine halbe Flasche abgegeben hatte.

Die Commandantessa prostete ihm mit einer Kanne sauren Weins zu. »Ich hab noch was Besseres, um dich wieder auf Trab zu bringen.«

Jie hob die Augenbrauen. Im Augenblick fühlte sich sein Körper so an, als hätte eine wild gewordene Büffelherde ihn tief in die Liege gestampft, auf der er lag.

»Hab einen kuscheligen Bär für mich geangelt ... und für dich hab ich mir erlaubt, den schönsten Jüngling des Dorfs beiseitezunehmen. Ganz dein Ding, blond wie die Sonne ... na ja, wie die Sonne gewesen ist, bevor sie einfach nur grellweiß wurde ... Rank und schlank, der wird dir gefallen. Und stell dir vor, keine Narben.«

Jie brachte ein Lächeln zustande. Es hatte ihn einige Zeit gekostet, mit dem offenen Wesen in den Siedlungen der nicht rezivilisierten Welt umgehen zu lernen, und so ganz hatte er es immer noch nicht übernommen. Im Augenblick überwog das Verlangen nach einer zärtlichen Berührung jedoch jede Scham.

Die Commandantessa hatte nicht zu viel versprochen. Kaum dass der Junge ihn in die Arme geschlossen hatte, sichtlich angetan von Jies sandbraunem Teint und ebenso schlanker Gestalt, fühlte Jie Tao sich geborgen und sicher wie zu glücklichen Kinderzeiten. Schlanke Finger strichen über die blauen Flecken und Narben und nahmen all den Schmerz von ihm. Die graublauen Augen und die weichen Lippen all seine Angst.

 

Spät am nächsten Vormittag zogen sie weiter. Jie Tao tauschte noch ein liebevolles Fingerhakeln mit seinem Bettgenossen, ihre Blicke versprachen einander ein Wiedersehen, dann schulterte seine Truppe Ausrüstung und Vorräte und verließ den Ort. Wolken dämpften die Sonnenstrahlen, die sonst unerträglich stark gewesen wären. Dafür war es wieder so drückend heiß, wie es den ganzen vergangenen Monat schon gewesen war.

Sie passierten die dicht mit Weinranken überwucherten Ruinen dessen, was vor wenigen Jahren noch eine blühende Vorstadt gewesen war. Arkonidische Roboter hatten während der Zeit, als die Erde verwaist gewesen war, für eine grobe Instandhaltung gesorgt, aber nicht in allen Regionen.

In dieser zum Beispiel nicht, weswegen sie stärker von der Verwilderung betroffen war als andere Bereiche der Erde. Bäume hatten sich durch Fugen im Asphalt gezwängt und waren mit unnatürlicher Geschwindigkeit in die Höhe geschossen. Lianenartige Gewächse hingen von den Ästen, in denen immer gleiche Vögel angeregt schwatzten.

Die Feuchtigkeit wird immer schlimmer, dachte Jie. Das Grün wächst wie im Zeitraffer. Bald wird das Wetter unerträglich ...

Alle hielten ihre Schutzbrillen griffbereit. Einige waren hochwertige Artefakte aus arkonidischer Fertigung, die meisten aber nur Überbleibsel der einstmals blühenden menschlichen Zivilisation. Beute von Raubzügen durch verlassene Supermärkte und eingestürzte Tankstellen.

»Weiter im Norden gibt es richtige Läden«, sagte Pastille brummig, die einen kurzen Schläger über der Schulter trug. »Was gäbe ich drum, mal wieder eine Flasche mit richtig frischer Cola zu trinken. So mit original versiegeltem Verschluss, der beim Drehen knackt.«

»Und womit möchtest du die Flasche bezahlen?«, höhnte Bene. »Du glaubst ja wohl nicht, dass es da auch nur eine Mannschaft gibt, gegen die wir antreten könnten. Ganz zu schweigen davon, dass sie uns niemals spielen lassen würden.«

»Da spielen sie es noch wie früher«, ließ sich Jie vernehmen, während er einen Vorhang aus feuchtklebrigem Grünzeug aus dem Weg schob. »Da gab es keine Narben. Nicht mal blaue Flecken. Ich hab es mal in einer Holoübertragung gesehen.«

Die Commandantessa spuckte aus. »Was wäre das denn für ein Spiel? Darum geht es doch gerade: Alles zu geben und zu wissen, dass du jederzeit den Arm gebrochen bekommen kannst. Oder den Schädel. Das ist echtes Spiel.«

Pastille schlängelte sich um die Überreste einiger arkonidischer Instandhaltungsroboter herum, aus deren Werkzeugschächten und Nackenpartien üppiges Grün spross. Sie sahen aus, als wären sie vor langer Zeit unter der steigenden Belastung ihrer Aufgaben zusammengebrochen. »Ich wusste, dass du so reagierst. Ich hätte einfach nur gern mal wieder was Richtiges zu trinken ...«

Jie Tao hörte dem Geplänkel der beiden Frauen schon nicht mehr zu. Er hatte ebenfalls geahnt, dass Bene so reagieren würde. Nein, er hatte darauf gehofft. Denn im Norden, weiter im Süden, im Westen und ganz besonders im fernen Osten erwartete ihn nur eins: Angst.

 

»Sie kommen! Sie kommen!«

So wurden sie begrüßt, als sie am Abend eine von Palisaden umzäunte Wagenburg erreichten. Oder besser gesagt, zu einer Ansammlung von halb verrotteten Wohnwagen mit blinden Plastikscheiben, einigen wenigen Bauwagen, zu stählernen Wohnhöhlen umgebauten Bussen und anderen Behausungen, die einstmals vielleicht provisorisch gewesen, aber längst zu permanenten Heimstätten für ihre Bewohner geworden waren.

»Willkommen in unserem Reich!«, begrüßte sie ein stämmiger Mann mit der Statur eines Holzhackers und einem dichten Vollbart. »Wir sind eigentlich eine verschlossene Gemeinschaft, aber so jemand wie ihr ist immer gern gesehen!«

»Erzählt!«, rief eine junge Frau, die mit großen Augen aus einem windschiefen Doppeldeckerbus mit Moosbesatz stürmte. »Ich bin immer heiß auf Abenteuer!«

Das schien nicht nur auf sie zuzutreffen.

»Hier, was für die Birne!«, erscholl es von etwas her, das wie eine Schlange aus hintereinandergenieteten Toilettenhäuschen aussah. Ein Mann erschien mit beiden Armen voller Korbflaschen und Tonkrüge.