Dr. Daniel – Jubiläumsbox 6 – E-Book: 29 - 34

Dr. Daniel
– Jubiläumsbox 6–

E-Book: 29 - 34

Marie Francoise

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-172-8

Weitere Titel im Angebot:

Kinderlos - und keine Hoffnung?

Roman von Marie-Françoise

  Völlig niedergeschlagen betrat Bettina Gehrke das Sprechzimmer ihres Gynäkologen Dr. Markus Reintaler.

  »Herr Doktor, ich habe meine Tage wieder bekommen«, platzte sie sofort heraus, dann ließ sie sich mit einem tiefen Seufzer auf den Stuhl fallen, der dem Schreibtisch des Arztes gegenüberstand. »Warum kann ich denn einfach nicht schwanger werden?«

  Doch damit war auch Dr. Reintaler überfragt. Er hatte bei der Patientin wirklich alle Untersuchungen durchgeführt, die Aufschluß darüber hätten geben können, weshalb es bei ihr mit einer Schwangerschaft nicht klappen wollte. Auch Bettinas Ehemann hatte sich von mehreren Ärzten untersuchen lassen, wobei sich aber angeblich ebenfalls keine Auffälligkeiten ergeben hatten.

  »Im Augenblick weiß ich wirklich nicht, was ich Ihnen noch raten soll, Frau Gehrke«, gestand Dr. Reintaler ehrlich. »Aus medizinischer Sicht gibt es eigentlich keinen Grund dafür, daß Sie nicht schwanger werden.« Er schwieg kurz. »Vielleicht sollten Sie die ganze Sache etwas gelassener angehen.« Mit einem verlegenen Lächeln fügte er hinzu: »Ich weiß schon, das ist leichter gesagt als getan. Wenn man sich ein Baby wünscht, dann ist es sicher nicht ganz einfach, sich keinen psychischen Zwang aufzuerlegen.«

  Bettina nickte. »Da haben Sie völlig recht, Herr Doktor, wobei ich sagen muß, daß ich vor drei Jahren, als wir uns zu einem Baby entschlossen haben, noch völlig locker und gelöst gewesen bin. Der Gedanke, daß ich Probleme mit dem Schwangerwerden haben könnte, kam mir überhaupt nicht. Schließlich hatte meine Mutter vier Kinder, und meine Schwestern sind auch schon längst mehrfache Mütter.« Ein wenig hilflos zuckte sie die Schultern. »Nur bei mir will es einfach nicht klappen.«

  Dr. Reintaler zögerte einen Moment, dann stellte er die Frage doch: »Haben Sie sich eigentlich schon einmal über eine künstliche Befruchtung Gedanken gemacht?«

  »Wenn ich ehrlich bin – nein. Ich wollte eigentlich schon auf natürlichem Weg schwanger werden.«

  Dr. Reintaler nickte. Dafür hatte er durchaus Verständnis, andererseits…

  »Vielleicht sollten Sie doch mal darüber nachdenken, Frau Gehrke«, meinte er. »Im Grunde ist es ja kaum etwas anderes.«

  »Wie man’s nimmt«, wandte Bettina ein, dann seufzte sie. »Aber Sie haben schon recht, Herr Doktor. Bevor ich völlig kinderlos bleiben muß, werde ich es lieber damit versuchen.«

  »Überlegen Sie es sich«, riet Dr. Reintaler. »Sie sind erst neunundzwanzig, da muß man noch nichts übers Knie brechen. Ich wollte eigentlich nur, daß Sie sich mit dieser Möglichkeit einmal etwas näher beschäftigen.«

  »Das werde ich tun, Herr Doktor«, versprach Bettina. »Wenn Manfred… ich meine, mein Mann auch damit einverstanden ist, dann werde ich mich wieder mit Ihnen in Verbindung setzen.«

  »Das geht leider nicht«, entgegnete Dr. Reintaler bedauernd. »Ich bin nur noch bis zum nächsten Ersten hier in Bielefeld. Mein Vater klagt über zunehmende Herzprobleme, und sein Hausarzt hat ihm nun dringend geraten, seine Tätigkeit als Arzt aufzugeben. Mein Vater hat zwar nichts gesagt, aber ich glaube, er wäre doch sehr enttäuscht, wenn ich seine Praxis nicht übernehmen würde.«

  Bettina war über diese Nachricht sichtlich erschrocken. »Wo ist denn diese Praxis, Herr Doktor? Um Sie als Arzt nicht zu verlieren, nehme ich gern auch einen längeren Anfahrtsweg in Kauf.«

  »Ihr Vertrauen ehrt mich natürlich«, meinte Dr. Reintaler und wurde dabei tatsächlich ein wenig verlegen. »Allerdings fürchte ich, daß dieser Anfahrtsweg sogar Ihnen zu weit sein dürfte. Die Praxis meines Vaters ist nämlich in München.«

  »Ach, du liebe Zeit«, entfuhr es Bettina. »So weit kann ich für einfache Routineuntersuchungen natürlich nicht fahren. Aber… ich meine…« Sie senkte den Kopf. »Wenn ich mal ein größeres Problem hätte…«

  Da lächelte Dr. Reintaler. »Dann können Sie mich jederzeit anrufen.« Er nahm einen Notizzettel, schrieb seine künftige Adresse samt Telefonnummer auf und reichte ihn Bettina. »Ich werde für Sie da sein, Frau Gehrke, egal, wann Sie mich brauchen.«

  »Das ist sehr lieb von Ihnen, Herr Doktor«, erklärte Bettina, und man sah ihr die Erleichterung an. Sie hatte in den vergangenen drei Jahren zu dem sympathischen jungen Arzt ein so grenzenloses Vertrauen gefaßt, daß sie jetzt nur sehr ungern auf ihn verzichtete.

  »Ich bin allerdings sicher, daß Sie auch mit meinem Nachfolger sehr gut zurechtkommen werden«, meinte Dr. Reintaler. »Er ist ein ausgesprochen netter und überaus verantwortungsbewußter Arzt.«

  »Da bin ich sicher«, stimmte Bettina zu. »Einem anderen würden Sie Ihre Praxis auch bestimmt nicht übergeben.«

  Wieder war Dr. Reintaler über dieses Lob sehr gerührt, und dabei kam ihm erneut zu Bewußtsein, wie sehr er alle seine Patientinnen vermissen würde.

*

  Dr. Robert Daniel wollte an diesem Morgen gerade in die Praxis hinuntergehen, als sein Sohn Stefan ins Eßzimmer gestürmt kam.

  »Meine Güte, habe ich heute verschlafen«, stieß er aufgeregt hervor. »Vor fünf Minuten hat mein Dienst begonnen, und wenn Wolfgang merkt, daß ich nicht da bin, dann macht er mich bestimmt mal wieder zur Schnecke.«

  Dr. Daniel schmunzelte. »So schlimm wird’s schon nicht werden. Jeder kann mal verschlafen. Ich bin sicher, daß auch Wolfgang dafür Verständnis hat.«

  »Das hätte er vielleicht gehabt, bevor er Chefarzt der Waldsee-Klinik geworden ist«, entgegnete Stefan gequält und winkte ab, als Irene Hansen, die ältere, verwitwete Schwester Dr. Daniels, die hier nun schon seit geraumer Zeit den Haushalt führte, mit einem Tablett hereinkam. »Für mich kein Frühstück mehr, Tante Irene. Ich muß schauen, daß ich endlich in die Klinik komme.«

  Und schon war er draußen.

  Irene seufzte tief auf. »Der arme Junge verhungert noch mal.«

  »Keine Angst, Irenchen«, tröstete Dr. Daniel seine Schwester. »Seit Darinka Stöber als Krankenpflegehelferin in der Waldsee-Klinik arbeitet, wird mein Sohn bestens verköstigt. Du weißt ja, daß sie schon als Schulmädchen für ihn geschwärmt hat, und nach allem, was ich so mitbekommen habe, verwöhnt sie Stefan jetzt nach Strich und Faden.« Er seufzte. »Ach, wenn ich es als Assistenzarzt doch auch mal so schön gehabt hätte.« Dann grinste er schelmisch. »Und nicht nur als Assistenzarzt. Wenn ich mir vorstelle, von einem hübschen jungen Mädchen jeden Morgen Kaffee und Kuchen serviert zu bekommen…«

  »Da mußt du schon mit mir vorliebnehmen«, fiel Irene ihm trocken ins Wort.

  Dr. Daniel lachte, dann nahm er seine Schwester brüderlich-liebevoll in den Arm. »Von Herzen gern, Irenchen. Es war ja auch nur ein Scherz.« Dann warf er einen Blick auf die Uhr. »So, ich muß jetzt ebenfalls schauen, daß ich in die Praxis hinunterkomme.«

  Hier herrschte dann auch schon die übliche Montagshektik, die Dr. Daniel ganz unbarmherzig aus dem geruhsamen Wochenende zurückholte.

*

  Währenddessen hatte Dr. Stefan Daniel ziemlich atemlos die Steinhausener Waldsee-Klinik erreicht und erfuhr zu seiner Erleichterung von der Sekretärin Martha Bergmeier, die auch als Mädchen für alles fungierte, daß sich der Chefarzt Dr. Wolfgang Metzler und der Oberarzt Dr. Gerrit Scheibler schon seit einiger Zeit bei einem Notfall im Operationssaal befanden. Stefans Zuspätkommen würde also unbemerkt bleiben.

  Der junge Assistenzarzt hatte allerdings nicht lange Gelegenheit, sich über diese glücklichen Umstände zu freuen, denn gerade als er auf die Station gehen wollte, stürzte ein Mann in die Eingangshalle.

  »Schnell! Einen Arzt!« keuchte er. »Meine Frau ist schwanger und hat Blutungen!«

  Stefan reagierte sofort. Er wies zwei Pfleger an, die schwangere Frau aus dem Auto ihres Mannes  zu holen und auf einer fahrbaren Trage in die Gynäkologie hinüberzubringen.

  »Beruhigen Sie sich«, bat er den aufgeregten jungen Mann. »Für Ihre Frau wird jetzt alles getan.« Er wies auf die Bank, die an der linken Wandseite stand. »Wenn Sie hier bitte warten würden.«

  Der junge Mann zögerte, kam dieser Aufforderung dann aber doch nach.

  In der Zwischenzeit war Stefan bereits in die Gynäkologie hinübergeeilt. Er wußte, daß es nicht viel Sinn haben würde, wenn er die Patientin untersuchte. Er war erst Assistenzarzt. In diesem Fall würde aber sicher ein versierter Gynäkologe vonnöten sein.

  »Schwester Bianca«, sprach er die Stationsschwester an. »Ist Frau Dr. Kern schon im Haus?«

  Bianca Behrens schüttelte bedauernd den Kopf. »Sie müßte aber bald kommen.«

  »So lange kann ich nicht warten«, murmelte Stefan, dann betrat er das Ärztezimmer, hob den Telefonhörer ab und wählte die Privatnummer von Frau Dr. Kern, doch niemand meldete sich. Offensichtlich war sie schon auf dem Weg hierher, aber wenn sie gerade erst die Wohnung verlassen hatte, dann konnte es unter Umständen noch fast eine halbe Stunde dauern, bis sie in der Klinik eintreffen würde. Kurzerhand nahm Stefan den Hörer ein zweites Mal ab und rief in der Praxis seines Vaters an. Wie immer ging dort die junge Empfangsdame Gabi Meindl an den Apparat.

  »Grüß Gott, Fräulein Meindl, hier Daniel«, gab sich Stefan zu erkennen. »Können Sie meinen Vater bitte schnellstens zur Waldsee-Klinik herüberschicken? Ein Notfall.«

  »Tut mir leid, Herr Dr. Daniel«, entgegnete Gabi bedauernd. »Ihr Vater ist gerade auf dem Weg nach München. Das war auch ein Notfall. Die Patientin mußte schnellstens in die Sommer-Klinik.«

  »So ein Mist«, knurrte Stefan, verabschiedete sich von Gabi und legte auf, während er fieberhaft überlegte, was er jetzt tun könnte. In diesem Moment hörte er Schritte hinter sich, und als er sich umdrehte, sah er sich der Gynäkologin Alena Kern gegenüber.

  »Alena! Endlich!« stieß er hervor, und bevor die Ärztin auch nur eine Frage stellen konnte, fuhr er auch schon fort: »Vor fünf Minuten ist eine schwangere Frau mit Blutungen in die Klinik gekommen, und ich konnte weder Sie noch meinen Vater erreichen.«

  Alena eilte in die Gynäkologie, zog währenddessen schon ihren Blazer aus und schlüpfte in den weißen Kittel, den Stefan ihr reichte.

  »Wo sind der Chefarzt und der Oberarzt?« wollte sie nebenbei wissen.

  »Im OP«, antwortete Stefan knapp. »Seit einer Stunde – soweit ich informiert bin.«

  Alena nickte nur, dann betrat sie das Untersuchungszimmer, wo die junge Frau mit blassem Gesicht und offener Angst in den Augen auf der Untersuchungsliege lag.

  »Ich bin Alena Kern, die Gynäkologin der Klinik«, stellte sich die junge Ärztin vor, dann lächelte sie die Patientin beruhigend an. »Keine Sorge, ich werde alles für Sie tun, was nötig ist.«

  »Ich habe solche Angst vor einer Fehlgeburt«, gestand die Frau. »Dr. Reintaler hat ja immer wieder gesagt, daß ich mich schonen solle, aber…« Ein wenig hilflos zuckte sie die Schultern. »Wir wollten auf diesen Urlaub dann doch nicht verzichten.«

  »Haben Sie Ihren Mutterpaß dabei?« wollte Alena wissen, während sie bereits dünne Plastikhandschuhe überstreifte, um die Patientin untersuchen zu können.

  »Selbstverständlich«, antwortete die Frau. »In meiner Handtasche.«

  Alena warf Stefan einen kurzen Blick zu, den er sofort verstand. Wortlos öffnete er die Handtasche der Frau und holte den Mutterpaß heraus. Er wußte, welche Angaben Alena brauchte.

  »Sechzehnte Schwangerschaftswoche«, erklärte er. »In der zehnten Woche leichte Blutungen, ansonsten keine Komplikationen.«

  »Danke, Stefan«, meinte Alena, dann richtete sie sich auf. »Ich fürchte, Sie müssen ein Weilchen bei uns in der Klinik bleiben, Frau…« Sie ließ den Satz bedeutungsvoll offen.

  »Seeberger«, antwortete die Frau sofort. »Ilse Seeberger.«

  »Es handelt sich tatsächlich um einen beginnenden Abort«, fuhr Alena mit ernstem Gesichtsausdruck fort. »Allerdings bin ich sicher, daß wir das mit Bettruhe wieder in den Griff bekommen werden.« Beruhigend tätschelte sie Ilses Hand. »Wir werden schon dafür sorgen, daß Sie Ihr Baby nicht verlieren.«

  Bei diesen Worten liefen Ilse unwillkürlich ein paar Tränen über das Gesicht.

  »Es war wirklich nur eine ganz harmlose Wanderung, Frau Doktor«, versicherte sie. »Gerhard und ich sind extra langsam gegangen, weil ich ja wußte, daß ich mich nicht anstrengen soll. Als ich dann im Waldcafé auf die Toilette ging, sah ich das Blut in meinem Slip.« Sie schluchzte auf. »Ich dachte schon… jetzt wäre alles aus.«

  »So schnell geht es in den meisten Fällen nun auch wieder nicht«, entgegnete Alena. »Wie gesagt, Frau Seeberger, Sie werden jetzt ein Weilchen das Bett hüten müssen, dann hören die Blutungen sicher bald wieder auf.« Sie wandte sich dem jungen Assistenzarzt zu. »Wir sollten Frau Seeberger vielleicht noch an den Wehenschreiber anschließen, damit wir sicher sein können, daß mit den Blutungen nicht auch noch vorzeitige Wehen eingesetzt haben.«

  »Geht in Ordnung, Alena, ich kümmere mich gleich darum«, versprach Stefan.

  »Gut.« Mit einem aufmunternden Lächeln trat die junge Ärztin zu Ilse und ergriff ihre Hand. »Ich darf Sie dann mit meinem Kollegen allein lassen, Frau Seeberger. Er wird Sie anschließend auch auf die Station bringen, und im Laufe des Nachmittags werde ich noch mal nach Ihnen sehen.«

  Dankbar drückte Ilse Alenas Hand. »Ich bin ja so froh, daß ich in dieser Klinik gelandet bin. Alle sind hier so nett zu mir.« Dann erschrak sie. »Ach du liebe Zeit, ich habe ja gleich nach dem Urlaub einen Termin bei Dr. Reintaler. Den muß ich noch absagen, wenn ich hierbleiben muß.«

  »Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, meinte Alena. »Ich werde Ihren Arzt selbstverständlich informieren.«

  Sie verabschiedete sich von Ilse und betrat wenig später das Ärztezimmer. Erst warf sie einen Blick auf den Stempel im Mutterpaß: Dr. Markus Reintaler, Bielefeld

  »Sieh an, der liebe Markus«, schmunzelte Alena. »Wie der Zufall so spielt.«

  Sie griff nach dem Telefonhörer und wählte die angegebene Nummer.

  »Praxis Dr. Reintaler, guten Morgen«, meldete sich eine sympathische Frauenstimme.

  »Hier Kern von der Waldsee-Klinik in Steinhausen«, gab sich Alena zu erkennen. »Verbinden Sie mich bitte mit dem Kollegen Reintaler.«

  »Selbstverständlich, Frau Dr. Kern, einen Augenblick bitte.« Es knackte in der Leitung, dann meldete sich eine angenehm tiefe Männerstimme. »Reintaler.«

  »Hallo, Markus, hier ist Alena.«

  »Alena?« wiederholte Dr. Reintaler überrascht. »Alena Kern?«

  »Genau die.«

  »Das ist ja eine nette Überraschung!« rief Dr. Reintaler erfreut aus. »Wir haben ja seit einer Ewigkeit nichts mehr voneinander ge-hört.«

  »Ja, weil du treulose Seele dich nie mehr bei mir gemeldet hast«, hielt Alena ihm vor. »Dabei hattest du mir beim letzten Studententreffen ganz fest versprochen, bei Gelegenheit mal anzurufen.«

  »Ich weiß«, antwortete Dr. Reintaler zerknirscht. »Ich hatte es mir auch immer fest vorgenommen, aber jedesmal ist etwas dazwischengekommen.« Daß der Hauptgrund für sein nicht eingehaltenes Versprechen Alenas Verlobung mit Dr. Hartwig Simon gewesen war, verschwieg er.

  »Mach dir deswegen keine Gedanken mehr, Markus«, entgegnete Alena. »Wahrscheinlich hättest du sogar enorme Schwierigkeiten gehabt, mich zu finden.«

  »Ja… bist du denn nicht mehr in Leipzig?« fragte Dr. Reintaler erstaunt.

  »Nein, und zwar schon lange nicht mehr. Ich habe meine Verlobung mit Hartwig gelöst.« Sie seufzte. »Das ist eine lange und sehr unerfreuliche Geschichte, Markus.« Sie schwieg kurz. Der Gedanke an Dr. Hartwig Simon, der ihr Liebe vorgeheuchelt hatte und in Wirklichkeit nur aus Berechnung mit ihr zusammengewesen war, schmerzte noch immer ein wenig. Nicht, weil sie Hartwig vielleicht noch lieben würde – das war vorbei, endgültig. Aber den Verrat an ihrer eigenen Liebe, die damals wirklich von Herzen gekommen war, hatte sie Hartwig nie ganz vergessen können – und verzeihen schon gar nicht!

  »Alena, bist du noch da?« drang Dr. Reintalers Stimme an ihr Ohr.

  »Ja, Markus, entschuldige. Da hat mich wohl für ein paar Sekunden die Vergangenheit eingeholt, dabei wollte ich überhaupt nicht mehr an diese ganze unselige Geschichte denken.« Dann wechselte sie abrupt das Thema. »Ich arbeite jetzt seit geraumer Zeit an einer kleinen Klinik in Bayern.«

  »So ein Zufall«, meinte Dr. Reintaler. »Dann werden wir uns ja in Kürze vielleicht wieder öfter sehen. Ich bin nämlich auch nur noch ein paar Tage hier in Bielefeld, dann übernehme ich die Praxis meines Vaters in München.«

  »Das ist ja wunderbar«, urteilte Alena und freute sich aufrichtig, weil sie und Markus sich dann doch gelegentlich würden treffen können. Sie hatten sich während der Studienzeit schon immer ausgezeichnet verstanden, und eine Weile hatte es sogar ausgesehen, als würde aus dieser Freundschaft mehr werden, doch dann war Hartwig in Alenas Leben getreten.

  »Über diesen ganzen Neuigkeiten hätte ich jetzt beinahe den eigentlichen Grund für meinen Anruf vergessen«, fiel es Alena plötzlich ein. »Ich habe seit einer Stunde eine Patientin von dir auf meiner Station. Ilse Seeberger.«

  Dr. Reintaler seufzte. »Dann hat sie also doch nicht auf mich gehört. Sie hat Blutungen und vorzeitige Wehen, habe ich recht?«

  »Blutungen ja«, antwortete Alena. »Ob sie auch Wehen hat, wird gerade von unserem Assistenzarzt überprüft. Mit Bettruhe werden wir das aber wieder in den Griff bekommen.«

  »Das beruhigt mich sehr«, meinte Dr. Reintaler. »Frau Seeberger hat bereits eine Fehlgeburt hinter sich, und deshalb habe ich ihr diesmal ganz dringend geraten, sich zu schonen. Als sie mir von ihrem geplanten Urlaub in den Bergen erzählte, war ich recht skeptisch, ob das wohl das Richtige für sie sei, und ich habe ihr von jeglichen Bergwanderungen abgeraten.«

  »Es soll keine besonders anstrengende Tour gewesen sein«, entgegnete Alena. »Aber wie auch immer – deine Patientin ist hier jedenfalls in den besten Händen.«

  »Das glaube ich dir unbesehen.«

  Alena lachte. »Nein, Markus, so bin ich von meinen Fähigkeiten als Ärztin nun auch wieder nicht eingenommen. Ich dachte bei meinen Worten eigentlich eher an unseren Direktor. Dr. Daniel ist ein ganz wundervoller Arzt.«

  »Oho, was höre ich denn da heraus?«

  »Gar nichts! Dr. Daniel ist über fünfzig, und ich empfinde für ihn nichts anderes als sehr viel Sympathie und größte Hochachtung.«

  »Wenn das so ist, dann hoffe ich, daß ich ihn einmal kennenlernen darf«, meinte Dr. Reintaler.

  »Das wirst du ganz sicher – vorausgesetzt, du besuchst mich einmal hier in Steinhausen.«

  »Das mache ich ganz bestimmt, Alena«, versprach Dr. Reintaler. »Und ich freue mich schon jetzt darauf, dich endlich einmal wiederzusehen.«

  Alena lächelte. »Ja, Markus, darauf freue ich mich auch.«

*

  Der Abschied von Bielefeld fiel Dr. Reintaler doch ziemlich schwer. Immerhin hatte er etliche Jahre seines Lebens hier verbracht. Andererseits freute er sich aber auch, in seine bayrische Heimat zurückkehren zu dürfen. Schließlich stammte er ja aus München, doch die Liebe hatte ihn einst nach Bielefeld verschlagen. Leider war diese Liebe nur allzu schnell wieder zerbrochen, weil Dr. Reintaler seinen Beruf sehr ernst genommen hatte. Corinna hatte dafür überhaupt kein Verständnis gezeigt, aber vielleicht war ein wirklich guter Arzt eben dazu verurteilt, ledig durchs Leben zu gehen, und Dr. Reintaler wollte um jeden Preis ein guter Arzt sein.

  Landeshauptstadt München stand auf dem Ortsschild, das Dr. Reintaler jetzt mit seinem Auto passierte, und plötzlich freute er sich so richtig auf die heimatliche Villa in Bogenhausen, von der aus man einen wundervollen Blick hinüber zum Englischen Garten hatte.

  Trotz der vielen Jahre, die Dr. Reintaler fern von hier verbracht hatte, fand er sich in seiner Heimatstadt sehr gut zurecht. Und dann konnte er endlich in die schmale Sackgasse einbiegen, an deren Ende die herrliche, im viktorianischen Stil erbaute Villa stand.

  Dr. Reintalers Urgroßvater war hier schon als sogenannter »Bader« tätig gewesen, sein Großvater als Allgemeinmediziner, sein Vater als Gynäkologe, und nun würde er die Praxis übernehmen. In diesem Moment wurde auch schon die Haustür aufgerissen, und die alte Leni lief heraus. Sie hatte Markus nach dem frühen Tod seiner Mutter praktisch aufgezogen.

  »Markus!« stieß sie hervor, während sie gleichzeitig lachte und weinte. »Markus! Endlich bist du wieder daheim, Bub!«

  Und dann schloß sie ihn in die Arme und drückte ihn an sich, als würde sie ihn nie wieder loslassen wollen.

  »Aber, Leni, du erdrückst mich ja«, meinte Dr. Reintaler mit einem gutmütigen Lächeln. »Keine Angst, jetzt gehe ich nicht mehr fort.«

  »Das will ich auch hoffen«, mischte sich sein Vater ein, der inzwischen ebenfalls herausgekommen war – ein bißchen langsamer als die Leni, weil das Herz halt nicht mehr so mitspielte. Er wartete geduldig, bis Leni seinen Sohn endlich freigab, dann nahm auch er ihn liebevoll in den Arm.

  »Schön, daß du da bist, Markus«, erklärte er, und um nicht allzuviel von seinen Gefühlsregungen preiszugeben, fügte er beinahe sachlich hinzu: »Hier wartet eine große Praxis auf dich.«

  Dr. Reintaler betrachtete die Villa, in der er aufgewachsen war. Wie viele Erinnerungen doch mit ihr verbunden waren!

  »Ich bin froh, daß ich wieder zu Hause bin«, erklärte er aus diesen Gedanken heraus. »Und ich freue mich auf die Arbeit hier.«

  Anton Reintaler klopfte seinem Sohn auf die Schulter. »Das ist fein, mein Junge. Und jetzt komm. Leni wartet anläßlich deiner Heimkehr mit einem feudalen Essen auf.« Er lächelte. »Am liebsten hätte sie alle deine Leibspeisen auf einmal gekocht, aber wegen meiner Diät hat sie sich dann doch ein bißchen zurückgehalten.«

  Diesen Eindruck hatte Markus allerdings ganz und gar nicht. Leni hatte wirklich alle Register ihres Könnens gezogen: Leberspätzlesuppe, Schweinebraten mit Knödeln und Berge von Salaten. Und als Nachtisch trug sie dann noch Apfelstrudel mit Vanilleeis auf.

  »Leni, willst du mich denn umbringen?« stöhnte Markus, als die gute Haushälterin schließlich Kaffee und Kuchen hereinbringen wollte.

  Jetzt machte sie ein ganz bekümmertes Gesicht.

  »Aber, Bub, du hast ja kaum etwas gegessen«, erklärte sie und war dabei den Tränen nahe.

  »Kaum etwas…«, brachte Markus mühsam hervor, dann mußte er lachen. »Meine liebe Leni, ich glaube, du willst mich mästen. Von dem, was ich gerade alles gegessen habe, könnte ich normalerweise eine Woche lang leben.« Dann nahm er die Haushälterin liebevoll in den Arm. »Aber es war wirklich ausgezeichnet, und wenn du jeden Tag etwas so Gutes auf den Tisch bringst, dann werde ich meine gute Figur vermutlich nicht lange halten können.«

  »Pah!« machte Leni abwertend. »Von wegen gute Figur! Völlig abgemagert bist du.« Dann tätschelte sie seine Wange. »Aber ich werde dich schon wieder aufpäppeln.«

  »Das fürchte ich auch«, entgegnete Markus leise, dann sah er seinen Vater an. »Etwas anderes, Papa. Kennst du eigentlich Steinhausen?«

  »Ja, leider«, knurrte Anton Reintaler.

  Markus runzelte die Stirn. »Leider? Wieso denn das?«

  »Ich war vor ein paar Jahren mal dort«, erzählte sein Vater. »Dieses Steinhausen ist ein ganz idyllisches Fleckchen Erde, das man unglücklicherweise mit einer riesigen Chemiefabrik total verunstaltet hat. Die CHEMCO! Ist dir vielleicht ein Begriff.«

  Markus nickte. »Selbstverständlich. Da werden ein paar außerordentlich gute Arzneimittel hergestellt.«

  Anton Reintaler grummelte etwas Unverständliches, aber Markus kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er von Chemie im allgemeinen nicht sehr viel hielt, obgleich er als Arzt eben auch immer wieder darauf hatte zurückgreifen müssen.

  »Ich habe den meisten meiner Patienten mit Naturheilmitteln geholfen«, erklärte er jetzt auch schon.

  »Das versuche ich auch«, stimmte Markus ihm zu. »Aber immer ist das halt auch nicht möglich. Allerdings interessiert mich Steinhausen weniger wegen der Chemiefabrik, als vielmehr wegen der Klinik, die es dort geben soll.«

  Überrascht zog Anton Reintaler die Augenbrauen hoch. »Eine Klinik? In diesem Dorf?«

  »Ja, vorausgesetzt, wir sprechen nicht von zwei verschiedenen Steinhausens.«

  »Ganz bestimmt nicht«, bekräftigte Anton Reintaler. »Abgesehen von dem Münchner Stadtteil gibt es in dieser Gegend nur noch ein Steinhausen, und das liegt am Waldsee.«

  Markus zögerte. »Papa, wärst du mir sehr böse, wenn ich heute noch dorthin fahren würde?«

  Aufmerksam sah Anton Reintaler seinen Sohn an. »Gibt es da vielleicht einen Magneten, der dich anzieht?«

  Markus schmunzelte. »Nicht direkt. Eine Studienfreundin, die ich lange nicht gesehen habe, arbeitet an dieser Klinik in Steinhausen.«

  Doch Anton Reintaler kannte seinen Sohn gut genug, um zu wissen, daß da bestimmt ein wenig mehr dahintersteckte.

  »Ich halte dich ganz bestimmt nicht zurück, Markus«, erklärte er. »Nütze die Zeit, die du jetzt noch hast, ruhig aus. Ab Montag, wenn die Praxis wieder geöffnet ist, wirst du für solche Ausflüge sicher nur noch wenig Gelegenheit finden.«

  Rasch stand Markus auf und drückte die Hand seines Vaters. »Danke, Papa.« Und schon war er weg.

  »Es ist ja doch ein Magnet«, murmelte Anton Reintaler, dann schmunzelte er. »Wird auch langsam Zeit. Der Junge war bisher schon viel zu lange allein.«

*

  Frau Dr. Alena Kern war mit der Entwicklung der Dinge sehr zufrieden. Die Blutungen bei Ilse Seeberger hatten schon nach wenigen Tagen aufgehört, und Ultraschalluntersuchungen hatten ergeben, daß es dem Ungeborenen an nichts fehlte. Wenn sich die Patientin auch weiterhin ein bißchen schonen würde, dann würde sie in ein paar Monaten sicher ein gesundes Baby zur Welt bringen.

  »Alena, Sie sind heute hier?« fragte Dr. Daniel erstaunt. Obwohl Samstag war, hatte er sich zu einem kurzen Besuch in der Klinik entschlossen. Immerhin war er ja Direktor, und da war es seiner Meinung nach seine Pflicht, auch am Wochenende gelegentlich nach dem Rechten zu sehen.

  »Soweit ich weiß, hat doch Gerrit Wochenenddienst«, fügte er hinzu.

  Alena nickte. »Das stimmt schon, Robert, aber ich habe noch etliches aufzuarbeiten, und da kommt mir die Ruhe, die am Wochenende hier meistens herrscht, sehr zugute. Außerdem wollte ich nach Frau Seeberger sehen.«

  Besorgt runzelte Dr. Daniel die Stirn. »Und? Wie geht’s ihr?«

  »Recht gut«, antwortete Alena. »Wenn sie in Zukunft vernünftiger ist und sich nicht wieder überanstrengt, dann wird die Schwangerschaft bestimmt problemlos verlaufen.«

  »Das freut mich zu hören«, meinte Dr. Daniel, dann verabschiedete er sich von Alena, riet ihr, nicht mehr zuviel zu arbeiten, und verließ schließlich die Gynäkologie. Als er die Eingangshalle erreichte, kam ihm ein großer, schlanker Mann Ende Dreißig entgegen. Dichtes, dunk-les Haar umrahmte ein schmales, sehr männliches Gesicht, in dem die tiefblauen Augen dominierten. Alles in allem machte er einen sehr sympathischen Eindruck.

  »Guten Tag«, grüßte er Dr. Daniel jetzt mit freundlichem Lächeln. »Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich Frau Dr. Kern finde? Ich bin ein Studienfreund von ihr. Markus Reintaler ist mein Name.«

  Dr. Daniel reichte ihm die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Kollege. Alena hat mir schon gesagt, daß Sie sich bei Gelegenheit hier sehen lassen würden. Ich bin übrigens Robert Daniel, der Gynäkologe hier am Ort.«

  »Und überdies der Klinikdirektor«, fügte Markus hinzu, dann lächelte er. »Sie sehen, auch ich bin gut informiert. Und es ist mir eine ganz besondere Ehre, Sie kennenzulernen. Alena hat mir erzählt, was für ein erstklassiger Arzt Sie sind.«

  »Ach, du liebe Zeit, das ist alles Übertreibung«, wehrte Dr. Daniel bescheiden ab. »Ich tue nur, was ich kann.« Dann lenkte er von diesem Thema sofort wieder ab. »Sie haben Glück, Herr Kollege. Alena hält sich gerade hier in der Klinik auf.« Er wies zu den Doppeltüren, die zur Gynäkologie hinüberführten. »Die zweite Tür rechts.«

  »Danke, Herr Kollege.« Markus lächelte. »Ich nehme an, daß wir uns künftig hin und wieder begegnen werden. Ich werde zwar in München praktizieren, aber ich denke, daß mich mein Weg gelegentlich schon nach Steinhausen führen wird.«

  »Das ist schön«, urteilte Dr. Daniel und dachte dabei hauptsächlich an Alena. Sie sprach zwar nicht darüber, aber Dr. Daniel hatte schon mehr als einmal gespürt, daß sie sich manchmal doch sehr einsam fühlte. In ihren Kollegen und Kolleginnen hatte sie zwar wirkliche Freunde gefunden, aber das war eben kein ausreichender Ersatz für die Liebe, die ihrem Leben fehlte.

  Markus verabschiedete sich von Dr. Daniel, dann ging er in die Gynäkologie hinüber. Die zweite Tür auf der rechten Seite stand offen, und als Markus sah, daß Alena ihm den Rücken zuwandte, konnte er nicht umhin, rasch hinter sie zu treten und ihr die Augen zuzuhalten.

  »Gerrit, was soll denn dieser Quatsch?« wollte Alena wissen. »Meine Güte, du bist verheiratet und hast ein Kind. Allmählich solltest du solchen Albereien aber wirklich entwachsen sein.«

  »Ich bin weder Gerrit noch verheiratet, und ein Kind habe ich schon gar nicht«, erklärte Markus grinsend, dann nahm er die Hände weg.

  Völlig fassungslos starrte Alena ihn an, dann glitt ein Strahlen über ihr hübsches Gesicht.

  »Markus!« Spontan umarmte sie ihn. »Menschenskind, ist das schön, dich zu sehen.«

  »Das will ich auch hoffen«, feixte Markus, dann wurde er ernst. »Ich bin heute in München angekommen, und nach dem Essen hat es mich gleich hierhergetrieben.« Er lächelte. »Allerdings hätte ich nicht erwartet, dich jetzt bei der Arbeit anzutreffen. Eigentlich wollte ich mir hier nur erkundigen, wo du wohnst.«

  »Das mit der Arbeit läßt sich ändern«, meinte Alena. »Ich habe keinen Dienst.«

  Markus grinste wieder. »Heißt das, du arbeitest freiwillig?«

  Alena lachte. »So ähnlich. Es gab für mich hier noch ein paar Dinge zu tun, aber wenn du schon extra von München hierherfährst, dann muß ich mir doch einfach Zeit nehmen.« Sie knöpfte ihren weißen Kittel auf. »Einen Moment noch, Markus, ich möchte mich nur ein bißchen schön machen.«

  »Das bist du doch sowieso«, entgegnete der junge Arzt charmant.

  »Derselbe Charmeur wie eh und je«, urteilte Alena, dann zog sie sich in den Nebenraum zurück.

  Rasch schlüpfte sie jetzt aus ihrem Kittel, dann versuchte sie mit beiden Händen ihre dichten, goldblonden Locken zu bändigen, doch das war wie immer ein sinnloses Unterfangen. Ihr Haar war einfach zu widerspenstig, um sich in irgendeine Form zwingen zu lassen. Allerdings bewies ihr ein letzter Blick in den Spiegel, daß sie gar nicht bezaubernder hätte aussehen können. Irgendeine Form von Make-up benötigten weder ihr zartes Gesicht noch die ausdrucksvollen, smaragdgrünen Augen, die trotz ihrer recht eigenwilligen Farbe nicht katzenhaft wirkten, sondern sehr viel Wärme ausstrahlten, und ihre feingeschwungenen Lippen hatten noch nie mit Lippenstiften Bekanntschaft gemacht. Noch einmal strich Alena mit gespreizten Fingern durch ihre wilde Löwenmähne, dann drehte sie sich um und ging wieder ins Arztzimmer hinaus, wo Markus geduldig auf sie wartete.

  Sie ist das schönste Mädchen der Welt, mußte er unwillkürlich denken, dann berichtigte er sich. Nein, sie ist die schönste Frau der Welt.

  »Wohin gehen wir?« wollte Alena jetzt wissen.

  »Ich fürchte, das muß ich dich fragen«, entgegnete Markus lächelnd. »Du bist hier zu Hause.«

  »Wie wär’s mit dem Waldcafé?« schlug Alena vor. »Da gibt es die besten Kuchen und Torten der ganzen Umgebung.«

  Markus grinste. »Gegessen habe ich heute zwar schon sehr üppig, aber gegen eine Tasse Kaffee habe ich dennoch absolut nichts einzuwenden.«

  Wenig später saßen sie sich an einem gemütlichen Ecktisch im Waldcafé gegenüber, und Alena hatte den Eindruck, als wäre sie schon seit Jahren nicht mehr so glücklich gewesen wie in diesem Moment.

  »Ich freue mich, daß du jetzt in München praktizieren wirst«, erklärte sie aus diesem Gedanken heraus. »Es war sehr schade, daß wir uns so ganz aus den Augen verloren haben.«

  »Neben Hartwig hatte ich bei dir nie eine Chance«, entgegnete Markus leise, dann versuchte er einen Scherz. »Es war wie einst bei Caesar: Er kam, sah und siegte.«

  Doch Alena lachte nicht. »Ja, und später habe ich es dann bitter bereut.« Sie senkte den Kopf. »Es war von seiner Seite niemals Liebe. Er hat mich ausgewählt, wie… wie eine Ware. Ich war für ihn in jeder Beziehung erstklassig – durch mein sicheres Auftreten, meine Gewandtheit im Umgang mit anderen Menschen und – wenn man ihm glauben darf – auch durch mein Aussehen. Er wollte mit mir repräsentieren. Und nebenbei hätte ich ihm Kinder schenken sollen… besser gesagt, Söhne. Erben für seine Klinik und die seines Vaters.«

  »O mein Gott«, flüsterte Markus erschüttert, dann packte ihn plötzliche Wut. »Man sollte diesen Kerl…«

  »Nicht, Markus«, bat Alena leise und legte eine Hand auf die seine. »Es ist vorbei. Ich habe es ja gerade noch rechtzeitig gemerkt.« Wieder senkte sie den Kopf. »Als ich die Verlobung löste, wollte er mich zwingen, ihn zu heiraten. Er drohte mir, mich als Ärztin zu vernichten, so daß mir nichts anderes übrigbleiben würde, als seinen zweifelhaften Heiratsantrag anzunehmen.« Dann sah sie Markus an, und auf einmal erhellte ein Lächeln ihr Gesicht. »Der Zufall führte mich hierher nach Steinhausen, und in der Waldsee-Klinik traf ich Menschen, die mir mehr glaubten als Hartwig. Dr. Daniel und der Chefarzt Dr. Metzler haben mich dann eingestellt, obwohl von der Simon-Klinik kein Zeugnis vorlag. Und sie taten noch viel mehr für mich – sie hielten zu mir, als Hartwig in die Klinik kam und mich als Ärztin schlechtmachen wollte. Wolfgang… ich meine, Dr. Metzler hat ihn dermaßen in seine Schranken verwiesen, daß er die Waldsee-Klinik fluchtartig verlassen hat. Seitdem arbeite ich hier, und ich fühle mich dabei rundherum wohl.«

  »Das sieht man dir auch an«, meinte Markus. »Bist du die einzige Gynäkologin an der Klinik?«

  »Du hast ja gesehen, daß die Klinik nicht sehr groß ist. Da genügt ein Gynäkologe. Außerdem arbeitet Dr. Daniel mit, wenn es nötig ist.« Sie lächelte. »Darüber hinaus habe ich durch meine Arbeit hier auch noch Gelegenheit, mich mit meinem Steckenpferd zu beschäftigen.«

  Markus lächelte. »Und das wäre?«

  »Unfruchtbarkeitsbehandlun-

g e n«, antwortete Alena. »Es ist für mich immer wieder ein riesiges Erfolgserlebnis, wenn es mir gelingt, die wahren Ursachen für die Kinderlosigkeit einer Patientin zu finden, und ein noch größeres, wenn ich ihr dann auch noch zu einem eigenen Kind verhelfen kann.«

  Bei diesen Worten mußte Markus unwillkürlich an Bettina Gehrke denken, die kurz vor seiner Abreise nach München noch in seiner Praxis gewesen war und ihm erneut versichert hatte, daß sie sich mit ihm in Verbindung setzen würde, wenn ihre weiteren Bemühungen um ein eigenes Kind erfolglos bleiben würden.

  »Vielleicht könntest du auch einer meiner ehemaligen Patientinnen helfen«, meinte er aus diesen Gedanken heraus. »Sie und ihr Mann bemühen sich seit drei Jahren um ein Kind, aber es will einfach nicht klappen. Ich habe verschiedene Untersuchungen durchgeführt, die aber keine Unfruchtbarkeit ergaben. Auch ihr Mann scheint zeugungsfähig zu sein.«

  Alena lächelte. »Eine Ferndiagnose kann ich natürlich nicht stellen, aber wenn dieses Ehepaar zu uns nach Steinhausen kommen würde, dann würden wir unser Möglichstes für sie tun.«

  »Ich werde sie heute noch anrufen«, versicherte Markus, dann lächelte er. »Auf diese Weise habe ich schon wieder einen Grund, um dich zu besuchen.«

  Auch Alena lächelte nun. »Brauchst du dazu denn unbedingt einen Grund?«

  »Nein, eigentlich nicht«, gab Markus zu, dann ergriff er über den Tisch hinweg Alenas Hand. »Diesmal werden wir uns nicht mehr aus den Augen verlieren.«

*

  Der Ärztekongreß in München war äußerst interessant, aber auch sehr anstrengend gewesen, und so sehnte sich Frau Dr. Manon Carisi jetzt nach Hause. Nach Hause! Als Manon diese Worte dachte, wunderte sie sich wieder, wie schnell es ihr gelungen war, das idyllisch gelegene Steinhausen als ihre Heimat zu betrachten, aber das lag wahrscheinlich an ihrer Freundschaft mit Dr. Daniel.

  Während eines Urlaubs in der Schweiz hatten sie sich kennengelernt, und daraus war eine wirkliche Freundschaft erwachsen, die ohne eine intime Beziehung auskam. Dazu waren sowohl Manon als auch Dr. Daniel noch zu sehr in der Erinnerung an ihre verstorbenen Ehepartner verhaftet.

  Vor allem Manon litt noch immer unter dem Verlust ihres Mannes, denn schließlich war es nicht allzu lange her, daß der Italiener Angelo Carisi auf tragische Weise umgekommen war, als sein Rennboot durch einen nie geklärten Defekt explodiert war. Für die gebürtige Kölnerin war damals eine Welt zusammengebrochen, und lange Zeit hatte sie geglaubt, sie könnte ihr Dasein ohne Angelo nicht mehr fortsetzen. Doch dann war Dr. Daniel in ihr Leben getreten und mit ihm eine Freundschaft, die nicht nur ihr, sondern auch ihm sehr gut tat.

  Jetzt verließ Manon die Autobahn und folgte der Landstraße, die nach Steinhausen führte. Sie spürte, wie sie allmählich müde wurde, und die unbeleuchtete Straße tat ein übriges, daß Manons Konzentration ein wenig nachließ. Allerdings war sie praktisch allein auf der Straße und fuhr überdies nicht besonders schnell, weil in dieser Gegend immer mit  Wildwechsel gerechnet werden mußte.

  Manon erschrak, als ein Blitz über den nachtschwarzen Himmel zuckte, dem unmittelbar darauf ein grollender Donner folgte. Fast im selben Moment setzte ganz unvermittelt prasselnder Regen ein.

  »Das ist ja wieder typisch«, murmelte sie und nahm das Tempo noch ein wenig zurück. »Wenn ich schon mal mit dem Auto unterwegs bin, dann muß es auch noch regnen.« Dann schüttelte sie den Kopf. »Ein Gewitter im November. Ich glaube, allmählich wird die Welt vollkommen verrückt.«

  Wieder machte ein greller Blitz die Nacht sekundenlang zum Tag, und für einen Moment war Manon geblendet. Sie nahm gerade den Fuß vom Gas, als aus dem Gebüsch eine Gestalt auf die Straße lief. Ohne zu denken, in einem reinen Reflex, trat Manon auf die Bremse, und dank der neuen Reifen, die sie erst vorige Woche hatte aufziehen lassen, kam der Wagen trotz der regennassen Straße schnell zum Stehen. Trotzdem stürzte die Gestalt vor ihrem Auto.

  Manon stieß die Tür auf und sprang heraus, dann beugte sie sich über die Verletzte – es war ein junges Mädchen, wie sie im Licht der Scheinwerfer feststellen konnte.

  »Haben Sie sich verletzt?« fragte Manon besorgt.

  »Natürlich hat sie sich verletzt!« erklang hinter ihr eine aggressive männliche Stimme.

  Manon fuhr erschrocken herum. Blitzartig kamen ihr die Berichte über gestellte Unfälle in den Sinn, die nur dazu dienten, Autofahrer auszurauben oder gar…

  »Sie haben meine Freundin angefahren!« schnauzte der Mann sie jetzt an und riß sie damit aus ihren Gedanken. »Können Sie denn nicht aufpassen? So was wie Sie sollte man am Steuer wegprügeln!«

  Die grob formulierten Vorwürfe trafen Manon bis ins Innerste. Sie wußte nicht, was sie darauf sagen sollte, und so wandte sie sich wieder an das Mädchen, das sich jetzt mühsam aufrappelte. Im Scheinwerferlicht konnte Manon ein aufgeschlagenes Knie ausmachen, aber sonst schien das Mädchen glücklicherweise unverletzt zu sein.

  »Haben Sie Schmerzen?« fragte Manon besorgt.

  »Natürlich hat sie Schmerzen!« mischte sich der Mann wieder ein. »Oder glauben Sie, es ist eine Kleinigkeit, wenn man von einem Auto angefahren wird?« Er hob drohend eine Faust. »Aber eines versichere ich Ihnen, das wird Sie eine schöne Stange Geld kosten! Sie haben nicht aufgepaßt, sonst hätten Sie schließlich rechtzeitig bremsen können. Wer weiß, vielleicht haben Sie sogar etwas getrunken. Außerdem sind Sie viel zu schnell gefahren.«