Fürstenkrone – 123 – Die falsche Gräfin

Fürstenkrone
– 123–

Die falsche Gräfin

Wer befreit Daniela aus ihren Gewissensnöten?

Bettina Clausen

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-076-9

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»Meine Damen und Herren! Wir landen in wenigen Minuten in Rom. Bitte, schnallen Sie sich an und stellen Sie das Rauchen ein!« Auf Deutsch und Englisch, auf Französisch und Italienisch tönte die Stimme der Stewardess durch den Passagierraum der Maschine der ›Alitalia‹. Der Mann, der an einem Fensterplatz im Abteil der Ersten Klasse saß, drückte mit nervösen Fingern die eben angerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und fügte die Enden des Sicherheitsgurtes zusammen. Dann warf er einen Blick auf die Uhr. Die Landung erfolgte völlig planmäßig. Trotzdem dünkte es ihn eine kleine Ewigkeit, seitdem die Maschine in München gestartet war. Kurz nach neun Uhr war es gewesen, und er war eben im Werk angekommen, als ihn der dringende Anruf Johns erreichte. So aufgeregt hatte die Stimme des sonst so gelassenen Butlers geklungen, dass Frau Kirch, die langjährige Vorsteherin seines Sekretariats, es schließlich auf sich genommen hatte, das Gespräch in das Konferenzzimmer zu legen, wo eine Direktorenbesprechung begann,

Dann war alles sehr schnell gegangen. Ein Rückruf in Rom, der ihm bestätigte, dass die Nachricht auf keinem Irrtum beruhte, wie er anfangs gehofft, die Buchung des Fluges, die wie durch ein Wunder gelang, dann die rasende Fahrt zum Flugplatz, wo der stets zuverlässige John ihm seinen eilig gepackten Koffer übergab und er selbst fast in letzter Minute noch die Maschine nach Rom erreichte.

Sanft setzten die Räder des Fahrgestells auf der Landebahn auf. Die Maschine rollte aus, kam genau an der vorgeschriebenen Stelle zum Stehen.

Mark Graf v. Hohenheim war als erster beim Ausstieg und eilte die Gangway hinunter. Über sein markantes Gesicht mit den dunklen Augen und den ebenfalls dunklen, nur an den Schläfen ein klein wenig ergrautem Haar, ging ein Zucken nervöser Ungeduld.

Graf v. Hohenheim hatte in seinem Leben schon viele Flugreisen unternommen, aber noch nie waren ihm die Formalitäten, die es zu erfüllen galt, so quälend und zeitraubend erschienen wie zu dieser Mittagsstunde in Rom.

Der Mann, der eben das Flughafengebäude verlassen hatte, nahm nichts davon wahr. Er hielt verzweifelt nach einem Taxi Ausschau, und als er endlich einen freien Wagen erspähte, überholte er mit großen Schritten rücksichtslos eine Dame, die ebenfalls darauf lossteuerte, und schwang sich hinein.

Die Schreckensnachricht, die seit drei Stunden all seine Sinne gefangen nahm und nur durch die Formalitäten der Ankunft ein wenig verdrängt worden war, überfiel ihn wieder mit jäher Gewalt. Verena, dachte er verzweifelt, o Verena!

»Wohin, Signore?«

Marks Hand tastete nach einer Zigarette.

»Zum Marien-Hospital!«, sagte er mit rauer Stimme. »Und fahren Sie, so schnell Sie können!«

*

Als Graf von Hohenheim eine knappe halbe Stunde später der Aufnahmeschwester seinen Namen nannte, sagte diese sofort: »Der Herr Professor erwartet Sie. Wenn Sie sich in den ersten Stock bemühen wollen. Ich gebe dem Sekretariat einstweilen Bescheid.«

Mark fühlte, wie eiskalter Schrecken erneut in ihm hochschlug. »Der Herr Professor möchte mich sprechen?«, fragte er mit einer Stimme, die ihm kaum gehorchte. Sein Blick heftete sich voller Angst auf das blasse Gesicht der Nonne. »Was ist mit meiner Frau, Schwester? Sagen Sie es mir! Ist sie …« Er stockte, als weigere sich seine Zunge, das furchtbare Wort auszusprechen, das ihm auf den Lippen lag.

Die alte Ordensschwester schüttelte den Kopf.

»Nein, Herr Graf«, antwortete sie beruhigend. »Ihre Frau lebt, Sie brauchen nichts zu befürchten.«

»Und warum darf ich dann nicht gleich zu ihr?«, forschte Mark hartnäckig.

»Ich weiß es nicht, Herr Graf. Der Herr Professor hat den Auftrag so erteilt. Er wird es Ihnen bestimmt erklären.«

Mark nickte stumm. Dann eilte er die Treppe hinauf.

Er brauchte nicht zu warten. Professor Moretti, der Chef der Chirurgischen Klinik, empfing ihn sofort.

»Bitte, Graf, nehmen Sie Platz!«

»Wie geht es meiner Frau?«, fragte Mark sofort.

»Den Umständen entsprechend sehr gut«, antwortete der Arzt mit undurchdringlicher Miene. »Gräfin von Hohenheim hat eine ziemlich schwierige Operation hinter sich. Anfangs sah es sehr böse aus. Immerhin ein schwerer Schädelbasisbruch.«

»Ein Schädelbasisbruch?«, wiederholte Mark erschrocken. »Verzeihen Sie, Herr Professor, aber ich weiß überhaupt nichts. Die Nachricht der Polizei wurde mir von einem Angestellten meines Haushalts mitgeteilt. Sie besagte nur, dass meine Frau verunglückt sei. Ich habe daher keine Ahnung, wie es passiert ist. Wohl ein Autounfall?«

»Nein, Graf, das war es nicht.«

»Nein? Es schien mir eine naheliegende Erklärung zu sein. Und wie ist es tatsächlich geschehen?«

Professor Moretti senkte den Kopf und zündete sich umständlich eine Zigarette an. »Die Ursache der Verletzung war ein Sturz. Ein Sturz in den Tiber«, antwortete er schließlich.

»In den Tiber?«, fragte Mark verständnislos. Zugleich fühlte er, wie sein Herz laut und hart gegen seine Rippen schlug.

»Ja, Graf. Es war leider so. Ich kann Ihnen auch nur wiederholen, was die Polizei mir mitgeteilt hat. Die Erklärung dafür müssen Sie selbst finden. Ein Augenzeuge hat beobachtet, wie eine Frau sich über die steinerne Balustrade einer Tiberbrücke in den Fluss stürzte. Er sprang ihr sofort nach, und nur diesem Umstand ist es zu danken, dass sie überhaupt gerettet werden konnte.«

Mark atmete schwer.

»Ein Selbstmordversuch also«, sagte er tonlos.

Moretti nickte.

»Und wann geschah es?«

»Vorgestern, gegen vier Uhr morgens. Die Verunglückte wurde unverzüglich in die Klinik gebracht, wo sie sofort operiert wurde. Da sie keinerlei Papiere bei sich hatte, musste die Polizei erst ihre Identität ermitteln. Das konnte erst durch Prüfung der Vermisstenmeldungen geschehen.«

Mark nickte schwer. »Ich danke Ihnen, Herr Professor. Darf ich jetzt meine Frau sehen?«

Er wollte aufstehen, doch Moretti hielt ihn mit einer hastigen Handbewegung zurück.

»Bitte, behalten Sie noch einen Augenblick Platz, Graf von Hohenheim. Ich möchte mit Ihnen noch etwas besprechen. Es ist der eigentliche Grund, warum ich Sie zu mir gebeten habe.«

»Ist meine Frau noch nicht bei Bewusstsein?«, fragte er leise.

Professor Moretti schüttelte den Kopf.

»Doch, Graf. Sie ist schon gestern zu sich gekommen. Aber Sie müssen bedenken, dass sie einen schweren Schock erlitten hat, ganz abgesehen von ihrer Verletzung.« Er zögerte sichtlich, ehe er weitersprach: »Sie dürfen das, was ich Ihnen jetzt sagen muss, nicht tragisch nehmen. Oft geht es auch sehr rasch wieder vorbei.«

»Ich verstehe Sie nicht ganz, Herr Professor.«

Moretti hob leicht die Schultern. »Gräfin von Hohenheim hat anscheinend durch den Sturz eine Störung ihres Gedächtnisses erlitten. Sie ist wohl bei Bewusstsein und durchaus ansprechbar, und ihr Zustand ist entsprechend der Schwere ihrer Verletzung sogar äußerst zufriedenstellend, aber vorläufig kann sie sich an nichts erinnern. Nicht nur die näheren Umstände ihrer Tat sind ihr entfallen, sie weiß auch nicht, was früher gewesen ist. Ja, sie weiß nicht einmal ihren Namen.«

Marks Hände umkrampften die Sessellehne.

»Nicht einmal ihren Namen«, wiederholte er tonlos, und es war keine Frage, sondern nur eine Feststellung all des Entsetzlichen, das auf ihn einstürmte.

»Sind Sie überhaupt sicher, dass es sich bestimmt um meine Frau handelt?«, fragte er leise. »Ich hatte einige Zeit keine Nachricht von ihr und wusste überhaupt nicht, dass sie sich in Rom befand.«

»Doch, Graf. Wir sind völlig sicher. Das Foto in ihrem Reisepass, der sich in ihrem Hotelzimmer fand, will zwar nicht viel sagen, aber der Empfangschef des Hotels ›Excelsior‹ hat nicht nur Ihre Frau Gräfin von Hohenheim als Gast seines Hauses erkannt, sondern darüber hinaus auch den Mantel und das Kleid, das sie trug, bevor sie das Hotel verließ. Zweifel sind völlig ausgeschlossen.«

»Darf ich jetzt zu meiner Frau«, bat Mark noch einmal.

»Selbstverständlich, wenn Sie mir versprechen, nicht lange zu bleiben. Rühren Sie nicht an das Vergangene, und sprechen Sie von unverfänglichen Dingen. Vielleicht hilft Ihre Gegenwart schon, sich wieder zu erinnern.«

*

Seit Daniela Volters aus dem Dunkel einer tiefen Bewusstlosigkeit ins Leben zurückgekehrt war und erkannt hatte, dass sie sich in einem Krankenzimmer befand und einen unförmigen Verband um den Kopf trug, dämmerte sie mit geschlossenen Augen vor sich ihn. Doch hinter ihrer schmerzenden Stirn kreisten unablässig dieselben Gedanken. Sie glichen einem Mühlenrad, das unausgesetzt in Bewegung war.

Sie erinnerte sich, irgendwann einmal aufgewacht zu sein. Ihr Kopf hatte geschmerzt und jedes einzelne Glied, und es hatte unendlicher Anstrengung bedurft, überhaupt die Augen zu ­öffnen. Durch die Ritzen der herabgelassenen Rollläden stahlen sich ein paar Sonnenstrahlen. Es war also Tag gewesen. Dann hatte sich eine weiß ­gekleidete Nonne mit weit abstehender Flügelhaube über sie gebeugt und mit einem kleinen Lächeln gesagt: »Nun, da sind Sie ja wieder. Ich werde gleich den Herrn Professor verständigen.«

»Was ist mit mir?«, hatte Daniela gefragt. »Wie komme ich in ein Krankenhaus? Ich habe keine Ahnung …«

»Sie sind gestürzt«, antwortete die Schwester, »und haben eine Kopfverletzung davongetragen.«

»Ich bin gestürzt? Wo bin ich denn gestürzt?«, hatte Daniela mühsam gefragt.

»Sie sind in den Tiber gestürzt«, erwiderte die Nonne leise.

»Das verstehe ich nicht«, flüsterte Daniela. »Ich hatte also einen Unfall?«

»Ja, Sie hatten einen Unfall. Einen bösen Unfall«, bestätigte die Schwester rasch. »Aber Sie dürfen nicht so viel sprechen.«

Als die Nonne das Zimmer verlassen hatte, versuchte Daniela ihre Gedanken zu sammeln. Was war bloß passiert? Wie kam es, dass sie in den Tiber gestürzt war? Der Tiber floss durch Rom. Befand sie sich in Rom? Seit wann? Sie wusste es nicht.

Auf einmal erschrak sie siedend heiß. Sie war in den Tiber gestürzt. Die Schwester hatte es ihr berichtet. Der Unfall war ihr ein völliges Rätsel. Aber nicht dieses Rätsel beschäftigte sie jetzt. Sie beschäftigte allein die Frage nach dem Vorher. Ja, was war vorher?

Der Eintritt eines älteren Mannes in hochgeschlossenem Ärztekittel hatte ihre qualvollen Gedanken unterbrochen.

»Moretti«, stellte er sich vor, während er sich auf einen Stuhl neben ihrem Bett setzte und ihre Hand ergriff. »Ich habe Sie gestern operiert, und es freut mich, dass es Ihnen nun schon ein wenig bessergeht. Sie hatten sich böse verletzt.«

Daniela nickte. »Die Schwester hat es mir erzählt«, antwortete sie leise, und in ihren großen blauen Augen stand helle Angst. »Ich selbst kann mich einfach nicht daran erinnern.«

Der Professor lächelte.

»Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, antwortete er zuversichtlich. »Es kommt oft vor, dass die Begleitumstände eines Unfalls vollkommen aus dem Gedächtnis entschwinden.«

»Darum geht es nicht, Herr Professor«, entgegnete sie tonlos, während ihre Augen sich mit Tränen füllten. »Aber ich kann mich überhaupt an nichts erinnern. Seitdem ich aufgewacht bin, versuche ich mich zu besinnen. Ich weiß nicht einmal, wer ich bin.«

Die Miene Professor Morettis blieb undurchdringlich.

»Auch das braucht Sie nicht zu beunruhigen, Signora«, antwortete er. »Sie haben einen schweren Schock erlitten. Er ist die Ursache für den augenblicklichen Verlust Ihres Erinnerungsvermögens. Das wird sich bestimmt rasch wieder geben.«

Er winkte der Schwester, die im Hintergrund geblieben war und nun mit einer gefüllten Spritze ans Bett trat.

»Ich werde Ihnen jetzt eine Injektion geben, Signora. Und nun denken Sie nicht weiter nach, sondern schlafen Sie. Es ist wichtig, dass Sie viel schlafen.«

Wenig später war sie eingeschlafen.

Sie musste wohl auch am nächsten Tag nach dem Mittagessen eingenickt sein, denn sie erwachte, als ein behutsames Klopfen an der Tür ihres Zimmers erklang.

Zunächst sah sie nur die Schwester, die die Tür aufhielt, um einen Besucher hereinzulassen. Dann bemerkte sie mit Erstaunen einen Mann auf sich zukommen.

Er war groß und schlank, und seine markant geschnittenen Züge flößten Daniela vom ersten Augenblick an Sympathie ein. Trotzdem war sie davon überzeugt, ihn noch nie in ihrem Leben gesehen zu haben.

»Verena«, flüsterte er, »o Verena!« Er beugte sich über sie, ergriff ihre schmale Hand und bedeckte sie mit Küssen.

Daniela fühlte seinen Blick in ihrem Gesicht. Zärtlichkeit lag darin und unendliche Angst.

Verena, formten lautlos ihre Lippen, doch der Name erweckte in ihr keinen Widerhall, ebenso wenig wie der Anblick jenes Mannes, dessen Gesicht ihr ganz nahe war und der noch immer ihre Hände in den seinen hielt.

»Liebling, erkennst du mich wirklich nicht?«, kam es erschüttert von den Lippen des Mannes. »Ich bin Mark. Wir sind seit drei Jahren miteinander verheiratet.«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie gequält. »Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts. Ich weiß nicht, woher ich komme. Ich weiß nicht einmal, wer ich bin. Bis vor wenigen Minuten wusste ich selbst meinen Namen nicht.«

Mark bemühte sich, seine Erschütterung zu verbergen, und es gelang ihm wirklich ein kleines Lächeln.

»Du weißt nicht, wer ich bin?«, fragte er leichthin, obwohl seine Kehle wie zugeschnürt war. »Dem kann leicht abgeholfen werden. Du bist Verena Gräfin von Hohenheim, bist dreiundzwanzig Jahre alt und wohnst in München. Wir haben uns vor vier Jahren kennengelernt, als ich zu einer Jagd auf dem Gut deines Großvaters, des Barons von Langenstein, in Tirol eingeladen war. Im Sommer darauf haben wir geheiratet.«

Daniela hatte mit großen Augen diesem in leichtem Plauderton vorgebrachten Bericht gelauscht.

»Und wie kommt es, dass ich jetzt in Rom bin?«, fragte sie schließlich mit gerunzelten Brauen.

Die Mahnung des Professors fiel ihm ein, nicht an die Vergangenheit zu rühren.

Er sah auf das Gesicht der Frau, das vor ihm auf dem Kissen lag. Trotz seiner durchscheinenden Blässe hatte es nichts von jenem Liebreiz eingebüßt, der ihn vor vier Jahren so sehr gefangen genommen hatte, dass er trotz des großen Altersunterschiedes von fünfzehn Jahren, der zwischen ihnen bestand, um ihre Liebe geworben hatte.

Er dachte daran, wie er monatelang versucht hatte, dieses Gesicht zu vergessen, und doch war es Tag für Tag und Nacht für Nacht vor seinen Augen gestanden. Das Gesicht seiner Frau Verena.

Er fühlte das Leid in ihren Augen fast wie einen körperlichen Schmerz. Denn es war seine Schuld, dass es so weit gekommen war. Seine Schuld.