Der Arzt vom Tegernsee – 4 – Der Tag, der die Entscheidung brachte

Der Arzt vom Tegernsee
– 4–

Der Tag, der die Entscheidung brachte

Laura Martens

Impressum:

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-073-8

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»So, wir sind schon fertig, Kerstin«, sagte Dr. Eric Baumann zu dem kleinen blonden Mädchen, das vor ihm auf der Liege saß. »Mit dir ist alles in Ordnung.« Er strich ihm über die Haare.

»Bekomme ich ein Bonbon, Onkel Doktor?« Kerstin strahlte ihn aus ihren blauen Augen an.

»Natürlich bekommst du ein Bonbon.« Dr. Baumann griff in das Glas, das auf seinem Schreibtisch stand. »Aber auswickeln mußt du es dir selbst.«

»Ich bin doch schon groß«, erklärte die Kleine und wollte von der Liege rutschen, aber dann bekam sie Angst und schaute hilfesuchend zu ihrer Mutter hinüber. »Mama!« Verlangend streckte sie die Händchen aus.

»Sieht aus, als müßte ich mein großes Mädchen von der Liege heben«, meinte Maria Wieland belustigt, »vorher werde ich dich aber erst einmal wieder anziehen.« Sie streifte der Kleinen ein T-Shirt über den Kopf und griff dann nach den Latzhosen. »Und Sie sind ganz sicher, daß wir uns keine Sorgen machen müssen, Herr Doktor?«

»Ja.« Eric nickte. »Natürlich kann es nach wie vor zu Pseudokrupp-Anfällen kommen, es wäre jedoch falsch, Kerstin jetzt in Watte zu packen. Kerstin sollte sich viel an der frischen Luft aufhalten, damit sie widerstandsfähiger gegen Infektionen wird. Eine gesunde Ernährung trägt auch dazu bei, daß sie die Anfälle gut übersteht, aber das muß ich Ihnen ja nicht sagen. Man sieht, daß Ihre Tochter alles hat, was ein Kind braucht.«

»Sie ist unser ein und alles.« Maria Wieland stellte ihr Töchterchen zu Boden.

Kerstin wickelte das Bonbon aus und steckte es sich in den Mund. »Da!«

»So, das Papier ist also für mich.« Eric zwinkerte der Kleinen zu und warf das bunte Papierstückchen in den Abfallkorb, dann wandte er sich wieder der jungen Bäuerin zu: »Ich bin kein Kinderarzt, Frau Wieland. Ich kann aber durchaus verstehen, daß Sie sich Sorgen machen. Wenn Sie wollen, suchen Sie doch noch einen Kinderarzt auf.«

»Nein.« Maria Wieland schüttelte den Kopf. »Wir haben Ihrem Herrn Vater vertraut und vertrauen auch Ihnen, Herr Doktor«, sagte sie bestimmt. »Außerdem können Sie gut mit Kindern umgehen, was man, wie ich schon gehört habe, nicht von jedem Kinderarzt behaupten kann.» Sie reichte ihm die Hand. »Bis zum nächsten Mal.«

»Ja, bis zum nächsten Mal«, erwiderte Dr. Baumann. Er beugte sich zu Kerstin hinunter. »Und du paßt schön auf, daß du gesund bleibst.«

Die Kleine nickte. »Mach ich«, versprach sie und schenkte ihm ein reizendes Lächeln.

Nachdem Frau Wieland mit ihrer Tochter das Sprechzimmer verlassen hatte, kehrte Eric an seinen Schreibtisch zurück und trug noch ein paar Bemerkungen in Kerstins Krankenblatt ein. Das kleine Mädchen war ihm ans Herz gewachsen. Er konnte sich noch deutlich an die Nacht erinnern, in der er, kurz nach seiner Rückkehr aus Kenia, auf den Wielandhof gerufen wurde, weil Kerstin bei einem Pseudokrupp-Anfall zu ersticken drohte.

»Tina, bitte schicken Sie den nächsten Patienten herein«, bat er seine Sprechstundenhilfe per Wechselsprecher. Er blickte auf die Krankenkarte, die links von ihm auf dem Schreibtisch lag. »Say Wagner« las er. Der Name sagte ihm gar nichts. Frau Wagner war noch nie zuvor bei ihm gewesen.

Tina Martens öffnete dieTür zu seinem Sprechzimmer. Eine zierliche Thailänderin trat ein. Er stand auf und ging ihr entgegen. »Frau Wagner?« fragte er.

»Ja.« Sie nickte und ergriff seine Hand.

»Bitte, setzen Sie sich«, bat er.

Say Wagner nahm vor seinem Schreibtisch Platz. Auf den ersten Blick wirkte sie sehr selbstbewußt, aber daraus, wie sie den Griff ihrer Handtasche umklammert hielt, erkannte Eric, daß sie sich ziemlich unsicher fühlte.

Er setzte sich wieder an den Schreibtisch und schlug das Krankenblatt auf. »Da Sie noch nie zuvor bei mir gewesen sind, benötige ich noch ein paar Angaben von Ihnen«, sagte er und stellte einige Fragen, die Say leise, aber ohne zu zögern beantwortete.

»Sie sprechen ausgezeichnet Deutsch«, meinte Eric, nachdem sie ihm gesagt hatte, daß sie in Bangkok zur Welt gekommen war.

»Nun, ich lebe bereits seit acht Jahren in Deutschland«, erwiderte sie. »Ich lernte meinen verstorbenen Mann kennen, als ich gerade sechzehn war. Er arbeitete damals für eine deutsche Firma, die Industrieanlagen erstellte. Wir heirateten bereits ein halbes Jahr später, und als er nach Deutschland zurückkehrte, ging ich natürlich mit.«

»Haben Sie Kinder?«

»Leider nicht.« Say hob die Schultern. »Es sollte wahrscheinlich nicht sein. Mein Mann ist vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er hatte keine Lebensversicherung, und ich stand quasi vor dem Nichts. Eine Bekannte hörte, daß im Hotel »Sonnenschein« in Rottach-Egern ein Zimmermädchen gesucht wird. Ich hatte Glück und bekam die Stelle.«

»Arbeiten Sie dort noch immer?« Dr. Baumann kannte den Besitzer des Hotels. Es handelte sich um einen jungen Mann, der einige Jahre im Ausland gewesen war und danach das Hotel von seinem Vater übernommen hatte.

Say nickte. »Ich arbeite sogar sehr gern dort. Einen besseren Arbeitgeber als Herrn Lange kann man sich kaum wünschen. Vor einem Jahr hat er für seine Angestellten im hinteren Teil des Hotelparks Wohnungen erbauen lassen. Jedes Appartement besteht aus einem kleinen Schlafzimmer, einem Wohnraum mit Kochnische und einem Bad. – Was will ich mehr?« Sie schenkte ihm ein Lächeln, doch sann seufzte sie leise auf. »Wenn nur nicht diese schrecklichen Kopfschmerzen wären, die mich jetzt schon seit Monaten plagen. Manchmal ist es so schlimm, daß ich mich am liebsten in meinem Bett verkriechen würde.«

Dr. Baumann ließ sich die Kopfschmerzen schildern. »Haben Sie Sorgen?« fragte er dann.

»Sorgen?« wiederholte Say. »Nein, ich… Ja, ich habe Sorgen«, gab sie zu. »Es geht um meine Schwester Kim. Sie ist zwei Jahre jünger als ich. Als ich Thailand verließ, ging sie noch zur Schule. Unsere Eltern starben, als wir noch kleine Kinder waren. Zum Glück hatten wir eine Großmutter, die sich um uns kümmerte. Sie ist inzwischen allerdings auch tot, und weitere Verwandte gibt es nicht. Ich lebte bereits in Deutschland, als Kim einen Mann kennenlernte, der mit einem dieser Touristenflüge nach Bangkok gekommen war. Sie hielt es für die große Liebe, trotzdem kehrte er ohne sie nach Deutschland zurück. Als sie ihm schrieb, daß sie ein Kind von ihm erwartete, schickte er ihr Geld. Jetzt habe ich schon seit elf Monaten nichts mehr von ihr gehört. Als ich auf meine Briefe keine Antwort erhielt, flog ich nach Thailand, erfuhr dort aber nur, daß Werner sie nach Deutschland geholt haben soll. Wenn ich wenigstens den Nachnamen dieses Mannes kennen würde.«

»Und es gibt keinen, der Ihnen darüber Auskunft geben könnte?« erkundigte sich Eric betroffen.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe es bereits bei den Behörden versucht. Meine Schwester ist anscheinend nirgends in Deutschland gemeldet.« Sie griff sich mit beiden Händen an den Kopf. »Jetzt fängt es wieder an.«

»Atmen Sie langsam und ruhig durch«, sagte der Arzt. »Ich werde Ihnen ein leichtes Beruhigungsmittel verschreiben. Mal sehen, vielleicht hilft es. Versprechen kann ich es jedoch nicht. Außerdem möchte ich sichergehen, daß Ihre Kopfschmerzen wirklich nur durch Ihre Sorgen um Ihre Schwester hervorgerufen werden, deshalb möchte ich Sie bitten, morgen nüchtern zur Blutabnahme zu kommen.« Er gab ihr das Rezept.

»Und wann?«

»Das erfahren Sie von Tina.« Er stand auf. »Ich hoffe, daß Sie bald etwas von Ihrer Schwester hören«, sagte er, als er sie zur Tür brachte. »Und wenn sich Ihre Kopfschmerzen nicht innerhalb von ein paar Tagen bessern, kommen Sie bitte wieder in meine Praxis.«

»Ja, das werde ich tun«, versprach Say und verabschiedete sich von ihm.

Say Wagner war die letzte Patientin an diesem Vormittag gewesen. Eric legte ihr Krankenblatt beiseite. Er konnte sich vorstellen, wir schrecklich es für die junge Frau sein mußte, nicht zu wissen, wo sich ihre Schwester und ihr Neffe aufhielten. Wie es aussah, war Kim an den falschen Mann geraten. Es kam ja immer wieder vor, daß Thailänderinnen mit allen möglichen Versprechungen nach Deutschland geholt und hier wie Sklavinnen gehalten wurden.

*

Franziska Löbl, die als Krankengymnastin für Dr. Baumann arbeitete, kam gerade aus ihrem Behandlungsraum, als Eric sein Sprechzimmer verließ. »Ich fahre über Mittag nach Hause«, schrieb sie auf den kleinen Block, den sie in der Rocktasche immer bei sich trug. Die junge Frau war seit einem Unfall, den sie als Kind nur knapp überlebt hatte, stumm.

»Ja, ist gut, Franziska«, erwiderte der Arzt. »Bestell deiner Familie Grüße von mir.«

Sie nickte und verließ die Praxis.

»Nanu, was machen Sie denn noch hier, Tina?« fragte Eric überrascht, als er sah, daß seine Sprechstundenhilfe noch in der Anmeldung saß. Gewöhnlich war die Tina die erste, die mittags die Praxis verließ.

»Ich fahre heute nicht nach Hause«, erwiderte die junge Frau. »Ich werde mir eine Tasse Kaffee aufbrühen und mich dann in den Garten setzen und lesen.«

»Katharina würde sich bestimmt freuen, wenn ich Sie zum Essen mitbringe«, sagte Dr. Baumann. »Sie hat gern Gäste, die ihre Kochkünste zu würdigen wissen.«

Tina lachte. »Danke, doch um ehrlich zu sein, ich möchte etwas abnehmen, Dr. Baumann. Ein andermal gern.«

»Wie Sie meinen, Tina.« Eric nickte der jungen Frau freundlich zu und öffnete die Verbindungstür zu seinem Haus. Er hatte sie noch nicht hinter sich geschlossen, als Franzl auch schon auf ihn zustürmte und ihn schwanzwedelnd begrüßte.

»Sieht aus, als hättest du es gar nicht mehr erwarten können, bis ich nach Hause komme.« Der Arzt beugte sich zu seinem Hund hinunter, um ihn ausgiebig zu kraulen. »Dabei bin ich heute ausnahmsweise einmal pünktlich.«

»Was man wirklich rot im Kalender anstreichen sollte, Eric«, meinte Katharina Wittenberg und steckte den Kopf durch die Küchentür. »Es gibt Kaiserschmarren mit Kompott. Wir können in fünf Minuten essen.«

»Du hörst, eines meiner Lieblingsgerichte.« Eric nahm den Kopf seines Hundes in beide Hände. »Mit einem Spaziergang wirst du also bis nach dem Essen warten müssen, alter Gauner. Aber du kannst ja noch etwas in den Garten.« Er öffnete die Haustür, doch Franzl dachte nicht daran hinauszugehen.

»Sieht aus, als würden Kaiserschmarren auch zu seinen Lieblingsgerichten gehören«, bemerkte die Haushälterin lachend und verschwand wieder in der Küche. Mit einem herausfordernden »Wuw« und hocherhobener Rute folgte ihr Franzl.

*

Carola Bender stellte die Gießkanne auf den Brunnenrand, damit andere Friedhofsbesucher sie ebenfalls benutzen konnten, dann kehrte sie an das Grab ihrer Eltern zurück. Sie fragte sich, ob ihr Bruder und seine Frau in den beiden Monaten seit dem Tod der Mutter auch nur ein einziges Mal auf dem Friedhof gewesen waren. Vorstellen konnte sie es sich nicht. Ihr Bruder hatte sich ja nicht einmal darum gekümmert, daß auf dem Grab die Erde abgetragen wurde, damit sie einpflanzen konnte.

Aber so war es schon immer gewesen. Seit ihr Bruder das Haus verlassen hatte, war er nur so sporadisch gekommen. Er hatte ihr weder bei der Pflege des Vaters noch später der Mutter geholfen. Wenn sie etwas vorgehabt hatte, dann hatte sie fremde Leute um Hilfe bitten müssen. Er und seine Frau hatten angeblich nie Zeit gehabt, auch einmal einzuspringen und einen Teil der Pflege zu übernehmen.

»Wozu mußt du in den Urlaub fahren? Du bist doch ohnehin den ganzen Tag zu Hause«, hatte ihr Thorsten noch kurz vor dem Tod der Mutter gesagt, als sie mit ihm am Telefon über eine Pflegerin hatte sprechen wollen.

Trotzdem fühlte sich Carola schuldig. Sie hatte ihre Mutter geliebt und sie hätte alles für sie getan, aber ihr Tod war eine Erleichterung für sie gewesen. Zum ersten Mal seit Jahren wurde sie nachts nicht vier-, fünfmal geweckt. Sie hatte Zeit, einkaufen zu gehen oder ins Freibad. Sie konnte ein Konzert besuchen, einen Nachmittag bei Freunden verbringen.

»Mein Gott, du lebst ja wie im Gefängnis«, hatte ihr eine frühere Schulfreundin gesagt, als es ihr nicht möglich gewesen war, sie für eine Woche nach Malta zu begleiten, obwohl sie viel dafür gegeben hätte, es zu tun.

Die junge Frau gestand sich ein, daß ihr Leben wirklich einem Gefängnisaufenthalt gleichgekommen war, wenn sie es auch, solange ihre Mutter noch gelebt hatte, nie hatte wahrhaben wollen.