Der kleine Fürst – 201 – Dein Liebeskummer lohnt sich nicht!

Der kleine Fürst
– 201–

Dein Liebeskummer lohnt sich nicht!

Schein und Sein gefährden ein großes Gefühl

Viola Maybach

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-070-7

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»Wo kann er nur sein, Fritz?«, fragte Baronin Sofia leise.

»Wenn ich das wüsste!«, erwiderte Baron Friedrich, während er seiner Frau einen Arm um die Schultern legte.

Gemeinsam sahen sie hinaus in die Dunkelheit. Der Himmel über ihnen war sternenübersät, der Mond hing als Ei dort oben, nicht eine einzige Wolke war zu sehen. Zu jeder anderen Zeit hätten sie den Anblick genießen, sich daran freuen können. Nicht so in dieser Nacht.

Sie standen auf der hinteren Terrasse von Schloss Sternberg, mit Blick auf Sofias privaten Garten, in dem sie seltene Pflanzen züchtete. Anna und Konrad hatten sich erst vor kurzem in ihre Zimmer zurückgezogen, viel zu spät für Teenager, die am nächsten Morgen in die Schule mussten, aber ihre Eltern hatten sie nicht gedrängt. Vielleicht würden sie ihnen sogar erlauben, der Schule fernzubleiben, denn was hatte es für einen Sinn, sie hinzuschicken, wenn der kleine Fürst bis dahin nicht zurückgekehrt war? Sie würden sich nicht auf den Unterricht konzentrieren können, sondern wären in Gedanken nur bei ihrem spurlos verschwundenen Cousin.

»Es muss etwas passiert sein«, fuhr Sofia unglücklich fort. »Nie im Leben würde Chris einfach weggehen, ohne uns Bescheid zu sagen.«

»Es sei denn, er wäre so durcheinander, dass er daran nicht denkt.«

»Aber was sollte ihn denn jetzt noch durcheinander bringen? Der Banküberfall ist doch überstanden, bemerkenswert gut sogar, was ihn betrifft. Sicher, da ist noch die Sorge um Steffis Großmutter, aber das ist kein Grund für Chris, einfach ohne ein Wort zu verschwinden.« Die Baronin unterbrach sich. Es dauerte mehrere Sekunden, bis sie mit leiser Stimme fragte: »Oder glaubst du, er könnte entführt worden sein?«

Dieser Gedanke hatte den ganzen Abend über im Raum gestanden, aber keiner von ihnen hatte ernsthaft darüber nachdenken wollen. Die Entführung ihres treuen Butlers Eberhard Hagedorns im letzten Jahr – auf Grund einer Verwechslung – war ihnen allen noch in allzu unangenehmer Erinnerung.

»Ausschließen kann man das nicht. Ich habe ja vorhin mit dem Kriminalrat telefoniert, der hat mich erst einmal beruhigt. Es kommt offenbar gar nicht so selten vor, dass Jugendliche kurzfristig verschwinden, weil ihnen etwas schwer zu schaffen macht. Sie tauchen aber in der Regel bald wieder auf. Er fand es trotzdem gut, dass wir ihn informiert haben.«

»Bei anderen Jugendlichen kann ich mir so ein Verhalten vorstellen, aber nicht bei Chris. Er würde immer daran denken, welche Sorgen wir uns um ihn machen«, sagte Sofia leise.

»Wir sollten schlafen gehen. Es ist drei Uhr morgens.«

»Ich bin todmüde, aber ich werde nicht schlafen können.«

»Wir sollten es aber zumindest versuchen. Komm.«

Als sie das Schloss betraten, sahen sie, dass Eberhard Hagedorn auf sie gewartet hatte. »Herr Hagedorn!«, rief Sofia erschrocken. »Wieso sind Sie denn noch auf? Wir haben Ihnen doch gesagt, Sie sollten zu Bett gehen.«

Das Gesicht des alten Butlers war ernst. »Wie könnte ich das, Frau Baronin«, erwiderte er, »wenn wir nicht wissen, wo Prinz Christian ist?«

Seine Worte rührten sie zu Tränen, sie musste sich abwenden. Friedrich legte sein Hand kurz auf Eberhard Hagedorns Arm und sagte mit warmer Stimme: »Wir danken Ihnen sehr, Herr Hagedorn. Wir legen uns jetzt jedenfalls hin und versuchen, doch noch etwas Schlaf zu finden.«

»Dann werde ich mich auch zurückziehen, Herr Baron.«

Sie verabschiedeten sich und stiegen langsam die elegante breite Treppe hinauf, die von der Eingangshalle aus nach oben zu den Privaträumen und Gästesuiten führte.

Eberhard Hagedorn aber machte sich auf seinen letzten Rundgang durchs Schloss, bei dem er kontrollierte, ob alle Lichter gelöscht und alle Türen und Fenster geschlossen waren. Die Alarmanlage stellte er ebenfalls an, dann zog er sich in seine Wohnung zurück, die hinter der Eingangshalle lag. Hier wohnte er, seit er im Schloss arbeitete, er konnte sich keinen Ort vorstellen, an dem er sich wohler gefühlt hätte.

Während er sich langsam entkleidete, um sich zumindest auf dem Bett auszustrecken, wenn er schon nicht damit rechnete, schlafen zu können, sagte oben Sofia mit leiser Stimme zu ihrem Mann: »Ich glaube, Herr Hagedorn erlebt den Albtraum seiner Entführung noch einmal neu. Das muss ihm doch alles sehr bekannt vorkommen.«

Friedrich nickte nur. Er zog Sofia in seine Arme, als er sich zu ihr ins Bett legte, und wenig später erkannte er an ihren Atemzügen, dass sie entgegen ihrer Erwartung bereits eingeschlafen war. Ihm selbst gelang das nicht, er rechnete damit, die nächsten Stunden wach zu liegen und die immer gleichen Gedanken zu wälzen, wie er es schon seit mehreren Stunden tat: Wo war Christian? Was war passiert?

Doch allem Kummer zum Trotz: Eine Viertelstunde später schlief auch er.

*

Christian erwachte gegen sechs Uhr morgens. Das Rascheln um ihn herum hatte irgendwann aufgehört, er hatte erstaunlich tief geschlafen auf einer halbwegs stabilen hölzernen Bank, die dem allgemeinen Verfall der Hütte bisher widerstanden hatte. Die Härte des Untergrunds hatte er mit einem Bett aus Moos zu mildern versucht. Lange hatte er abends noch wach gelegen, über Stephanies Verhalten nachgedacht und sich sehr einsam und unglücklich gefühlt.

Er wusste, er hätte im Schloss anrufen sollen, doch dazu fühlte er sich nicht imstande. Er konnte über das, was er erlebt hatte, nicht reden, mit niemandem, nicht einmal mit Anna, die ihm von allen Menschen auf dieser Welt vermutlich am nächsten stand. Auch ihr – oder gerade ihr – konnte er nicht beschreiben, wie in ihm eine Welt zusammengebrochen war, als er Stephanie in den Armen eines anderen Jungen gesehen hatte. Tito von Wedt. Der Name würde ihn sein Leben lang verfolgen.

Der Wald, an dessen Rand die Hütte stand, war bereits zum Leben erwacht, vor allem die Vögel schmetterten ihre Lieder in die klare Luft. Als er aufstand und sich streckte, noch steif von dem doch nicht ganz bequemen Nachtlager, sah er ein Rudel Rehe, das argwöhnisch zu ihm herübersah.

»Ich tue euch nichts, keine Sorge«, murmelte er.

Als er vor der Hütte stand und in den heraufziehenden Morgen blinzelte, stellte er fest, dass ihm beinahe schlecht vor Hunger war. Wann hatte er das letzte Mal etwas gegessen? Er hatte einmal von dem Brötchen abgebissen, das er sich in dem Café bestellt hatte, und das schließlich von Clara verschlungen worden war. Clara, der er den Tipp mit dieser Hütte verdankte. Ein pfiffiges Mädchen, es hatte ihm gut getan, sich mit ihr zu unterhalten. Sie war so unkompliziert und gerade heraus gewesen, für einige Minuten hatte er sogar Stephanie vergessen können. Stephanie und Tito, der sie in den Armen gehalten hatte, als machte er das nicht zum ersten Mal.

Er schob diese Gedanken beiseite. Jetzt musste er sich erst einmal etwas zu essen besorgen und dann entscheiden, wie es weitergehen sollte. Zur Schule würde er nicht gehen, das stand bereits fest. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, Stephanie zu begegnen. Nie zuvor hatte er die Schule geschwänzt, aber jetzt würde er es tun.

Und er musste wohl im Schloss anrufen, obwohl ihm diese Vorstellung nicht behagte. Was sollte er sagen, wenn er die Wahrheit nicht aussprechen konnte? Natürlich würden sie wissen wollen, was mit ihm los war, das war ja auch ihr gutes Recht. Nur wollte er es ihnen nicht sagen, und er fand, dass das sein gutes Recht war.

Auch diese Überlegungen schob er beiseite. Zuerst etwas zu essen, dann weitere Entscheidungen.

Er machte sich auf die Suche nach dem Bach, den er die ganze Nacht hatte plätschern hören und fand ihn bald. Er führte erstaunlich viel Wasser. Kurz entschlossen zog Christian sich aus und stieg in das klare, sehr kalte Wasser. Zuerst war es ein Schock für den Körper, dann jedoch stellte sich ein unerwartetes Wohlgefühl ein, so dass er sein Bad sogar ausdehnte. Hinterher fehlte ihm natürlich etwas zum Abtrocknen. Kurz entschlossen nahm er sein Hemd dafür. Er hatte sich ja am vergangenen Tag ein Kapuzen-Shirt gekauft, um nicht erkannt zu werden, das würde er heute wieder anziehen. Das nasse Hemd brauchte er nicht unbedingt.

Auf dem Weg zurück zur Hütte entdeckte er ein paar Sträucher mit Beeren, die er pflückte, um seinen ärgsten Hunger zu stillen. Sie schmeckten köstlich. Danach setzte er sich vor die Hütte, das nasse Hemd hängte er an den untersten Ast eines Baumes, wo es von einer leichten Brise bewegt wurde. Er würde nicht nach Sternberg laufen, wo die Gefahr viel zu groß war, Leuten zu begegnen, die ihn kannten, sondern in die andere Richtung. Im nächsten Ort würde er in einem Café frühstücken und dann weitersehen.

Die Sonne stand noch tief am Himmel, als er sich auf den Weg machte, aber sie stieg rasch höher. Es würde wieder ein warmer Tag werden, aber freuen konnte er sich daran nicht.

Er fragte sich, ob er sich je wieder würde freuen können.

*

Florentine und Phillip von Hohenbrunn saßen an diesem Morgen sehr früh beim Frühstück. Die Sorge um Phillips Mutter Emilia hatte sie nur wenig und dann auch noch unruhig schlafen lassen. Am vergangenen Tag waren in der Radiologie der Sternberger Klinik zahlreiche Aufnahmen von Emilias rechter Brust gemacht worden, um festzustellen, was es mit dem Knoten, der dort von Schwester Mara Burghardt entdeckt worden war, auf sich hatte. Die Ergebnisse wurden für den nächsten Tag erwartet.

Stephanie und Caroline, ihre beiden Töchter, schliefen noch. Sie waren alle vier sehr lange bei Emilia in der Klinik geblieben und entsprechend spät ins Bett gekommen. Da Stephanie außerdem beim Empfang der schlechten Nachricht einen leichten Ohnmachtsanfall erlitten hatte, würden beide Mädchen an diesem Tag nicht zur Schule gehen, darauf hatten sich ihre Eltern bereits am Abend zuvor verständigt. Es gab Situationen, in denen andere Dinge wichtiger waren als die Schule.

»Erst die Geiselnahme mit den Schüssen – jetzt auch noch Angst vor Krebs«, murmelte Phillip. »Diese Redensart, dass ein Unglück selten allein kommt, scheint zu stimmen, obwohl ich das bis jetzt nie habe glauben können.«

Florentine griff nach seiner Hand. »Vielleicht ist es gar kein Krebs, sondern ein harmloser Knoten«, sagte sie ruhig. »Das weiß zum jetzigen Zeitpunkt noch niemand, Phil.«

»Nein, natürlich nicht«, gab er zu. »Aber es hat mir zugesetzt, meine tatkräftige Mutter in einem solchen Zustand zu sehen.«

»Sie stand unter Schock, das ist doch auch verständlich. Sie hat ja gerade erst dieses Drama in der Bank hinter sich gebracht, sie ist angeschossen worden, sie hat eine komplizierte Operation hinter sich, und danach musste sie sich mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass sie ihren rechten Arm vielleicht nicht mehr richtig bewegen kann. Sie war vorher schon angezählt, wie man das im Boxsport nennt. Und dann kommt noch etwas dazu! So etwas haut jeden um.«

Er nickte, wollte etwas sagen, wurde jedoch durch das Telefon unterbrochen. Mit bleichem Gesicht sprang er auf. »Das ist bestimmt die Klinik … Etwas ist mit meiner Mutter passiert.«

Es war jedoch offensichtlich jemand anders. Florentine konnte nicht hören, mit wem ihr Mann sprach, es war jedoch klar, dass es nicht um seine Mutter ging. Als er zu ihr an den Frühstückstisch zurückkehrte, war er noch blasser als zuvor. »Das war Baron von Kant. Er wollte eigentlich Steffi sprechen, aber ich habe ihm gesagt, dass sie noch schläft. Stell dir vor: Christian ist verschwunden.«