Der neue Landdoktor – 71 – Ingvar unter Verdacht

Der neue Landdoktor
– 71–

Ingvar unter Verdacht

Doch er selbst trug zur Überführung der Täter bei

Tessa Hofreiter

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-069-1

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Ingvar war bei Sonnenaufgang aufgebrochen und schon einige Stunden im Bergmoosbacher Forst unterwegs. Der junge Naturforscher, der im Nachbarort Mainingberg zu Hause war, untersuchte im Rahmen eines Forschungsprogrammes die Pilzvorkommen im Allgäu. Seit zwei Monaten streifte er durch die Wälder der Umgebung und sammelte Pilze, die er auf ihre Beschaffenheit hin untersuchte. Um das Verständnis für den Wald und die sensible Natur zu festigen, filmte er seine Ausflüge mit der Handykamera und stellte die Filme auf seine Internetseite.

Auch an diesem Morgen hatte er bereits einige Pilze gesammelt, essbare und nicht essbare. Er wollte sich gerade auf den Heimweg machen, als er in einer Kurve des Waldweges noch einige besonders schöne Exemplare des Edel-Reizkers entdeckte. Der Pilz mit seinem ockerfarbenen reliefartigen Hut kam eher selten vor. Er stellte den Korb mit den Pilzen am Wegesrand ab, um einige Edel-Reizker seiner Sammlung hinzuzufügen.

Bevor er wieder auf den Weg zurückging, setzte er seinen Rucksack ab, holte sein Handy heraus und filmte auch diese Fundstelle. Wie schon an den beiden Tagen zuvor würde er auch diesen Film und die anderen von diesem Morgen auf seine Internetseite stellen, sobald er zu Hause war.

Als er wieder unter den Bäumen hervortrat, war er in Gedanken schon bei der Auswertung seines Filmmaterials. Erschrocken blieb er stehen, als er plötzlich den Motor eines Lastwagens hörte. Gleich darauf bog der Wagen um die Ecke. Er nahm mit seiner Breite den ganzen Weg ein, und die Holzstämme auf seinem Anhänger schaukelten wild hin und her. Sie waren viel zu hoch gestapelt und hatten kaum Halt. Ingvar trat sofort ein paar Schritte zurück, konnte aber das Unglück nicht mehr verhindern. Einer der Baumstämme auf dem Anhänger hatte sich gelöst, rutschte von der Ladefläche herunter und traf ihn an den Beinen. Er stürzte rückwärts zu Boden. Sein Rucksack, den er gerade wieder hatte aufsetzen wollen, flog in hohem Bogen davon.

Ingvar blieb erst einmal liegen, um sich zu sortieren. Der Stamm lag genau über seinen Hüften, da er aber in einer Vertiefung des Waldbodens gelandet war, lastete nicht das gesamte Gewicht des Stammes auf ihm. Er hörte, wie der Lastwagen bremste und anhielt. Durch den hochgewachsenen Farn konnte er sehen, wie der Fahrer ausstieg.

»Hallo!«, rief er und versuchte sich unter dem Baumstamm hervorzuziehen. »Hallo, hier bin ich!«, machte er erneut auf sich aufmerksam, als ihm klar wurde, dass der Stamm zu schwer war, um ihn allein anzuheben. »Hierher!« Er versuchte, sich mit dem Oberkörper aufzurichten, was ihm aber nicht gelang. »Hallo!«, rief er so laut er konnte, als der Mann, von dem er nicht mehr als die Beine sah, sich kurz bückte und danach aus seinem Blickfeld verschwand. Was soll das?, dachte er, als der Lastwagen gleich darauf weiterfuhr. Er war sicher, dass der Mann seine Rufe gehört hatte. Warum ließ er ihn hilflos zurück?

Er spannte seine Muskeln an und drückte gegen den Stamm. Es war vergeblich, er bewegte sich nicht. Hilfe konnte er auch nicht rufen. Sein Handy war für ihn außer Reichweite. Es steckte in seinem Rucksack, den er von seiner Position aus nicht einmal sehen konnte. In diesem Moment spürte er einen unangenehmen Druck auf seinen Rippen und Schmerzen in seinem rechten Knöchel.

»Verdammt, was jetzt?«, sagte er laut und holte erst einmal tief Luft, um sich zu beruhigen. Er musste nachdenken. Der Bergmoosbacher Forst gehörte zum größten Teil den Holzers, den Eigentümern des örtlichen Sägewerks. Zur Zeit fanden in der ganzen Gegend Abholzungen statt. Vielleicht waren Forstarbeiter in der Nähe unterwegs. Aber sicher nicht zu Fuß! Wie sollte er auf sich aufmerksam machen, wenn sie mit einem Auto an ihm vorbeifuhren? Oder waren sie gerade schon vorbeigefahren? Nein, sicher nicht. Die Forstarbeiter und die Leute vom Sägewerk hätten das Holz nicht so schlampig auf dem Lastwagen befestigt.

Egal, wer es war, er musste sich irgendwie selbst befreien. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass jemand in den nächsten Stunden genau an dieser Stelle vorbeikam. Weder ein Forstarbeiter noch ein Wanderer oder Spaziergänger. Möglicherweise würde er mehrere Tage auf Hilfe warten müssen. Ein kalter Schauer jagte ihm über den Rücken, als ihm bewusst wurde, dass sie ihn vielleicht erst fanden, wenn es für ihn zu spät war.

Eigentlich hatte er keine Angst im Wald, auch nicht in der Nacht. Aber im Moment war er vollkommen unbeweglich und konnte auf keine Gefahr reagieren. Vorbeiziehende Wildschweinrudel würden ihn als Eindringling in ihr Revier betrachten und ihn nicht gerade liebevoll willkommen heißen. Und ob ein Wolf, der durch die Wälder streifte, ihn nur neugierig beschnuppern würde, das wollte er erst gar nicht herausfinden. Falls ihm niemand zur Hilfe kam, sah es nicht gut für ihn aus.

Wieder versuchte er, sich zu befreien, aber genau wie zuvor, gelang es ihm nicht. Er beschloss, sich einen Moment auszuruhen, bevor er einen weiteren Versuch startete. So schnell würde er nicht aufgeben.

*

Fabia brach an diesem Morgen erst nach einem ausgiebigen Frühstück zu ihrer täglichen Wanderung durch den Bergmoosbacher Forst auf. Sie hatte sich vor einigen Tagen in einer Ferienwohnung auf dem Mittnerhof eingerichtet und startete von dort ihre Erkundungstouren. Es war die Zeit der Pilzsucher, und auch die junge Biologin war auf der Suche nach Pilzen. Im Auftrag der Uni München untersuchte sie heimische Pilze, um deren medizinischen Nutzen zu bestimmen.

Auch der Edel-Reizker, der sich durch eine Vielzahl von Nährstoffen in hoher Konzentration auszeichnete, hatte ihr Interesse geweckt. Sabine Mittner, ihre Vermieterin, hatte ihr eine Stelle im Forst genannt, an der sie den Pilz finden konnte.

Fabia liebte diese Spaziergänge im Wald. Sie fühlte sich inmitten der Natur geborgen. Die Luft war vom Duft der Tannen und Kiefern erfüllt, die Sonne, die durch die Baumwipfel drang, tanzte über die Wege. Vögel zwitscherten und hüpften über schwingende Äste. Als sie auf einer Lichtung ein Rudel Rehe entdeckte, die friedlich ästen, blieb sie stehen.

Sie setzte sich auf einen Felsen am Wegesrand, schob die Ärmel ihres grünweiß geringelten Pullis hoch, den sie zu ihrer grünen Jeans trug, und schaute den Tieren zu. Vielleicht sollte sie das Pilzesammeln auf den nächsten Tag verschieben und einfach nur die Tiere im Wald beobachten. Sie war kürzlich an einem Hochsitz vorbeigekommen, von dort aus würde sie Rotwild, Füchse, Hasen und Wildschweine sehen können und vielleicht sogar einen Wolf. Nach einer Weile beschloss sie, doch nach dem Edel-Reizker Ausschau zu halten. Bis zu dem Waldstück, das Sabine ihr beschrieben hatte, war es nicht mehr weit.

»Hallo!«, hörte sie plötzlich einen Mann rufen.

Sie blieb auf dem Weg stehen, in den sie gerade eingebogen war, und schaute sich um. Galt der Ruf ihr? Auf den ersten Blick war nirgendwo jemand zu sehen.

Sie ging langsam weiter und schaute rechts und links des Weges in den Wald.

»Hallo, ich brauche Hilfe!«, hörte sie den Mann erneut rufen.

»Wo sind Sie?!«, antwortete sie.

»Nach der Kurve in Richtung Mainingberg auf der rechten Seite des Weges hinter dem Farn!«

»Ich bin gleich bei Ihnen!« Auch wenn sie nichts Böses vermutete, nahm sie doch vorsichtshalber ihr Telefon in die Hand, um notfalls schnell Hilfe für sich zu rufen.

Sie lief zu der Stelle, die der Fremde ihr beschrieben hatte, blieb aber zunächst am Wegesrand stehen und schaute über den hoch gewachsenen Farn hinweg.

»Hier!«

»Okay, ich sehe Sie«, sagte sie, als sie den hochgestreckten Arm des Mannes nur wenige Meter vor sich sah. Sie stellte ihren Rucksack ab und lief durch den Farn zu ihm. Das sah nicht gut aus. Ein schwerer Kiefernstamm lag quer über ihm auf der Höhe seiner Hüften, und offensichtlich konnte er sich nicht bewegen.

»Ich bin echt froh, Sie zu sehen. Ich dachte schon, es würde heute niemand mehr hier vorbeikommen.«

»Ich wollte auch zuerst einen anderen Weg nehmen. Aber jetzt bin ich ja hier. Haben Sie Schmerzen?« Sie sah die Erleichterung in seinen dunklen Augen, dass ihn jemand gefunden hatte, und kniete sich neben ihn auf das weiche Moos.

»Mein rechter Knöchel tut weh. Ansonsten spüre ich keine Schmerzen.«

»Das mit Ihrem Knöchel ist gut«, sagte sie und strich die seidigen Strähnen ihres blonden Haares, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatten, aus ihrem Gesicht.

»Und warum ist das gut?«, fragte er verwundert.

»Weil Sie so davon ausgehen können, dass Ihre Wirbelsäule nicht verletzt wurde. Sonst würden Sie Ihre Füße nicht spüren.«

»Stimmt, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.«

»Das glaube ich Ihnen gern. Sie hatten ein vorrangigeres Problem zu lösen. Sich aus Ihrer Lage zu befreien, ist wohl erst einmal das Wichtigste. Ich werde mal versuchen, ob ich Ihnen helfen kann.«

»Nein, lassen Sie das lieber, der Stamm ist wirklich schwer. Ich will nicht, dass Sie sich verletzen.«

»Stimmt, das funktioniert nicht«, gab sie ihm recht, als sie versuchte, den Stamm zu bewegen, was ihr aber nicht gelang. »Was ist?«, fragte sie erschrocken, als er plötzlich die Luft anhielt.

»Ich weiß nicht, ich spüre so einen merkwürdigen Druck auf meinen Rippen. Das Gefühl hatte ich vorhin schon einmal, aber jetzt ist es stärker.«

»Halten Sie trotzdem nicht die Luft an, atmen Sie ruhig weiter«, forderte sie ihn auf, während sie die Nummer der Praxis Seefeld in ihrem Handy aufrief. Sabine Mittner hatte sie ihr gegeben, falls sie unterwegs einmal in eine Notlage geraten sollte. »Hallo, mein Name ist Fabia Regner, ich habe einen Verletzten im Wald gefunden«, sagte sie, als sich die Sprechstundenhilfe der Praxis meldete. »Der Mann wurde von einem Baumstamm getroffen und kann nicht richtig atmen. Es ist mir leider nicht möglich, ihn aus seiner Lage zu befreien. Gut, danke. Es kommt gleich Hilfe«, wandte sie sich dem Verletzten wieder zu, nachdem sie das Telefongespräch beendet hatte. »Geht es wieder?«, fragte sie, als sie sah, wie der Mann sich bemühte, wenigstens flach zu atmen.

»Ich kämpfe gegen die aufsteigende Panik in mir«, entgegnete er leise.

»Wie ist das passiert?«, fragte sie ihn, um ihn abzulenken. Ihr war nicht wirklich klar, wie der Stamm, der bereits von allen Ästen befreit war und sicher für den Abtransport zum Sägewerk irgendwo gelegen hatte, auf ihn rollen konnte.

»Das ist eine merkwürdige Geschichte«, sagte er und erzählte ihr, wie er sich vor dem Lastwagen in Sicherheit bringen wollte und was danach passierte.

»Sind Sie sicher, dass der Mann Sie gehört hat?«, hakte Fabia nach, weil es ihr ungeheuerlich erschien, jemanden so hilflos zurückzulassen.

»Was hören Sie?«, fragte er sie und schaute auf den Weg.

»Nur das Gezwitscher der Vögel.«

»Selbst bei laufendem Motor hätte er mich doch hören müssen. Oder?«

»Wie nah war er?«

»Am Weg direkt vor mir.«

»Er wollte Sie nicht hören.«

»Richtig, weil er vermutlich nicht von mir gesehen werden wollte.«

»Vielleicht befürchtet derjenige Ärger, weil er das Holz nicht richtig verstaut hat.«

»Möglich, aber das sollte ich wohl besser die Polizei klären lassen.«

»Ich hoffe, dass sie den Kerl finden.«

»Ja, das hoffe ich auch. Danke für Ihre Hilfe, Fabia«, sagte er.

»Sie kennen meinen Namen?«, wunderte sie sich.

»Das Telefonat eben.«

»Stimmt.« Sie zuckte zusammen, als er ihr in diesem Moment direkt in die Augen schaute. »Verraten Sie mir auch Ihren Namen?«, fragte sie ihn, um diese Nervosität zu überspielen, die sie auf einmal überfiel.

»Ingvar Wering.«

»Machen Sie hier Urlaub, Herr Wering?«

»Nein, ich wohne in Mainingberg. Und bitte, Ingvar genügt«, sagte er.

»Ja, gern, also Ingvar. Ich höre einen Wagen«, machte sie ihn auf das Motorengeräusch aufmerksam und streichelte ihm beruhigend über den Arm, als er wieder ganz flach atmete.