Der kleine Fürst – 200 – Das Missverständnis

Der kleine Fürst
– 200–

Das Missverständnis

Der große Schmerz kam in flagranti

Viola Maybach

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-050-9

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»Du bist so still«, sagte Christian von Sternberg während der Großen Pause zu seiner Freundin Stephanie von Hohenbrunn. »Was ist los, Steffi?«

Normalerweise sprachen sie in der Schule nur das Nötigste miteinander, sie wollten kein Aufsehen erregen. Aber seit Christian gemeinsam mit Stephanies Großmutter Emilia von Hohenbrunn zu den Geiseln von vier Bankräubern gehört hatte, standen sie ohnehin im Blickpunkt der Öffentlichkeit, denn Christian war, gemeinsam mit ein paar Kindern und zwei Verletzten, zuerst freigelassen worden. Das hatte ein sensationslüsterner Reporter zum Anlass genommen, ihn zu beschuldigen: Wieso war Prinz Christian von Sternberg, auch ‚der kleine Fürst’ genannt, nicht auf die Idee gekommen, anderen Geiseln, die älter und weniger gesund waren als er, den Vortritt zu lassen? Stephanie war in einem Fernsehinterview leidenschaftlich für ihn eingetreten, seitdem waren sie in aller Munde und wurden häufig von Fotografen belagert.

»Ich kann das nicht, Chris«, antwortete sie unglücklich.

»Was meinst du damit? Was kannst du nicht?«

»Dieser ganze Wirbel ist mir zu viel. Ich will nicht jedes Mal, wenn ich auf die Straße gehe, fünfzig Mikrofone vor die Nase gehalten bekommen. Neulich standen ein paar Fotografen die ganze Nacht vor unserem Haus. Das macht mir Angst.«

Stephanie war vierzehn Jahre alt, sie ging mit Christians Cousine Anna von Kant in eine Klasse. Über Anna hatte er sie kennengelernt und sich bald in sie verliebt: in ihre schönen grauen Augen, ihre roten Haare, die Sommersprossen auf ihrer Nase, ihr hübsches, weiches Gesicht. Vor allem aber hatte er in ihr eine verwandte Seele erkannt. Sie war ruhig und zurückhaltend wie er selbst, aber sie konnte auch fröhlich, sogar albern sein, wenn die Umstände danach waren. Mit ihr konnte er über alles reden. Sie hörte ihm zu und verstand ihn, selbst wenn ihm die richtigen Worte fehlten, um auszudrücken, was er fühlte.

Bei ihren Worten bekam er Angst, sie zu verlieren, bevor er sie überhaupt richtig hatte kennenlernen dürfen, denn sie waren noch nicht lange zusammen. »Das hört bald wieder auf«, beteuerte er hastig. »Im Augenblick ist das nur deshalb so schlimm, weil dieser Überfall auf die Bank noch ganz frisch ist. Aber sobald etwas Neues passiert, verlieren sie das Interesse an uns.«

Sie versuchte zu lächeln, was ihr nicht gelang. »Es ist lieb von dir, dass du mich trösten willst. Aber du hast mir doch selbst erzählt, wie lange ihr von Fotografen und Reportern verfolgt worden seid … damals.«

Christian biss sich auf die Lippen. Leider stimmte, was sie sagte. Er dachte nur sehr ungern daran zurück. Er hatte seine Eltern im vergangenen Jahr durch einen Hubschrauberabsturz verloren, bei dem auch der Pilot ums Leben gekommen war. Wenig später war sein Vater aufs Schlimmste verleumdet worden, die Medien hatten sich förmlich auf diese Geschichte gestürzt und sehr lange an ihr festgehalten.

»Das hier ist anders«, sagte er. »Die Bankräuber sind gefasst und werden verurteilt werden, es gibt vielleicht noch Interviews mit einigen Geiseln, und dann erlischt das Interesse.«

»Das glaube ich nicht«, widersprach sie leise. »Solange Omi schwer verletzt in der Klinik liegt …« Sie brach ab. Emilia von Hohenbrunn war angeschossen worden in der Bank, zu einem Zeitpunkt, als die Befreiung der letzten Geiseln durch die Polizei schon unmittelbar bevorstand. Zwei Kugeln hatten Schulter und Brust getroffen, weshalb sie sehr viel Blut verloren hatte. Erst jetzt konnten die Ärzte daran denken, sie zu operieren, denn zunächst war ihr Zustand nicht stabil gewesen.

»Sie wird operiert, es geht ihr bald besser, und dann kommt die nächste aufregende Geschichte, und niemand interessiert sich mehr für uns, glaub mir.« Er griff nach ihrer Hand und war froh darüber, dass sie sie ihm nicht entzog.

»Es sind ja nicht nur die Fotografen, die mir im Augenblick das Leben schwermachen, Chris. Ich habe auch Angst um Omi. Es geht ihr immer noch ziemlich schlecht, und sie ist ja nicht mehr jung. Sie hat so viel Blut verloren, und sie sieht so … so krank aus, wenn wir sie besuchen. Dabei kann ich mich nicht erinnern, dass sie vorher irgendwann einmal krank gewesen wäre.«

Christian dachte an die langen Stunden in der Bank, in denen Emilia von Hohenbrunn an seiner Seite gewesen war. »Sie ist sehr stark«, sagte er. »Sie hat nicht eine Sekunde lang die Nerven verloren, im Gegenteil. Du hättest einige von den anderen Geiseln sehen sollen. Die haben überhaupt keine Haltung gezeigt. Sie war ein Vorbild. Und hätte sie nicht diesen Albtraum gehabt am Schluss, wo sie dann geschrien hat, wäre es nicht zu den Schüssen gekommen.«

»Ich weiß, dass sie stark war, aber jetzt ist sie es nicht mehr. Deshalb habe ich Angst um sie«, flüsterte Stephanie.

In diesem Augenblick schellte es zum Ende der Pause. Christian ließ Stephanies Hand nur ungern los, als sich die Schüler in Bewegung setzten, um ins Schulgebäude zurückzukehren. Neben ihnen tauchte Anna auf, kurz darauf auch Annas älterer Bruder, Christians Cousin Konrad.

Beide bemerkten Stefanies Blässe und Christians unglückliches Gesicht, aber sie stellten keine Fragen, konnten sie sich doch in etwa denken, was in beiden vorging. Sie sahen die Fotografen vor der Schule ja selbst, und Anna wusste ohnehin, wie sehr Stephanie unter der augenblicklichen Situation litt.

Sie hakte sich bei ihrer Freundin unter und stellte ihr eine Frage zur jetzt folgenden Biologiestunde. Das Ablenkungsmanöver gelang, Stephanie ging ernsthaft auf die Frage ein. Christian warf Anna einen dankbaren Blick zu.

Die beiden Jungen ließen sich ein wenig zurückfallen. Konrad sagte mit gedämpfter Stimme: »Mich nerven die Fotografen auch, muss ich sagen. Das ist ja fast wie damals, du weißt schon …«

Christian nickte. Es war eine schreckliche Zeit gewesen, keiner von ihnen sehnte sich danach zurück, er am allerwenigsten. Er konnte nur hoffen, dass das öffentliche Interesse an ihm und Stephanie bald wieder nachließ. Denn wenn nicht … Er wagte den Gedanken kaum zu Ende zu denken, aber ihm wurde klar, dass ihrer noch so jungen Liebe dann ernsthafte Gefahr drohte.

»Uns nerven die Fotografen und Reporter«, erwiderte er, »aber Steffi hält sie nicht aus. Das ist ein großer Unterschied.«

Konrad warf ihm einen forschenden Blick zu. »Du denkst doch nicht etwa, dass sie sich deshalb von dir trennt?«

»Wenn es noch schlimmer wird als jetzt, vielleicht doch.«

»Das ist Quatsch!«, entgegnete Konrad im Brustton der Überzeugung. Er war jetzt siebzehn, ein Jahr älter als Christian. »Ihr seid so verliebt ineinander! Sie hat das ganze Land zu Tränen gerührt mit ihrem Interview, in dem sie gesagt hat, was für ein toller Kerl du bist, als noch viele dachten, du hättest in der Bank bleiben und lieber dafür sorgen sollen, dass die Gangster ein paar Frauen freilassen. Da kommt sie doch nicht auf die Idee, sich von dir zu trennen!«

»Ich sage ja nicht, dass sie mich nicht mehr liebt. Ich sage nur, dass sie es vielleicht nicht aushält, ständig beobachtet zu werden.«

»Das hört ja wieder auf!«

»Die Frage ist nur, wann. Außerdem hat sie Angst um ihre Großmutter.«

»Die ist ja wohl auch berechtigt«, murmelte Konrad.

Sie hatten das Schulportal erreicht. Drinnen trennten sich ihre Wege, Konrad war eine Klasse weiter als Christian. Von den beiden Mädchen war nichts mehr zu sehen.

Mit gesenktem Kopf kehrte Christian in seine Klasse zurück. Vor dem Banküberfall war er zum ersten Mal seit dem Tod seiner Eltern wieder glücklich gewesen.

Jetzt kam es ihm so vor, als liege diese Zeit Lichtjahre zurück.

*

Emilia von Hohenbrunn war an diesem Vormittag in der Privatklinik von Dr. Walter Brocks in Sternberg von Spezialisten operiert worden. Walter Brocks war vor der Klinikgründung der Hausarzt der Sternberger Schlossbewohner gewesen, und er war es danach geblieben, aus alter Verbundenheit. Er hatte Fürstin Elisabeth und Fürst Leopold schon betreut, als die junge Fürstin mit Christian schwanger geworden war, er hatte die Familie von Kant betreut, die wenige Jahre später ebenfalls ins Schloss gezogen war, in den Westflügel. Baronin Sofia von Kant war eine Schwester der Fürstin, ihr Mann Friedrich und sie hatten zwei Kinder, die schon bald für den kleinen Christian wie Geschwister gewesen waren.

Und natürlich hatte Walter Brocks die Familie betreut, als das Fürstenpaar bei diesem furchtbaren Unglück ums Leben gekommen war. Jetzt, als er den Bericht der Operateure entgegennahm, schoss ihm wieder einmal der Gedanke durch den Kopf, dass es den Sternbergern offenbar nicht vergönnt war, zur Ruhe zu kommen. Sicherlich, Emilia von Hohenbrunn war kein Familienmitglied. So weit er wusste, kannten die Kants sie noch nicht einmal persönlich, aber natürlich wusste er um die neue Beziehung des kleinen Fürsten, wie Prinz Christian allgemein genannt wurde, zu Emilias Enkelin Stephanie. Und er wusste um die Nacht in der Bank, die Christian und Emilia gemeinsam durchgestanden hatten.

Der Chirurg Dr. Peter Wellenstein sagte gerade: »Wir müssen also abwarten, ich kann nicht dafür garantieren, dass der Arm wieder so beweglich wird, wie er war.«

»Entschuldigen Sie, Herr Wellenstein«, sagte Walter Brocks, »ich war nicht ganz bei der Sache …«

Der Chirurg lächelte. »Das habe ich gemerkt«, erwiderte er. Peter Wellenstein war Anfang vierzig, ein brillanter Chirurg, der nicht viele Worte verlor. Er war sehr schlank, in seine dunklen Haare mischte sich das erste Grau, einige Falten zeugten von vielen anstrengenden Stunden im Operationssaal. Er war, wie man so sagte, mit seinem Beruf verheiratet. In Notsituationen war er grundsätzlich der Erste, der sich bereiterklärte, einzuspringen.

»Eine der Kugeln hat wichtige Nervenstränge verletzt«, fuhr er fort. »Wir haben getan, was wir konnten, aber Frau von Hohenbrunn wird Geduld brauchen, zumal sie nicht mehr jung ist. Es darf jedenfalls bezweifelt werden, dass der Arm jemals wieder ganz beweglich wird.«

»Sie hat, wie man hört, einen sehr starken Willen.«

»Der kann viel ausrichten, aber leider nicht alles.«

»Ist sie stabil?«

»Im Augenblick ja, aber ich bin nicht sicher, dass das so bleibt. Wäre es möglich gewesen, hätten wir mit der Operation noch gewartet, sie hatte ja sehr viel Blut verloren, es wäre besser gewesen, sie hätte sich noch erholen können. Aber die Kugeln mussten aus dem Körper.« Peter Wellenstein schwieg einen Moment lang. »Ich hoffe, sie schafft es«, setzte er danach hinzu. »Die Operation selbst ist jedenfalls gut verlaufen.«

Walter Brocks seufzte. Er dachte an die Hohenbrunns, die jeden Tag stundenlang bei der Patientin verbrachten, die ihn anriefen, um seine Meinung zu ihrem Zustand zu hören.

Er konnte nur hoffen, dass die Geiselnahme, die insgesamt glimpflich verlaufen war, auch in diesem besonderen Fall zu einem guten Ende gebracht werden konnte.

»Wir sollten vielleicht dafür sorgen, dass Schwester Mara für Frau von Hohenbrunn zuständig ist«, sagte er. »Sie war ja auch eine der Geiseln, und ich könnte mir vorstellen, dass es unserer Patientin gut tut, mit jemandem zu tun zu haben, der weiß, was sie erlebt hat.«

»Gute Idee«, sagte Peter Wellenstein. »Mara ist außerdem eine ausgezeichnete Schwester, bei ihr ist jeder Patient in guten Händen.«