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Sophie Van der Linden

EINE NACHT,
EIN LEBEN

Roman

Aus dem Französischen
von Valerie Schneider

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

De terre et de mer bei Buchet Chastel, Paris.

Copyright © Libella, Paris, 2016

© 2018 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag, Hamburg

Abbildung akg-images / Laurent Lecat

Satz mareverlag, Hamburg

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-345-3

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-278-4

www.mare.de

Für meine Insel, C.,
der mich zu der seinen gemacht hat
.

Die Wolken hier waren nicht mehr behäbig und schwer wie über der Landschaft um Paris. Sie bewegten sich stetig, wirkten anmutig und diffus und schienen wie er vom wenngleich noch fernen Meer angezogen zu werden. Seit sein Zug den kleinen Bahnhof von Bel-Air an der letzten Abzweigung Richtung Norden verlassen hatte, betrachtete Henri die Landschaft eingehend und lauerte auf das unvermittelte Auftauchen der blauen Fläche, die ebenso die kurz bevorstehende Ankunft des Zuges an seinem Ziel wie den Beginn einer weiteren Reise ankündigen würde, die zur Insel B.

Wobei es im Grunde keine Reise war, lediglich eine Überfahrt. Und eine kurze noch dazu, von vermutlich einer halben Stunde. Doch Henri hatte bisher kaum jemals den Fuß auf ein Schiff gesetzt.

Sein Blick blieb in den Baumwipfeln hängen, verweilte auf den runden Hügeln, durchkämmte die Täler, flog in den kühlen Luftströmen empor, die das noch etwas unbeständige Wetter der friedlichen Ruhe des Sommerhimmels einhauchte.

Der Zug erreichte R., ohne dass Henri auch nur den kleinsten Blick auf das Meer erhascht hätte. Kein Blau durchbrach das verzerrte Diorama der vor dem Blick des Eisenbahnreisenden fliehenden Landschaft.

Vom Bahnhof aus durchquerte er die Stadt zum Hafen. Als er aus einer Straße trat – düster und feucht wie alle Straßen dieser Granitstadt und verstopft von Pferdekarren, die das Gemüse aus dem Hinterland brachten –, erblickte er endlich das Meer, konnte sich jedoch mit dessen Betrachtung nicht lange aufhalten, so bestrebt war er, die letzte Schaluppe zu erreichen, die ihn zu einer angemessenen Besuchszeit auf der Insel absetzen würde.

Sobald er den Anleger gefunden hatte, schloss er sich der kurzen Schlange von Passagieren an. Müde von der langen Reise, beladen mit seinem Gepäck und dem Blumenstrauß, den er bei einem Zwischenstopp auf die Schnelle erstanden hatte, voller Ungeduld und durch die vier Uhr schlagende Kirchenglocke in unerklärlichen Aufruhr versetzt, wollte er, als er an der Reihe war, möglichst leichtfüßig einsteigen, polterte in dem Chaos jedoch regelrecht an Bord und brachte so das vergleichsweise leichte Boot merklich zum Schwanken. Die Passagiere, die bereits Platz genommen hatten, mussten sich jäh festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Und obwohl sie kein Wort sagten, spürte er doch, dass den meisten dieser Inselbewohner wohl eine passende Bemerkung über solch einen ungehobelten Nichtsnutz von einem Fremden auf der Zunge lag.

Luft! Diese Luft! Wie sehr sie mir doch gefehlt hat. Als er endlich die Nase in den Wind halten, die jodgeschwängerte Brandung des gegen die Kaimauer klatschenden Hafenwassers einatmen und sich der Weite zuwenden konnte, die sich nun seinem Auge bot, hatte Henri den Zwischenfall schnell vergessen. Seine Kindheit und frühe Jugend hatte er an der Küste verlebt. Und auch wenn seine bäuerliche Herkunft ihn stets von der Schifffahrt ferngehalten hatte, war das Meer für ihn eine Quelle der Freude und der Besänftigung geblieben.

Das Segel der Schaluppe wie auch die Passagiere, die um ihn herum auf den Bänken saßen, verdeckten einen Teil des Horizonts. Dennoch genoss der junge Mann es, der unermesslichen Weite des Meeres so nahe zu sein. Wenn er sich nur leicht vorbeugte, hätte er beinahe über die Wasseroberfläche streichen und seine Hand zur Erfrischung hineinhalten können. Den ganzen Körper eintauchen. Henri hob den Kopf, atmete die leichte Brise ein und beobachtete die verstreuten Felseninselchen, die in unterschiedlichen Formen aus dem Wasser ragten. Sie waren wie Tupfer auf einem lebendigen Gemälde, dort, wo der Dunst zögerte, das Materielle und das Atmosphärische strikt zu trennen.

Getrieben vom Rückenwind glitt das Boot träge durch diese sanften, gedämpften Farben. Blau ist, im Gegensatz zu Grün, nicht greifbar. Ich kann ein Blatt vom Baum zupfen, einen Grashalm pflücken, sie in meiner hohlen Hand zerdrücken, meine Finger mit ihrem Saft einfärben. Doch das Blau des Himmels oder das des Meeres entziehen sich einem stets. Was werde ich wohl auf dieser Insel berühren können?

Henri bemerkte den Postsack, der zusammen mit den Passagieren auf das Boot geladen worden war. Grober Stoff, steif geworden durch den Schmutz, der sich in seinem Gewebe gesammelt hatte. Dreckige Jute, die jedoch eines Tages den Brief mit seinen Fragen in sich getragen und in umgekehrter Richtung zweifelsohne der Antwort als Behältnis gedient hatte, die ihn, trotz ihrer scheinbaren Zartheit, unbeschadet erreichte. Ein kleiner Umschlag, vergissmeinnichtfarben. Blass. Lieber Henri, es gibt leider keine Erklärung. Wie soll man das Schweigen in Worte fassen? Genau wie das Geheimnis ist es etwas vor der Welt Verborgenes, in das niemand das Recht hat einzudringen. Es sichert das Überleben des Vogels, der bei Einbruch der Nacht sein Zwitschern einstellt, weil er spürt, dass er nun still werden und sich zurückziehen muss. Ebenso wie ich spürte, wann ich still werden musste, auch dir gegenüber. Und so hatte die Anrede »Lieber Henri« – im Laufe der Antworten und ungeachtet der grausam langen Zeit, die zwischen den letzten zwei Briefen lag – »Mein Liebster« ersetzt. Danach hatte er keine Fragen mehr gestellt. Nur ein weiteres Mal geschrieben, um mitzuteilen, dass er entschlossen war, zur Insel B. zu reisen. Er muss sich schließlich nicht dem Schweigen und der Einsamkeit verschreiben. Auch ist er keiner von denen, die sich einfach zurückziehen. Oder sich verschließen, kunstvoll gefaltet. Und sei es in einem vergissmeinnichtfarbenen Umschlag.

Luft, Luft … sich von ihr durchdringen, sie durch alle Öffnungen zirkulieren lassen und so den Launen entgegentreten, die dunklen Höhlen der Wut auslüften, die Vernunft einberufen. Doch ist das hier vernünftig? Henri riskierte einen Blick nach hinten und maß das Vorankommen des Bootes an der Entfernung zur dunklen, grauen Masse der Stadt, weichgezeichnet durch den leichten Dunst, der versuchte, auch sie mit seinen zarten, verschwommenen Maschen zu umfangen. Dann änderte die Schaluppe ihren Kurs, und das Segel hinderte ihn nicht mehr daran zu beobachten, wie die Einzelheiten der Insel nach und nach sichtbar wurden – ihre mit Dächern besprenkelten Hügel, die Kirche, der Hafen … Wo wir wohl anlegen werden? Die Dünung, die das Boot nun leicht beeinträchtigte, da sie von der Seite kam, erinnerte Henri daran, dass er sich ausnahmsweise einmal auf See befand, worüber er plötzlich, inmitten der gleichmütigen Insulaner, ehrliche Freude empfand. Er ließ sich nichts davon anmerken, spannte jedoch leicht die Muskeln an und wippte auf seiner Sitzbank hin und her wie auf einer Schaukel. Er fühlte sich wie ein vom Wind berauschtes Kind an der Hand von Erwachsenen, die sich damit begnügen, ihren Kragen aufzustellen oder murrend ihr Schultertuch zurechtzuziehen.

Henri achtete darauf, diesmal ohne weitere Zwischenfälle aus dem Boot zu steigen, doch kaum stand er in voller Länge auf dem Kai, rempelte ihn ein rotgesichtiger, untersetzter Junge an, der den Matrosen entgegenstürzte. »Haben Sie die Kiste vom Chef?«, stieß er ohne jegliche Höflichkeitsfloskel oder Entschuldigung hervor, ebenso wenig Henri wie der Mannschaft gegenüber.

»Die hab ich vorne am Bug in den Schatten gestellt, da ist sie.«

»Geben Sie sie mir, schnell! Der Chef hat ganz üble Laune, der hat nämlich seine Seeohren nicht gekriegt.«

»Aha, da hat der gute Antoine ihm wohl eins ausgewischt!« Der Kapitän lachte schallend und warf die Kiste auf die Mole.

Der Junge arbeitete für den einzigen Restaurantbesitzer der Insel, der an jenem Tag wiederum für den Abgeordneten tätig war; dieser hatte ein Bankett für seine Frau bestellt, die einen runden Geburtstag zu feiern hatte. Als der junge Küchengehilfe mit der Kiste zurückkam, beugte sich der Restaurantbesitzer über deren Inhalt, und während er sie hektisch durchwühlte, trug er dem Jungen, äußerst gereizt von dessen keuchendem Atem, sogleich das lästige Gemüseschälen auf. Die Küchenkräuter sind schlapp, die wird man sicher auffrischen müssen. Aber die Rettichwurzel ist fest und saftig, das ist gut. Und die geräucherte Butter – welch Ironie! – ist perfekt, dabei habe ich meine Schnecken doch gar nicht bekommen … Der Gastwirt richtete seine Hoffnung nun darauf, im Korb das Glanzstück seiner Käseplatte zu finden, das ihm vom äußersten Ende der Savoie geschickt wurde; ein Blauschimmelkäse, der keiner war, aus geronnener Milch, die zerbröckelt und schließlich geformt wurde, von einem mürrischen Bauern in speckigen Kleidern, der ihm jedes Jahr ein Viertel seines allerersten Laibes zukommen ließ, und das mit bewundernswerter Pünktlichkeit. Als er den Käse endlich fand, beeilte er sich, an einer Seite ein gleichschenkliges Dreieck abzuschneiden – eine Operation, die ihm unweigerlich das kreidige Gesicht seines Volksschullehrers ins Gedächtnis rief. Er betrachtete das Stück Käse aufmerksam, ehe er es sich zwischen Schnurrbart und Nase hielt, um schließlich, in einer beinahe komödiantischen Gebärde, seine wulstigen, lilafarbenen, wie zu einem Kuss geschürzten Lippen daraufzudrücken. Nicht zu trocken, genau das richtige Maß an Verwegenheit, eine herrliche Köstlichkeit, die sich erst in einigen Wochen voll und ganz offenbaren wird, am Ende eines präzisen Reifeprozesses. Die Perlhühner wurden ebenfalls ordnungsgemäß befühlt, bis der dicke Mann beruhigt war und voller Zufriedenheit und Glück zusammensackte, ehe er wieder hochschreckte und in ängstlicher Anspannung die Verpackungen ganz unten in der Kiste beiseiteschob, auf der Suche nach dem Tütchen aus fettigem Pergamentpapier, das ihm die unauffälligste, aber größte Kostbarkeit dieses Banketts enthüllen sollte. Einen säuerlichen Schweißausbruch später angelte er endlich, gleich einem Stück Treibholz, ein hartes, braunes Stück Fisch hervor, getrocknet nach allen Regeln einer Kunst, die ihm den Erfolg seines krönenden Gerichts sichern sollte. Der Gastwirt beglückwünschte sich ein weiteres Mal zu seiner Abenteuerlust, die es ihm erlaubt hatte, diese nützlichen und zugleich erlesenen Produkte in den hintersten Winkeln der Erde, nun ja, Frankreichs, zu finden. »Was ist jetzt mit dem Gemüse, kommt das bald mal?«

Der Restaurantbesitzer war ein Künstler. Er liebte es, seine Zutaten voller Bewunderung zu betrachten und sich von ihnen inspirieren zu lassen. Die Möhren, die Rüben, der Mangold und der Sellerie gesellten sich auf dem Marmor zu den Perlhühnern und den Kräutern. Nachdem er sie arrangiert hatte, legte der dicke Mann, auf Zehenspitzen und mit der theatralischen Geste eines Zauberkünstlers, sein i-Tüpfelchen dazu: die kleine, dunkle, moschusartige Portion seltenen und feinsten Thunfischs, der nur in den Fangnetzen des Mittelmeers zu finden war und den ein erfahrener, alter Seebär am anderen Ende Frankreichs mit präzisen und routinierten Handgriffen für ihn getrocknet und geräuchert hatte, der so ein Juwel herstellte, das er später behutsam mit dem feinen Küchenhobel reiben würde, der praktisch nur diesem einen Zweck geweiht war. Er würde hauchdünne blonde Scheibchen daraus gewinnen, weich wie Baumwolle, und diese, nicht ohne vor Ehrfurcht zu erschaudern, in die Brühe tauchen, in der die üppigen Perlhühner, umgarnt vom Gemüse, freudig herumschwimmen würden … Und niemand, niemand könnte das Geheimnis dieser unerklärlich rauchigen Geschmacksnote ergründen, die in dem zarten, aber erdigen Fleisch dieser allerliebsten Vögelchen auszumachen wäre, durch ein kleines Stück Meer, das ihm auf beinahe altertümliche Weise entnommen wurde. Vor lauter Freude gab der Gastwirt dem Perlhuhnschenkel, der sich ihm auf dem Marmor darbot, einen schwungvollen Klaps. Blieb nur noch die Geschichte mit den Seeohren. Was für ein Schlawiner. Nicht imstande, welche für mich aufzutreiben. Da steckt doch die Politik dahinter. Der wollte seinen kostbaren Fang einfach nicht an die Republikaner rausrücken. Diesem Strandschnecken-Aktivisten werd ich’s schon noch zeigen!

Der dicke Mann durchquerte den Speisesaal des Restaurants und suchte in der Ferne, jenseits der großen Glasfenster, nach einer Idee für einen Ersatz, doch ein fremder Bursche versperrte ihm den Blick auf den Horizont; er war vertieft in die Lektüre der Speisekarte und dem Aussehen nach Pariser, auch wenn er so geschmacklos angezogen war wie ein Bauerntrampel im Sonntagsstaat. »Heute ist geschlossen!« Henri hob den Kopf und musterte ihn überrascht, dann drehte er sich wortlos um und setzte seinen Weg in Richtung Städtchen fort.