Love, finally

Die Autorin

Marleen May – Foto © Anke Sundermeier

Marleen May wurde 1972 im Saarland geboren und hat Sprachen und Informatik studiert. Sei es Programmcode, Übersetzung oder eigener Text – ihre größte Freude ist es, aus Sprache Dinge entstehen zu lassen, die das Leben leichter, schöner oder bunter machen. Ihre Freizeit verbringt Marleen May am liebsten mit Kundalini Yoga, beim Singen im Chor oder draußen in der Natur. Sie lebt mit ihren drei Kindern im Ruhrgebiet.

Das Buch

Die erste Liebe verlässt einen nie. Doch was ist, wenn sie plötzlich wieder vor der Tür steht?

Als Josie damals von ihrer Schwangerschaft erfuhr, änderte sich schlagartig ihr ganzes Leben. Doch mittlerweile ist Josie zufrieden: Als alleinerziehende Mutter der 14-jährigen Toni ist zu Hause einiges los und ihr Beruf als Journalistin beim Münchener Morgen erfüllt sie. Doch alles ändert sich, als sie für einen Artikel einen Gastprofessor der Uni interviewen soll und plötzlich niemand anderem gegenübersteht als Kilian Seidel – ihrer ersten großen Liebe … und dem Vater von Toni. Fünfzehn Jahre nach ihrer Trennung schlagen die Schmetterlinge in ihrem Bauch immer noch wie wild um sich. Doch er weiß nicht, warum sie ihn damals verlassen hat und er weiß nichts von ihrer gemeinsamen Tochter. Wird er ihre Entscheidung verstehen und ihr eine zweite Chance geben?

Marleen May

Love, finally

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH,
Berlin Juni 2018 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © Anke Sundermeier

ISBN 978-3-95818-308-7

Hinweis zu Urheberrechten
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Für Papa.

1. Kapitel


»Josie, kommst du bitte mal in mein Büro?«

Dieser Satz am Freitagnachmittag aus dem Mund meiner Ressortleiterin Lydia Meißel bedeutete selten etwas Gutes.

»Ja, Lydia, was gibt’s denn?«, fragte ich und lehnte mich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen.

»Ich hatte gerade Professor Volkert am Telefon. Er hat mich ausdrücklich und, wie ich zugeben muss, zum wiederholten Male gebeten, dass du heute Abend über die Absolventenfeier der TU berichtest.«

Ich seufzte. Normalerweise würde ich die Arbeitswoche in etwa einer Stunde zusammen mit meiner besten Freundin Marie in unserem Lieblingscafé ausklingen lassen. Anschließend würde ich nach Hause fahren und mir zusammen mit meiner Tochter Antonia etwas zu essen bestellen, danach eine Riesenschüssel Popcorn machen und einen Film ansehen. Das war unser Freitagabend-Ritual.

»Eigentlich war Gunnar dafür eingeteilt«, fuhr Lydia fort. »Aber Volkert war sehr insistent. Du weißt ja, wie er ist, seit sein Baby zur Exzellenzuni erhoben wurde. Ein einfacher Volontär reicht ihm da nicht.«

Ich verdrehte innerlich die Augen. Professor Johann Volkert, ein Jugendfreund meines verstorbenen Vaters und seines Zeichens Präsident der Technischen Universität München, war von jeher darum bemüht, mir, seiner mittlerweile zweiunddreißigjährigen Patentochter Josefine Mayring, beruflich unter die Arme zu greifen. Dabei war ich mit meinem Job in der Lokalredaktion des Münchner Morgen sehr zufrieden und hatte ihn nie um Hilfe gebeten.

So uneigennützig, wie er mir gegenüber tat, war sein Engagement freilich nicht. Als alter Freund der Familie und mutmaßlicher Anwärter auf das Herz meiner Mutter konnte er sich bei mir sicher sein, dass ich mich für ihn ins Zeug legte. Falls nicht – oder falls ich jetzt kniff –, würde meine Mutter mir schon ordentlich den Kopf waschen. Ich hatte also die Wahl zwischen dem Groll meiner Mutter und dem meiner Tochter dafür, dass ich unseren gemeinsamen Abend ausfallen ließ, und es lag leider klar auf der Hand, wer von beiden leichter zu besänftigen war.

»Ich kann Gunnar natürlich trotzdem schicken, wenn du möchtest«, fügte Lydia versöhnlich hinzu.

»Nein, schon gut. Ich übernehme das. Toni wird zwar sauer sein, aber das ist nichts im Vergleich zum Sermon meiner Mutter. Nächsten Freitag gehöre ich aber meiner Tochter!«

»Das kann ich dir leider nicht versprechen, Josie«, erwiderte Lydia augenzwinkernd. »Ich habe vom Veranstalter vier Karten für dieses grässliche Musikkonzert bekommen. Ich dachte mir, du könntest vielleicht darüber berichten …?«

Sie streckte mir die Karten entgegen. Ich traute meinen Augen nicht. Vier Karten für bi-directional, die derzeit angesagteste britische Boygroup! Das Konzert war schon seit Wochen, ach was, Monaten ausverkauft. Der Groll meiner Tochter hatte sich soeben in Luft aufgelöst. Im Gegenteil, Toni würde völlig aus dem Häuschen sein. Ich schnappte mir die Karten, ehe Lydia es sich anders überlegte.

»Geht klar! Was hast du über die Absolventenfeier?«

Lydia lachte kurz auf, anscheinend belustigt über meine Begeisterung für die Boygroup. »Ich maile dir das Memo der Uni-Pressestelle.«


Fünf Minuten später saß ich mit einer Tasse Kaffee vor meinem Laptop in der Lokalredaktion des Münchner Morgen und versuchte, mich auf das Memo zu konzentrieren.

Absolventenfeier der TU München … 19:00 Uhr … Ehrung herausragender Absolventen und Doktoranden … Vorstellung der neuen Professoren … Kultusminister … insbesondere freuen wir uns, dass Herr Prof. Dr. Ian McLean dem Ruf an die Isar gefolgt ist und für ein Gastsemester am Lehrstuhl für Medizin gewonnen werden konnte … Koryphäe auf seinem Gebiet … Harvard … Stanford … bla, bla, bla.

Der Mann schien ja ein echter Überflieger zu sein, ganz nach Onkel Johanns Geschmack. Ein Foto war leider nicht dabei. Bestimmt so ein Langweiler, der nur für seine Arbeit lebte. Ich stellte mir einen blassen, dick bebrillten Typen in weißem Laborkittel vor, der fasziniert ein dampfendes Reagenzglas schwenkt. Das Telefon schreckte mich aus meinen Gedanken.

»Hallo, Josie, sehen wir uns nachher im Café Mimi? Ich muss dir unbedingt was erzählen!«, platzte meine Freundin Marie heraus.

»Hallo, Marie, was gibt's denn so Wichtiges?«, fragte ich neugierig.

»Am Telefon kann ich es dir nicht erzählen«, erwiderte sie ausweichend und fragte noch einmal ungeduldig: »Also sehen wir uns gleich?«

Oha! Na, das mussten ja tolle Neuigkeiten sein! Sofort spielte ich in Gedanken einige Möglichkeiten durch. Trennung? Nein, dafür war sie zu aufgeräumt. Schwangerschaft? Möglich, aber nicht wahrscheinlich, denn Marie und ihr Freund hatten erst kürzlich ein Yoga-Studio eröffnet. Allerdings lief in Maries Leben selten etwas nach Plan. Heiratsantrag? Ebenfalls unwahrscheinlich. So etwas Bodenständiges traute ich Robert nicht zu. Dann schon eher ein Baby! Oder? Ich würde mich wohl gedulden müssen.

»Das kann ich mir natürlich nicht entgehen lassen«, sagte ich. »Aber ich kann leider nur kurz. Ich muss um sieben Uhr bei einer Absolventenfeier der TU sein. Lydia hat mir das in letzter Minute aufs Auge gedrückt.«

»Da wird Toni aber begeistert sein. Musste euer Filmabend nicht letzte Woche erst ausfallen?«

»Danke, dass du mich daran erinnerst«, gab ich zähneknirschend zurück. »Mein lieber Onkel Johann hat einen dicken Fisch aus den Staaten an Land gezogen, und dafür ist natürlich nur das beste Pferd im Stall des Münchner Morgen gut genug«, fuhr ich sarkastisch fort. »Ich weiß aber schon, wie ich Toni besänftigen kann. Ich habe Karten für das bi-directional-Konzert nächste Woche, über das ich übrigens auch berichten soll! Na, was sagst du nun? Manchmal zahlt sich die Arbeit bei einer Zeitung eben doch aus.«

»Dafür nimmt Toni einen weiteren Freitag ohne dich sicher gerne in Kauf! Bis gleich, Josie!«

Kaum hatte ich aufgelegt, klingelte das Telefon erneut. Dieses Mal war meine Mutter am Apparat.

»Hallo, Josefine«, sagte sie. Sie hasste Spitznamen und nannte mich stets bei meinem vollen Vornamen. Wie immer kam sie ohne Umschweife auf den Punkt: »Isst Antonia heute bei mir zu Abend?«

Ich fasste es nicht! Onkel Johann wollte wohl auf Nummer sicher gehen, und meine Mutter, die sich mit Vorliebe in mein Leben einmischte, machte für ihn den Stabschef.

»Wieso?«, fragte ich scheinheilig.

»Ach, ich dachte nur, du hättest einen Abendtermin«, gab sie ebenso scheinheilig zurück.

Um des lieben Friedens willen schluckte ich meinen Ärger hinunter und nahm einen tiefen Atemzug. Om!

»Ja, Mama, da bist du richtig informiert«, sagte ich. »Und es wäre sehr nett, wenn Toni bei dir essen könnte.«

»Ist gut«, antwortete meine Mutter und legte auf.

Ich presste die Fingerspitzen an die Schläfen, schloss die Augen und atmete noch ein paarmal tief durch, um mich zu beruhigen. Dann schrieb ich den Artikel über die Eröffnung eines Seniorenheims zu Ende, der ich am Vormittag beigewohnt hatte, druckte die Pressemitteilung der TU aus und verließ das Büro.


Marie wartete schon im Café Mimi. Ungeduldig spielte sie mit einer Strähne ihrer langen roten Lockenmähne. Mit ihren Haaren und ihren Sommersprossen allein wäre sie schon eine auffällige Erscheinung gewesen, doch dank ihrer bunt gemusterten Pluderhose und ihres grasgrünen Tops, das den größtmöglichen Kontrast zu ihren roten Locken bot, blieben garantiert alle Blicke an ihr hängen. Sie war groß, schlank und sah sehr gut aus. Die Männer verfielen ihr reihenweise, sie umschwärmten sie seit jeher wie die Motten das Licht. Selbst der Kellner, der anscheinend neu im Café Mimi war, wäre beinahe mit mir kollidiert, weil er nur Augen für sie hatte.

Marie und ich kannten uns seit der siebten Klasse. Sie war mit ihren Eltern aus Stuttgart nach München gezogen und neu in unsere Klasse gekommen. Aufgrund ihres schwäbischen Dialekts und eines missglückten Versuchs, sich die Haare selbst zu schneiden, hatte sie es trotz ihrer offenen Art anfangs schwer gehabt. Und da auch ich nicht gerade mit Freunden gesegnet war, weil meine Mutter mich in fürchterlichen Rüschenkleidchen in die Schule schickte und keine meiner Klassenkameradinnen ihr als Freundin gut genug für mich war, hatten wir uns zusammengetan. Maries Dialekt war schnell verflogen, die Haare waren nachgewachsen, und sie hätte schon bald eine ganze Reihe coolerer Freundinnen haben können, aber so impulsiv sie in vielen Dingen auch war, so treu hatte sie mir die Freundschaft gehalten und die hochnäsigen Kommentare meiner Mutter ignoriert.

Marie hatte von jeher jede Menge ausgefallene Ideen im Kopf, die sie am liebsten alle sofort in die Tat umsetzen wollte. Wäre ich nicht gewesen, hätte sie sicherlich die Schule abgebrochen, um a) ins Kloster zu gehen, b) Stuntfrau zu werden oder c) einen Laden wie in dem Film Chocolat zu eröffnen. Dank meines guten Einflusses hatten wir stattdessen den Plan gefasst, nach dem Abi zusammen zu studieren und eine WG zu gründen, aber mir war meine Tochter Antonia dazwischen gekommen und Marie hatte nach einem Semester Orientalistik (eigentlich waren es nur zwei Wochen) festgestellt, dass Studieren nichts für sie war. Seither hielt sie sich mit Gelegenheitsjobs mal schlecht, mal recht, mal länger und mal kürzer über Wasser.

In der Regel stand ihre berufliche Ausrichtung in direktem Zusammenhang mit ihrem aktuellen Freund. So hatte sie ganz klassisch in einem Steak-Restaurant gekellnert (Tom, der Koch), Eintrittskarten an der Theaterkasse verkauft (Reginald, der meines Erachtens schwule Schauspieler), im Fitnessstudio gearbeitet (Fabian, der Personal Trainer) und war sogar mit Riesenradbesitzer Jo durch halb Deutschland getingelt. Immer war es die große Liebe gewesen, und immer war es am Ende schiefgegangen. Für Außenstehende war oft genug sonnenklar gewesen, dass es nicht funktionieren konnte – Marie war Vegetarierin, eindeutig eine Frau, hasste schweißtreibenden Sport und liebte München über alles –, aber sie selbst hatte nie aufgegeben. Trotz aller Tiefschläge hatte sie sich ihren Optimismus bewahrt und weiter von der großen Liebe geträumt.

Vor zwei Jahren hatte sie dann Robert alias Madhura Singh kennengelernt, einen gut aussehenden, drahtigen Yogi, der mit seinem Vollbart und seinem Haarknoten glatt als Hipster hätte durchgehen können, wäre da nicht die für ihn typische Kluft aus Sandalen, Leinenhose und verwaschenem T-Shirt gewesen. Kurz darauf hatte Marie sich ebenfalls einen Sanskrit-Namen zugelegt und mit einer Ausbildung zur Yogalehrerin begonnen. Zu Anfang hatte ich mir ernsthaft Sorgen gemacht, sie könnte nicht nur die Begeisterung für Yoga von Robert übernehmen, sondern auch dessen spartanischen, fast schon asketischen Lebensstil. Zu meiner Erleichterung hatten in ihre gemeinsame Wohnung jedoch nicht nur Schaffellmatten und Sitzkissen, sondern auch ein Bett, Tische, Stühle und sogar ein Sofa Einzug gehalten. Auch Maries Herangehensweise an die yogische Diät war glücklicherweise nicht allzu dogmatisch, und sie ließ sich nur allzu gern von mir und ihrer Patentochter Toni zu einer Pizza oder einer Dampfnudel hinreißen. Seit sechs Monaten führten Arati Kaur Marie Hinze und Madhura Singh Robert Kirch ein Yoga-Studio im Glockenbachviertel, das sich wachsender Beliebtheit erfreute.

Ich bahnte mir meinen Weg zwischen Tischen und Stühlen hindurch. Als Marie mich sah, sprang sie auf, und wir umarmten uns zur Begrüßung. Außer unseren Sommersprossen hatten wir äußerlich wenig gemeinsam. Ich war gleich mehrere Zentimeter kleiner und hatte glatte blonde Haare, die zu einem kinnlangen Bop geschnitten waren. Auch meine Kleidung war im Gegensatz zu ihrer eher schlicht und bestand meist aus Jeans und Bluse oder Shirt. Zu Maries Verteidigung muss ich allerdings hinzufügen, dass ihre »Dienstkleidung« im Yoga-Studio weiß war und sie daher in ihrer Freizeit ihre Liebe zu Farben konzentriert ausleben musste.

»Hallo, Josie, schön, dass du endlich da bist!«, sagte Marie, während sie sich wieder hinsetzte.

Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es gerade zwei Minuten über der verabredeten Zeit war. Wie schon am Telefon machte Marie einen ziemlich aufgekratzten Eindruck. Statt des obligatorischen Kräutertees für sie und eines Milchkaffees für mich standen zwei Gläser Prosecco auf dem Tisch. Es musste tatsächlich wichtige Neuigkeiten geben, wenn Marie zum Alkohol griff.

»Hallo, Marie«, erwiderte ich lachend. »Schieß los! Was gibt es so Aufregendes?«

Statt einer Antwort streckte Marie mir ihre linke Hand entgegen, an deren Ringfinger ein schmaler goldener Ring steckte, den ich noch nie zuvor an ihr gesehen hatte. Ich hob den Kopf und starrte sie mit aufgerissenen Augen an.

»Nein!«

»Doch!«

»Nein!«

Die Augenpaare einiger Gäste richteten sich neugierig auf uns.

»Doch, er hat mir einen Antrag gemacht, mit Kniefall und allem Drum und Dran! Der Ring gehörte seiner Großmutter. Ist das nicht ebenso kitschig wie romantisch?«, schwärmte Marie. »Ich hab natürlich Ja gesagt!«

Sie strahlte über das ganze Gesicht, wie nur sie es konnte, und über den Tisch hinweg nahm ich sie erneut in den Arm.

»Ich freue mich ja so für dich!«, rief ich begeistert. »Darauf müssen wir anstoßen! Erzähl mir alles! Für den Moment aber leider die Kurzform. Ich muss noch zu Hause vorbei, bevor ich zum Campus fahre. Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich Johann und Lydia abblitzen lassen, und wir hätten ordentlich feiern können!«

Wir erhoben die Gläser, prosteten uns zu, und dann sprudelten die Ereignisse des letzten Abends aus Maries Mund.


Auf dem Weg nach Hause schwirrte mir der Kopf von Maries Erzählung. Robert hatte ihr am Abend zuvor unter dem Vorwand der endlich abgeschlossenen Renovierungsarbeiten im Yoga-Studio ein veganes Drei-Gänge-Dinner zubereitet und war kurz vor dem Nachtisch vor ihr auf die Knie gefallen, um in aller Form um ihre Hand anzuhalten. Ich freute mich wirklich unbändig für Marie. Sie hatte in der Liebe so viele Rückschläge einstecken müssen. Ich wünschte ihr nichts mehr, als dass sie mit Robert glücklich würde, und im Moment sah es ganz danach aus.

Unwillkürlich musste ich an mein eigenes Liebesleben denken. Ich war seit geraumer Zeit Single. Vor genau genommen drei Jahren hatten Jakob und ich uns nach sechs gemeinsamen Jahren getrennt. Jakob hatte heiraten und eine große Familie mit weiteren eigenen Kindern gründen wollen. Und ich? Ja, was hatte ich gewollt?

Der Kern des Problems bestand darin, dass Jakob ein Kopfmensch war, der nur selten Emotionen zeigte. Im Vergleich zu seinem Leben war meines jedenfalls die reinste Gefühlsachterbahn. Einerseits war es ja gut und schön, dass Jakob so leicht nichts umhauen konnte, aber im Gegenzug kamen auch die schönen Momente in unserem Leben viel zu kurz.

Genauso leise wie unsere Beziehung gewesen war, war auch unsere Trennung verlaufen, und spätestens da hatte ich mit absoluter Sicherheit gewusst, dass meine Entscheidung richtig gewesen war. Ich zweifelte nicht daran, dass Jakob mich geliebt und unter der Trennung gelitten hatte. Dass er mich ziehen ließ, war vermutlich sogar Ausdruck dieser Liebe. Er wäre nie so eigennützig gewesen und hätte versucht, mich entgegen meinen Gefühlen zu halten. Das war wirklich selbstlos, aber ich wollte jemanden, der in einer solchen Situation um mich kämpfte.

Jakob hatte nach unserer Trennung recht bald Veronika kennengelernt, sie geheiratet und mit ihr einen mittlerweile einjährigen Sohn. Sie wirkten sehr glücklich, und manchmal beschlich mich der Gedanke, dass ich an Veronikas Stelle sein könnte. Aber dann rief ich mir ins Gedächtnis, wie unglücklich und allein ich mich am Ende der Beziehung mit Jakob gefühlt hatte, und freute mich einfach nur für ihn. Sein Traum von der eigenen Familie war in Erfüllung gegangen.

Der Strom meiner Gedanken wanderte weiter zu meiner Familie. Meine Tochter Antonia, genannt Toni, war vierzehn Jahre alt. Ich hatte sie im Abschlussjahr des Gymnasiums bekommen. Ein Vater war in ihrer Geburtsurkunde nicht verzeichnet. Die offizielle Version lautete, dass sie bei einer Party von einem amerikanischen Austauschstudenten gezeugt worden war, von dem ich behauptete, mich nicht an seinen Namen, geschweige denn seinen Aufenthaltsort erinnern zu können.

Die Party hatte es wirklich gegeben. Sie war in der Tat eine der wenigen Gelegenheiten in meinem Leben, an denen ich so betrunken war, dass ich am nächsten Morgen nur noch Bruchstücke davon wusste. Es hätte also sehr gut sein können, dass ich den Namen wirklich vergessen hatte. Sex hätte ich in meinem Zustand unmöglich haben können, aber das wusste ja nur ich.

Als meine Mutter – reichlich spät, wie ich zugeben muss – von meiner Schwangerschaft erfuhr, hätte sie am liebsten jeden Austauschstudenten, der sich im fraglichen Zeitraum im Großraum München aufgehalten hatte, zu einem Gentest einbestellt. Sie hatte ja keine Ahnung! Die Wahrheit war nämlich, dass ich mich sehr gut an Antonias Vater und auch seinen Namen erinnern konnte. Schließlich war Kilian Seidel meine große Liebe gewesen.

2. Kapitel


Etwas abgehetzt und reichlich spät kam ich zu Hause an. Feierabendverkehr! Jetzt musste ich mich kurz frisch machen und Toni erklären, dass aus unserem Filmabend nichts würde. Hoffentlich war sie nicht allzu enttäuscht.

Seit wir bei Jakob ausgezogen waren, lebten wir in der Einliegerwohnung im Haus meiner Mutter in Schwabing. Die Gründe dafür lagen auf der Hand. Wohnungen waren in München schwer zu finden, die Wohnung hatte genau die richtige Größe für uns und lag in günstiger Entfernung zu meiner Arbeit und Tonis Schule. Natürlich war es ebenfalls von Vorteil, dass Toni immer jemanden im Haus hatte, und so hatte ich in den sauren Apfel gebissen, denn das Verhältnis zu meiner Mutter war zeit meines Lebens angespannt. Schon vor der Schwangerschaft war ich eine einzige Enttäuschung für sie gewesen.

Meine Mutter stammte von einem Bauernhof im Allgäu, hatte aber schon in jungen Jahren große Ambitionen gehegt. Sie wollte weg aus dem kleinen Dorf, schöne Kleider tragen, sich mit interessanten Leuten umgeben und eine gute Partie machen. Schon bevor sie meinen Vater, den Brauereierben Heribert Mayring, kennenlernte, legte sie großen Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild. Auf alten Fotos, die sie im Kreise ihrer Eltern und Geschwister zeigten, wirkte die elegant gekleidete junge Frau mit den naturblonden Haaren und dem kurvigen Körperbau seltsam fehl am Platz. Noch heute saß jedes Härchen auf ihrem blond gefärbten Kopf perfekt, und sie sah stets aus wie aus dem Ei gepellt.

Als ich auf die Welt kam, hegte sie wohl die Hoffnung, ich würde zu einer kleinen Prinzessin heranreifen. Zu ihrem Leidwesen schlugen bei mir jedoch neben der blühenden Fantasie meines Vaters vor allem ihre bäuerlichen Gene durch. Statt Ballett und Geige liebte ich die Natur und verbrachte die Ferien mit Vorliebe auf dem Hof meiner Großeltern, wo ich mit meinen Cousins und Cousinen durch Felder, Wiesen, Ställe und Scheunen streunte. Dort war ich frei, frei von Rüschenkleidchen, Spitzensöckchen und den ganzen anderen Ansprüchen meiner Mutter. Ich durfte Hosen tragen, mich schmutzig machen und mit den Fingern essen.

Zu Hause in München war unser Garten mein Reich. In jüngeren Jahren erlebte ich dort zahlreiche Abenteuer mit meinem imaginären Pony Filou, rettete so manches Tier in Not und besiegelte das Schicksal diverser Markenklamotten. Später warteten in unserer Nachbarschaft die spannendsten Detektivfälle auf mich, denn ich war ein großer Fan der Fünf Freunde, Drei ??? und Co. Sobald ich schreiben konnte, hielt ich meine Abenteuer in Tagebüchern fest, der Beginn meiner journalistischen Laufbahn.

Ich weiß nicht, wie ich Kindheit und Jugend überstanden hätte, wären mein Vater und Olga, unsere Haushälterin, nicht gewesen, denn erst mit Antonias Geburt begann sich das Verhältnis zu meiner Mutter ein wenig zu entspannen. Toni schlug sie von Anfang an in ihren Bann und entwickelte sich ganz von selbst zu dem Kind, das sie sich immer gewünscht hatte: Sie war ruhig, feingeistig und vernünftig und sprang nicht in jede Schlammpfütze. Manchmal beneidete ich Toni ein kleines bisschen um ihr gutes Verhältnis zu meiner Mutter.

»Hallo, Toni, ich bin zu Hause!«, rief ich, als ich die Tür aufgeschlossen hatte.

»Hallo, Mama!«

Toni kam mir im Flur entgegen. Ich hielt einen Augenblick inne, um sie zu betrachten. Sie war groß, wirkte derzeit etwas schlaksig und wuchs mit ihrem kastanienbraunen Haar und den braunen Augen zu einer richtigen Schönheit heran. Sie selbst war sich dessen jedoch nicht bewusst. Sie hasste ihre Zahnspange, ihre Pickel, die nicht der Rede wert waren, und fühlte sich generell unwohl in diesem Körper, der sich manchmal über Nacht zu verändern schien. Sie hatte meine Nase geerbt, sogar ein paar Sommersprossen befanden sich darauf. Alles andere an ihrem Gesicht schrie nach Kilian. Die braunen Augen mit den langen dunklen Wimpern, die dunklen, leicht gewellten Haare und der recht breite Mund mit den vollen Lippen.

Toni schlurfte an mir vorbei in Richtung Küche.

»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für dich«, sagte ich, während ich ihr in die Küche folgte. »Ich sage dir lieber zuerst die schlechte. Aus unserem Filmabend wird leider nichts. Lydia hat mir in letzter Sekunde einen Abendtermin aufgedrückt.«

Ich betrachtete das Gesicht meiner Tochter. Entgegen meiner Erwartung huschte so etwas wie der Schatten von Erleichterung darüber.

»Macht doch nichts, Mama«, erwiderte sie großzügig, und ich machte große Augen. »Anna hat mich gefragt, ob ich bei ihr übernachten möchte. Ich dachte nur, du freust dich immer so auf unseren gemeinsamen Abend, und da hab ich Anna gesagt, dass ich nicht kommen kann.«

Für einen Moment verschlug es mir die Sprache. Noch vor ein paar Wochen wäre sie ganz schön sauer gewesen, wenn der Filmabend ausgefallen wäre, und jetzt musste ich feststellen, dass sie mir zuliebe daran festhielt! Ich wusste nicht, ob ich mir geschmeichelt oder bemuttert vorkommen sollte.

»Dann ist ja alles klar«, antwortete ich betont fröhlich und drückte sie kurz an mich. »Es ist lieb von dir, dass du auf mich Rücksicht nehmen wolltest, aber du rufst jetzt sofort Anna an und sagst ihr, dass du kommst. Und in Zukunft entscheiden wir ganz spontan, ob wir uns freitags einen Film ansehen oder nicht, okay? Pack schnell deine Sachen, dann bring ich dich gleich hin.«

»Okay, Mama«, erwiderte Toni strahlend, zückte ihr Handy und ging in ihr Zimmer.

»Würdest du bitte Oma Bescheid geben, dass du nicht zu ihr kommst? Ich muss noch schnell ins Bad«, rief ich ihr hinterher.

Nachdem ich Mascara und Lipgloss aufgefrischt und meine Haare in Form gebracht hatte, stand Toni bereits mit ihren Übernachtungssachen in der Hand im Flur.

»Das ging aber schnell«, sagte ich. »Dann mal los.«

»Super«, erwiderte Toni, während sie ins Freie trat. »Ich habe übrigens Schwimmsachen dabei. Anna, Lara und ich wollen morgen ins Freibad.«

»Geht klar«, sagte ich und zog die Haustür hinter uns zu.

»Mama, was war eigentlich die gute Nachricht?«, fragte Toni auf dem Weg durch den Vorgarten.

Mit einem triumphierenden Lächeln zog ich die vier Konzertkarten aus meiner Handtasche. Toni sah die Karten an, stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus und fiel mir auf offener Straße um den Hals. Dann riss sie mir die Karten aus der Hand, drückte sie sich an die Brust und vollführte mehrere Luftsprünge, die von weiteren spitzen Schreien begleitet wurden. Schließlich fiel sie mir erneut um den Hals.

»Sachte, sachte! Ich muss zwar leider mitkommen, dafür kannst du zwei Freundinnen mitnehmen«, sagte ich. »Und jetzt lass mich los, ich bekomme keine Luft mehr«, fügte ich mit theatralisch erstickter Stimme hinzu.

Ich entriegelte gerade die Autotüren, als ich hinter mir die Stimme meiner Mutter hörte. Vermutlich hatte sie hinter der Gardine gestanden und gewartet, bis wir aus der Wohnung kamen.

»Josefine, bist du nicht reichlich spät dran?«

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden schluckte ich meinen Ärger über ihre Einmischung hinunter. Ich hielt einen Moment inne, und statt das Erstbeste zu erwidern, das mir in den Sinn kam (so was wie »Wenn du mich jetzt auch noch vollquatschst, komme ich garantiert zu spät«), drehte ich mich mit einem Lächeln zu ihr um und sagte: »Du hast recht, Mama. Ich sollte mich beeilen.«

Als hätte sie das nicht gehört, fuhr sie fort: »Johann hält sehr große Stücke auf dich. Bitte enttäusche ihn nicht.«

Nun verdrehte ich innerlich doch die Augen. Das hier war weder Watergate noch WikiLeaks! Ich sollte einen kleinen Bericht über eine Absolventenfeier schreiben! Bleib ruhig, Josie, sie kann nicht anders, ermahnte ich mich.

»Ich werde mir Mühe geben«, sagte ich und stieg ins Auto, wo Toni schon auf mich wartete. Meine Yogalehrerin Marie wäre stolz auf mich gewesen.

»Es gibt übrigens noch mehr gute Neuigkeiten«, sagte ich, nachdem ich den Wagen gestartet hatte. »Marie und Robert heiraten!«

»Echt? Wie cool! Das wird bestimmt was ganz Besonderes!«, rief Toni nicht minder aufgeregt als ich. »Ich hoffe nur, es gibt normales Essen«, fuhr sie etwas weniger enthusiastisch fort. »Letztes Mal, als ich mit Marie im Kino war, hat Robert uns danach ungesalzenen Reis und gekochte Karotten vorgesetzt.« Toni schüttelte sich.

»Das Essen wird bestimmt lecker«, beruhigte ich sie schmunzelnd und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass ich recht behalten würde. »Eine klassische Hochzeit wird es allerdings ganz sicher nicht, da hast du recht.«

»Nicht bei Tante Marie«, erwiderte Toni ausgelassen, während ich vor Annas Haus anhielt. »Davon kannst du ausgehen!«


Auf der Autobahn Richtung Norden wurde mir klar, dass ich es tatsächlich nicht rechtzeitig zur Absolventenfeier schaffen würde. »Josefine, bist du nicht reichlich spät dran?«, äffte ich leise meine Mutter nach, während ich wie der Wackeldackel auf der Hutablage meines Vordermanns den Kopf hin und her wiegte. Im selben Moment gingen gleich bei mehreren Autos vor mir die Warnblinkanlagen an. Stau! Mist, Mist, Mist!

Über die Freisprechanlage rief ich Benny, den Fotografen, an, der bei der Absolventenfeier die Fotos machen sollte.

»Benny, tut mir leid, ich stehe im Stau und schaff's nicht rechtzeitig! Würdest du bitte die ersten Reden mit dem Handy aufzeichnen? Ich komme so schnell wie möglich.«

»Geht klar, Josie!«

»Danke!«

Ungeduldig trommelte ich mit den Fingern aufs Lenkrad. Ich dachte an Toni, die sich eben vor Annas Haustür mit einem überschwänglichen Schmatzer von mir verabschiedet hatte. Ich konnte die Stelle an meiner Wange noch genau spüren. Unwillkürlich wanderten meine Gedanken wie auf einer Skala rückwärts durch die Zeit: Antonia als Grundschul- und Kindergartenkind, die Zeit mit Jakob, die Zeit davor, als ich mit Antonia ebenfalls bei meinen Eltern gewohnt hatte. Damals hatte mein Vater noch gelebt. Antonia als ganz kleines Baby, ihre Geburt, die Schwangerschaft. Ein Seufzer entfuhr mir, als ich daran dachte.

Meine Mutter war fast durchgedreht, als sie von der Schwangerschaft erfuhr. Ausgerechnet ihre Tochter bekam ein uneheliches Kind. Und was noch schlimmer war, ein Vater war nirgends in Sicht. Am liebsten hätte sie mich zu einer Abtreibung gezwungen, aber ich war erstens schon im vierten Monat, als sie davon erfuhr, und zweitens war mir der Gedanke an eine Abtreibung anfangs selbst gekommen.

Antonia wurde Ende Januar geboren. Als ich sie zum ersten Mal sah, erschrak ich zu Tode. Ein brüllender Mini-Kilian wurde mir auf die Brust gelegt. Ich war mir sicher, dass jetzt alles auffliegen würde, denn Kilian war einen Jahrgang über mir an derselben Schule gewesen. Doch obwohl sich die Ähnlichkeit im Laufe der Jahre noch verstärkte, zog zu meiner Überraschung und grenzenlosen Erleichterung niemals auch nur einer diese Parallele, nicht einmal Marie.

Es war aber auch zu abwegig. Niemand wusste von meiner Beziehung zu Kilian. Unsere einzige offenkundige Gemeinsamkeit bestand darin, dass wir Außenseiter waren. Ich hatte mich damals endlich vom Kleiderzwang meiner Mutter befreit, mein spärliches Taschengeld – eine ihrer charakterbildenden Maßnahmen – zusammengekratzt und mein siebzehnjähriges, verletzliches Ich hinter einem Grunge-Outfit à la Gwen Stefani eingeigelt. Die Haare hellblond gefärbt, trug ich zum Blümchenkleid Netzstrümpfe, Doc Martens und eine schwarze Lederjacke. Mein neuer Stil gab mir nicht nur eine wunderbare Möglichkeit, es meiner Mutter heimzuzahlen, sondern sollte auch meinem Ruf als verwöhntes Töchterchen entgegenwirken, der bis dahin wie eine Klette an mir gehaftet hatte.

Kilian war aus anderen Gründen ein Außenseiter. Er hatte seine Mutter früh verloren und wuchs seitdem bei seinem Vater auf, der nach dem Tod seiner Frau angefangen hatte, seinen Kummer im Alkohol zu ertränken, was dazu führte, dass er ein paar Jahre später auch noch seinen Job verlor. Kilians Vater vernachlässigte nicht nur seinen Sohn, sondern auch die gemeinsame Wohnung, sodass Kilian allein den Haushalt schmeißen musste. Das ohnehin knapp bemessene Geld, das den beiden zur Verfügung stand, floss regelmäßig in neue Biervorräte. Zum Glück gab es die Schulmensa, die für Kinder aus sozial schwächeren Familien kostenlos war. Eine Zeit lang war Kilian dennoch dafür bekannt, liegen gebliebenes Obst oder Joghurts von fremden Tabletts einzustecken. Später jobbte er neben der Schule als Nachhilfelehrer, nicht nur um seinen Bauch zu füllen, sondern auch um seinem großen Traum ein Stück näher zu kommen: aus München rauszukommen und ein besseres Leben zu führen, am besten ganz weit weg. Für dieses Ziel tat er alles. Er war einer der besten Schüler seines Jahrgangs und verbrachte jede freie Minute auf dem American-Football-Feld. Er hatte keine Freunde. Für so etwas fehlte ihm schlichtweg die Zeit.

Rein äußerlich war er ein stiller Typ, dessen breite Schultern in abgewetzten No-name-Shirts steckten und an dem die ätzenden Kommentare der anderen abzuperlen schienen. Dabei steckte so viel unter seiner unscheinbaren Schale. Er war klug, witzig und warmherzig. Bei ihm musste ich mich nicht verstellen oder einen auf tough machen. Es war die natürlichste Sache der Welt, mit ihm zusammen zu sein. Er wäre sicher ein wunderbarer Vater gewesen.

In der ersten Nacht allein mit Toni im Krankenhaus betrachtete ich sie eingehend, wie sie schlafend in ihrem Bettchen lag. Das Adrenalin und das damit verbundene Hochgefühl der Geburt waren verflogen, und plötzlich durchfloss mich die Sehnsucht nach Kilian wie eine gewaltige Welle. Ich fühlte mich unendlich alleine. Was hatte ich bloß getan? Er würde dieses Kind niemals kennenlernen. Hätte er es überhaupt kennenlernen wollen? Ich würde es niemals erfahren. Ich stellte mir sein Gesicht vor, wenn er von der Schwangerschaft erfahren hätte und damit sein großer Traum wie eine Seifenblase zerplatzt wäre. Tränen schossen mir in die Augen. Ich verschränkte die Arme fest vor der Brust, und weinend wiederholte ich damals bis tief in die Nacht hinein in meinem Kopf das altbekannte Mantra »Es ist nur zu seinem Besten, es ist nur zu seinem Besten …«, bis ich völlig erschöpft einschlief.


Etwas atemlos kam ich eine halbe Stunde zu spät im Audimax an. Die Veranstaltung war schon in vollem Gange. Gerade ließ sich der bayrische Kultusminister über die Vorreiterrolle des Freistaats in den Bereichen Forschung und Technik aus.

Trotz der Dunkelheit im Saal konnte ich Benny dank seiner Kamera leicht ausmachen und ließ mich am Rand der vierten Reihe auf dem Stuhl neben seiner Kameratasche nieder.

»Hey, Benny, hab ich was verpasst?«, flüsterte ich ihm zu.

»Hey, Josie, Professor Volkert hat die Feier vor gut einer halben Stunde eröffnet«, flüsterte Benny zurück. »Dann hat dieser Professor aus den USA einen kurzen, aber ziemlich komplizierten Vortrag über seine Arbeit gehalten. Es geht da irgendwie um Krebsforschung.«

Nerd, dachte ich.

»Seit fünf Minuten ist jetzt der liebe Minister dran«, fuhr Benny fort und deutete mit dem Kinn auf den Mann am Rednerpult.

Eine gefühlte Ewigkeit später verließ der Kultusminister die Bühne, und ich hatte mir halbherzig ein paar Notizen darüber gemacht, wie wichtig Nachwuchsförderung für die Zukunft unseres Landes war. Meine Arbeitsmoral ließ zu wünschen übrig. Ich bekam langsam, aber sicher Hunger, und der ließ mich unkonzentriert werden und machte mir schlechte Laune.

Während erst die neuen Professoren von Johann nach vorne gerufen und kurz vorgestellt wurden und sich danach die Absolventen und Doktoranden einer nach dem anderen ihre Urkunden für besonders herausragende Leistungen abholten, beäugte ich durch eine Tür mehrmals sehnsüchtig das Buffet, das in der Zwischenzeit auf dem Korridor aufgebaut worden war.

Eine Dreiviertelstunde später schüttelte Onkel Johann endlich auch dem letzten Doktoranden die Hand und überreichte ihm seine Urkunde. Mein Magen hing mir auf den Knien. Zum Glück befand ich mich am Rand der Sitzreihe in einer strategisch günstigen Position und konnte mich als einer der ersten auf das Buffet stürzen. Benny war noch verabredet und wollte lieber gleich zu seiner Freundin.

»Denkst du bitte daran, die Fotos hochzuladen, damit ich mir eins für den Artikel aussuchen kann?«, erinnerte ich ihn.

Er antwortete mit einem Grunzen, das ich als Ja deutete, und wir verabschiedeten uns.

Ich lud mir den Teller ordentlich mit italienischen Köstlichkeiten voll, denn ich hatte keine Lust, mich später erneut anzustellen. Ich stellte mich an einen der Stehtische und schnappte mir vom Tablett einer Kellnerin das zweite Glas Sekt des Tages. Das hatte ich mir nach dieser langweiligen Veranstaltung verdient.

Kaum hatte ich mich an meinem Tisch eingerichtet, kam auch schon Onkel Johann auf mich zugesteuert, einen vollen Teller in der einen und ein Bier in der anderen Hand.

»Hallo, Josie, wie nett, dass du es einrichten konntest«, sagte er jovial. »Wie geht es dir? Was macht die Frau Mama?«

»Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, erfreute sie sich bester Gesundheit«, gab ich zurück, und ebenso scheinheilig wie zuvor bei meiner Mutter fügte ich hinzu. »Hast du sie heute gar nicht gesprochen?«

Johann errötete. »Doch, doch«, murmelte er verlegen und wechselte das Thema. »Wie fandest du den Vortrag von Professor McLean? War das nicht interessant? Ich sage dir, mein Kind, das ist die Zukunft der Krebsforschung!«

Nun war es an mir zu erröten. »Tut mir leid, Onkel Johann, ich stand leider im Stau und bin zu spät gekommen«, gab ich zu. Johann machte ein enttäuschtes Gesicht, und ich setzte beschwichtigend hinzu: »Unser Fotograf Benny hat den Vortrag aber aufgezeichnet. Ich werde ihn mir gleich morgen früh ansehen.«

»Das ist trotzdem schade. Du hättest ihn erleben sollen. So ein charismatischer junger Mann. Ich hoffe, dass ich ihn während seines Gastsemesters davon überzeugen kann, in München zu bleiben. Wusstest du, dass er ursprünglich aus unserer schönen Stadt an der Isar stammt?«

»Nein, das wusste ich nicht. Davon stand nichts in eurer Pressemitteilung.«

»Nun ja, ich hatte gehofft, dass du vielleicht im Vorfeld ein bisschen recherchieren würdest.«

Autsch! »Du, ich hatte heute unglaublich viel zu tun und wollte das gleich morgen machen, wenn ich den Artikel schreibe«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.

»Vielleicht kannst du ihm trotzdem ein paar Fragen stellen. Da drüben ist er. Komm, ich mache euch miteinander bekannt.«

3. Kapitel


Onkel Johann und ich steuerten auf ein Pärchen zu, das mit dem Rücken zu uns an einem anderen Stehtisch stand.

»Mrs McLean, Professor McLean«, sagte Onkel Johann und berührte die Frau und den großen, breitschultrigen Mann sachte am Rücken. Etwas an der Gestalt des Mannes kam mir merkwürdig bekannt vor. Doch bevor ich länger darüber nachdenken konnte, hatte sich die Frau bereits zu uns umgedreht, und Onkel Johann sagte:

»May I introduce Frau Mayring from the local newspaper Münchner Morgen?«

Ich schüttelte die Hand der Professorengattin, die einschüchternd elegant, schlank und attraktiv war.

»N-n-nice to meet you«, stotterte ich, überrascht von dem plötzlichen Sprachwechsel und dem mulmigen Gefühl, das mir beim Anblick des Professorenrückens in die Glieder gefahren war.

»My pleasure«, antwortete sie lächelnd.

Ich ergriff die Hand des Professors, der sich mittlerweile auch zu uns umgedreht hatte. Als ich zu ihm aufschaute, erstarrte ich, und mein Herz rutschte eine Etage tiefer. In den Augen des Professors blitzte Erkenntnis auf.

»Josie?«, sagte er fragend.

»Kilian«, antwortete ich leise und nickte zur Bestätigung. Zu mehr war ich nicht fähig. Niemand sagte etwas. Kilians Frau blickte verwundert von mir zu ihm. Ich klammerte mich an den erstbesten Gedanken, der mir in den Sinn kam, den dick bebrillten Professor, den ich mir vorhin im Büro vorgestellt hatte. »Du trägst ja wirklich eine Brille«, platzte es aus mir heraus. Etwas Blöderes konnte mir auch nicht einfallen. Im Geiste schlug ich mir mit der flachen Hand gegen die Stirn.

»Hatte keine Kontaktlinsen mehr«, erwiderte Kilian vermutlich wahrheitsgemäß, aber nicht minder debil.

Jetzt schaute auch Onkel Johann überrascht drein. »Ihr kennt euch?«, fragte er schließlich.

Kilian, der immer noch meine Hand hielt, antwortete, ohne den Blick von mir abzuwenden: »Ja, aber es ist lange her.«

Ich schaute in seine braunen Augen, und für einen Moment lösten sich der Raum und die Menschen darin in Luft auf, die Zeit wurde zurückgedreht, und ich lag in seinem alten Zimmer auf dem abgewetzten Sofa in seinen Armen.

Onkel Johann, der wohl merkte, dass hier etwas vorging, das Potenzial für Peinlichkeiten bot, versuchte die Situation zu retten, indem er munter weiterplapperte: »Sie werden sicher gleich Gelegenheit haben, sich ausführlich mit Frau Mayring zu unterhalten. Sie sagte mir eben, sie habe noch jede Menge Fragen zu Ihrem interessanten Vortrag. Allerdings sehe ich da drüben gerade den Kultusminister.« Er zeigte auf den Minister, der auf uns zukam. »Ich glaube Sie sind ihm noch nicht vorgestellt worden. Ich würde die Gelegenheit gerne beim Schopfe packen und Sie mit ihm bekannt machen«, fuhr Onkel Johann eilig fort.

Kilian ließ meine Hand los und fügte sich in sein Schicksal.

»Bis später, Josie«, sagte er und drehte sich um, um sich von Onkel Johann in Richtung Kultusminister bugsieren zu lassen. Seine Frau folgte ihm mit einem Glas Sekt in der Hand.

Einen Moment lang blieb ich wie angewachsen stehen und starrte den dreien nach, dann machte ich auf dem Absatz kehrt und verließ fluchtartig den Raum.


Völlig außer Atem kam ich an meinem Auto an. Mir war, als hätte jemand meinen Namen gerufen, aber das hatte ich mir sicher nur eingebildet. Ich war jedenfalls einfach weitergerannt, denn ich wollte weg, weg von dieser blöden Feier und weg von den Gefühlen und Erinnerungen, die gerade wie eine riesige Welle über mich hinweggeschwappt waren. Ich setzte mich hinters Steuer.

Kilian Seidel war wieder in München, wenn auch nur für ein halbes Jahr! Was sollte ich jetzt tun? Nach Hause fahren und weitermachen wie bisher? Darauf hoffen, dass meine Lebenslüge mich nach fünfzehn Jahren nicht doch einholte? Würde Kilian es bei diesem zufälligen Treffen bewenden lassen? Was wenn nicht? Der Gedanke daran versetzte mich in eiskalte Panik.

Prüfend sah ich auf die Uhr. Es war kurz vor halb zehn, für Normalsterbliche keine Uhrzeit, für Yogis, die vor Sonnenaufgang mit ihrer eineinhalbstündigen Morgenmeditation beginnen, schon. Trotzdem, ich musste Marie anrufen und ihr endlich alles erzählen, und zwar bevor mir die ganze Sache möglicherweise um die Ohren flog. Das hätte ich ohnehin schon lange tun sollen.

Ich ließ den Wagen an und wählte über die Freisprechanlage ihre Nummer. Sie ging beim zweiten Klingeln ran. Wenigstens hatte sie noch nicht geschlafen.

»Josie«, sagte sie verwundert. »Was ist los?«

»Marie«, sagte ich und versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. »Ich bin eben Tonis Vater begegnet.«

»Dem amerikanischen Austauschstudenten?«, fragte Marie völlig verdattert.

»So kann man ihn auch nennen«, erwiderte ich, und die Absurdität der Situation blieb selbst mir in meinem gegenwärtigen Gefühlschaos nicht verborgen. Meine Lügen hatten mich eingeholt, aber so was von. »Kann ich vorbeikommen? Bitte! Ich weiß, es ist spät …«

Marie unterbrach mich. »Natürlich kommst du vorbei«, sagte sie bestimmt. »Ich setze schon mal Teewasser auf. Oder brauchst du was Stärkeres?«

»Klingt verlockend, aber ich schätze, ich sollte einen klaren Kopf behalten. Bin in einer halben Stunde bei dir«, sagte ich und beendete das Gespräch.