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Sara-Maria Lukas

Eiskalte Blicke – Mitten ins Herz

© 2018 Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

info@plaisirdamourbooks.com

Covergestaltung: © Mia Schulte

Coverfoto: © iStock - nensuria

ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-314-9

ISBN eBook: 978-3-86495-315-6

 

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Dieses eBook darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches anderes Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autorin weitergegeben werden.

 

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Epilog

Autorin

Leseprobe aus „The Doctor Is In!: Dr. Charming“ von Max Monroe

 

Kapitel 1

 

Beim Betreten des Restaurants fällt Laras Blick, wie magisch angezogen, auf die ungewaschenen Gläser neben den Zapfhähnen. „Wo ist Sam?“

Unbeeindruckt von der rüde geäußerten Frage rückt Betty die Stühle des Ecktisches zurecht, von dem gerade die letzten Mittagstischgäste aufgestanden sind, und lädt sich das benutzte Geschirr, fachgerecht sortiert, auf den linken Unterarm, bevor sie aufsieht. „Noch nicht da.“

„Und Brian?“

„Schon weg.“

Lara verkneift sich ein genervtes Stöhnen. Wozu gibt es Regeln, wenn die Angestellten sie nicht einhalten? Im Moment sind zwar keine Gäste da und die Stühle stehen ordentlich vor den aufgeräumten Tischen, doch wenn jemand hereinkommt und die Unordnung auf der Theke sieht, ist das trotzdem nicht optimal für den Ruf eines Restaurants. Sie gibt sich alle Mühe, aus dem Green Castle etwas Besonderes zu machen. Der altmodisch-bürgerliche Touch des Restaurants ist verschwunden, obwohl sie die braunen Eichenmöbel behalten haben. Es war wirklich eine gute Idee, die Wände schlicht weiß zu streichen. Dadurch wirkt die Gaststube modern, hell und groß. Aber das nützt alles nichts, wenn dreckige Gläser herumstehen, die das Bild verderben.

Sie wendet sich wieder ihrer Angestellten zu. „Was heißt ‚schon weg‘?“

Betty seufzt. „Er konnte nicht auf seine Ablösung warten, weil er seine Frau zu einem Arzttermin fahren musste.“

Lara sieht auf ihre Uhr. „Und warum ist Sam noch nicht da?“

„Keine Ahnung. Er hat sich nicht gemeldet. Wird schon noch kommen. Es ist doch erst fünf nach.“

„Spül bitte die Gläser.“

„Das ist nicht meine Aufgabe!“

„Du hast doch gerade nichts anderes zu tun und“, Lara hebt den Arm, „falls du dir nicht ab dem nächsten Ersten einen neuen Job suchen willst, sorgst du jetzt dafür, dass der Tresen aufgeräumt wird und die Gläser gespült werden. Schick Sam zu mir, wenn er kommt.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, dreht sie sich um und verlässt den Gastraum. Wäre ja noch schöner, wenn sie sich einen derartig respektlosen Tonfall von einer Angestellten gefallen lassen würde. Nach einem Blick in die Küche - wenigstens hier ist alles in Ordnung - betritt sie ihr Büro und lässt sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch fallen. Kein Angestellter macht Feierabend, bevor nicht die Ablösung da ist – was ist an dieser Anweisung nicht zu verstehen? Es ist zum Kotzen. Sobald sie mal einen Tag nicht ab elf Uhr im Laden ist, muss sie sich ärgern. Niemand hätte gewagt, dreckige Gläser stehen zu lassen, wäre sie dagewesen. Vermutlich verspätet sich auch Sam total zufällig ausgerechnet heute, weil sie angekündigt hat, erst nachmittags zu erscheinen. Dass der Elektriker in ihrer Wohnung früher fertig wurde als gedacht und sie deswegen doch schon direkt nach dem Mittagsgeschäft im Restaurant auftaucht, ist sein Pech. Sollte er nicht eine wirklich, wirklich gute Entschuldigung für seine Verspätung haben, gibt das eine Abmahnung.

Mit zornigen Bewegungen zieht sie den Mantel aus und hängt ihn an die kleine Garderobe hinter der Tür. Angestellte sind wie kleine Kinder. Kaum lässt man sie aus den Augen, werden sie nachlässig. Was Gäste denken, wenn auf dem Tresen reihenweise benutzte Gläser herumstehen, ist ihnen egal. Als ob das Geld für ihr Gehalt jeden Monat vom Himmel fallen würde. Hätte Lara die gleiche Einstellung, würde sie immer noch Tische abräumen und wäre nicht die Managerin einer Green-Castle-Filiale geworden.

Sie zieht sich den Stuhl zurecht, setzt sich an den Schreibtisch und sieht kurz die Post durch, die irgendjemand auf die Tastatur gelegt hat. Dann schaltet sie den Computer ein, um die aktuellen Umsätze zu kontrollieren. Seit sie mit modernen elektronischen Tablets arbeiten und das Kassensystem vernetzt ist, ist es leicht, den Überblick über die Finanzen zu behalten. Das Mittagsgeschäft war für einen Dienstag in Ordnung. Siebenundzwanzig Essen. Ja, das reicht, aber sie ist trotzdem nicht zufrieden, denn es geht besser. Letzten Monat hatten sie an den Wochentagen immer über fünfunddreißig Mittagsmenüs. Sie muss unbedingt in den beiden Tankstellen an den Ortsausgängen nachsehen, ob dort noch genügend Flyer ausliegen. Seit sie die Idee mit den Fünf-Prozent-Gutscheinen hatte, suchen viele Durchreisende das Green Castle auf. Leider ist Silver Hill keiner der typischen idyllischen Touristenorte Montanas, sondern nur eine eher hässliche Kleinstadt wie Laurel oder Glendive. Wenn ein Restaurant nicht direkt an der Main Street liegt, muss man Ideen haben, um Touristen und Geschäftsreisende anzulocken. Ein Provinznest im Grünen ist nicht New York an der Ostküste, wo in jeder Seitenstraße genug potenzielle Gäste herumlaufen.

Sie steht auf, schnappt sich das Klemmbrett mit der Bestellliste, zuckt zurück und legt es noch einmal zur Seite. Harvey hat Durst. Sie tritt ans Fenster, greift nach dem kleinen Kännchen und gibt dem Kaktus Wasser. Ihr Blick gleitet hinaus. Die Wolkendecke ist dicht. Die Berge des Naturschutzgebietes weit hinter der Stadt wirken in der diesigen Luft wie von einer grauen Gardine bedeckt. Es wird den ganzen Tag lang nicht richtig hell. Der Winter ist stur in diesem Jahr. Es hat zwar keinen Neuschnee mehr gegeben, aber die dreckigen Schneeberge an den Straßenecken wollen nicht verschwinden, weil die Temperaturen immer noch jede Nacht in den Gefrierbereich sinken. Im Hinterhof spielt der Wind mit alten Packpapierfetzen, die vermutlich über den Zaun geweht wurden. Die Blätter flattern herum wie überdimensional große braune Käfer, blinde, orientierungslose Käfer. Sie stoßen gegen den Zaun oder die Mülltonnen, torkeln herab und sammeln sich in einer Ecke neben dem Lieferantentor. Lara wird dem alten Mr. Williams Bescheid geben, dass er sich auch um den Hinterhof kümmern muss, wenn er das nächste Mal kommt, um vorn an der Straße zu fegen.

Bevor sie ihr Büro verlässt, wirft sie einen kritischen Blick in den kleinen Spiegel hinter der Tür, streicht sich über den Kopf und zieht den Rock glatt. Es gibt in der Gastronomie nichts Schlimmeres als ungepflegtes Personal, und das Team in diesem Restaurant würde sich nur zu sehr freuen, wenn ausgerechnet die Chefin ihre eigenen Regeln missachtet. War es ein Fehler, die Haare auf Schulterlänge zu kürzen? Es sieht ja offen getragen ganz nett aus, aber sie braucht jetzt zehn Haarklammern, wenn sie ihre Arbeitsfrisur, den Knoten am Hinterkopf, ordentlich hinkriegen will. Sie dreht sich nach links und rechts. Alles okay, es hat sich keine Strähne gelöst, und die Bluse ist genauso schneeweiß wie am Morgen, als sie vor dem Anziehen noch einmal mit dem Bügeleisen drübergefahren ist. Zufrieden verlässt sie ihr Büro.

„Achtung, die Miller hat schlechte Laune“, hört sie Bettys helle Stimme durch die angelehnte Tür vor dem Pausenraum der Angestellten raunen.

„Nicht besser oder schlechter als sonst auch“, fügt Lara trocken hinzu, nachdem sie die Tür ganz aufgestoßen und die Schwelle übertreten hat.

Bettys Wangen färben sich umgehend leuchtend rot.

„Hast du nichts zu tun?“, fragt Lara. Im gleichen Moment bimmelt die kleine Glocke an der Eingangstür, und Betty sprintet Richtung Gastraum los, definitiv heilfroh, ihr nicht antworten zu müssen.

„Tut mir leid, dass ich zu spät bin“, verkündet Sam, für Laras Geschmack einige Nuancen zu gleichgültig, während er das gelbe Poloshirt mit dem Green-Castle-Logo aus seinem Spind zieht und sich sein eigenes ungeniert, vor ihren Augen, über den Kopf zerrt. Ihre Blicke werden für einen kurzen Moment magisch von seinem nackten Oberkörper angezogen, dann sieht sie schnell weg.

Er streift sich das Arbeitsshirt über und grinst. „Der Motor meines Wagens ist auf halber Strecke heiß gelaufen, und ich musste Wasser besorgen, bevor ich weiterfahren konnte.“

„Hast du nicht vor zwei Wochen erst den Kühler repariert?“

„Nein, da war der Auspuff hinüber.“

„Was ist es beim nächsten Mal?“

Er zuckt augenzwinkernd mit den Schultern. „Mir ist schon lange kein Reifen mehr geplatzt.“

„Übertreib es nicht.“

Sie verlässt den Raum und zieht die Tür hinter sich zu. Zorn brodelt in ihrem Bauch. Sie sollte ihm wirklich eine Abmahnung verpassen. Warum tut sie es nicht? Man dankt es ihr doch sowieso nicht, wenn sie nett ist. Verbittert presst sie die Lippen aufeinander. Leider lohnt die Mühe nicht, eine zu schreiben, denn Sam ist es scheißegal, ob er gefeuert wird oder nicht. Der Typ ist jung, attraktiv und stammt aus reicher Familie. Würde er den Job verlieren, wäre das für ihn kein Drama. Sein Vater sitzt im Büro des Bürgermeisters und verdient genug Geld. Sam jobbt lediglich für ein paar Monate im Green Castle, bevor er wegzieht und sein Studium beginnt. Mit so einem Hintergrund kann man einen Arbeitstag natürlich locker angehen. Erst wenn der Junge mal ohne einen Cent in der Tasche auf der Straße sitzt, wird er begreifen, dass das Leben nicht nur aus Spaß besteht. Sie schnaubt. Ach, was denkt sie da? Das passiert so einem doch nicht. Sam ist einer dieser Menschen, die immer auf die Füße fallen statt auf den Arsch. Und würde er doch mal in der Scheiße sitzen, fände er mit seinem Aussehen überall ein dummes Mädchen, das ihn bei sich aufnimmt und durchfüttert.

Angestellte müssen vor ihren Vorgesetzten Respekt haben, sonst läuft der Laden nicht. Sams freches Grinsen ist der beste Beweis dafür. Lara ist deshalb ja auch der Meinung, dass sich alle Angestellten im Restaurant siezen sollten. Sie hält nichts von diesen modernen Teamworkmethoden, bei denen sich alle mit Vornamen anreden und du zueinander sagen. Leider ist Arthur Castle anderer Meinung, und da er der Besitzer der Restaurantkette und ihr Boss ist, muss sie sich dem wohl oder übel fügen.

Energisch reißt sie die Tür zum Getränkelager auf. Schluss jetzt mit dem Ärgern. Der Typ kann sie doch mal kreuzweise. Sie hat einen Job zu erledigen.

Nachdem sie notiert hat, welche Getränke bestellt werden müssen, läuft sie weiter in die Küche, in der sie von feuchter Hitze empfangen wird. Greta befüllt das Fließband der industriellen Spülmaschine. Wie immer bewegt sie ihren üppigen Körper so schwungvoll, als wäre sie zwanzig und nicht über sechzig Jahre alt. Auf ihrer Stirn glitzern Schweißperlen.

„Warum macht das keiner von den anderen?“, fragt Lara gereizt. „Betty hat doch um diese Zeit kaum Gäste zu bedienen.“

„Ist schon in Ordnung.“ Greta winkt ab. „Bin ja gleich fertig.“

Lara schüttelt den Kopf. „Du erledigst hier zwei Jobs auf einmal, seit John gekündigt hat, während es sich die jungen Leute vorn gemütlich machen.“

Die Maschine zischt laut, weil die Automatik einen der breiten Plastikkörbe mit dampfendem Geschirr auf der metallenen Schiene herausschiebt. Greta kämmt sich mit den vom heißen Wasser geröteten Fingern eine graue Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus dem strengen Knoten am Hinterkopf gelöst hat. Dann zieht sie sich den nächsten Stapel schmutziger Teller näher, um ihn einzusortieren. „Betty hat heute Morgen eine Stunde eher angefangen und mir alle Salate geschnippelt. Nun lass sie mal Pause machen.“

Lara stemmt die Hände in die Taille. „Sie ist früher gekommen? Warum weiß ich davon nichts?“

„Sie meinte, du würdest ihr die Überstunde sowieso nicht genehmigen, und sie wollte mir einen Gefallen tun.“

„Ich bin doch kein Monster“, grummelt Lara und Greta lacht. „Tatsächlich?“

Lara verdreht die Augen, legt das Klemmbrett beiseite und beginnt, das saubere Besteck in die Schubladen zu sortieren. „Einer muss ja dafür sorgen, dass der Laden hier gewinnbringend arbeitet, oder wollt ihr, dass wir alle auf der Straße landen?“

Greta legt ihr den Arm um die Schultern und zieht sie an ihren weichen Großmutterkörper. „Du machst deinen Job ganz hervorragend, bist nur etwas zu misstrauisch. Betty ist in Ordnung. Denk dran, du warst auch mal jung.“

Lara tritt zur Seite und schluckt den bissigen Kommentar hinunter, der ihr auf der Zunge liegt. Ja, sie war auch mal jung, aber darauf hat damals auch niemand Rücksicht genommen.

Das altmodische Telefon an der Küchenwand klingelt. Greta hebt ab, meldet sich und wartet eine Sekunde. Dann nickt sie. „Ja, die ist hier.“ Sie hält den Hörer in die Höhe. „Für dich, der Boss.“

„Ist es was Dringendes?“

Greta fragt, wartet und schüttelt den Kopf. „Nein.“

„Dann sag ihm, ich rufe nachher aus dem Büro zurück.“

 

Eine halbe Stunde später verlässt Lara die Küche und geht in den Gastraum. Von den zwanzig Tischen sind jetzt zwei von Touristen besetzt, die Kaffee trinken. Sam hat tatsächlich daran gedacht, die Spirituosenliste bereitzulegen. Wenigstens etwas, was so gemacht wird, wie sie es angeordnet hat. Sie greift danach und läuft weiter in ihr Büro. Nachdem sie die Tür geschlossen und am Schreibtisch Platz genommen hat, ruft sie Arthur zurück.

„Castle“, meldet er sich wie immer unverkennbar knapp.

„Miller.“

„Ach, du bist es, Lara. Wie sieht’s aus? Alles klar bei euch?“

Lara lehnt sich zurück. „Die Zahlen sind okay, aber wir brauchen endlich jemanden für die Küche. Greta arbeitet viel zu viel.“

„Deswegen habe ich vorhin angerufen. Ihr habt ab nächster Woche einen zusätzlichen Mitarbeiter.“

„Einen Koch?“

„Er ist kein ausgebildeter Koch, hat aber Erfahrung in der Küche. Greta wird ihm alles beibringen, was er braucht.“

Lara runzelt die Stirn. „Warum bekommen wir keinen Koch?“

Er antwortet nicht. Stattdessen hört sie durch die Leitung etwas leise klimpern. Arthur scheint in einem Kaffee oder Tee zu rühren und davon zu trinken. Es wirkt, als ob er Zeit bräuchte, über die Antwort nachzudenken. Sein Schreibtischsessel knarrt.

„Der Neue ist ein alter Freund, der dringend einen Job braucht“, erklärt er schließlich gelassen. „Außerdem will ich Greta nicht wieder herabstufen. Sie hat John bestens ersetzt und soll Küchenchefin bleiben. Ihr Essen schmeckt hervorragend. Ihr einen gelernten Koch vor die Nase zu setzen, wäre bestimmt keine Steigerung.“

„Was heißt ‚alter Freund‘? Kenne ich ihn?“Arthur seufzt so resigniert, als ob er wüsste, dass seine Antwort einen Streit provozieren wird. „Es ist Joshua Mason.“

Lara stockt. Das Bild eines ungepflegten, schlaksigen Achtzehnjährigen in Lederklamotten und mit langen braunen Haaren zuckt vor ihrem inneren Auge auf. „Mason? Der Joshua Mason, der …“

„Ja, der, und ich will nicht darüber diskutieren“, unterbricht Arthur sie rüde.

Lara greift den Kugelschreiber, mit dem sie gespielt hat, fester. „Ich denke, der sitzt im Knast?“

„Er wird diese Woche entlassen und braucht einen Job.“

„Der … der … der passt doch hier überhaupt nicht ins Team.“

„Er wird sich schon benehmen.“

„Aber …“

„Lara, er war während unserer Kindheit viele Jahre lang mein bester Freund. Er hat seine Strafe abgesessen und braucht einen Job, den er in meinem Restaurant bekommt. Hab ich mich deutlich genug ausgedrückt?“

Sie schluckt. „Ja. Natürlich.“

„Gut. Er wird sich Montagvormittag melden.“

„Okay.“ Sie wirft den Kugelschreiber auf den Schreibtisch. Es scheppert, weil sie die Tastatur trifft, und Arthur stöhnt. „Lara, gib ihm eine Chance. Menschen machen Fehler, Menschen ändern sich.“

„Und wenn er sich nicht geändert hat?“

„Er hat für den Mist, den er gebaut hat, gesessen und ist wegen guter Führung nach acht Jahren vorzeitig entlassen worden. Er verdient genauso eine Chance wie du, als du damals am Ende warst.“

„Das kann man ja wohl nicht miteinander vergleichen.“

„Lara, es ist mir egal, was du davon hältst. Er …“

Sie schüttelt unwillig den Kopf. „Schon gut. Du bist der Boss.“

In ihrem Bauch brodelt ein ganz mieses Gefühl. Sie springt auf, stellt sich ans Fenster und ballt die freie Hand zur Faust. „Dir ist hoffentlich klar, dass die Leute reden werden.“

„Es ist lange her. Die meisten haben vergessen, was damals passiert ist.“

„Was soll ich den anderen Angestellten sagen?“

„Nichts. Überlass es ihm, wie viel er erzählen will.“

Lara dreht sich abrupt um und geht zum Schreibtisch zurück. „Warum ausgerechnet hier? Warum geht er nicht irgendwohin, wo ihn keiner kennt? Wäre es nicht viel leichter für ihn, wenn er in einer anderen Green-Castle-Filiale anfängt?“

„Das habe ich ihm angeboten, aber in Silver Hill hat er das Haus seiner Eltern, in dem er wohnen kann. Woanders müsste er Miete bezahlen.“

„Er will in der alten Bruchbude wohnen? Die Ranch steht doch seit Jahren leer!“

„Aber sie gehört ihm nun mal. Schluss jetzt mit dem Thema. Gibt es sonst noch was zu besprechen?“

„Nein. Alles bestens hier bei uns … noch.“

Arthur lacht. „Zieh den Stock aus deinem Arsch, Lara.“

„Ich habe die Filiale hier zu der erfolgreichsten deiner ganzen Kette gemacht. Ich möchte, dass das so bleibt.“

„Das weiß ich. Du bist die beste Managerin, die ich je hatte, allerdings nicht die beliebteste. Entspann dich mal zur Abwechslung. Sei einfach ein bisschen lässiger und menschlicher.“

 

„Sei einfach ein bisschen lässiger und menschlicher“, ahmt Lara ironisch betont ihren Boss nach, während sie kurz vor Mitternacht in ihrem Auto sitzt und nach Hause fährt. „Ganz einfach, total einfach, entspannen und den Stock aus dem Arsch ziehen.“ Sie wackelt bei jeder Silbe mit dem Kopf hin und her. „Der spinnt doch. Die Umsätze im Restaurant wären lange nicht da, wo sie sind, wenn ich nicht so viel Disziplin hätte. Die Angestellten müssen Respekt vor mir haben. Sonst machen die doch, was sie wollen!“

Als sie angefangen hat, für Arthur zu arbeiten, war sein Restaurant in Silver Hill fast pleite. Erst als sie ihm ihre Ideen darlegte und er sie zur Managerin machte, stiegen die Umsätze. Für ihn ist es nur eine Filiale, für sie ist das Restaurant ihr Leben, ihre Zukunft, ihr Zuhause, und vor allem bedeutet es Sicherheit. Nie wieder will sie ohne einen Cent in der Tasche in der Gosse sitzen.

Energisch setzt sie den Blinker und sieht sich nach Fußgängern um, bevor sie abbiegt, obwohl die Straßen um diese Zeit natürlich wie immer leer sind.

Sie ist nun mal keine zwanzig mehr und trägt Verantwortung. Arthur soll froh sein, dass sie alles im Griff hat.

Den ganzen Tag lang ging ihr das Gespräch über den Neuen für die Küche nicht aus dem Kopf. Sie hat ein Scheißgefühl. Er ist ein Ex-Häftling, ein Verbrecher, und es ging damals nicht um Taschendiebstahl. Er wird nur Ärger machen. Mason war in der Schule schon einer dieser Typen, deren Hobby es zu sein schien, aufzufallen und zu provozieren. Vielleicht haben die meisten vergessen, was damals passiert ist, aber die wenigen, die sich erinnern, werden es mit Freuden überall rumerzählen.

Joshua Mason. Wie alt ist er jetzt? Er war mit Arthur Castle in einer Klasse, das heißt, er ist mindestens vier Jahre älter als sie. Joshua war ein Bad Boy, nein, er war DER Bad Boy der Schule. Lara hatte persönlich nichts mit ihm zu tun, aber alle Mädchen tuschelten und kicherten, sobald sie ihn nur von Weitem sahen. Er trug die braunen Haare lang, dazu zerrissene Jeans oder eine speckige Lederhose, ausgeblichene schwarze T-Shirts und schwere Motorradstiefel, obwohl er gar kein Motorrad hatte, sondern in einem verrosteten roten Pick-up durch die Kleinstadt kurvte. Sein Gesichtsausdruck? Personifizierte Arroganz. Einfach widerlich. Er lachte nie, im Gegenteil, er zog die Mundwinkel immer auf eine Art nach unten, die verriet, wie wenig Respekt und Achtung er vor anderen hatte. Er fühlte sich als was Besseres, er war ein Arschloch. Und dieser Scheißtyp soll nun in ihrem Restaurant arbeiten? Der wird doch keine Weisung befolgen! Der wird sie auslachen und bei jeder Gelegenheit reizen. Vielleicht ist er ein Choleriker und Schläger. Bei dem Gedanken verknotet sich ihr Magen. Sie atmet tief durch und verbietet sich die Bilder in ihrem Kopf, die sich ihr unweigerlich aufdrängen.

 Sie wird noch mehr darauf achten müssen, dass die Getränkeverkäufe mit den Lagerbeständen übereinstimmen, sonst bedient der Typ sich ruckzuck nicht nur für den Eigenbedarf, sondern für einen eigenen Nebenverdienst.

Sie hat ihr Zuhause erreicht und parkt das Auto vor der Tür. Jeden Abend atmet sie beim Anblick des kleinen weißen Häuschens mit den verschnörkelten Ziergittern vor den Fenstern tief durch. Es ist so gut, ein sicheres Zuhause zu haben. Joshua will im Haus seiner Eltern wohnen. Na, der wird sich freuen, wenn er die Bruchbude sieht. Vermutlich regnet es längst rein.

Früher hatte ihre Familie ein kleines Häuschen in einer Siedlung am westlichen Stadtrand. Dort gab es in östlicher Richtung einen Wald, in dem Lara gerne spielte. Wenn man dem Weg hindurch folgte, kam man an den Feldern der Masons heraus.

Die Ranch war klein, Haus, Stall und Hof wirkten aber immer ordentlich und gepflegt. Erst seit niemand mehr dort wohnt, das Unkraut wuchert und die Zäune von Jahr zu Jahr mehr verrotten, liegt überall Müll und Schrott herum. Scheinbar halten einige Bewohner der Stadt das verwaiste Grundstück für eine Müllkippe.

Joshuas Eltern würden sich vermutlich im Grab umdrehen, wüssten sie, was aus ihrem Besitz geworden ist. Lara wohnt heute in einer netten Seitenstraße neben der Ausfallstraße, über die man die Ranch erreicht. Bei schönem Wetter hat man einen tollen Blick auf die Bergkette des Nationalparks. Die Nachbarn gehören zum Mittelstand. Man erfreut sich eines bescheidenen, aber doch vorhandenen Wohlstands. Zufrieden betrachtet sie im Schein der Straßenlaternen das kleine Blumenbeet vor ihrem Eingang. Wenn es endlich richtig Frühling wird, will sie an den Seiten Rosen pflanzen. Das passt bestimmt wunderbar zu den Vergissmeinnicht-Blüten unter dem Küchenfenster, die jedes Jahr schöner und kräftiger werden.

Sie schließt auf, tritt ein und wirft einen prüfenden Blick in Schlaf- und Wohnzimmer, bevor sie im Flur die Tasche abstellt und den Mantel auszieht. Das macht sie immer. Alte Gewohnheit aus der Zeit, als sie sich noch nicht sicher fühlte. Natürlich ist alles so, wie sie es am Mittag verlassen hat, nachdem der Handwerker gegangen war. Sie liebt ihr eigenes Reich. Es ist ihre Höhle, ihr Zuhause, ihr Nest. Schlaf- und Wohnzimmer sind klein, aber da Lara nur wenige Möbel drinstehen hat, wirkt alles hell und geräumig. Sie mag es so. Vollgestopfte Wohnungen erinnern sie zu sehr an ihr Elternhaus. Darin war es immer unordentlich und dreckig. Nach außen nett und adrett, innen drin die stinkende Hölle. Das war ihre Kindheit. Im Winter schlichen sich regelmäßig Mäuse in den Abstellraum, die man nachts, wenn alle schliefen, rascheln hörte. Grrr … Sie muss sich bei der Erinnerung schütteln.

Sie geht in die Küche und setzt Wasser auf, um, wie jede Nacht nach Feierabend, einen Kräutertee zu trinken, bevor sie sich schlafen legt. Nachdem sie einen Becher aus dem Schrank geholt und einen Teebeutel hineingehängt hat, lässt sie sich auf der kleinen Eckbank vor dem Tisch nieder.

Wie hieß noch diese Rothaarige, mit der Joshua sich damals herumtrieb, bevor die Polizei ihn verhaftete? Die Leute erzählten, sie arbeite in einer Bar und mache gegen Geld die Beine breit. Vermutlich fungierte Joshua als ihr Zuhälter. Einmal hat Lara gesehen, wie er Sex mit dieser Frau hatte. Es war am helllichten Tag auf einem Waldweg nahe ihres Elternhauses. Er hatte dort den Pick-up abgestellt, um es mit der Tussi auf der Ladefläche zu treiben. Lara war auf die Geräusche aufmerksam geworden und arglos zwischen den Bäumen hervorgetreten. Er hatte ihr das Gesicht zugedreht, gegrinst und „Verpiss dich, Kleine, wenn du nicht auch gleich hier liegen willst“ geknurrt. Sie war um ihr Leben gerannt. Nie wird sie den Anblick vergessen, wie er mit halb heruntergezogener Hose auf der Frau lag, deren Bluse zerrissen war.

Und jetzt soll sie seine Chefin sein? Vielleicht hat sie Glück und er erinnert sich nicht mehr an das dürre, hässliche Mädchen, das sie während der Schulzeit war. Falls doch, wird er genauso arrogant auf sie hinabsehen, wie er es damals getan hat.

Das Wasser kocht. Lara schaltet die Herdplatte aus und gießt ihren Becher voll. Es duftet nach Pfefferminz, Anis, Fenchel und Kamille. Sie atmet tief ein, setzt sich wieder und lehnt sich zurück. Versonnen betrachtet sie den auf der Wasseroberfläche tanzenden Teebeutel, während sie locker an dem Bändchen zupft, um das Aroma gut zu verteilen. Nein, sie darf sich nicht verrückt machen. Sie ist erwachsen, reifer und selbstbewusster als damals. Falls Joshua Mason sich nicht benimmt, muss Arthur ihn wieder rauswerfen. Er kann gar nicht anders.

Ob Greta mit ihm klarkommt? Sie erinnert sich garantiert noch an die Familie Mason. Greta kannte ja auch Lara bereits als Kind, sie kommt aus dem gleichen Viertel. Erst als ihr Mann gestorben ist und sie als Küchenhilfe im Green Castle anfing, ist sie in die kleine Wohnung in der Nähe des Restaurants gezogen, die Arthur ihr besorgt hat. In gewisser Weise hat Arthur auch Greta gerettet. Vielleicht kann sie ihn davon abbringen, Joshua den Job zu geben. Begeistert ist sie bestimmt nicht, mit einem Ex-Häftling in der Küche zusammenzuarbeiten.

Eigentlich will Lara nicht, aber die Neugier ist zu groß. Sie steht auf und holt sich das kleine Notebook, das Arthur ihr aufgedrängt hat, damit sie auch zu Hause per E-Mail erreichbar ist. Sie stellt es auf den Küchentisch und schaltet es ein. Joshua Mason tippt sie bei Google ein und bekommt über tausend Einträge aufgelistet. Sie versucht es noch mal mit Urteil Joshua Mason. Jetzt wird sie sofort fündig. Natürlich. Das Internet vergisst nie. Da sind alle alten Berichte von dem Brand und der Gerichtsverhandlung mit jeder Menge Fotos zu finden. Das Motiv von dem Leichenwagen vor dem ausgebrannten Gebäude hatte damals auf allen Titelseiten geprangt.

Joshua ist auf einem Bild im Gerichtssaal groß zu sehen. Er starrt arrogant und grimmig, aber kein bisschen reumütig, in die Kamera. Sein Mund ist so fest zusammengepresst, dass die Lippen kaum zu erkennen sind, und die braunen Haare hängen ihm wirr in die Stirn. Lara überfliegt die Berichte. Er soll Anführer einer Bande gewesen sein, die Schutzgeld erpresste. Lange hat Joshua alles geleugnet, dann aber doch gestanden. Zu zehn Jahren wegen Totschlags haben sie ihn schließlich verurteilt und ihm nun die letzten beiden Jahre aufgrund guter Führung erlassen.

Kopfschüttelnd betrachtet sie noch einmal das Foto von ihm im Gericht. Nein, sie kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieser Typ sich geändert haben soll.

Kapitel 2

 

Schon wieder neue Klamotten. Kopfschüttelnd mustert Lara ihre Angestellte, bevor sie die Tür des Restaurants aufschließt. Es ist fünf Uhr dreißig, noch nicht hell und ein eisiger Wind fegt um die Häuserecken. Jeder normale Mensch würde einen dicken Mantel und lange Hosen anziehen, aber Betty steht mit hochgezogenen Schultern zitternd neben ihr, denn sie trägt nur ein dünnes Jäckchen über einem albernen, kurzen Röckchen. Die Frühstücksgäste werden ihr auf den Po glotzen, wenn sie sich über die Tische beugt.

Lara schiebt die Tür auf und streckt sich, um oben, hinter der kleinen unauffälligen Klappe, den Code für die Alarmanlage einzutippen. Als es piept, knipst sie das Licht an, und Betty rauscht an ihr vorbei ins Gebäude.

„Brrr … ist das kalt hier drin“, mault ihre Angestellte.

Lara schnaubt. „Zieh dir mehr an, dann frierst du auch nicht.“

„Warum kann die Heizung nicht über Nacht an bleiben, es sind doch sowieso nur ein paar Stunden vom Feierabend bis zum Frühstücksgeschäft?“

„Weil Heizen Geld kostet.“

„In der Green-Castle-Filiale drüben in Morganfield lassen sie über Nacht die Heizungen an.“

„Wir sind aber in Silver Hill, und hier bin ich dafür verantwortlich, dass Einnahmen und Ausgaben zusammenpassen. Zieh dich vernünftig an, dann frierst du auch nicht. Niemand hat etwas dagegen, wenn du unter der Bluse einen Rollkragenpulli trägst.“

Sie betreten gemeinsam den Aufenthaltsraum und öffnen ihre Schränke.

Betty kichert. „Ich laufe doch nicht in Omaklamotten rum, wenn der Neue zum ersten Mal kommt.“ Sie stellt sich vor den Spiegel und zupft an ihren Augenbrauen herum. „Außerdem ist Frühling.“

Lara verdreht innerlich die Augen. Wenn es nach ihr ginge, würden die Angestellten nicht nur Shirts und Blusen mit dem Green-Castle-Logo tragen, sondern auch unauffällige Hosen oder lange Röcke. Schließlich sind sie ein Restaurant und keine Bar.

„Ab wann arbeitet der Neue?“, fragt Betty.

Lara runzelt die Stirn. „Das weiß ich noch nicht.“

„Du kennst ihn von früher, oder? Greta sagt, ihr seid zusammen zur Schule gegangen.“

„Nein, ich kenne ihn nicht, er war ein paar Klassen über mir.“

„Stimmt es, dass er Mitglied in einer Rockergang war?“

Ungeduldig schlägt Lara die Tür ihres Spinds zu. „Geh an den Tresen und bereite die Kaffeemaschine vor, die ersten Frühstücksgäste werden gleich da sein.“

Es reicht. Es reicht wirklich. Seit sich herumgesprochen hat, dass sie einen neuen Mitarbeiter für die Küche bekommen, wird von morgens bis abends nur noch über dieses Thema geredet. Natürlich wussten schnell alle, dass es ein Typ ist, der in Silver Hill aufgewachsen ist und im Knast gesessen hat. Vermutlich hat Greta was ausgeplaudert, sie ist nämlich die Einzige, der Lara nach Arthurs Anruf Bescheid gegeben hat. Vielleicht hat der Boss es aber auch irgendjemandem erzählt, der als Gast ins Green Castle kam und es einem der Angestellten weitergetratscht hat. Ist ja auch egal. Mittlerweile ist Lara heilfroh, dass heute Montag ist und er sich vorstellen wird, damit das Gerede und die Spekulationen über den Kerl endlich aufhören.

Betty scheint auf böse Jungs zu stehen, sie strahlt, als würde Joshua nicht zum Arbeiten, sondern zum Speeddating erscheinen. Es ist nicht zu fassen! Als ob das Mädel noch mitten in der Pubertät steckt. Lara wird Joshua gleich beim ersten Gespräch deutlich sagen müssen, dass Flirts und Affären unter Angestellten nicht gern gesehen werden.

Sie läuft in die Küche und bereitet das Frühstückgeschäft vor. Der Bäcker liefert das frische Brot, und die ersten Gäste lassen sich bereits an den Tischen nieder. Schnell hat sie keine Zeit mehr, an den neuen Mitarbeiter zu denken. Greta kommt erst um zehn und löst sie in der Küche ab, dann kann Lara sich zurückziehen und die Büroarbeit erledigen.

Arthur hat Greta gestern angerufen und ihr Joshua für elf Uhr angekündigt. Sie solle ihm an seinem neuen Arbeitsplatz alles zeigen. Lara musste schwer schlucken, als Greta beiläufig das Telefongespräch erwähnte. Schließlich ist sie, Lara, die Managerin. Arthur hätte sie anrufen müssen.

„Der Neue soll als Erstes in mein Büro kommen, wenn er auftaucht“, sagt sie, bevor sie bei Gretas Erscheinen in den Flur verschwindet.

Greta nickt gleichgültig. „Natürlich. Arthur hat mich doch nur angerufen, weil er wissen wollte, ob ich um elf da bin, um ihm alles zu zeigen.“ Sie scheint die Einzige zu sein, die nicht neugierig auf den Ex-Häftling ist. Dabei wird sie am meisten mit ihm zu tun haben.

Lara wirft einen schnellen Blick ins Restaurant. Betty schenkt gerade an einem Tisch mit vier Fernfahrern Kaffee nach. Ihre Wangen sind gerötet und sie kichert albern. Helena ist inzwischen auch da und steht hinter dem Tresen. Lara nickt ihr zu. Helena ist ein Jahr älter als Lara und alleinerziehende Mutter. Sie hat, ebenso wie Lara, bereits die Schattenseiten des Lebens kennengelernt. Dadurch sind sie fast so etwas wie Freundinnen geworden. Helena macht, wie immer freundlich, ruhig und gelassen, ihren Job.

Lara seufzt. Könnte Betty nicht ein kleines bisschen wie Helena sein?

Sie stellt einen Becher unter den großen Kaffeeautomaten und drückt auf den Knopf.

Helena dreht sich zu ihr um. „Kann ich morgen eine Stunde eher gehen? Ich muss zur Schule, Michaels Klassenlehrer hat angerufen.“

Lara nickt. „Kein Problem. Ich springe für dich ein.“

„Danke. Manchmal möchte ich dieses Kind schütteln! Er hat wahrscheinlich schon wieder seine Hausaufgaben nicht gemacht.“

Lara winkt ab. „In dem Alter sind sie doch alle frech. Nimm das nicht so ernst.“

Helena seufzt. „Sag das mal den Lehrern.“

Lara verzieht mitleidig das Gesicht, bevor sie sich entfernt und ihr Büro aufsucht. Als alleinerziehende Mutter ist es nicht einfach. Zum Glück ist sie während ihrer Ehe nicht schwanger geworden. Fast nicht. Sie schluckt und schaltet den Computer ein. Blöder Gedanke. Ganz blöder Gedanke.

 

Als es an der Tür klopft, zuckt sie zusammen. Für eine Weile hat sie tatsächlich vergessen, dass dieser Typ heute kommt. Mist, sie hätte ihn lieber im Restaurant empfangen sollen, schließlich saß er jahrelang im Knast. Wer weiß, wie so einer reagiert, wenn er mit einer Frau allein in einem Raum ist.

„Ja.“

Sie drückt die Schultern zurück und sieht über den Bildschirmrand nach vorn. Ihr Blick klebt wie hypnotisiert an der sich senkenden Klinke, und ihre Hände formen sich zu Fäusten, als die Tür aufgeht. Im Rahmen erscheint ein Mann, für den das Büro zu klein zu sein scheint. Er ist mindestens einen Kopf größer als sie. So riesig hat sie ihn nicht in Erinnerung. Er trägt die braunen Haare, die jetzt noch dunkler, fast schwarz, schimmern, militärisch kurz und zeigt keine Gefühle. Seine Mimik wirkt, im wahrsten Sinne des Wortes, wie in Stein gemeißelt. Es ist nicht mehr das Gesicht des trotzigen Jugendlichen, das sie auf den Fotos im Internet gesehen hat, sondern das eines Mannes. Breite Wangenknochen, der ausgeprägte Kiefer und ein spitzes Kinn lassen ihn dominant und hart wirken. Er ist rasiert, aber man erkennt Bartstoppeln entlang der Kinnkonturen. Kleine Falten in den Augenwinkeln und eine blasse Narbe auf der linken Wange zeugen von Lebenserfahrung. Aus tiefblauen Augen sieht er ihr direkt ins Gesicht. Sein Blick wirkt gleichgültig, als wenn die Situation für ihn keinerlei Bedeutung hätte.

„Lara Miller?“, fragt er knapp mit tiefer, rauer Stimme.

„Ja.“

„Joshua Mason.“

„Bitte.“ Sie deutet auf den Stuhl an der Wand gegenüber des Schreibtisches und zieht die Hand schnell wieder zurück. Warum zittern ihre Finger? Das ist doch nicht zu fassen?

Er nickt knapp, tritt ein und schließt die Tür hinter sich. Dann greift er mit einer Hand die Lehne des Stuhls, holt ihn heran und setzt sich. Seine Bewegungen sind von ruhiger Gelassenheit.

Lara hat Zeit, ihn zu mustern, und muss den Anreiz unterdrücken, aufzuspringen und rückwärts zu gehen, um möglichst viel Platz zwischen sich und diesen Mann zu bringen. Er ist wie ein Cowboy oder Farmer gekleidet, verwaschene Jeans, ein blaues Hemd, darüber eine gefütterte, ausgeblichene Jeansjacke, die offen steht, sodass die Konturen beeindruckend ausgeprägter Muskeln unter der Kleidung zu erkennen sind. Seine Schultern sind breit, vermutlich doppelt so breit wie ihre. Er schluckt, der Adamsapfels an seiner Kehle hüpft.

Sie kennt diese Typen. Lara ist selbst auf solche reingefallen. Mit ihrer Kraft und rauen Dominanz beeindrucken sie jede Frau. Es kribbelt im Bauch, wenn so einer Interesse zeigt. Heute weiß sie, dass man diesen Männern nicht trauen darf. Ein dummes Mädchen wie Betty weiß das noch nicht. Solche Kerle ziehen ihr Ding durch, und wer dabei auf der Strecke bleibt, ist ihnen egal. Arthur ist verrückt, Joshua anzustellen. Sobald der mitbekommen hat, wo die Tageseinnahmen aufbewahrt werden, wird er sie stehlen und abhauen. Da geht sie jede Wette ein.

Er ist ihr körperlich so extrem überlegen, dass sie absolut wehrlos wäre, würde er sie angreifen. Unwillkürlich hat sie den Drang, sich größer zu machen. Sie schiebt die Schultern nach hinten und streckt das Kinn vor.

„Sie wissen, wer ich bin?“, fragt er lässig.

Seine tiefe, raue Stimme, scheint Schwingungen durch den Raum zu schicken, die körperlich spürbar sind. Lara hebt den Kopf etwas höher und nickt. „Natürlich.“

Er lehnt sich zurück und neigt leicht das Gesicht, sodass er sie mit schrägem Blick mustern kann, was er auch ungeniert tut. „Arthur sagt, wir kennen uns aus unserer Kindheit.“

„Nicht wirklich. Wir sind lediglich in die gleiche Schule gegangen.“

Er nickt knapp, und Laras Blick wird von seinen vollen Lippen angezogen, denn seine Mundwinkel zucken. Für einen Moment entdeckt sie die freche Arroganz in seiner Mimik, die er als Junge ständig aufgesetzt hat. Unwillig runzelt sie die Stirn. „Arthur sagte …“, sie räuspert sich, „dass Sie … äh …“

„Ich habe die letzten Jahre im Knast gesessen und brauche einen Job, Mrs. Miller.“ Er betont das Misses und ihren Namen provozierend ironisch. Frech. Arsch. „Lara.“

Seine linke Augenbraue zuckt hoch und sie schüttelt unwillig den Kopf. „Alle Angestellten in den Green-Castle-Filialen duzen sich. Arthur möchte das so. Er meint, das ist modern und nützt dem Teamwork. Ich nehme an, Sie haben noch nie in der Gastronomie gearbeitet?“

„Du.“

„Was?“

Seine Mundwinkel verziehen sich. „Das Teamwork“, erinnert er sie in vor Spott triefender Tonlage.

Dem Affen macht es Spaß, sie zu verunsichern. Das ist widerlich. Sie greift zu dem Kugelschreiber, an dem ihr Blick sich gerade festsaugt. „Äh … natürlich. Also du.“

„Nein, ich habe keine Erfahrung.“

Laras Blick zuckt wieder hoch und bleibt auf Höhe seines Kinns kleben, weil das Blau seiner Augen eine zu gefährliche Anziehungskraft auf sie ausübt. Wenn man auf einem Hochhausdach steht und hinuntersieht, dann spürt man auch so eine Kraft. Es ist, als ob man magnetisch in die tödliche Tiefe gezogen wird. „Wir brauchen jemanden für die Küche.“

Er lehnt sich vor, stützt die Unterarme auf seine Oberschenkel und faltet locker die Hände, die wirken, als ob sie harte Arbeit gewohnt sind. Feine Härchen bedecken die breiten Handrücken, auf denen die Konturen der Knochen und Sehnen deutlich hervortreten. Seine Finger sind kräftig und lang, die Nägel kurz, eine Schramme zieht sich über den rechten Daumen.

„Das sagte Arthur und deswegen bin ich hier. Ich habe während der letzten Jahre meiner Haft in der Gefängnisküche gearbeitet.“

Lara nickt. „Okay. Wann kannst du anfangen?“

Er zuckt gleichgültig mit den Schultern. „Sofort.“

„Wir arbeiten im Schichtdienst. Frühschicht ist von morgens sechs bis nachmittags zwei Uhr, Spätschicht von zwei bis nachts um zehn oder elf Uhr. Manchmal wird es auch später, denn wir werfen keine Gäste hinaus. Jeder Angestellte hat während seiner Schicht eine freie Mahlzeit und freie Getränke, Alkohol ist verboten. Normalerweise arbeiten in der Küche immer zwei Mitarbeiter pro Schicht. Im Moment haben wir allerdings keinen Koch, deswegen wäre es gut, wenn du vorläufig flexibel zu den Stoßzeiten, vor allem mittags und abends, kommen könntest.“

„Kein Problem.“

Die ganze Zeit hat er sie stur angestarrt. Nicht in den Raum, nicht auf den Schreibtisch, nicht Richtung Fenster, nie ist sein Blick irgendwohin abgeglitten. Er genießt es vermutlich, sie nervös zu machen. Aus der gelangweilt gemurmelten Zustimmung ist deutlich herauszuhören, wie egal, wie scheißegal es ihm ist, was sie gesagt hat. Als würde sie über das Klima in Alaska philosophieren und nicht den Tagesablauf seines zukünftigen Lebens bestimmen. Was für ein arroganter Arsch. „Du bleibst vermutlich nur vorübergehend?“

„Nein. Länger.“ Immer noch dieser provozierend sture Blick in ihr Gesicht.

Lara starrt zurück. Was der kann, kann sie schon lange! Doch er hält das einfach still aus und verzieht keine Miene. Der arrogante Arsch scheint nicht die Absicht zu haben, ihr weitere Informationen zu geben. Gut. Sie muss ja auch nicht mehr wissen. Es geht sie schließlich nichts an.

Entschlossen steht sie auf. „Dann zeige ich dir jetzt alles.“

Er erhebt sich ebenfalls, und sie tritt reflexartig einen Schritt zurück, als er in voller Größe vor ihr aufragt. Er kommentiert ihr Zurückweichen nicht, aber sein Mund verzieht sich wieder auf diese herablassende, spöttische Weise. Nur ganz kurz und nur angedeutet, doch Lara hat es gesehen. Sie presst die Lippen aufeinander, geht an ihm vorbei und öffnet energisch die Tür.

Ohne darauf zu achten, ob er ihr folgt, marschiert sie ins Restaurant. Sie muss sich nicht umdrehen. Das unangenehme Kribbeln in ihrem Nacken bezeugt, dass er schräg hinter ihr geht.

„Das sind Betty und Helena.“

Sie zeigt in seine Richtung, ohne ihn anzusehen. „Das ist Joshua, unser neuer Mitarbeiter für die Küche.“

Helena nickt ihm zu. „Hi.“

„Hi“, antwortet er so gelangweilt gleichgültig, als würden sie sich bereits seit Monaten jeden Morgen so begrüßen.

Betty grinst über das ganze Gesicht. „Hiiii. Willkommen!“

Lara möchte die Augen verdrehen, aber Joshua ignoriert Bettys unverhohlenes Flirten, als würde er es nicht bemerken, und nickt ihr lediglich knapp zu.

Sie gehen weiter in die Küche. „Greta?“

„Hier“, ruft sie, und Lara sieht, dass die Tür zur Kühlkammer offen steht. In diesem Moment tritt Greta heraus. Sie trägt mühsam, mit nach hinten gestrecktem Rücken, einen der großen Suppenbehälter vor sich her.

Joshua macht zwei Schritte auf sie zu und nimmt ihr das Teil ab. „Wohin?“

„Rechts auf den Tisch“, weist Greta ihn an und er stellt das Gefäß ab.

„Danke.“ Sie stemmt die Hände in die Taille und sieht zu ihm auf, was komisch wirkt, weil die alte Dame den Kopf weit in den Nacken legen muss, um in sein Gesicht zu sehen. „Meine neue Unterstützung bringt Kraft mit. Wie angenehm.“ Sie streckt ihm die Hand hin. „Herzlich willkommen.“

Er greift zu, ohne eine Miene zu verziehen. „Danke.“

Eine Sekunde lang wartet Lara darauf, dass Greta einen Schmerzenslaut von sich gibt, als seine Pranke ihre Hand umfasst, aber das passiert nicht, und sie schimpft sich im stillen eine Idiotin.

Greta mustert ihn unverhohlen. „Meine Güte, Junge, ich hätte dich nicht wiedererkannt.“

Er zuckt mit den Schultern. „Damals war ich ein Kind.“

„Und heute bist du ein Mann.“ Sie nickt lächelnd. „Das ist nicht zu übersehen.“

Small Talk scheint nicht Joshuas Stärke zu sein. Er verzieht immer noch keine Miene. Nicht mal das kleinste Lächeln findet einen Weg aus seiner eisernen Maske.

Er sieht sich um. „Was soll ich tun?“

„Du willst gleich anfangen?“

„Ich habe nichts Besseres vor.“

„Sehr gut. Ich zeige dir alles.“

Er zieht seine Jacke aus und Laras Blick wird von seinem breiten Rücken magisch angezogen.

„Wo kann ich die hintun?“, fragt er.

Greta greift danach und drückt sie Lara in die Hand. „Sei so gut und häng die in den Aufenthaltsraum, du gehst doch sowieso dran vorbei.“

Verdutzt betrachtet Lara die schwere Jacke in ihrer Hand. Am liebsten möchte sie sie fallen lassen. Es ist, als ob sie ihn berühren würde. Unangenehm. Sehr unangenehm. „Er kann Johns Schrank haben“, sagt sie schnell, „Der ist leer. Ich häng sie da rein.“

Als sie sich wegdrehen will, hebt Joshua die Hand. „Moment!“