image
Image

MANFRED EHMER

DIE WEISHEIT DES WESTENS

MYSTERIEN, MAGIE UND EINWEIHUNG IN EUROPA

Image

© Manfred Ehmer

1. Auflage 2016

2. Auflage 2018

Autorenhomepage: www.manfred-ehmer.net

Abbildung auf Umschlag und 3. Innenseite:

Frei gestaltet nach einer Graphik von William Blake

The Ancient of Days (1794). Bildquelle: Wikipedia.de

Verlag und Druck: tredition GmbH,

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Erschienen in der Buchreihe edition theophanie

ISBN 978-3-7469-1916-4(Paperback)
ISBN 978-3-7469-1917-1(Hardcover)
ISBN 978-3-7469-1918-8(e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Das Licht des Westens

Urheimat Atlantis

Die Sage vom Goldenen Zeitalter

Der Atlantis-Bericht Platons

Atlantis – geologisch betrachtet

Das Erbe der Sonnenreligionen

Was wussten die Phönizier?

Das Atlantis der Geheimlehre

Der Untergang von Atlantis

Megalithische Mysterienreligionen

Sinnbedeutung der Großen Steine

Die megalithische Magna Mater

Stonehenge – ein Sonnentempel

Die Himmelsscheibe von Nebra

Die Megalithkultur – atlantisch?

Die Urreligion Indiens

Der indogermanische Wurzelboden

Die vedische Religion Altindiens

Die Lichtbotschaft des Zarathustra

Das Druidentum

Herkunft und Identität des Keltentums

Baumkult und heilige Haine

Die Druiden – die Brahmanen Europas?

Die Hochgötter Irlands

Die Götter der Gallier

Die Vier Zweige des Mabinogion

Die bardische Lehre der 'drei Kreise'

Die Renaissance des Druidentums

Die Esoterik der Edda

Quellen der nordischen Mythologie

Der Weltenbaum Yggdrasil

Die Runen – ein Mysterienweg

Baldurs Tod und Götterdämmerung

Thule – Lichtheimat des Nordens

Die Externsteine

Eine uralte Mysterienstätte

Naturkunstwerk Externsteine

Osning – der heilige Asenwald

Geomantie der Externsteine

Eine Sonnenkult-Kraftlinie

Beschreibung der 5 Hauptfelsen

Armins Aufstand gegen Rom

Karls Kampf gegen die Sachsen

Wem gehören die Exsternsteine?

Griechische Mysterienreligionen

Ursprünge der griechischen Mysterien

Die Demeter-Mysterien von Eleusis

Die Mysterien von Samothrake

Die Orphischen Mysterien

Pythagoras – Künder ewiger Harmonie

Die Esoterik in der Philosophie Platons

Etrurien und Rom

Das Geheimnis der Etrusker

Numa – Magier und Priesterkönig

Orakelwesen und Zukunftsschau

Spätrömische Sonnenkulte

Die Mithras-Mysterien

Vom Mithras-Kult zum Christentum

Gnosis im Abendland

Erscheinungsformen der Gnosis

Kosmologie und Erlösungsweg

Eine gnostische Weltreligion

Die Mission des Bogomilentums

Die Bewegung des Katharismus

Der Kreuzzug gegen die Katharer

Der Gralsimpuls

Hintergründe der Artussage

Das Mysterium der Tafelrunde

Merlin – ein keltischer Eingeweihter

Wolfram von Eschenbachs Parcival

Das Gralsgeheimnis nach Trevrizent

Ein Exkurs über die Lohengrin-Sage

Die Quellen der Gralserzählung

Die Hermetik / Alchemie

Das Doppelgesicht der Alchemie

Die Tabula Smaragdina

Wer war Hermes Trismegistos?

Die hermetischen Schriften

Die hermetische Philosophie

Die Mystik der Kabbala

Magie der Renaissance

Agrippa von Nettesheim – der Urfaust

Das spätmittelalterliche Faustbuch

John Dee – Mathematiker und Magier

Robert Fludd – der erste Rosenkreuzer

Esoterische Freimaurerei

Preußen unter den Rosenkreuzern

Hermetische Freimaurerei

Cagliostro – ein Rätsel für seine Zeit

Saint-Germain – Magier und Adept

Die Zauberflöte – ein Mysterienspiel

Das Rosenkreuzertum

Ursprünge des Rosenkreuzertums

Die Chymische Hochzeit

Paracelsus von Hohenheim

Die Komosophie Jakob Böhmes

Goethes Rosenkreuzertum

Goethe als Esoteriker

Goethes spirituelle Naturwissenschaft

Goethes esoterisches Menschenbild

Das Göttliche und die Götter

Goethes metaphysischer Titanismus

Das spirituelle Amerika

R. W. Emerson – der Nonkonformist

H. D. Thoreau – der Verweigerer

Walt Whitman – Mystik der Grashalme

Die moderne Theosophie

Helena P. Blavatsky und ihr Werk

Grundgedanken der Geheimlehre

Die Anthroposophie Rudolf Steiners

Weltwendezeit

Das Kommen eines Neuen Äons

Paradigmenwechsel in der Physik

Integrales Bewusstsein nach Gebser

Spirituelle Evolution nach Aurobindo

Das Gottmenschentum Solowjefs

Entwicklung zum Punkt Omega

Anmerkungen und Zitate

Bildnachweis

Das Licht des Westens

Gottes ist der Orient!

Gottes ist der Okzident!

Nord- und südliches Gelände

Ruht im Frieden seiner Hände.

Johann Wolfgang Goethe1

Ex Oriente Lux – aus dem Osten kommt das Licht, nämlich das klare Licht der Gotterkenntnis: dieser Grundsatz galt nahezu uneingeschränkt für den weisheitssuchenden Abendländer, seitdem das religiöse Wissen Indiens und Tibets dem Westen zugänglich gemacht wurde. Die im 19. Jahrhundert entstandene westliche Theosophie, aus der später die Anthroposophie Rudolf Steiners hervorging, hat wesentlich dazu beigetragen, indische Weisheit in den westeuropäischen Ländern bekannt zu machen, und zwar in einer Form, die der Bewusstseinslage des modernen europäischen Menschen entspricht. Der Hinduismus, die traditionelle Hindu-Religion, musste von Aberglauben, üppig wuchernden Mythologien und unverständlichen Bräuchen gereinigt und auf wenige Grundwahrheiten zurückgeführt werden, die für jeden nach Religion Strebenden verbindlich sein müssen. Die Theosophische Gesellschaft, die im Jahre 1875 von Helena Blavatsky (1831–1891) und Henry Olcott (1832–1907) begründet wurde, steht am Beginn jener großen westöstlichen Kulturbegegnung, die man heutzutage etwas schlagwortartig als Ost-West-Synthese bezeichnet.

Die Bedeutung der morgenländisch-asiatischen Spiritualität für Europa, ja für die Menschheits-Entwicklung soll in keiner Weise geschmälert werden. Asien besitzt zweifellos eine äußerst reichhaltige Tradition spirituellen Wissens, vom indischen Brahmanismus bis zum japanischen Zen-Buddhismus, und der moderne Europäer blickt oftmals mit Neid auf die tiefe Religiosität des Ostens. So notierte etwa Hermann Hesse schon 1914 in einem seiner Briefe: »Der ganze Osten atmet Religion, wie der Westen Vernunft und Technik atmet. Primitiv und jedem Zufall preisgegeben scheint das Seelenleben des Abendländers, verglichen mit der geschirmten, gepflegten, vertrauensvollen Religiosität des Asiaten, er sei Buddhist, Mohammedaner oder was immer.«2 In Europa waren die Romantiker wohl die Ersten, die sich dem indischen Geistesleben bewusst zuwandten; schon 1823 übersetzte Friedrich von Schlegel die Bhagavad Gita, den heiligen Epos Indiens, ins Lateinische. Und der Philosoph Schopenhauer, der große Pessimist, sagte von den Upanishaden: »Es ist die belohnendste und erhebenste Lektüre, die in der Welt möglich ist. Sie ist der Trost meines Lebens gewesen und wird der meines Sterbens sein.«3

Europa und Indien, diese beiden Subkontinente der gewaltigen eurasischen Landmasse, seit urgeschichtlicher Zeit miteinander verbunden durch den Strom der indogermanischen Völkerwanderungen, stellen kulturell wie auch spirituell zwei sich ergänzende Pole dar. Von beiden Polen aus gibt es einen Weg zu Gott. Es gibt einen indischen, aber auch einen europäischen Weg der geistigen Befreiung und der Gotterkenntnis. Der anfangs zitierte bekannte Satz Ex Oriente Lux, Aus dem Osten kommt das Licht, muss daher in seiner Geltung eingeschränkt werden. Nicht aus dem Osten kommt das Licht der spirituellen Erkenntnis, sondern aus uns selbst; wir müssen Indien, das geistige Indien, die verlorene Lichtheimat in uns selbst wiederentdecken – als die terra incognita unserer Seele.

Heutzutage spricht man vor allem in Kreisen der New-Age-Bewegung recht viel von der Ost-West-Synthese als einer weltweiten Konvergenz des Geistes, die auf dem Gebiet der Religion und Philosophie westliche und östliche Geistigkeit zu einer höheren Einheit verbinden soll. Eigentlich sollte man jedoch eher von einer Ost-West-Symbiose sprechen im Sinne einer wechselseitigen geistigen Befruchtung von Europa und Asien; zur Einheit verschmelzen können West und Ost jedoch nicht. Denn die westliche und die östliche Sinnesart sind, obgleich sie doch beide das Göttliche anstreben, grundverschieden. Der indische Yoga-Weg, die buddhistische Schulung, die japanische Zen-Meditation, sie alle haben ihre tiefe Bedeutung und Berechtigung, aber sie sind nicht eigens für den Westmenschen gemacht worden, und sie sollen auch nicht vom Westmenschen einfach nachgeahmt werden. Die Begegnung mit der morgenländisch-asiatischen Spiritualität kann den Westmenschen jedoch dazu anregen, seine eigene kulturelle Identität wiederzugewinnen: sich das verloren gegangene geistige Erbe des Abendlandes neu bewusst zu machen.

In diesem Sinne hat Rudolf Steiner (1861–1925), der selbst ursprünglich aus den Reihen der Theosophischen Gesellschaft kam, den Hauptunterschied zwischen östlicher und westlicher Geistigkeit wie folgt dargestellt: »Der Ostmensch sprach von der Sinnenwelt als dem Schein, in dem auf geringere Art lebt, was er in vollgesättigter Wirklichkeit in seiner Seele als Geist empfand; der Westmensch spricht von der Ideenwelt als dem Schein, in dem auf schattenhafte Art lebt, was er in vollgesättigter Wirklichkeit mit seinen Sinnen in der Natur empfindet. Was sinnliche Maja dem Ostmenschen war, ist sich selbst tragende Wirklichkeit dem Westmenschen. Was seelisch erbildete Ideologie dem Westmenschen ist, war sich selbst schaffende Wirklichkeit dem Ostmenschen. Findet der heutige Ostmensch in seiner Geist-Wirklichkeit die Kraft, um der Maja die Seinsstärke zu geben, und findet der Westmensch in seiner Natur-Wirklichkeit das Leben, um in seiner Ideologie den wirkenden Geist zu schauen: dann wird Verständigung kommen zwischen Ost und West.«4

In geistiger Hinsicht bedeutet das Indertum die Fähigkeit, das Bewusstsein zurückzuwenden in das eigene Innere, Innenschau und Kontemplation zu üben, eine Fähigkeit, die im Zyklus der Tierkreiszeichen vertreten wird durch das Zeichen Krebs. Die Weltalter-Astrologie, wie wir sie etwa bei Ernst Künkel, Das Große Jahr (1922) dargestellt finden, bringt daher auch den Anfang der urindischen Kultur mit dem Krebs-Weltzeitalter (etwa 8550 bis 6450 v. Chr.) in Verbindung. Die Inder sind ihrem Ursprung und ihrer inneren Anlage nach die Pioniere auf dem Gebiet der Innenwelt-, Seelen- und Bewusstseinsforschung. Mit dem klassischen Yoga, nach den Yoga-Sutras des Patanjali, wurde ein umfassendes System der Seelenschulung entwickelt.

Das geistige Europäertum stellt hierzu deutlich einen Gegenpol dar. Das Europäertum, das ist ja gerade der Tat-Impuls, der Weg der aktiven Weltgestaltung, der auf der Ebene der Tierkreiszeichen dem feurigen Zeichen des Widder entspricht, jenem Zeichen, unter dem vor Jahrtausenden die Indogermanen den heute als Europa bekannten Erdteil in Besitz nahmen. Geschichtlich gehen die Ursprünge der europäischen Hochkulturen in das Widder-Weltzeitalter (etwa 2250 bis 50 v. Chr.) zurück. So kann man also sagen: Der Inder orientiert sich mehr an der Innenwelt, der Europäer dagegen eher an der sinnlich erfahrbaren Außenwelt. Hieraus ergeben sich nun zwei ganz verschiedene Welthaltungen:

Der Weg des Ostens in religiöser Hinsicht bestand eigentlich schon immer darin, die Sinnenwelt als bloßen Schein zu entlarven und die jenseits des Sinnlichen liegende Gott-Wirklichkeit zu ergreifen. Der westliche Weg dagegen betrachtet die Sinnenwelt als ganz und gar real, will sie jedoch auch transparent machen für die Schau der ihr innewohnende Gott-Wirklichkeit. Während der Heilsweg des frommen Ostmenschen darin liegt, sich aus der Welt schrittweise zurückzuziehen, so sieht der spirituelle Westmensch seine Berufung gerade in der aktiven Weltgestaltung aus der Kraft göttlichen Bewusstseins. Das Göttliche soll also in der Welt Gestalt annehmen; die materielle Erdenrealität ist keineswegs bloße Maja, ein Reich der Illusion und der Täuschung, sondern vielmehr ein Ort der Bewährung; die Inkarnation des Menschen im Reich der Materie ist keine Strafe gefallener Seelen, sondern eine Aufgabe und Prüfung, die spirituelle Höherentwicklung ermöglicht.

Seiner wahren Erdenaufgabe kann der Mensch auch nicht dadurch gerecht werden, dass er in unbewusste Trance- und Traumzustände zurückfällt, sondern nur dadurch, dass er die im Westen bereits erreichte Bewusstseinswachheit steigert in Richtung eines göttlich-transzendenten Überbewusstseins. Wahre Einweihung kann nur darin liegen, den Menschen zu seinem höheren Geistes-Ich hinzuführen. Damit dies geschehen kann, musste zunächst einmal im Menschen ein Ich-Bewusstsein, ein individueller Persönlichkeits-Kern vorhanden sein. Deshalb bestand der weltgeschichtliche Auftrag des Westens darin, das Persönlichkeits-Prinzip herauszubilden, während der Heilsweg des Ostens umgekehrt auf Entpersönlichung hinzielt; das Endziel ist das Aufgehen des personalen Ichs im amorphen Schoß der Weltenseele, nenne man sie nun das Brahma, das Nirvana oder wie auch immer.

Besonders deutlich tritt die Persönlichkeits-Verneinung des Asiatentums in den Predigten Buddhas zutage5, in denen das personale Ich des Menschen geradezu als eine Illusion gekennzeichnet wird – das Ziel des Heilsweges im Buddhismus besteht nur noch darin, das Rad der Wiedergeburten aufzuhalten, sich der leidbehafteten Diesseits-Welt (samsara) zu entwinden, um schlussendlich wieder einszuwerden mit dem amorphen göttlichen Urgrund aller Dinge (nirvana). Und diese Sichtweise kommt auch nicht von ungefähr. Die morgenländisch-asiatischen Seelenschulungen sind ja immer schon mit einer Weltanschauung einhergegangen, die nur das Geistige als real anerkennt; die Materie erscheint dem Geist gegenüber als das Nicht-Seiende schlechthin, als Illusion, als Maja-Schleier.

Demgegenüber hat der Westen im Verlauf seiner Kulturentwicklung einen anderen Weg beschritten. Der Westen hat sich tief in das Reich der Materie hineinbegeben, ja noch mehr, er hat sich im Materiellen verloren, so wie der Osten sich im Geistigen verloren hatte. Auf den genialen Esoteriker Platon folgte der nüchterne Skeptiker Aristoteles; auf den geistigen Höhenflug der mittelalterlichen Mystik folgte der verstandesscharfe Aufklärer Kant, der Zertrümmerer aller Metaphysik. Im Westen hatte sich seit dem so genannten »Universalienstreit« im hohen Mittelalter, der mit dem Sieg des Nominalismus über den Universalismus endete, eine Weltanschauung durchgesetzt, die nur noch die sinnlich erfahrbaren Tatsachen als tatsächlich existierend annimmt. Das Geistige verblasst gegenüber dem allgegenwärtigen Materiellen; es tritt in den Hintergrund: nur noch schattenhaft, wie eine Schimäre, gelangt es ins Blickfeld.

So kam es denn im Lauf der Menschheits-Entwicklung dazu, dass das Indertum immer mehr in einen weltentrückten Spiritualismus, das Europäertum dagegen immer tiefer in einen (theoretischen wie auch praktischen) Materialismus absank. Europa hatte zwar den Auftrag des Weltwirkens, aber es hätte ein Weltwirken aus dem Geist sein sollen; da Europa aber mindestens seit der frühen Neuzeit keine geistigen Werte mehr besaß, konnte sein Weltwirken nur noch ein rein imperialistisches und kolonialistisches sein. Im Jahre 1492, zu Beginn der europäischen Neuzeit, gelangte Christoph Columbus nach Amerika, und wenig später entdeckte der Portugiese Vasco da Gama den Seeweg nach Indien. In der Folgezeit errichteten die seefahrenden Nationen Europas, die Spanier und Portugiesen, die Holländer, Engländer und Franzosen, gewaltige überseeische Kolonialreiche; ganze Erdteile wurden von ihnen unterjocht und ausgeplündert. Und mit dem Anwachsen des aus allen Erdteilen geräuberten Reichtums wuchs den Europäern zugleich auch die innere Armut, die spirituelle Bedürftigkeit. Denn es gibt ein Gut, das durch Geld nicht aufzuwiegen ist, nämlich wahre Religion im Sinne von religio: Rückbindung an das Geistig-Göttliche.

Nur ein geistig bankrottes, in den Materialismus abgesunkenes Europa konnte dahin gelangen, aus Mangel an eigener Spiritualität bei den Religionen des Ostens in die Schule gehen zu müssen! Der Versuch, bei fremden Kulturen Anleihen zu machen, anstatt aus dem Eigenen zu schöpfen, weist hin auf eine tiefgreifende Kulturkrise: Europa hat seine innere Mitte verloren! Ein Kennzeichen hierfür ist es auch, dass immer weitere Kreise in den westlichen Ländern irgendwelchen neo-indischen Pseudo-Gurus und Sekten-Stiftern hinterherlaufen. Was nützt uns denn die Pilgerfahrt in das geographische Land Indien, solange wir nicht das Seelenland Indien in uns selbst gefunden haben – solange wir nicht mit uns selbst identisch geworden sind? Zu solcher Identität mit sich selbst gehört auch die bewusste Verwurzelung im eigenen Kulturgrund. Wir Europäer, wir sind abendländische Seelen; wir können aber auch das geistige Indien in uns erwecken. Genau dies würde echte Ost-West-Symbiose bedeuten!

Es ist bezeichnend, dass gerade im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder große Wellen der Indien- und Asien-Begeisterung durch das europäische Geistesleben hindurchgegangen sind – in Deutschland wohl zuerst im Rahmen der Romantik (Friedrich Rückert vor allem, der meisterhafte Übersetzer morgenländischer Weisheitsliteratur), dann noch einmal in den 1920er Jahren, zuletzt in unmittelbarer Vergangenheit im Zusammenhang mit der New-Age-Bewegung. Europa, das faustisch nach den Sternen gegriffen hat, dabei aber seiner inneren Mitte verlustig ging, sucht sein Heil im »Licht des Ostens«, wenn nicht im indianischen Schamanismus oder in irgendeiner okkulten Magie. Ein Weg aus der tiefgreifenden Kulturkrise des modernen Europa wird damit jedoch nicht gewiesen. Schon im Jahr 1930 schrieb Carl Gustav Jung: »Wir müssen vielmehr lernen zu erwerben, um zu besitzen. Was der Osten uns zu geben hat, soll uns bloße Hilfe sein bei einer Arbeit, die wir noch zu tun haben. Was nützt uns die Weisheit der Upanishaden, was die Einsichten des chinesischen Yoga, wenn wir unsere eigenen Fundamente wie überlebte Irrtümer verlassen und uns wie heimatlose Seeräuber an fremden Küsten diebisch niederlassen.«6

In dem Maße also, in dem wir den Geist Indiens in uns aufnehmen, müssen wir auch das verloren gegangene esoterische Wissen Europas neu erschließen. Es gab auch in unserem Erdteil Mysterienschulen und Eingeweihte; es gab auch im Abendland eine verborgene Tradition spirituellen Wissens7, und an diese gilt es in zeitgemäßer Weise anzuknüpfen. Als Westmenschen können wir nur dann das Geistige Indien in uns erwecken, wenn wir es verstehen, uns in jenen lebendigen Strom europäischen Geistes hineinzustellen, der aus der Wesensmitte unserer Kultur fließt.

Wer sich mit den heiligen Ursprüngen der Menschheit befasst, der wird übrigens feststellen, dass die ältesten Wurzeln europäischer wie auch indischer Geistigkeit auf denselben Ursprung zurückgehen, dass sie einmünden in eine gemeinsame Urwurzel. Ost und West waren im Ursprung noch vereint; die vedische Religion Altindiens war indogermanisch, und sie kam aus Europa. Man könnte den eingangs zitierten Satz sogar umkehren und sagen: Ex Occidente LuxAus dem Westen kam das Licht! Erst im späteren Verlauf der Kulturentwicklung hat sich Europa, als der westliche Ausläufer Eurasiens, immer mehr in einen krassen Materialismus verrannt, während Indien als die südliche Spitze des eurasischen Riesenkontinents immer mehr in einen weltentrückten Spiritualismus absank. Angesichts einer solchen Welttrennung konnte der britische Dichter Rudyard Kipling sagen: East is East and West is West – they never will meet.

Der Materialismus hat sich als eine Sackgasse erwiesen, und der Spiritualismus bietet kein Heilmittel dagegen. Gerade heutzutage, wo sich auf vielen Gebieten des geistigen Lebens der Beginn eines neuen geisterfüllten Weltäons ankündigt, kommt es mehr denn je darauf an, »Geist« und »Materie« als zwei gleichermaßen reale Seiten derselben übergeordneten Einheit zu erkennen. Also eine ganzheitliche Weltsicht muss errungen werden; so lautet das Gebot der neuen Zeit. Es könnte in vielleicht nicht allzu ferner Zukunft zu einer echten indisch-europäischen Symbiose kommen, aus der ein neues ganzheitliches Weltbewusstsein erwachsen kann, eine nicht weltverneinende, sondern dem Kosmos verbundene Spiritualität. Eine solche Zukunfts-Symbiose würde nicht Verschmelzung, sondern wechselseitige Befruchtung von West und Ost bedeuten. Untrennbar wäre sie verbunden mit einer Rückbindung an die jeweils eigene Kultur mit ihren spirituellen Traditionen.

Ex Occidente Lux! Ich möchte in den Kapiteln dieses Buches nicht das warme, uns so vertraute, manchmal auch etwas schillernde »Licht des Ostens« aufscheinen lassen, sondern das kühle fahle Licht, das aus dem Westen kommt. Es wird uns zunächst vielleicht etwas fremdartig erscheinen, dieses Licht des Westens, doch dann wird es uns plötzlich als etwas Urvertrautes aufscheinen, wie längst Gewusstes, das wieder ins Bewusstsein eintritt…

Urheimat Atlantis

Golden war das Geschlecht der redenden Menschen, Das erstlich die unsterblichen Götter,

Des Himmels Bewohner, erschufen. Jene lebten,

Als Kronos im Himmel herrschte als König,

Und sie lebten dahin wie Götter ohne Betrübnis.

Hesiod1

Die Sage vom Goldenen Zeitalter

Atlantis, die Insel Avalon, die Gärten der Hesperiden, das Paradies, der Garten Eden, das Goldene Zeitalter – Urerinnerungen der Menschheit sprechen noch heute aus diesen mythischen Namen zu uns. Sie bezeichnen einen Urzustand des vollkommenen Glückes und Friedens, in dem der Mensch noch ganz im Einklang mit dem Göttlichen lebte. Die Menschen dieses längst verklungenen Zeitalters scheinen Halbgötter, Gottmenschen und Heroen gewesen zu sein; aber sie mussten im Laufe der Zeit einem anderen, weniger göttlichen Menschengeschlecht weichen. Der Dichter Hesiod (um 700 v.Chr.), ein Zeitgenosse Homers, stellte zuerst die Lehre von den drei Weltaltern auf, von einem Goldenen, Silbernen und Erzernen Zeitalter, wobei er das letztere mit seiner eigenen Zeit gleichsetzte. Die Aufeinanderfolge der Weltalter stellt eindeutig eine absteigende Linie dar, auf der sich der Mensch von seinem göttlichen Ursprung immer weiter entfernt.

Auch der römische Dichter Ovid (eigentlich Publius Ovidius Naso, 43 v. Chr. bis 17 / 18 n. Chr.) besingt das »Goldene Zeitalter«; er beschreibt es als ein Land, in dem die Menschen ohne Strafgesetze und Zwangsgewalt leben, wo ewiger Frühling herrscht, wo allerwärts milde Winde wehen und wo die Erde ganz von allein, ohne die Mühsal des vom Menschen betriebenen Ackerbaus, Feldfrüchte und reiche Ernte hervorbringt:

Ewig waltete Lenz, und sanft mit lauem Gesäusel

fächelten Zephirus Hauche die saatlos keimenden Blumen.

Bald gebar auch Feldfrüchte der ungeackerte Boden.2

Ganz ähnlich beschreibt viele Jahrhunderte später der Dichter Geoffrey of Monmouth in seiner Vita Merlini (um 1150) die Nebelinsel Avalon: »Die Apfelinsel wird auch die glückliche Insel genannt, weil sie alle Dinge aus sich selbst erzeugt. Die Äcker haben dort den Pflug nicht nötig, der Boden wird überhaupt nicht bebaut; es gibt nur, was die schaffende Natur aus sich selbst gebiert. Freiwillig schenkt sie dort Korn und Wein, und in den Wäldern wachsen die Apfelbäume in stets geschnittenem Grase. Aber nicht nur schlichtes Gras, sondern alles bringt der Boden in Fülle hervor, und hundert Jahre oder darüber währt dort das Leben. Neun Schwestern herrschen nach heiteren Gesetzen auf dieser Insel über alle, die aus unserem Lande dorthin gelangen.«3

Die irische Mythe von »Brans Meerfahrt« berichtet von den Zauberinseln Emain Ablach oder Ynys Affalach (Avalon), die weit draußen im Meer des Westens liegen; dort sollen paradiesische Zustände herrschen wie einst im Goldenen Zeitalter: »Es gibt eine Insel in weiter Ferne; um sie herum die prächtigen Rosse des Meeres; herrlicher Lauf gegen die schäumenden Wogen; eine Verzückung dem Auge, dehnt sich glorreich die Ebene, auf der die Heere sich regen im Spiel ... Anmutige Erde, gespannt über die Jahrhunderte der Welt, über die sich Blumen breiten ohne Zahl. Darauf steht ein alter Baum in Blüten, in seinen Wipfeln rufen die Vögel die Stunden ... Unbekannt die Klage oder der Verrat, der so bekannt ist auf der kultivierten Erde; nichts Schnödes oder Schroffes gibt es hier, stattdessen dringt sanfte Musik ans Ohr. Weder Leid, noch Trauer, weder Tod, noch Krankheit oder Siechtum, – daran erkennt man Emain, die Insel; selten wurde ein solches Wunder geschaut. Schönheit einer Erde voller Zauber, unvergleichlich sind ihre Nebel...«4

Die alten Griechen stellten sich ihr Paradies, das Elysium, wohl ähnlich vor; und sie setzten es gleich mit den fern im Westen liegenden »Inseln der Seligen«, auf denen die Hesperiden – nymphenhafte Geister des Westens – die Äpfel der Unsterblichkeit hüten. Dort befindet sich auch der Titan Atlas, der auf seinen Schultern das Himmelsgewölbe trägt, sodass man diese mythischen Inseln durchaus mit »Atlantis« in Verbindung bringen kann. Auch Hesoid spricht von »seligen Inseln«, die sich »am Rande der Welt« und »bei des Okeanos Strudeln« befinden sollen (der Okeanos ist der atlantische Ozean). Dort wohnt unter der Herrschaft des Kronos ein glückliches Geschlecht von Halbgöttern:

War ein göttlich Geschlecht von Helden,

und man benannte Halbgötter sie,

dies Vorgeschlecht auf unendlicher Erde;

Zeus, der Kronide, ließ sie hausen am Rande der Erde,

auch den Unsterblichen fern, und Kronos wurde ihr König;

und dort wohnen sie nun mit kummerentlastetem Herzen,

auf den seligen Inseln und bei des Okeanos Strudeln,

hochbeglückte Heroen; denn süße Frucht wie Honig

reift ihnen dreimal im Jahr die nahrungsspendende Erde.5

Wenn Hesiod die Bewohner der »seligen Inseln« ein »göttlich Geschlecht von Helden« nennt, dann spricht das Alte Testament der Bibel im Zusammenhang mit der Flutlegende davon, dass es vor der Sintflut »Gottessöhne« gegeben habe, welche die Frauen der Menschen ehelichten: »Zu der Zeit und auch später noch, als die Gottessöhne zu den Töchtern der Menschen eingingen und sie ihnen Kinder gebaren, wurden daraus die Riesen auf Erden. Das sind die Helden der Vorzeit, die hochberühmten« (1. Moses, 6/4). Kamen die halbgöttlichen Menschen der Vorzeit, von denen die Bibel, das Gilgamesch-Epos und die Sagen der Griechen übereinstimmend künden, aus dem Reich des Titanen Atlas, aus Atlantis? Lebt in dem Mythos vom »Goldenen Zeitalter« vielleicht eine Erinnerung an die Blütezeit der einstigen Altantis-Kultur?

Der Amerikaner Ignatius Donnelly vertrat jedenfalls die Ansicht, »dass Atlantis die wahre vorsintflutliche Welt war, der Garten Eden, die Gärten der Hesperiden, die Insel der Seligen, die Gärten des Alkinoos, der Olymp, das Asgard der Germanen ... und eine universelle Erinnerung an ein herrliches Land hinterließ, in dem die Menschheit im Frühstadium ihrer Geschichte lange Zeitalter hindurch in Glück und Frieden lebte«6. Das Problem liegt jedoch darin, dass diese vorsintflutliche Welt der Atlanter (wenn es sie denn je gegeben hat) keine materiell sichtbaren Spuren in der Geschichte hinterlassen hat, keine Monumente oder Bauanlagen, die man durch Grabungen wieder freilegen könnte. Das einstige Inselreich Atlantis liegt, wie es scheint, für immer begraben unter den Fluten jenes Ozeans, der noch heute nach ihm seinen Namen trägt. Keine Taucherexpedition, keine Echolotausmessung wird je diesen Schatz heben können. Deshalb wird das Thema »Atlantis« für die Archäologen, deren Forschungsarbeit auf Ausgrabungen beruht, immer ein ungelöstes Rätsel bleiben. Eine Lösung dieses Rätsels wird es erst dann geben, wenn irgendwann, und sei es in noch so ferner Zukunft, Teile von Atlantis aus dem Meer wiederauftauchen sollten. Schon der römische Dichter Seneca (gest. 65 n. Chr.) deutet in seiner Tragödie Medea an, dass eine Zeit käme, in der versunkene Kontinente aus dem Ozean wieder aufsteigen würden:

Es heißt, dass in späterer Zeit Jahrhunderte kämen,

In denen der Ozean die Bande der Dinge löst,

Da werde die ungeheure Weite der Welt offenstehen

Und das Meer neue Länder enthüllen

Und Thule nicht mehr das Ende der Welt sein.7

Und in dem großartigen Prophezeiungs-Gedicht, das unter dem Namen Völuspa oder Der Seherin Gesicht am Beginn der nordgermanischen Edda-Sammlung steht, lesen wir jenen verheißungsvollen Spruch, der gleichfalls das künftige Wiederaufauchen von Atlantis andeuten könnte:

Seh aufsteigen zum andern Male

Land aus Fluten, frisch ergrünend 8

Der Atlantis-Bericht Platons

Die Zahl der erschienenen Atlantis-Bücher geht in die Tausende, und die Bandbreite der Inhalte reicht von seriös-wissenschaftlicher Standard-Literatur wie Otto Mucks Alles über Atlantis9 über den theosophischen Klassiker Atlantis nach okkulten Quellen von W. Scott-Elliot10 bis hin zu reinen Phantasie-Romanen wie Das Licht von Atlantis von Marion Zimmer-Bradley11. Die ganze Legion der Atlantis-Literatur geht jedoch zurück auf eine einzige, nur wenige Druckseiten umfassende Schrift, die seit rund zweieinhalb Jahrtausenden die Gemüter der Ur- und Frühgeschichtsforscher bewegt hat; eine Schrift, die man ohne Zögern als den Klassiker der Atlantis-Literatur bezeichnen kann – auf den Dialog Kritias des griechischen Philosophen Platon (427–347 v. Chr.).

Platon, von Haus aus Spross einer vornehmen Athener Adelsfamilie, gründete im Jahre 387 v. Chr. seine eigene philosophische Schule. Seine zutiefst idealistische Lehre, geschöpft aus dem Quellborn alter griechischägyptischer Mysterienweisheit, pflegte er in Form von Gesprächen darzustellen, Dialoge zwischen dem von Platon als Lehrmeister verehrten Sokrates und seinen Schülern. Platon hat zahlreiche solcher Dialoge verfasst, oft Schriften von unvergleichlicher Poesie und sprachlicher Schönheit, am bekanntesten vielleicht die Schriften Symposion (Das Gastmahl) und Politeia (Der Staat) Mit dem Atlantis-Thema hat sich Platon nur ganz am Rande befasst; sein Timaios-Dialog, eigentlich naturphilosophischen Fragen gewidmet, enthält einen knappen Exkurs über dieses Thema, wogegen der unvollendet gebliebene Kritias-Dialog die Hauptquelle jeder Atlantis-Forschung darstellt. Beide Dialoge zählen zu den Altersschriften Platons.

Der Kritias-Dialog wiederholt im Grunde genommen nur den Wortlaut eines Gespräches, das der Weise Solon (640–561 v. Chr.) in Ägypten mit einem Priester der Göttin Neith geführt haben soll. Ägypten, das Land der Pyramiden und der Sphinxe, erweist sich somit als Hüterin der Atlantis-Tradition. Aufzeichnungen des Gespräches mit dem Neith-Priester sind in die Hände des Kritias gelangt, der seinen Bericht über Atlantis einleitet mit den Worten: »So vernimm denn, Sokrates, eine gar seltsame, aber durchaus in der Wahrheit begründete Sage, wie einst der Weiseste unter den Sieben, Solon, erklärte.«12

Wie eine seltsame Sage liest sich der von Platon verfasste Atlantis-Bericht in der Tat, und Generationen von Gelehrten haben schon darüber gestritten, ob es sich hierbei nur um eine von Platon erdichtete Fabel handelt oder um den authentischen Bericht über eine vor Jahrtausenden untergegangene Hochkultur. Die Überlieferungs-Kette geht jedenfalls über Platon, Kritias und Solon auf jenen unbekannten ägyptischen Neith-Priester zurück. Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass Platon nach dem Tod seines Lehrers Sokrates ausgedehnte Studienreisen unternommen hat, die ihn auch nach Ägypten führten, wo er vermutlich mit dem dortigen Priesterstand in Berührung kam. Möglicherweise hat er dort sogar die Urfassung des Atlantis-Berichtes einsehen können, jene geheimnisvollen Papyrusschriften, auf die sich der Priester der Göttin Neith im Gespräch mit Solon bezogen hat.

Noch ein späterer Schüler Platons, ein gewisser Krantor (330–275 v. Chr.), berichtet, dass er in Ägypten die Papyrusrollen eingesehen habe, die den von Platon wiedergegebenen Atlantis-Bericht im Original enthielten. Diese ägyptische Originalfassung befand sich aller Wahrscheinlichkeit nach in der Großen Bibliothek von Alexandria, dem damals weithin bekannten Zentrum antiker Gelehrsamkeit, das mit seinen rund 700.000 Buchrollen im Jahre 47 v. Chr. fast vollständig dem Raub der Flammen zum Opfer fiel. Es gab auch eine Kleine Bibliothek in Alexandria mit gut 40.000 Buchrollen, die im Jahr 272 n. Chr. vernichtet wurde. Welch einen unermesslichen Schatz an ägyptisch-antiker Weisheit hat die Feuersbrunst in Staub und Asche verwandelt!

Ob Platon mit seinem »Atlantis« vielleicht nur ein Phantasiegebilde geschildert hat, das wissen wir nicht. Eines aber ist sicher: Wenn Platons Atlantis in der beschriebenen Form tatsächlich bestanden hat, dann müsste man die Kulturgeschichte der Menschheit noch einmal neu schreiben, und zwar von Anfang an. Alle bisher gültigen Datierungen der Kupfer-, Bronze- und Eisenzeit müssten umgeworfen werden; alle Schulweisheit über die Anfänge menschlichen Kulturwerdens wäre ungültig. Denn wenn Platon recht hat, dann würde das bedeuten, dass es in Atlantis eine mit allen Raffinessen der Zivilisation vertraute Hochkultur gegeben hat, und zwar zu einer Zeit, als Europa noch im Dämmerlicht eiszeitlichen Höhlenmenschentums dahingelebt hat. Nach Platon sind die Atlanter die ersten Kolonisten, Besiedler, Pioniere und Kulturbringer Europas gewesen.

Zuletzt hätten sich die Atlanter entschlossen, die Ureinwohnerschaft Europas durch einen einzigen großen Heereszug zu unterjochen; allein der Untergang des atlantischen Inselreiches im Ozean setzte diesem ehrgeizigen Vorhaben ein rasches Ende: »Vor allem zuerst wollen wir uns erinnern, dass zusammengenommen 9000 Jahre verstrichen sind, seitdem, wie erzählt wurde, der Krieg zwischen den außerhalb der Säulen des Herakles und allen innerhalb derselben Wohnenden stattfand, von dem wir jetzt vollständig zu berichten haben. Über die einen soll unser Staat geherrscht und den ganzen Krieg durchgefochten haben, über die anderen aber die Könige der Insel Atlantis, von welcher wir behaupteten, dass sie einst größer als Asien [Kleinasien] und Libyen war, jetzt aber, nachdem sie durch Erdbeben unterging, die von hier aus die Anker nach dem jenseitigen Meere Lichtenden durch eine undurchdringliche, schlammige Untiefe fernerhin diese Fahrt zu unternehmen hindere...«13

Also zwei ganz deutliche Angaben – jenseits der Säulen des Herakles, der Meerenge von Gibraltar, die ja das Mittelmeer vom Atlantischen Ozean abtrennt; und größer als Asien und Libyen zusammengenommen. Mit Asien ist Kleinasien gemeint, die von Griechen besiedelte Westtürkei; und »Libyen« ist ein unmittelbar an Ägypten angrenzender Landstrich. Im Kritias-Dialog führt Platon aus, dass es auf der Insel Atlantis eine große, durch künstliche Bewässerungsanlagen furchtbar gemachte Ebene gegeben habe, die sich südlich der Hauptstadt weit ins Landesinnere erstreckt habe. Er nennt sie eine »von bis an das Meer herablaufenden Bergen umschlossene Fläche und gleichmäßige Ebene, durchaus mehr lang als breit, nach der einen Seite 3000 Stadien lang, vom Meere landeinwärts aber in der Mitte deren 2000 breit. Dieser Strich der ganzen Insel lief, nordwärts gegen den Nordwind geschützt, nach Süden«14. Da 1 Stadion, ein in der Antike übliches Längenmass, 192 Meter beträgt, war die »große fruchtbare Ebene« 576 km lang und 384 km breit. So gelangen wir auf Grund dieser Beschreibungen zu der Vorstellung einer Insel ungefähr von der Größe Irlands; es kann aber Irland nicht gemeint sein, denn der Bericht Platons beschreibt die Insel als dicht bewaldet, in den Niederungen sehr fruchtbar, aber auch von riesigen Gebirgen umringt. Diese Beschreibung passt auf die Landesnatur Irlands überhaupt nicht! Wir müssen daher ein tatsächlich untergegangenes Inselmassiv im zentralen Atlantik annehmen. Die meisten Atlantis-Forscher glauben seit Ignatius Donnelly dieses versunkene Eiland auf den Gipfelkämmen des Mittelatlantischen Rückens auf der Höhe der Azoreninselgruppe ansetzen zu können. Da diese Region des zentralen Atlantiks ausgesprochen vulkanreich ist, wäre ein Absinken eines größeren Landmassivs auf Grund vulkanischer Tätigkeit geologisch durchaus denkbar. Überdies befindet sich unterhalb des Mittelatlantischen Rückens die Nahtstelle zweier Kontinentalschollen, der eurasischen und der amerikanischen, die beständig auseinander driften!

Platon beschreibt genau Natur und Geschichte der Insel Atlantis – die Erlosung der Insel durch den Gott Poseidon; die Verteilung der Herrschaft an seine Söhne, das atlantische Königsgeschlecht; den überquellenden Reichtum der Insel; die Bewässerungsanlagen, die Hafenanlagen und die Hauptstadt mit ihrem weitläufigen Königspalast; auch die Natur des übrigen Landes, die Organisation des Heerwesens, die Regelung der Herrschaft, auf theokratische Weise durch 10 Könige, und die wichtigsten Gesetze.

Atlantis wird geschildert als eine jenseits der »Säulen des Herakles« liegende Insel, also jenseits der Meerenge von Gibraltar: ein mythisches Land im fernen Westen, Land des Sonnenuntergangs und damit auch Abendland im eigentlichen Sinne, Brückenkopf zwischen der Alten und der Neuen Welt, zwischen Europa und Amerika. Dieser Ort war gewissermaßen die symbolische Weltmitte, der Ort auch, wo die Weltensäule steht, die als Stützpfeiler des Sternenfirmaments Himmel und Erde miteinander verbindet. Dank ihrer strategisch einmalig günstigen Lage im Zentralatlantik konnte Atlantis ein überseeisches Handels- und Kolonialimperium gründen, das Teile sowohl Europas als auch des vorgeschichtlichen Amerika umfasste. Diesbezügliche Andeutungen finden sich auch bei Platon.

Lässt er doch den ägyptischen Neith-Priester an einer Stelle ganz deutlich sagen, dass es auch jenseits der Insel Atlantis Festland gäbe, »denn vor dem Eingange, der, wie ihr sagt, die Säulen des Herakles heißt, befand sich eine Insel, größer als Asien [Kleinasien] und Libyen zusammengenommen, von welcher den damals Reisenden der Zugang zu den übrigen Inseln, von diesen aber zu dem ganzen gegenüberliegenden, an jenem wahren Meere gelegenen Festland offenstand. Denn das innerhalb des Einganges, von dem wir sprechen, Befindliche erscheint als ein Hafen mit einer engen Einfahrt; jenes aber wäre wohl wirklich ein Meer, das es umgebende Land aber mit dem vollsten Rechte ein Festland zu nennen. Auf dieser Insel Atlantis vereinte sich auch eine große, wundervolle Macht von Königen, welcher die ganze Insel gehorchte sowie viele andere Inseln und Teile des Festlandes; außerdem herrschten sie auch innerhalb, hier in Libyen bis Ägypten, in Europa aber bis Tyrrhenien«15.

Die Kanarischen und Kapverdischen Inseln, die Antillen, Bahamas und die zahlreichen Inseln der Karibik müssen allesamt, der obigen Aussage zufolge, dem Einfluss- und Herrschaftsbereich der Atlanter angehört haben; das der Insel Atlantis »gegenüberliegende Festland« kann nur – Amerika sein! Wenn wir also Genaueres über die untergegangene Atlantis-Kultur erfahren möchten, so müssen wir die Parallelen oder Ähnlichkeiten zwischen der ägyptisch-abendländischen Kultur und den Indianer-Kulturen Alt-Amerikas ausfindig machen. Solche Ähnlichkeiten lassen eventuell eine ehemals vorhandene gemeinsame Mitte erkennen.

Als besonders deutliche Ähnlichkeit fällt nicht nur die Entsprechung gewisser Mythen bei den Bewohnern der Alten und der Neuen Welt ins Auge, sondern auch die Existenz einer Ur-Sonnenreligion, die sich unter dem Wahrzeichen der Pyramide bei den Ägyptern wie auch bei den Azteken feststellen lässt; sie lag offensichtlich auch den großen Steinbauten der nord- und westeuropäischen Megalithkultur zugrunde. Waren die Atlanter das »Volk der Sonne«, ihr ausgedehntes Handelsimperium das »Weltreich des Sonnengottes«? Charles Berlitz, ein Autor, der sich viel mit den Geheimnissen des atlantischen Ozeans beschäftigt hat (unter anderem auch mit dem Bermuda-Dreieck), schreibt: »Als ein kulturelles, zoologisches, botanisches und anthropologisches 'fehlendes Bindeglied' zwischen der Alten und der Neuen Welt liefert Atlantis (oder eine einstige atlantische Landbrücke) eine derart einleuchtende Erklärung so vieler bisher ungeklärter Fragen, dass man mit Voltaire sagen möchte: Falls Atlantis nicht existiert hätte, müsste man es erfinden.«16

Atlantis also als das missing link (das fehlende Bindeglied) zwischen Europa und Amerika, und zwar nicht nur geisteswissenschaftlich-mythologisch betrachtet, sondern auch konkret geologisch im Hinblick auf die jüngere Erdgeschichte – dieser Ansatz scheint der richtige zu sein, wenn auf die Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Atlantis-Mythos einigermaßen zufriedenstellend geantwortet werden soll. Deshalb möchte ich zunächst einmal das geologische missing link, die einstige atlantische Landbrücke, ausfindig machen; zu diesem Zweck muss die Bodenlandkarte des atlantischen Ozeans betrachtet werden. Versuchen wir also, Atlantis geographisch zu orten; erst wenn eine solche Ortung im Koordinatensystem der Raum-Zeit-Welt erfolgte, kann über die mutmaßliche Religion, Esoterik und Spiritualität der Atlanter gesprochen werden.

Atlantis – geologisch betrachtet

Atlantis, Lemuria, Hyperborea – so lauten die Namen jener längst versunkenen Urkontinente, die als Erbe aus den urfernen Vergangenheiten des Erdaltertums noch am Beginn des Tertiär-Zeitalters in voller Ausdehnung bestanden haben. Erst im Laufe des Quartärs und seiner vier Eiszeiten mussten diese Landmassen dem Druck gewaltiger Katastrophen und Kataklysmen weichen, bis sich in etwa die heutige Kontinentalgestalt der Erde herausbildete. Die drei Urkontinente wurden teils von neuem Land überlagert, teils wurden sie von Meeresfluten überschwemmt; neue Gebirgskämme erhoben sich und alte Gipfelhöhen versanken in die Tiefen des Meeres.

Innerhalb der letzten 4 Milliarden Jahre war die äußere Erdgestalt mehrfach grundlegenden Änderungen unterworfen. Die von Alfred Wegener aufgestellte Kontinentaldrift-Theorie betrachtet die Kontinente als Abspaltungen eines einheitlichen Urkontinentes namens Pan-Gaia. Nun wissen wir nicht, wann und wie lange Pan-Gaia bestanden hat; jedenfalls bestehen schon in kambrischer Zeit (also am Beginn des Erdaltertums) mehrere, unabhängig voneinander driftende Kontinentalkomplexe, und zwar im Wesentlichen zwei: ein eurasisch-nordatlantisch-amerikanischer und ein südatlantisch-afrikanisch-pazifischer Kontinent. Zwischen beiden in etwa parallel verlaufenden Kontinentalmassen lag das Tethysmeer. Bis in das Erdmittelalter hinein, die von Sauriern beherrschte Trias-, Juraund Kreidezeit, bleibt diese Kontinentverteilung im Wesentlichen bestehen. Der tonnenschwere Dinosaurier graste in den Sümpfen Lemuriens und des Nordatlantik-Kontinents; der Ichthosaurier jagte in den Fluten des Tethysmeeres.

Mit dem Tertiär beginnt das große Zeitalter der Säugetiere. Neue Kontinentalverhältnisse bilden sich heraus; die Parallelität der Kontinente verläuft nun nicht mehr in west-östlicher Richtung, sondern in nord-südlicher. Edgar Dacque, der wohl als ein namhafter Forscher gelten darf, schreibt hierüber: »Mit dem Ende der Kreidezeit und dem Beginn des Tertiär stellen sich rascher und rascher die der heutigen Landverteilung nahe kommenden Verhältnisse her. Der große Südkontinent ist ganz zerlegt und vielfach ist in die übrig gebliebenen, heute wieder festländischen Teile (z. B. Afrika) sogar Meer eingedrungen. Ebenso sind die Nordlandmassen, wenigstens im atlantischen Gebiet, sehr stark vom Meere überflutet. Schon in der letzten Hälfte der Kreidezeit hatte sich Westafrika von dem südamerikanischen Land merklich getrennt. Es blieb zwar atlantischozeanisches Land zwischen der alten und der neuen Welt noch bestehen (Atlantis), aber auch der amerikanische Kontinent wurde immer mehr isoliert, sozusagen der europäisch-afrikanischen Welt durch den immer mehr sich ausprägenden Atlantik fernergerückt.«17

Image

Es besteht Grund zu der Annahme, dass Kontinent-Reste des noch aus dem Paläozoikum stammenden eurasisch-nordatlantisch-amerikanischen Großkontinents im Tertiär- und Quartär-Zeitalter noch existiert haben. Gleichfalls gab es eine Landverbindung zwischen dem südatlantischen Restkontinent, dem südlichen Afrika und Indien: Lemurien, benannt nach einer Gattung von Halbaffen, die noch heute auf der Insel Madagaskar vorkommen. Atlantis und Lemurien, soweit sie in der Erdneuzeit noch bestanden, stellen die trümmerhaften Reste der beiden paläozoischen Großkontinente dar! Das einst zwischen ihnen liegende Tethysmeer ist längst entschwunden; an seine Stelle trat das Mittelmeer. Ferner gab es bis in die geologisch jüngste Zeit hinein eine Landbrücke zwischen Skandinavien, Island und Grönland, die auch die Britischen Inseln und Irland umfasste: Hyperborea, das Urland des Nordens, das allerdings während der Eiszeiten des Quartärs größtenteils von polarem Packeis bedeckt war.

Der Untergang von Atlantis wird auf eine bestimmte Zeit datiert: Platon lässt in seinem Kritias-Dialog den ägyptischen Priester sagen, »dass zusammengenommen 9000 Jahre verstrichen sind, seitdem, wie erzählt wurde, der Krieg zwischen den außerhalb der Säulen des Herakles und allen innerhalb derselben Wohnenden stattfand