Inhaltsverzeichnis

Vorwort
„Träume im Kopf, Sturm auf den Straßen“
Die späten Sechzigerjahre sind ohne Vietnam und den Furor der Rockszene nicht vorstellbar
„Wir schrien unsere Wut heraus“
Die Attentate auf Benno Ohnesorg, Martin Luther King und Rudi Dutschke und ihre Folgen
„Ein körperliches Gefühl der Niederlage“
Den Protestbewegungen in den USA und Europa schwindet die Zuversicht
Rudi, ein deutsches Märchen
Der Apo-Führer Rudi Dutschke
„Muff unter den Talaren“
Der Aufstand an den Universitäten
Der Robespierre von Bockenheim
Der SDS-Chefideologe Hans-Jürgen Krahl
„Eine schlagkräftige sexuelle Aktion“
Kommunen und die linke Lebensreform von 1968
Ein Scharlatan aus Einsamkeit
Der Psycho-Doktor Wilhelm Reich
„68 - eine Art von Erbschaftsverweigerung“
Der Aufstand gegen die Väter
„Quer zu allen deutschen Traditionen“
Verdrängung und die Folgen des Revolte-Jahres '68
„Misstrauen gegen jede Form von Autorität“
Was von 1968 übrig blieb
Impressum
Einleitung

Vorwort

1968 war das Jahr der Anti-Vietnamkrieg-Proteste und der Bürgerrechtsbewegung in den USA, Robert Kennedy und Martin Luther King wurden erschossen. Deutsche Studenten rebellierten gegen den „Muff von tausend Jahren“ in Universität, Staat und Gesellschaft, der Studentenführer Rudi Dutschke erlitt durch ein Attentat lebensgefährliche Verletzungen, es folgten Straßenschlachten zwischen Studenten und der Polizei in Berlin und anderen Städten der Bundesrepublik. 
1968 war ein Jahr weltweiter Autoritätserschütterung, und es ist, speziell in Deutschland, zum Signum einer Jugend- und Protestbewegung geworden, zur historischen Kennziffer einer Generation, deren antiautoritärer, revolutionärer Drang und Sturm nicht ans Endziel kam, deren Träume und Ideen, Gefühle und Aktionen – Irrtümer inbegriffen –, dennoch die Gesellschaft verändert und vorangebracht haben. 
Ein Team von SPIEGEL-Autoren konnte 1988 in einer Serie von Beiträgen die Jugendrevolte, ihre Vorgeschichte, ihre weltweiten Zusammenhänge und ihre Nachwirkungen nicht nur aus der Distanz journalistischer Beobachtung, sondern auch aus den Erfahrungen engagierter Zeitgenossenschaft und persönlicher Bekanntschaft mit vielen 68er-Aktivisten kompetent beschreiben. So etwa Wilhelm Bittorf, der damals Fernsehfilme drehte und an der Berliner Filmhochschule lehrte; so etwa Rolf Rietzler, damals Doktorand der Geschichtswissenschaft an der Universität Hamburg; so etwa Harald Wieser, damals Mitherausgeber der Links-Zeitschrift „Kursbuch“ und Rudi Dutschke auch als Tischtennispartner nahe; so etwa Peter Brügge, damals einer der wenigen Journalisten, die von den Berliner „Kommune I“ - und „Kommune II“-Mitgliedern als Gesprächspartner akzeptiert wurden, bei dänischen Kommunarden eine Zeitlang Wohngast.
Das komplexe Thema war unter vielen verschiedenen Aspekten darzustellen - von der Bedeutung der Rockmusik für den jugendlichen Aufbruch bis zu der des Vietnamkriegs, von den politischen und sozialen Theorien und Utopien, die die Protestbewegung antrieben, bis zu den lebensreformerischen Experimenten der Kommunen und Wohngemeinschaften, von den Folgen im Privaten bis zu denen für die Republik – sie beide in ihrer Wechselwirkung aufeinander waren das Thema eines Beitrags von SPIEGEL-Reporter Jürgen Leinemann. 
50 Jahre nach 1968 veröffentlicht DER SPIEGEL die Serie „Träume im Kopf, Sturm auf den Straßen“ von 1988 erneut in Form eines SPIEGEL E-Books. Die elf Beiträge erzählen dieses Schlüsseljahr und erklären es. Es ist Geschichte. Und immer noch Gegenwart.
SPIEGEL 14/1988

„Träume im Kopf, Sturm auf den Straßen“

SPIEGEL-Autor Wilhelm Bittorf über Jugendrevolution und Protestbewegung der sechziger Jahre (I)
Eine Panzerfaust reißt kurz vor drei Uhr früh ein gähnendes Loch in die Gartenmauer der Saigoner US-Botschaft. Ein Selbstmord-Kommando aus 19 jungen Rebellen taucht aus der Dunkelheit auf, erschießt die Wachtposten der US-Militärpolizei und verschanzt sich im Botschaftsgelände, als es ihm auch mit weiteren Panzerfaust-Schüssen nicht gelingt, in den schwerverbunkerten Betonbau der amerikanischen Mission, Machtzentrum Südvietnams, einzudringen. Es ist der 31. Januar 1968, zweiter Tag des vietnamesischen Neujahrsfestes „Tet“.
Einen Hubschrauber-Gegenangriff der Amerikaner vereiteln die Vietcong bis Tagesanbruch. Erst um neun Uhr früh liegen die Körper aller 19 verrenkt und tot zwischen den Blumenrabatten der Botschaft, sickert ihr Blut in den weißen Kies der Gartenwege. Aber zehntausend Meilen weit weg in Amerika bietet sich den Bürgern der mächtigsten Nation auf Erden schon zum Frühstück das bizarre Bildschirm-Spektakel, wie ihre eigenen Soldaten, von feuerspeienden Kampfhubschraubern unterstützt, das eigene US-Botschaftsterritorium stürmen müssen, um es von den Guerillas zu befreien.
Es ist nur der erste Schreck. Denn an diesem Morgen greifen Truppen der Volksbefreiungsfront, über 70 000 Mann insgesamt, simultan fast jeden wichtigen Stützpunkt der Amerikaner und fast jede Stadt in Südvietnam an. Aus dem Dschungel kommend, dringen sie völlig überraschend in 36 von 41 Provinzhauptstädten ein und setzen sich in ihnen fest. Gegen den schwachen Widerstand südvietnamesischer Regierungssoldaten erobern sie den großen Saigoner Stadtteil Cholon und - mit Verstärkung aus dem Norden - die ganze alte Kaiserstadt Hue. Sie robben sogar nahe genug an das Hauptquartier des US-Oberkommandierenden William Westmoreland heran, um dem General die Bürofensterscheiben zu zerschießen und ihn zum Rückzug in seinen Bunker zu zwingen.
„Wir beginnen 1968 in einer besseren Position, als wir sie je zuvor besaßen“, hat Robert Komer, der zivile Emissär des Pentagons in Vietnam, erst eine Woche vor der Tet-Offensive der Presse erklärt. Im zurückliegenden Jahr haben Komer und General Westmoreland mit Fleiß den Eindruck erweckt, die Rebellengefahr in Südvietnam selbst sei gewichen: US-Truppen hätten die „Congs“ aus den bevölkerten Gebieten in die Urwälder an der Grenze vertrieben. Nur von außen, von der Armee des roten Nordvietnam, würden die kleinen braunen Schützlinge Amerikas noch bedroht.
Jetzt aber stürzen sich Schwärme amerikanischer Kampfflugzeuge jaulend auf Südvietnams Städte wie auf Feindesland. Sie bombardieren die von Frauen und Kindern wimmelnden Wohnquartiere ihrer Schützlinge rücksichtsloser als je zuvor den Norden. In verzweifelten Scharen versucht die Bevölkerung ihren Beschützern zu entrinnen. Die Menschen fluten durch die verwüsteten Straßen, vorbei an feuernden Panzern der US-Armee, und schleppen ihre Verwundeten und Toten auf Rikschas und Handwagen mit sich fort.
Bilder vom Grauen des Tet, Bilder von dem Krieg, ohne den das Jahr des Aufruhrs, 1968, nicht hätte werden können, was es werden sollte: der schwarze GI, der mit blutüberströmtem Kopf vor einem alten Holzhaus kniet und blind nach seinen Kameraden sucht, ehe er zusammenbricht; das schreiende nackte Mädchen, das sich das brennende Kleid vom Leib gerissen hat; der Mann, der in einer Hand ein wenige Wochen altes Baby hält, dem die Haut in Fetzen herunterhängt.
Die Szene, wie der südvietnamesische Polizeichef Nguyen Ngoc Loan mitten in Saigon einem guerillaverdächtigen jungen Mann in Shorts und kariertem Sporthemd aus zehn Zentimeter Entfernung in den Kopf schießt, effektvoll postiert vor einer Fernsehkamera, die das Todeszucken des Getroffenen für die Abendnachrichten von NBC festhält.
Und der entsetzliche Geruch der verfaulenden Körper. Du hast ihn geschmeckt, wenn du deine Rationen gegessen hast, und es war, als ob du den Tod ißt.
Der Ledernacken-Offizier Myron Harrington hat das gesagt. Trinh Cong Son, ein einheimischer Dichter, der die Hölle von Hue überlebt, hat, dem Wahnsinn nahe, ein Gedicht gemacht:
Ich sah, ich sah, ich sah
Löcher und Gräben, gefüllt mit den
Leichen meiner Brüder und Schwestern.
Mütter, klatscht vor Freude
über den Krieg.
Schwestern, klatscht und rühmt
den Frieden.
Jeder klatsche nach Rache.
Jeder klatsche, statt zu bereuen.
Block für Block zermalmt Amerikas „firepower“ zweieinhalb Wochen lang die liebliche alte Kaiserstadt, Nationalsymbol für alle Vietnamesen. Und vor dem Schutt der vernichteten Provinzstadt Ben Tre, die in einer, so heißt es, „befriedeten Zone“ am Mekong liegt, spricht ein US-Major den zu Weltruhm prädestinierten Satz, der den Aberwitz des Vietnamkriegs auf den Punkt bringt: „Wir waren genötigt, die Stadt zu zerstören, um sie zu retten.“
Die Stoßwellen der Tet-Kämpfe umrunden den Globus. Verteidigungsminister Robert McNamara tritt zurück. Präsident Lyndon B. Johnson ist außerstande, die angeforderten Verstärkungen nach Südostasien zu schicken. Die Kriegskosten inflationieren den Dollar. Amerikas Goldschatz fließt ab.
Zwar bringt die Feuerwalze der US-Streitkräfte die Städte Südvietnams wieder unter Kontrolle - und sei es nur als Trümmerhaufen, als Leichenfeld. Doch um so heftiger erregt die Tet-Offensive den rebellischen Geist der jungen Generation überall im Westen.
Ich war außer mir vor Wut. Am meisten empörte mich, daß ein hochentwickeltes Land mit dieser supermodernen amerikanischen Armee sich auf diese vietnamesischen Bauern stürzt - über sie herfällt wie die Konquistadoren über Südamerika oder wie die weißen Siedler über die nordamerikanischen Indianer - Michael von Engelhardt, 1968 Student in Frankfurt.
In Vietnam werden auch wir tagtäglich zerschlagen, und das ist nicht ein Bild und ist keine Phrase - Rudi Dutschke am 17. Februar 1968 in Berlin.
Der Widerstand des vietnamesischen Volkes zeigte, daß es zu schaffen war - es war möglich, sich zu wehren. Wenn arme Bauern das konnten, warum nicht wir in Westeuropa, warum nicht die Opposition in Amerika? - Tariq Ali, ein Anführer der britischen „Solidaritätskampagne für Vietnam“.
Berlin darf nicht Saigon werden! - „Berliner Morgenpost“ am 19. Februar 1968.
Die adretten jungen Frauen auf dem Olivaer Platz am Kurfürstendamm sind trotz der schwierigen Nachkriegsjahre mit Liebe und Sorgfalt erzogen worden. Sie können studieren. Sie leben, von ihren Altersgenossen jenseits der Mauer beneidet, im „freiesten Staat, den es je auf deutschem Boden gab“, wie ihre Professoren an der Freien Universität ihnen immer wieder beteuern. Ginge es mit rechten Dingen zu, dann müßten die jungen Frauen die Freude ihrer Eltern und der Stolz ihrer Professoren sein. Aber was machen sie?
Sie sitzen rittlings auf den Schultern ihrer jungen Männer und schwenken in herausfordernder Manier befremdliche rotblaue Fahnen mit einem Fünfzack-Stern in der Mitte. Ja, sie schwenken die Rebellenfahne des Vietcong, der amerikanische Soldaten tötet, über der vieltausendköpfigen Flut ihrer Mitdemonstranten, inmitten des schwankenden Waldes von Bannern und Transparenten, von Che Guevaras und Rosa Luxemburgs.
Wie eine Woge braust ein gewaltig sich steigernder Chorus durch die Menge: „Wir sind eine kleine RADIKALE MINDERHEIT!“ An den Häuserfronten bricht sich knallend der Schrei: „Ho Ho Ho Tschi-minh!“ Mehr als 12 000 junge Demonstranten ziehen über den Kurfürstendamm, um dann in Richtung Deutsche Oper abzubiegen, wo am 2. Juni des Vorjahres der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen worden ist.
Viele in dem Protestzug haben einander untergehakt. Immer wieder traben die führenden Gruppen im Geschwindschritt und mit entsprechend beschleunigten Sprechchören los, die anderen hintendrein, so daß der Zug sich auseinander- und wieder zusammenzieht wie ein riesiges Akkordeon. Unbekümmert um den kalten grauen Februartag strahlen die Demonstranten für den „Sieg der vietnamesischen Revolution“ einen fröhlichen, aufgekratzten Trotz aus. „Bürger, laßt das Gaffen sein, kommt herunter, reiht euch ein!“ rufen sie an den Häuserfassaden hinauf. Aber den Berlinern kommt es vor, als sei die Tet-Offensive nun auch in die Frontstadt des freien Westens eingebrochen.
Der Marsch an diesem 18. Februar ist Teil der anschwellenden Protestbewegung in Westeuropa. Er schließt den „Internationalen Vietnam-Kongreß“ ab, den Rudi Dutschke und seine Mitstreiter vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) mitorganisiert haben. Aus fast allen westeuropäischen Nationen sind Delegationen der Neuen Linken mit zum Teil mehreren hundert Mitgliedern gekommen - Franzosen, Italiener, Engländer.
Amerikanische Kriegsgegner treten auf: „Hey, hey, LBJ, how many kids did you kill today?“ Schwarze GIs intonieren auf der Schlußveranstaltung ihr Verweigerungsmotto gegen den asiatischen Krieg: „We ain't gonna go to Vietnam, 'cause Vietnam is where I am*. Hell no, we ain't gonna go!“ (*„Wir gehen nicht nach Vietnam, denn Vietnam ist, wo ich bin.“)
„Dort in Berlin habe ich zum erstenmal den Geist von '68 gefühlt“, erinnert sich der Engländer Robin Blackburn, heute Redakteur der „New Left Review“. „Ich bekam ein außergewöhnliches Gespür von einem neuen politischen Klima ... Es war anders als auf allen früheren Demos, die ich erlebt hatte.“
„Eine solche Masse Menschen, die mit roten Fahnen durch die Hauptstadt des Kalten Krieges marschieren - phänomenal! Absolut phänomenal!“ ruft Tariq Ali noch im Rückblick begeistert aus - Ali, Pakistani und 1968 eine Art britischer Dutschke. „Als wir durch die alten Stadtviertel zogen, konntest du spüren, wie die alte revolutionäre Bewegung wiederbelebt wurde.“
Tatsächlich hat Rudi Dutschke, und er nicht allein, auf dem Kongreß ganz im Ernst die Losung verkündet: „Es lebe die Weltrevolution und die daraus entstehende freie Gesellschaft freier Individuen!“ Solche Sprüche sind nur eines von vielen Symptomen für den „Geist von '68“, der sich in West-Berlin manifestiert.
Er zeigt sich in der fiebrigen Erwartung großer Umstürze. Er zeigt sich im verwegenen Glauben daran, daß die junge Generation der Industrienationen zusammen mit den fernen Ho Tschi-minhs der Dritten Welt die überkommenen irdischen Zustände aus den Angeln heben kann. Er zeigt sich in der lebenshungrigen Hoffnung, ein jedes „Individuum“ könne sich von den eingepflanzten Komplexen und Hemmungen befreien, die es, Frau wie Mann, daran hindern, seine ganze Vitalität und Schöpferkraft zu „verwirklichen“. Der „Geist von '68“ ruft bei den davon Befallenen erhebende Visionen, Übermut, Tatendrang und eine gesteigerte Lebensintensität hervor, die allen, die sie gespürt haben, nicht aus dem Gedächtnis schwindet.
Barbara Köster, heute Soziologin in Frankfurt, entsinnt sich der „antörnenden Atmosphäre“ des Vietnam-Kongresses im Audimax und im Lichthof der Technischen Universität. „Mir gefiel das Durcheinander der Leute, die sich alle Genossen nannten. Etwas von der Aufbruchstimmung, die in der Musik der Stones lag, war auch damals in Berlin zu spüren.“
Sogar Niels Kadritzke, der eher nüchterne Vorsitzende des SPD-nahen Sozialdemokratischen Hochschulbundes (SHB), wird von der aufgewühlten Stimmung angesteckt. „Obwohl ich den revolutionären Optimismus der SDS-Leute nicht teilen konnte, wurden alle Anwesenden von dieser Euphorie davongetragen - ich eingeschlossen. Die internationale Beteiligung an dem Kongreß, die Massendemonstration - all das war eine völlig neue Dimension, die einen mitriß.“
DAS WAR DEN BERLINERN ZUVIEL! Spontane Gegen-Demonstrationen - Arbeiter verbrannten rote Fahnen - Polizei mußte SDS-Haus schützen - Springers „BZ“, 19. Februar 1968.
Nach Schluß der Versammlung elektrisierte das Wort „Dutschke ist hier“ noch einmal mehr als 1000 Personen. Unter Gejohle stürzte man sich zu dem vermeintlichen Aufenthaltsort des SDS-Ideologen ... Ein Bäckerladen wurde durchsucht, weil Dutschke angeblich dort sei. Man rüttelte an einem Polizeifahrzeug, weil er sich hier versteckt haben sollte. Schließlich wurde Dutschke in einem Geschäft für Grabsteine vermutet ... Mehr als 100 Polizisten mit gezogenen Schlagstöcken mußten die Masse davor zurückhalten, das Geschäft zu stürmen - „Die Welt“ über eine am 21. Februar 1968 vom Berliner Senat mitveranstaltete „Bürger-Demonstration“ gegen den Vietnam-Kongreß.
Nach den Demonstrationen: Pogromstimmung in Berlin - „Die Zeit“ vom 23. Februar 1968.
Die Fronten waren klar, die Akteure in Aktion - nicht nur in Saigon, nicht nur in Berlin. Es gab kein Halten mehr für die Menschen und Ereignisse, die das Jahr 1968 zum außergewöhnlichsten Jahr seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs machen sollten - zu einem vulkanischen Jahr, das die herrschenden Ordnungen ins Wanken brachte, zu einem Jahr zwischen Tumult und Tragik, das beim Betrachter, der aus den blutarmen Tagen von 1988 darauf zurückblickt, oft blanke Ungläubigkeit hervorruft: Ist das wirklich alles passiert, was da passiert ist?
Wer es bewußt erlebt hat, trägt Erinnerungen aus jenem Jahr mit sich herum wie Teile eines ungelösten Riesenpuzzles: Bilder, Fernsehschemen, die scharfkantigen Fragmente selbsterlebter Realität - und über allem die ekstatischen Stimmen der Rocksänger und Bob Dylans Mundharmonika, The Times They Are A-Changin'. Da sind die Schuhe von Rudi Dutschke, die nach dem Attentat auf ihn neben dem Trottoir auf dem Kurfürstendamm liegengeblieben sind, von Neugierigen begafft. Bald darauf die tiefschwarze Rauchfahne, die aus brennenden Zeitungslieferwagen quillt und die erleuchtete Fassade des Berliner Springer-Hochhauses verdunkelt.
Da sind die Rauchwolken über Washington, die Amerikas Hauptstadt im April plötzlich wie ein Bürgerkriegsschlachtfeld aussehen lassen, als schwarze Gettobewohner, vom Mord an Martin Luther King empört, plündernd und brandschatzend bis in die Nähe des Weißen Hauses vordringen.
Die „Nacht der Barrikaden“, von Bränden erhellt, einen Monat später in Paris. Aus dem Getümmel der Straßenkämpfe taucht die berauschende Vision auf, die jungen Aufrührer könnten den ungeliebten Staat des Charles de Gaulle ebenso zu Fall bringen wie einst die Erstürmer der Bastille den Absolutismus der Bourbonen. „Keiner, der dieses revolutionäre Herzklopfen in seiner Brust gespürt hat“, sagt Daniel Cohn-Bendit, „wird es je vergessen.“
Da ist die Kamerafahrt durch das Dickicht ausgestreckter Arme und winkender Hände, die nach der letzten großen Hoffnung Amerikas greifen, nach Robert Kennedy, dem kleinen Bruder des ermordeten Präsidenten. Von allen Bewerbern, die Aussicht haben, 1968 zum Präsidenten gewählt zu werden, tritt er am überzeugendsten für ein Ende des Vietnamkriegs und für soziale Solidarität mit den Underdogs der US-Gesellschaft ein. Doch dann die Schreckenssequenz aus dem Hotel Ambassador, Los Angeles: Dichtgedrängte, sich duckende, kreischende Menschen; eine Gasse öffnet sich - Robert Kennedy liegt mit offenen Augen, noch bei Bewußtsein, am Boden. „Sind alle okay?“ fragt er. Aber er hat eine tödliche Kugel im Kopf, abgefeuert von einem jungen Jordanier, der sich dafür rächen wollte, daß Kennedy Israel unterstützt. Szenen der Verzweiflung bei den Kennedy-Anhängern: „Warum schießen sie alle unsere besten Männer tot?“
Da sind die Panzer auf dem Wenzelsplatz zu Prag, in der Nacht zum 21. August 1968 hineingerollt in die CSSR, um den „Prager Frühling“ plattzuwalzen; um die Meinungsfreiheit, die Alexander Dubceks Reformkommunisten waghalsig proklamiert haben, wiederaufzuheben; um die Tschechen zu hindern, aus dem Ostblock in die Neutralität abzudriften. Verlegen hocken die Sowjetsoldaten auf ihren Kampfwagen, rücken an ihren Käppis und schauen sich hilfesuchend um, während tschechische Frauen und Männer die Panzer umringen und den Eindringlingen die unmißverständlichsten Rügen erteilen.
Doch die unauslöschlichen Bilder aus Prag werden wenige Tage später eingeholt von den Bildern aus Chicago. Dort steigert sich Amerikas Krieg mit sich selbst zu einem bizarren, beängstigenden, übergeschnappten Straßendrama. Fast eine Woche lang, bei Tag und Nacht, Provokationen der Protestler und Prügelattacken der Polizei. Soldaten und Freizeit-Krieger der Nationalgarde, die ihren Landsleuten mutwillig Gewehrkolben in die Rippen rammen und mit stacheldrahtbewehrten Jeeps brutal in Demonstrantengruppen hineinkarriolen.
„Wir waren wie die Tschechen, die den sowjetischen Panzern gegenüberstanden“, erklärt zurückblickend Todd Gitlin, einst Vietnam-Aktivist und Studentenführer. Aber die mörderische Wut und der Abscheu zwischen den entfesselten Kräften der Repression und den jungen Rebellen brechen in Chicago noch stärker, offener, verletzender hervor als zwischen Tschechen und Sowjetsoldaten - Wut und Abscheu, die noch heute vom Tonband aus den Sprechchören klingen, zu denen sich die Demonstranten, die gerade nicht niedergeknüppelt wurden, immer wieder zusammenrotteten: „The whole world's watching! The whole world's watching!“
Die ganze Welt sah zu - und kam aus dem Staunen nicht heraus. Amerikanische Zeitbeobachter haben sich angewöhnt, das Jahr '68 hochgestochen als annus mirabilis zu bezeichnen, als ein Jahr wundersamer Phänomene und unerhörter Begebenheiten, ein Jahr, das verrückt gespielt hat, ein Freakjahr der Geschichte, wie es vielleicht nur einmal in einem Jahrhundert vorkommt.
Auch das vergangene Säkulum hatte viele Kriegs- und Elendsjahre, aber nur eines, das im Andenken der Zeitgenossen als „das tolle Jahr“ fortlebte - 1848. Denn auch damals geschahen quer durch Europa ganz unerwartet abenteuerliche Dinge, die sich außer einigen Feuerköpfen niemand im Ernst hatte vorstellen können. Ausgelöst vom Sturz des „Bürgerkönigs“ Louis Philippe im Februar in Paris, herrschte plötzlich Aufruhr in den verschlafensten deutschen Residenzen - in München, Dresden, Hannover. Aufgebrachte Untertanen scharten sich zusammen und forderten kühn demokratische Rechte, protestierende Studenten überall vornweg.
In Berlin und in Wien wurden sogar Barrikaden gebaut. Der ungewohnte Anblick revoltierender Landeskinder fuhr den Monarchen mächtig in die Glieder. Auf einmal lenkten sie ein. Auf einmal und wie durch Zauberei durften die Deutschen in allen Landen in allgemeiner Wahl für eine Nationalversammlung votieren, die in der Frankfurter Paulskirche eine gesamtdeutsche Verfassung entwerfen sollte.
„Völkerfrühling“ nannten das die Optimisten; denn auch die Ungarn, die Polen, die Italiener kämpften in diesem Jahr um ihre Selbstbestimmung. Doch vergebens. Die Monarchen überwanden ihren Schreck und schlugen zurück. Die Paulskirchen-Bewegung scheiterte. Die Nationalversammlung, mit himmelhoch jauchzender Hoffnung eröffnet, löste sich, zur Bitternis der Demokraten, kläglich auf.
Nicht nur der Part, den Studenten in beiden Jahren gespielt haben, verlockt dazu, 1848 und 1968 bei allen klaffenden Unterschieden in Beziehung miteinander zu setzen. Die „48er“, wie man die Akteure der Paulskirchen-Bewegung hinterher nannte, galten als Verlierer. Von Bismarck bis Marx erklärte man sie für Spinner und Phantasten - wie in dem Spottlied über den badischen Republikaner Friedrich Hecker: „Er hängt an keinem Baume/ er hängt an keinem Strick / er hängt an seinem Traume / von der deutschen Republik.“
Auch die „68er“ gelten als Verlierer, Spinner und Phantasten. Gymnasiasten und Studenten heute erkennen sie in den melancholischen Gestalten mit ergrauten Bärten und handgestrickten Pullovern, die umschattet durchs Leben gehen, als könnten sie sich, wie einst Hecker, ums Verrecken nicht von ihrer unerfüllten Sehnsucht nach einer besseren Welt lösen.
In den Roßbreiten der späten achtziger Jahre werden die 68er aber auch von vielen aus der jüngeren Generation um die Aufregungen jener Tage beneidet - manchmal sogar um die Träume jener Tage. Authentische Yuppies freilich machen sich über den „Revoluzzerrummel“ und seine Veteranen so verächtlich lustig, wie schneidige preußische Reserveleutnants die „Revoluzzer“ und „Demokröten“ von 1848 zu verhöhnen pflegten.
Und doch haben die gescheiterten schwarzrotgoldenen Studenten alle ihre Widersacher historisch überdauert. Heute gibt es sogar zwei deutsche Republiken, und beide haben ihre Nationalfarben von einer Studentenverbindung entliehen - von den damals noch progressiven Burschenschaften des tollen Jahres.
Die Jungs in den Lederjacken, die Jungs in den hautengen Jeans, die Jungs mit den breiten Motorradgürteln beugen sich zu den Spiegeln im Rasthaus-WC, um sich anzuschauen,
und sehen
James Dean;
das widerspenstige Haar,
die tiefen Augen, in Einsamkeit getaucht, der verwundete Blick, die Verachtung auf der Lippe.
John Dos Passos, der im Ersten Weltkrieg jung war und zu Hemingways „verlorener Generation“ zählte, kam 1960 in „Midcentury“ („Jahrhundertmitte“) auf die rebellischen jungen Leute zu sprechen, die er überall in Amerika heranwachsen sah. Sie waren nach seiner Ansicht verwöhnt, ja verdorben durch das weiche Leben in der Nachkriegsprosperität und eine zunehmend liberale Erziehung. Niemand forderte ihre Kräfte. Niemand stellte ihnen Ziele vor Augen, für die sie sich mit Haut und Haar engagieren konnten.
Folglich steckten diese „Jungs in den Lederjacken“ voller ruheloser, zielsuchender Energie und Aggression. Sie „hatten es satt, satt zu sein“ (wie es Gudrun Ensslin später ausdrückte). Sie hungerten nach Aufregung und Mutproben, nach „kicks“ und „thrills“. Dos Passos: „Das Leben konnte nicht nur aus sozialer Sicherheit und Safety first bestehen. Die Kids wußten das.“
James Dean, der Schauspieler und einsame Wolf, verkörperte dieses Wissen und diese trotzige Unrast wie kein zweiter - über den Tod hinaus. Denn schon 24jährig fiel Dean seinem Hunger nach „kicks“ und „thrills“ zum Opfer: Mit seinem Porsche war er am 30. September 1955 nahe Paso Robles/Kalifornien bei tiefstehender Sonne in ein anderes Fahrzeug gerast. Die Steuersäule seines geliebten Renners durchbohrte ihn, den „Rebellen ohne Grund“, wie ihn der Originaltitel eines seiner Filme nannte; tötete den „sinistren Jüngling“ (Dos Passos), dessen Rebellion, weil ohne greifbare Ursache und erkennbares Ziel, in tempomanische Selbstzerstörung umschlug.
Dean stand am Anfang einer der vielen Entwicklungsketten, die in Richtung 1968 führten. Überall in den konjunkturgesegneten Industrienationen konnten sich die Teenager in ihn hineinversetzen und seinen Widerwillen gegen die Erwachsenenwelt nachempfinden.
Und was für Jimmy Dean sein Porsche war als Mittel, sich röhrend auszutoben, fanden die Teenies in der Musik. Denn mit hämmernden Schlagzeugen, plärrenden Elektrogitarren und jaulenden Saxophonen brach ein unbändiger neuer Rhythmus in die Schnulzenidylle der mittfünfziger Jahre ein: „Hail, hail, Rock 'n' roll“, johlte Chuck Berry. „Rock around the clock“, belferte Bill Haley, „Blue Suede Shoes“, hechelte Elvis Presley - die Jugendszene hob ab.
Rock 'n' Roll, laut, aufsässig und von den Eltern als „Negerkrach“ verabscheut, wurde zur Sammlungsbewegung und zum Trutzsignal der „Rebellen ohne Grund“ aus beiden Geschlechtern. Vom Rock angeheizt, begann ihre dumpfe Unruhe überzukochen. Bei Auftritten der Rock 'n' Roller in westdeutschen Großstädten kam es zu Krawallen mit Sachschaden und ersten Handgreiflichkeiten mit der Polizei.
Die Elterngeneration, die auf Hitlers Geheiß halb Europa verwüstet hatte, aber nun das eigene Land fein säuberlich wiederaufbaute, war zum erstenmal fassungslos über die Jugend.
Der Klamauk wurde lauter, enghosige Mädchen hüpften quietschend auf die Bänke, bald flogen die ersten Bierflaschen, die ersten Stühle folgten, und alsbald krachte es überall im Saal ... Neben mir zertrampelten drei Jungen ernst und gesammelt ihre Bank - Die „Frankfurter Allgemeine“ vom 2. April 1958 über ein Popkonzert im Berliner Sportpalast.
Die Gazetten, nicht nur „Bild“, sprachen von „entfesselter Zerstörungswut“, wenn 20 Klappstühle zu Bruch gegangen waren (wie in Stuttgart auf dem Killesberg bei Bill Haley). Kommentatoren und Leserbriefschreiber führten sich auf, als seien in den übermütigen Fans die SA-Rabauken der Reichskristallnacht wiederauferstanden. Denn das übersteigerte Ruhe- und Ordnungsbedürfnis der Kriegsgeneration - verständlich nach dem Unheil, das sie angerichtet hatte - reagierte von Anfang an hysterisch auf jede jugendliche Turbulenz.
„Am Familientisch taten sich Abgründe auf, wenn der Vater ausmalte, wie hart die Randalierer nach seiner Meinung bestraft werden müßten“, erinnert sich der Sohn eines Stuttgarter Handwerksmeisters. „Da kam auf einmal seine wahre Gesinnung zum Vorschein, und mir wurde klar, daß er innerlich ein Nazi geblieben war.“
Aber das war es nicht allein. Auch in Amerika fiel es den Erwachsenen und ihrem Nachwuchs mehr als schwer, einander zu begreifen: Nie zuvor in der Geschichte waren zwei aufeinanderfolgende Generationen von so unterschiedlichen Umwelten beeinflußt, von so konträren Erfahrungen geprägt wie die Wirtschaftswunderkinder auf beiden Seiten des Atlantiks und ihre Eltern, die in Amerika die zehn Elendsjahre der Wirtschaftskrise zu erdulden hatten und in Deutschland durch Nazi-Zeit und Zusammenbruch hindurchmußten.
In dieser Nacht rauschte der Bus durch Indianas Maisfelder; es war beinahe Halloween, die Geisternacht vor Allerheiligen. Ich lernte ein Mädchen kennen, und wir knutschten den ganzen Weg nach Indianapolis.
Jack Kerouac auf transkontinentaler Irrfahrt durch Amerika - ein angetörnter Parzival im Überlandbus. Jack Kerouac mit dem scheu-frechen dunklen Charme und sein verrückter Freund Neal Cassady: saufend, kiffend, zenbuddhistisch meditierend unter den Kiefern von Big Sur oder außer Rand und Band in einem mexikanischen Hurenhaus. Jack Kerouac, der junge Tramp mit akademischer Bildung, der die Randzonen der amerikanischen Gesellschaft durchstreift, ihre Unterseite, ihren Unterleib, ihr Unbewußtes, immer auf der Suche nach starken Gefühlen und „kosmischen Augenblicken“:
Im violetten Abendlicht ging ich mit Schmerzen in jeder Muskelfaser in das Farbigenviertel von Denver und wünschte, ich wäre ein Schwarzer, weil ich fühlte, daß das Beste, was die weiße Welt geboten hatte, nicht genug Ekstase für mich war, nicht genug Leben, Freude, Kicks, Dunkelheit, Musik, nicht genug Nacht ...
In keuchenden Schüben hämmerte Kerouac seine Erlebnisse, Einfälle, Visionen in die Maschine. Unbeengt durch literarische Artigkeiten, ungebremst durch Rücksichten auf die öffentliche Sittsamkeit, sollte sich sein Bewußtseinsstrom aufs Papier ergießen, sollte er den Leser vom Sitz reißen und in wilden Prosastrudeln mit sich fortschwemmen. Jahrelang aber wollte kein Verleger die Texte drucken, die Kerouac auf große Papierrollen tippte, weil er im Schreibrausch keine Zeit hatte, Blatt für Blatt einzuspannen. Erst 1957, er war schon 35, wurde „On the Road“ („Unterwegs“) publiziert: Geburt eine Kultbuchs, das wohlbehütete junge Leute in allen Boomländern verschlangen, fasziniert vom Ausbruch aus der bürgerlichen Normalität, aus den „Reihen betuchter Häuser mit Rasen davor und Fernsehern in jedem Wohnzimmer, auf denen alle dasselbe sehen“, wie Kerouac schrieb.
Ratlos entdeckten die angepaßten Amerikaner, daß sie es nicht mehr nur mit „fiebrigen Halbwüchsigen“ zu tun hatten, „die um die Musikboxen der Nation herumzucken und in mitternächtlichen Straßen sinnlos Radau machen“ („Time“). Jack Kerouac und seine Freunde, Außenseiter-Poeten wie er, standen für eine neue Boheme, die sich in New Yorks Greenwich Village und in San Francisco herangebildet hatte und die Stirn besaß, den Lebensstil, die Werte und die Moral des schönen neuen Disneyland-Amerikas rüde in Frage zu stellen.
Moloch! Moloch! ... Moloch, der Lieblose! Moloch, dessen Blut fließendes Geld ist!... Moloch, dessen Augen tausend blinde Fenster sind! Moloch, dessen Wolkenkratzer in den langen Straßen stehen wie endlose Jehovas!...
Moloch, dessen Liebe ist endloses Öl und Stein! Moloch, dessen Seele ist Elektrizität und Banken!
„Howl“ („Geheul“), Allen Ginsbergs sprachgewaltiges Poem von 1955, wurde zum Klagelied über die „Entfremdung“ der Menschen in der Zivilisation des Geldes. Wie „On the Road“ öffnete „Howl“ einen „neuen Spalt im Bewußtsein“ (Ginsberg), aus dem sich die „Gegenkultur“ der sechziger Jahre entwickelte.
„Beat “nannte Kerouac sich und seine Seelenbrüder vieldeutig. Er verstand darunter „beatific“ („begnadet, selig“). Andere sprachen von „Beat Generation“, einer „geschlagenen“ oder „ramponierten Generation“ als Nachfolgerin der „verlorenen“. Ganz bewußt aber sahen sich die Beats in der unbotmäßigen Tradition der englischen Romantiker und amerikanischen „Nonkonformisten“, die sich schon im 18. und 19. Jahrhundert mit der Selbstzufriedenheit ihrer Mitbürger angelegt haben - Männer wie der Mystiker William Blake, der behauptete, nur durch den „Exzeß“ könne man zur Weisheit gelangen; oder wie Henry David Thoreau, der in Neuengland in einer selbstgebauten Holzhütte lebte und die Freuden besang, in einem Waldsee zu schwimmen; Männer wie Mark Twain, der von dem Stromer Huckleberry Finn erzählte, und Walt Whitman, der erste Dichter der „offenen Straße“, die in die Weiten Amerikas und in die Tiefen der eigenen Seele führt.
Doch es half den Beats nichts, sich auf diese erlesene Abstammung zu berufen. Die Sprachrohre der Konformität machten „Beatniks“ aus ihnen (weil sie „so weit draußen wie der Sputnik“ seien). Ein „Life“-Autor, der das Unheil durch schneidige Attacken zu stoppen hoffte, nahm in wenigen Sätzen fast das ganze Schimpfarsenal vorweg, mit dem die Bewahrer des Status quo in den sechziger Jahren ihren Kulturkampf gegen lange Haare und kurze Röcke bestritten.
„Life“ wetterte gegen die „haarigsten, räudigsten und unzufriedensten Typen aller Zeiten: die kuriosen Rebellen der Beat Generation...Schwätzer, Faulenzer, passive kleine Schwindler, einsame Exzentriker, Mammihasser, Polizistenhasser, Exhibitionisten ...“.
Doch mit Pöbeleien konnte niemand aufkommen gegen die entwaffnende Direktheit, mit der die Beats ihren Glauben zu verwirklichen versuchten, sie könnten die überlieferten Zwänge, Tabus und Schuldgefühle von sich abtun wie eine verrostete Rüstung.
Auf den Wochenend-Parties zogen Allen (Ginsberg) und Peter oft alle ihre Kleider aus und regten die anderen an, dasselbe zu tun. Für Allen war es Teil seiner Bestimmung als Dichter, sich anderen zu enthüllen, um den anderen damit ihr eigenes Selbst zu offenbaren. Nackt brauchten sie einander nicht mehr zu fürchten und wären frei zu lieben... Jack (Kerouac) schrieb an Holmes, die sexuelle Revolution, die sie 1948 vorausgesehen hatten, geschehe jetzt - Gerald Nicosia in seiner Kerouac-Biographie „Memory Babe“.
Die Sexualität umzuwälzen war der große Ehrgeiz der Beat-Barden, Sex ihre letzte Wildnis. Sie durchforschten sie mit Frauen, miteinander, mit vielen Partnern, auch in Gruppen. Nichts sollte mehr verboten sein, nichts verschwiegen werden. Deshalb verfaßte einer von ihnen, Michael McClure, eine „Ode ans Ficken“. Deshalb begannen sie Gedichte mit Situationsbeschreibungen wie: „Ihre Schenkel umklammerten meine Ohren wie eine Zange.“
„Ich spürte ein höheres Wesen, oder doch wenigstens eine Ahnung davon; es näherte sich meinem Geist wie eine große feuchte Vagina ... Dann brach der ganze abgefuckte Kosmos um mich herum in Stücke“, berichtete Allen Ginsberg seinem Freund William Burroughs von seinen Experimenten mit der bewußtseinsverändernden („psychedelischen“) Yaje-Pflanze aus Südamerika. Denn die Beats griffen zu Rauschmitteln und Drogen, um ihre Sinne zu wecken und zu schärfen, um die „Tore der Erkenntnis“ für andere Wirklichkeiten aufzustoßen. Oder wie es Jack Kerouac in „On the Road“ sagte: „Die einzigen Leute für mich sind die Verrückten... die alles zur gleichen Zeit wollen, die niemals gähnen ... sondern brennen, brennen, brennen ...“
Niemand konnte die Botschaft der Beats mehr aufhalten, als sie in den frühen sechziger Jahren auf den Erfahrungshunger der Wohlstandskinder traf und feurig mit ihm verschmolz.
„Ginsberg und Jack Kerouac haben mich zuerst inspiriert“, erinnert sich Bob Dylan, der mit seiner bohrenden Stimme, mit Gitarre und schriller Mundharmonika zum ersten massenwirksamen Protestsänger avancierte. Mit poetischer Passion begehrte er auf dagegen, daß den schwarzen Amerikanern die Bürgerrechte noch immer verwehrt wurden und die „Herren des Kriegs“ nicht aufhörten zu rüsten.
Schon 1963 kündigte er ahnungsvoll die Desaster der folgenden Jahre an: „Und es wird schwer ... es wird schwer ... es wird ein schwerer Regen fallen ...“
Janis Joplin mit den beweglichen Hüften, mit dem über die Bühne zuckenden, rotierenden Körper, Straußenfedern im Haar, halbbekleidet mit Fetzen aus Seide und goldbesticktem Samt und mit mehr Armreifen, Ringen und Kettchen behangen als ein babylonisches Freudenmädchen, Janis Joplin mit ihrer Jazztrompeten-Stimme - auch sie war von der Botschaft der Beats angestiftet worden, der texanischen Öltown Port Arthur zu entrinnen, in der sie sich „lebendig begraben“ fühlte. Auferstanden vor ihrer Band, steckte sie Millionen mit ihrer Weißglut an.
Ihre Auftritte waren ekstatische Energie-Entladungen. Keine Frau zelebrierte packender als Janis Joplin den Ausbruch verdrängter Kräfte und Wünsche, den das anarchische Gebot „Laß alles raus!“ entfesselte. Ein inspirierter Schöpfungstaumel ergriff die jungen Sänger, Musiker, Rocklyriker in den Jahren vor 1968, ein Bacchanal der Einfälle und Visionen, für das es keinen Vergleich gibt - es sei denn die kultischen Feste aus der Zeit der Mythen.