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Table of Contents

Titel

Impressum

Vorwort

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11.Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Kapitel 22

Gegenwart

Über die Autorin

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Amee Brooks

 

 

 

 

 

Nadine 3.0

Flucht aus Rotlicht und Drogensumpf

 

 

– Die wahre Geschichte des ersten Mädchens vom Bahnhof Zoo

 

Autobiografischer Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DeBehr

 

Copyright by: Amee Brooks

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2018

ISBN: 9783957535177

Umschlaggrafik Copyright by Fotolia by Artem Furman

 

Vorwort

Im Leben muss jeder kämpfen, der eine mehr, der andere weniger. Nadine kämpfte 35 Jahre und auch nach dieser Zeit ist es oft nicht leichter. Die Drogen haben Spuren hinterlassen. Sie ist seit mehr als 20 Jahren clean. Und heute noch kämpft sie gegen die Folgen an. Der erste Teil, „Nadine, von Gott vergessene Kinder“, erzählt die Geschichte von Beginn an und erklärt das Warum. Das zweite Buch erschien im März 2016 und schildert den Werdegang bis hin zur Geburt des ersten Kindes. Teil 3 und somit das letzte Buch spiegelt den nicht alltäglichen Werdegang eines Mädchens wider, das am Rande der Gesellschaft um sein Dasein kämpft, das in alle Fettnäpfchen des Lebens tritt und wieder herausfindet, das den Mut hat, gegen Zuhälter, Prostitution und Drogen zu kämpfen und trotzdem immer wieder fällt, aufsteht, um wieder zu fallen. Auch wenn es fast unmöglich scheint, so hat sie nie den Glauben an sich und an das Leben verloren. Eines Tages steht sie da, mit Falten im Gesicht und tiefen Schnitten in der Seele, um festzustellen, dass sie all das erreicht hat, was sie erreichen wollte. Sie klappt das Buch ihrer Vergangenheit zu, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und stellt fest: All das, was hinter mir liegt, ist das, was ich heute bin. Jeder, der mit meinem Gestern nicht leben kann, hat keine Chance auf ein Morgen mit mir.

 

1. Kapitel

Der verlorene Sohn

Die Reise nach Bayern war lang und Nadine staunte nicht schlecht über die schöne Landschaft.

Der Kleine lag friedlich hinten auf der Rücksitzbank im Kinderwagen und schlief. Nadine war nervös. Wie würden ihre Eltern auf das Kind reagieren und vor allem aber, wie würde ihr Leben nun weiter verlaufen?

Sie hatte Angst, denn nun ging es nicht mehr nur um sie, sondern eben auch um den kleinen Wurm, der auch zu ihr gehörte. Sie hatte anfangs kaum Gefühle entwickeln können, aber Nadine spürte immer mehr, dass sie nun Mama war und irgendwie freute sie sich auf die Aufgabe. Der Kleine war ein Goldschatz, er schrie zwar oft und reagierte auf die Nahrung oftmals mit Spucken und Durchfall, aber die Dame vom Jugendamt und auch der Kinderarzt sagten, dass es auch an den Umständen lag, in denen Nadine sich momentan befand. Sie war nervös und oftmals überfordert und das spürte der Kleine. Beiden, Mutter und Sohn, fehlten einfach. Ruhe und Zeit, sich aneinander zu gewöhnen und ihren Tagesablauf aufeinander abzustimmen. Dirk war ein süßer kleiner Fratz und Nadine wollte nun versuchen, ein anständiges, normales Leben zu führen. Sie war es ihm schuldig und sie wollte eben nicht so sein wie ihre Eltern. Große Vorsätze und große Hoffnung, dass sie es schaffen kann.

Es war früher Morgen, als sie in dem kleinen Ort im schwäbischen Dillingen ankamen. Das Haus lag am Ende des Dorfes und sah sehr schön aus. Ein großer Garten und ein ziemlich großes Haus, dachte Nadine. Im Garten stand ein großer Hundezwinger und als Nadine vor dem Haus hielt und Fred, Utes Mann, der den Wagen parkte, näherkam, sprang ein großer Schäferhund an den Zaun des Hundezwingers und bellte wie verrückt. Dadurch wurde der Kleine geweckt und er blickte Nadine erschrocken an. Nadine nahm den Kleinen aus dem Kinderwagen und setzte ihm sein Mützchen auf, dann machte sie sich auf den Weg zum Eingang. Ihr Herz pochte wie wild, als sie den Klingelknopf drückte. Ihre Mutter öffnete aufgeregt die Tür und als sie Nadine und den Kleinen vor sich sah, war sie außer sich vor Freude. Sie nahm Nadine den Kleinen sofort aus den Armen und bat sie herein.

Ihr Stiefvater saß in der Küche und auch er schien von dem Familienzuwachs begeistert zu sein. Er sagte nichts zu Nadine, aber sie wusste auch so, dass sein Blick genau das sagen sollte, was er schon immer von ihr vermutete. Einmal, Nadine war gerade 12 Jahre alt, da standen ihr Stiefvater und ihr großer Bruder vor der Tür im Hof, das war noch in Berlin und beide lachten über Nadine. Sie war eben damals kein hübsches Mädchen, sondern eine kleine, graue Maus, die langsam Busen bekam und auch schon das erste Mal ihre Tage hatte. Ihre Mutter musste dem Stiefvater davon erzählt haben, zumindest standen beide da und witzelten über Nadine, als ihr Stiefvater plötzlich in einem fiesen Ton und sehr laut sagte: „Die da wird sowieso die Erste sein, die sich bumsen lässt und mit ’nem Braten in der Röhre nach Hause kommt.“ Nadine hörte noch heute dieses gemeine Gelächter und gerade jetzt in diesem Moment wusste sie, dass auch ihr Stiefvater sich an diese Worte zu erinnern schien.

Sie stand da und hasste ihn dafür, dass er im Grunde genommen recht hatte. Ihr Stiefvater sah den Kleinen an und sagte: „O. k., du hast bisher in Deinem Leben nichts erreicht und nur Scheiße gebaut, den hier aber hast Du ganz gut hinbekommen.“ O. k., das lag aber wahrscheinlich auch zum größten Teil am Erzeuger.

Nadine hasste ihn und hasste seine Art, über sie zu denken. Sie schwieg aber, denn sie musste klein beigeben, wollte sie doch nicht mit dem Kind auf der Straße leben. Sie stand einfach nur im Raum und musste mit ansehen, wie ihr verhasster Stiefvater den Kleinen auf den Arm nahm und mit ihm sprach. Am liebsten wäre sie auf dem Absatz umgedreht, hätte ihm ihren Sohn aus den Armen gerissen und geschrien: „Dieses Kind bekommst Du nie wieder zu Gesicht!“ Aber leider ging das nicht, denn sie war abhängig von seinem Wohlwollen und das wusste er.

Fred half Nadine, die Sachen ins Haus zu bringen und er sagte ihr zum Abschied noch, dass sie die Ohren steifhalten sollte.

Die ersten Wochen verliefen recht ruhig, Nadine kümmerte sich um den Kleinen und ihre Mutter half ihr dabei. Er war sehr stark erkältet, als sie aus Lüneburg kamen und nun ging es dem Kleinen gut. Sie hatte viel für ihr Enkelkind besorgt: Kinderbettchen, Wickelkommode, Nuckelflaschen und Windeln, all das, was der Kleine brauchte. Nadine fühlte sich wohl und der Kleine schien dies zu spüren.

Alles war o. k. bis zu dem Abend, als ihr Stiefvater beim Abendbrot von Nadine wissen wollte, wie es nun weitergehen sollte. Nadine hatte keine Ahnung und zuckte nur mit den Schultern, nicht aus Desinteresse, sondern aus Angst, dass er wieder ausrasten würde und weil sie wirklich nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Und wie sie es erahnt hatte, begann er wieder zu toben und schrie: „Du musst nicht glauben, dass Du Dein Leben lang auf unsere Kosten leben kannst. Ich habe die Nase voll von Dir und kann dein dummes Gesicht hier nicht ertragen. Dein Spross ist genug, aber du wirst sehen, dass du einen Job findest und wenn du Scheiße putzen musst, das ist mir egal.“ Ihre Mutter versuchte, die Situation zu retten und sagte beschwichtigend dazu: „Wir können es ja so machen. Du gehst arbeiten und wir passen solange auf Dein Kind auf. Du bezahlst Unterhalt und einen Teil der Miete und nimmst da oben das Zimmer. Wenn du dann soweit bist, suchst du dir hier eine Wohnung und alles bleibt wie gehabt. Du bringst uns morgens das Kind und abends holst du es wieder ab.“ Die Idee fand Nadine nicht schlecht und sie versprach ihrer Mutter, sich die nächsten Tage um einen Job zu kümmern.

Nadine blätterte die Anzeigen durch und wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, konnte sie gar nichts, also auf was sollte sie sich bewerben?

Sie hatte keine Ahnung, bis ihr eine Anzeige ins Auge fiel: Hotelhilfe gesucht in Kost und Logis. Nadine wusste nicht, was das bedeutete und so ging sie zu ihrer Mutter und bat um Rat. Auch sie las die Anzeige und sagte: „Das wäre doch was, oder?“

„Ja, aber was bedeutet in Kost und Logis?“, wollte Nadine wissen. Ihre Mutter sagte: „Da kannst du wohnen und bekommst zu essen und dazu auch noch Geld.“

"Klingt doch prima", sagte Nadine erfreut, "aber ob sie mich und den Kleinen nehmen?" Ihre Mutter nahm den Telefonhörer und wählte die in der Anzeige angegebene Nummer. Es dauerte nicht lange, dann ging jemand ran. Ihre Mutter unterhielt sich lange mit der Frau am Telefon und erzählte ihr fast alles über Nadines Situation. Sie schien nett zu sein und bat ihre Mutter, mit Nadine und dem Kleinen vorbeizukommen. „Augsburg? Das ist ja fast 90 km entfernt“, stöhnte Nadine und ihr Stiefvater schaute schon wieder ziemlich bissig über seine Zeitung und so schwieg Nadine gleich wieder. Sie sollten am nächsten Tag gegen Mittag in diesem besagten Hotel sein, das sich in Augsburg-Lechhausen befand. „Gasthof Birkenau“ klang nicht gerade nach einem Fünf-Sterne-Hotel. Na ja, dachte Nadine, wenn alles klappt, dann hatte sie zumindest erst mal Arbeit und ihr Stiefvater würde Ruhe geben. Sie hätte den Kleinen bei sich und könnte nun langsam beginnen, ihr Leben in die richtigen Bahnen zu lenken. Am nächsten Tag fuhr sie mit ihrer Mutter und dem Kleinen nach Augsburg. Nadine war nervös, war es doch ihr erstes Vorstellungsgespräch überhaupt und sie hatte so gar keine Ahnung, was sie sagen sollte. Ihre Mutter plapperte in einer Tour, gab ihr Ratschläge, wie sie sich zu verhalten hatte. Sie kamen an dem benannten Hotel in Augsburg an und Nadines Begeisterung hielt sich in Grenzen, war es doch nur eine ganz gewöhnliche Kneipe, die wohl auch Zimmer anbot. Sie betraten den Gastraum und Nadine sah sich um, eine typisch bayrische Gaststube, sauber ja, aber ansonsten wirklich nicht mehr als gutbürgerlich. Nadine stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie setzte sich mit ihrer Mutter und dem Kleinen im Kinderwagen an einen der freien Tische. Eine junge, rundliche, aber nette Frau kam an den Tisch und wollte die Bestellung aufnehmen. Ihre Mutter allerdings sagte: „Wir sind hier, um mit der Chefin des Hauses, zu sprechen, wir haben uns auf die gestrige Annonce gemeldet.“

„Ah“, sagte die junge Frau, dann bist Du das Mädchen mit dem Baby aus Berlin, oder?“

„Ja", sagte Nadine und versuchte zu lächeln. Sie gab Nadine die Hand und sagte: „Hallo, ich heiße Sylvia und gehöre hier auch zum festen Inventar. Ich lebe auch im Haus mit meinem Freund und wir helfen hier, wo wir können. Über Unterstützung freuen wir uns alle. Nadine war überrascht über die Freundlichkeit und so langsam fiel ihr Argwohn ab. Sylvia ging also die Chefin holen.

Ihre Mutter zwinkerte ihr zu. „So schlecht kann es gar nicht sein“, sagte sie leise, „vielleicht kannst Du hier ja auch noch was lernen, Kochen zum Beispiel, das braucht man später im Leben.“ Nadine sagte nichts und ließ erst mal alles auf sich wirken. Dann öffnete sich die Gastraumtür und eine ältere, hagere, schlanke Frau betrat den Raum. Nadine wusste auf Anhieb, dass das die Chefin war. Sie lächelte, aber das Lächeln wirkte kalt und unnahbar. Sie kam auf Nadine zu und gab ihr die Hand. Nadine wurde es kalt und sie ahnte, dass diese Dame hier schwer zu handhaben sein wird. Sie setzte sich zu ihnen an den Tisch und dann begann das Gespräch.

Sie unterhielten sich mehr als zwei Stunden und Nadine merkte, dass unter der kalten Fassade der zukünftigen Chefin eine sehr intelligente Frau steckte, die spürte, dass Nadine in den Fängen ihrer Eltern unglücklich war. So entschied sie sich, zu einem Schritt, der Nadine helfen sollte.

Nadine bekam die Stelle unter zwei Voraussetzungen: Das Kind sollte bei ihren Eltern bleiben, sodass sich Nadine voll und ganz auf ihre Aufgaben konzentrieren konnte und zweitens verpflichtete sie ihre Mutter, Nadine an den freien Tagen das Kind zu überlassen. So konnte Nadine sich um den Kleinen kümmern und entfremdete sich nicht von ihm.

Sie zeigte Nadine und ihrer Mutter das Haus und erklärte Nadine ihre Aufgaben.

Sie sollte morgens die Toiletten und den Hausflur putzen und dann gab es Frühstück. Nach dem Frühstück war sie dann der Küche zugeteilt und sollte da mit zuarbeiten. Am Nachmittag war sie für die Wäsche zuständig, bügeln, flicken und zusammenlegen. Das klang für Nadine alles simpel und sie sagte zu.

Zum nächsten Monat, also in knapp zwei Wochen, sollte Nadine dann in ihrem neuen Reich einziehen. Sie hatte ein schönes Zimmer mit einem großen Erker und einer kleinen Couchgarnitur. Sie hatte ein großes Bett und eine kleine Stereoanlage mit Plattenspieler, ein eigenes Telefon und einen Fernseher, alles in allem war es ein toller Start in ein neues, solides Leben. Zufrieden fuhren ihre Mutter und sie zurück nach Dillingen. Die zwei Wochen bis zum Start verbrachte ihre Mutter damit, für Nadine Bettwäsche und Handtücher sowie Geschirr und andere wichtige Utensilien für ihr neues Zuhause zusammenzupacken. Und als der Tag des Auszuges kam, war der Kofferraum voll. Nadine tat der Abschied von ihrem Kind sehr weh und sie weinte, als sie ihn in den Arm nahm, versprach, bald wieder da zu sein. Ihr Stiefvater sah sie nicht und Nadine war dankbar, ihn so wenig wie möglich sehen zu müssen.

Ihre Mutter fuhr Nadine nach Augsburg und half ihr beim Auspacken der mitgebrachten Gegenstände.

Es war später Nachmittag, als sie dem roten alten Mercedes hinterhersah und sie nun allein in einer fremden Stadt ihren Weg finden musste.

 

2. Kapitel

Ein ganzes normales Leben

                       

Die ersten Tage in der Birkenau waren gewöhnungsbedürftig. Das frühe Aufstehen um 6 Uhr war neu für Nadine, sie hatte sich zwar durch den Kleinen daran gewöhnen müssen, aber nach dem Stillen des Kindes konnte Nadine dann meist noch zwei, drei Stunden schlafen. Hier aber hieß es, wach bleiben und putzen.

Sie hatte eine Menge Aufgaben. Bevor sie überhaupt mit dem Putzen anfing, war der erste Gang in die Küche, Kaffee aufsetzen und dann die Brötchen, die vom Bäcker geliefert wurden, in Empfang nehmen. Dann begann sie, den Hoteltrakt zu putzen, die Treppen zu saugen und zu wischen. Die Fensterbretter und Türrahmen staubzuwischen. Damit fertig, kamen die Waschräume dran, dann die Toiletten der Gaststube, das war ekelig, denn die Herrenklos stanken nach Urin und Nadine graute es jeden Morgen, die Pissbecken zu reinigen. Wenn am Abend zuvor viel los war, dann hatte sie so ihre Mühe, den Raum wieder wirklich sauber zu bekommen. Manchmal war ihr danach speiübel, denn Männer waren echte Ferkel. Wenn sie dann das Pissbecken mit der Kloschüssel verwechselten und darin ihr großes Geschäft erledigten, blieb Nadine nichts anderes übrig, als mit dem Schlauch alles auszuwaschen und mit Gummistiefeln trocken zu wischen. Meist war ihr danach so schlecht, dass das folgende Frühstück ausfiel. Sie deckte im Gastraum dann den Tisch für die Angestellten und die Chefin mit ihrem Mann. Bevor sich diese an den Tisch setzten, wurde Nadines Arbeit begutachtet und am Tisch dann besprochen, wo es bei Nadine noch haperte. Von Woche zu Woche wurde sie besser und schneller und ihre Chefin freundlicher. Die Frau war streng, aber gerecht. Nadine hatte Respekt vor ihr und lernte viel und schnell. Das Kochen bereitete Nadine großen Spaß, sie lernte, wie man Spätzle schabte und wie man Brühen ansetzte. Sie lernte, wie man bügelte und wie man Bettwäsche pflegte und flickte. Alles in allem war es ein harter Job, aber sie lernte dazu und das gefiel Nadine. Die Monate verflogen und Nadine war nun schon fast ein halbes Jahr dort. Kurz vor ihrem 22. Geburtstag hatte sie mal wieder frei und wollte ihren Sohn abholen, da erschien ihre Mutter nicht wie ausgemacht am Nachmittag. Nadine versuchte, sie telefonisch zu erreichen, aber niemand ging ans Telefon. Komisch, dachte Nadine, das war das erste Mal und Nadine war unruhig. Den ganzen Nachmittag blieb sie in ihrem Zimmer und hoffte auf ein Zeichen ihrer Mutter, aber nichts passierte. Sie hatte das Wochenende frei und Nadine wollte mit dem Kleinen eigentlich den Augsburger Zoo besuchen. Nadine hatte sich so darauf gefreut, in all den Monaten hatte Nadine nur wenig Zeit und jede freie Sekunde versucht, diese mit ihrem Sohn zu verbringen, manchmal waren es nur Stunden, weil sie am nächsten Tag wieder arbeiten musste, manchmal hatte sie so wie heute ein ganzes Wochenende mit ihm und sie genoss diese Zeit. Doch irgendetwas musste passiert sein, denn heute kam niemand. Nadine war traurig und sie kannte diese Situation nur zu gut. Dieses Warten auf ihre Eltern, sie sah sich wie damals als sie gerade 4 oder 5 Jahre alt war, ihre Pflegemutter war gestorben und sie war in diesem Kinderheim abgegeben worden. Dort hatte sie ihre Mutter auch das erste Mal kennengelernt, sie kam damals mit einer grauhaarigen Perücke zu Besuch und hatte ihren Stiefvater dabei. Schon damals war Nadine dieser Mann unangenehm, denn das Erste, was er damals zu Nadine sagte, nachdem die Mutter ihr sagte, dass das nun ihr neuer Papa wäre, war: „Du kaust Fingernägel? Das wird das Erste sein, das ich Dir abgewöhne, wenn Du wieder zu Hause wohnst.“ Der Blick dazu versprach nichts Gutes, das war es ja dann auch. In dieser Zeit versprach ihre Mutter auch oft, sie würde sie ab dem nächsten Wochenende aus dem Heim nach Hause holen, doch oftmals vergaßen sie Nadine einfach und sie sah sich immer noch mit einem traurigen Gefühl am Fenster stehen, wo man die Besucher des Heimes kommen und gehen sah. Dort wartete Nadine oft stundenlang, man musste sie regelrecht von diesem Fenster wegzerren, weil sie immer hoffte, ihre Mutter würde gleich um die Ecke kommen und Nadine abholen.

Das ist nun schon so lange her und erweckte in ihr immer noch das Gefühl von Traurigkeit. Heute jedoch ging es nicht nur allein um sie, sondern auch um ihr Kind und das fehlte ihr ganz besonders.

Es wurde Abend und noch immer gab es kein Lebenszeichen von ihrer Mutter und Nadine fühlte sich wütend und traurig zugleich. Sie probierte nochmals telefonisch, ihre Mutter zu erreichen und siehe da, es war mittlerweile 20 Uhr, da ging sie ran. Nadine fragte, was passiert sei und ihre Mutter antwortete knapp: „Wir haben es heute nicht geschafft, wir waren mit dem Kleinen spazieren, danach hat er so schön geschlafen und ich wollte ihn nicht aus seinem gewohnten Umfeld zerren und wieder den weiten Weg zu Dir fahren." Nadine stockte der Atem, sie saß hier und wartete sich Löcher in den Bauch und 90 km weiter entfernt war es denen egal, sie hielten es noch nicht einmal für nötig, Nadine zu informieren. Erbost knallte Nadine den Hörer auf mit den Worten: „Ich komme morgen und hole mein Kind von Euch.“ Wütend über das Verhalten wollte Nadine sich einen Tag in der Woche freinehmen und sie bat ihre Chefin um Hilfe. Die hatte jedoch schon mit ihrem Stiefvater telefoniert und erklärte Nadine, warum sie ihr Kind nicht sehen durfte.

Der Stiefvater war der Annahme, dass dieses Hin- und Hergeschiebe dem Jungen nur schaden würde. Jedes Mal, wenn der Kleine bei Nadine war, wäre er danach immer verstört, würde nachts nicht mehr durchschlafen und viel weinen. Deshalb hätten sie entschieden, dass Nadine das Kind sehen könnte, wann sie wollte, aber eben nicht mehr mit nach Augsburg nehmen dürfte. Zudem wollte ihr Stiefvater beim Jugendamt vorsprechen, um das Sorgerecht für das Kind zu bekommen. Somit wären die regelmäßigen Unterhaltszahlungen gewährleistet und man hätte eben auch Unterstützung vom Amt.

Nadine wurde es übel, als sie das hörte und sie saß da, als würde sie die Welt nicht mehr verstehen. Warum machte er das, warum nahm er Nadine ihr Kind weg und stellte sich zwischen das Kind und sie? Er sollte doch sehen, dass Nadine sich alle Mühe gab, ein normales Leben zu führen und dass sie sich um ihr Kind kümmerte, soweit sie es konnte. Sie war immer, wenn sie frei hatte, für den Kleinen da und genoss die Zeit in seiner Nähe. Sie zahlte jeden Monat von den 900 DM, die sie bekam, 300 DM an ihre Eltern. Sie kamen wegen des Geldes am Ende des Monats zu ihr und holten es ab. Also warum jetzt dieser Weg? Nadine war verzweifelt und wusste nicht, was sie tun sollte. Ihre Chefin war auch keine große Hilfe, ihr war es nur recht, dass Nadine das Kind nicht immer zu sich holte, so war sie mit ihren Gedanken wenigstens bei der Arbeit und sie verstand sowieso nicht, warum man ein Kind haben musste und es in eine so unsichere Zukunft gebar. Oft hielt sie das Nadine vor und sagte, sie solle den Kleinen zu Adoption freigeben, sie sei doch gar nicht imstande für sich und das Kind zu sorgen. Bei solchen Aussagen fühlte sich Nadine immer schäbig und klein und sie wusste, dass die Anderen recht hatten. Aber sollte sie deswegen ihr Kind kampflos aufgeben und es so einfach ihren Eltern überlassen? Obwohl sie wusste, dass ihre Eltern schon mit den eigenen Kindern in der Erziehung erhebliche Probleme hatten?

Nadine war hin- und hergerissen und wusste in solchen Momenten nicht, was sie tun sollte, aber wenn der Kleine bei ihr war, war ihr klar, dass sie ihn um nichts auf der Welt verlieren wollte, war es doch ihr eigenes Fleisch und Blut und das erste wirkliche Glück in ihrem Leben. Sicherlich, sie hatte ihm nichts zu bieten, aber sie glaubte daran, dass sie es auch alleine schaffen könnte.

Sie fuhr an diesem Abend noch zu ihren Eltern. Sylvia, die Bedienung aus der Birkenau, fuhr sie hin und wartete vor dem Haus. Nadine ging durch die Terrassentür und niemand war in der Küche. Sie wusste, der Kleine schlief im Schlafzimmer ihrer Eltern und so betrat sie es, ohne sich bemerkbar zu machen.

Sie wollte ihn mitnehmen, alles andere würde sich dann ergeben. Im Schlafzimmer war nur eine kleine Nachttischlampe an und der Kleine schlief seelenruhig. Als Nadine ans Bett trat, wurde er wach und rappelte sich am Gitter des Bettchens hoch. Er lächelte Nadine an und babbelte gleich los, er streckte die Arme aus und sagte das erste Mal ganz leise: „Mama hoch." Nadine stockte der Atem, er erkannte sie und er wusste, dass sie seine Mama war. Nadines Herz pochte wie wild und Tränen liefen ihr ins Gesicht. Sie hob den Kleinen aus dem Bett und küsste ihn zärtlich, ja, auch wenn am Anfang nach der Geburt alles so aussah, als würde sie nichts für ihr Kind empfinden, so wusste sie heute sehr genau, das war ihr Kind, das sie über alles liebte und niemand hatte das Recht, ihr das wegnehmen zu wollen.

Plötzlich stand ihr Stiefvater in der Tür und wetterte gleich los: „Was, verdammt noch mal, machst Du hier? Du schleichst Dich in unser Haus wie ein Dieb?“

Durch das Brüllen erschrocken begann der Kleine zu weinen und legte seinen Kopf auf Nadines Schulter.

Nadine stellte sich gegen ihren Vater und brüllte zurück: “Ich hole mein Kind ab und fahre danach wieder nach Hause. Ich lass ihn mir nicht wegnehmen!“

Der Stiefvater grinste fies und zischte leise: „Ich würde Dir davon abraten, denn DU hast das Sorgerecht nicht mehr für das Kind. Wir waren am Freitag beim Jugendamt und haben der Dame dort erklärt, wie Dein bisheriges Leben verlaufen ist und dass es wohl besser wäre, wenn der Kleine vorerst bei uns bleiben würde. Die Dame vom Jugendamt war sehr kooperativ und hat das sofort beim Amtsgericht geregelt. Also leg den Kleinen in sein Bett zurück und hau ab.“

Nadine kochte vor Wut. „Das glaube ich nicht!“, schrie Nadine, „warum tut ihr mir das an. Es war anders abgesprochen.“

„Was war abgesprochen?“, wollte ihr Stiefvater scheinheilig wissen? „Du bist nach Augsburg abgehauen und hast Dein Kind hiergelassen, glaubst Du allen Ernstes, dass man einer ehemaligen Junkiehure wie Dir ein Kind anvertraut, geschweige denn überhaupt glaubt?“

Kreidebleich stand Nadine vor ihrem Stiefvater und begann zu weinen. Ihre Mutter kam dazu und riss ihr den Kleinen aus dem Arm. Sie sagte: „Du hast keine Ahnung von Kindern, das sieht man jetzt auch. Du brüllst hier rum und der Kleine bekommt alles mit. Raus hier aus unserem Schlafzimmer und wenn Dir was nicht passt, dann wende dich ans Jugendamt, vorläufig bekommst du den Kleinen nur nach Absprache zu sehen. Also wage es nicht ein zweites Mal, hier anzukommen, wir holen die Polizei und das, mein Mädchen, kann dann auch wieder gegen Dich verwendet werden.“ Ihr Stiefvater warf ihr noch hinterher: „Wir haben vom Jugendamt unsere regelmäßigen Zahlungen und bekommen Zuschuss für den Kleinen. Du könntest das mit deinen paar Pisskröten allein sowieso nicht stemmen.“ Nadine schrie beim Rausgehen: „Darum geht es Euch immer, um die verdammte Kohle, alles andere ist Euch egal, ihr würdet sogar über Leichen gehen, um Profit daraus zu schlagen, ihr kotzt mich alle einfach nur an. Und Du, STIEFVATER, bist ein Schwein!“ Darauf drehte sie ihm den Rücken zu und rannte aus dem Haus.

Sylvia sah, wie Nadine angerannt kam, ohne das Kind, und wusste, irgendwas musste passiert sein. Nadine war kreidebleich, als sie ins Auto stieg und sie zitterte am ganzen Körper. „Was ist passiert?“, wollte sie wissen und Nadine klagte ihr ihr ganzes Leid. Bis nach Augsburg weinte Nadine und tobte. Sie litt und man konnte es förmlich greifen, sie hasste ihren Stiefvater abgrundtief.

„Ich habe keine Chance mein Kind je wieder zu sehen, stimmt’s?“

Nadine hielt den Brief vom Jugendamt in den Händen und sah ihre Chefin unglaubwürdig an. „So wie es momentan aussieht, nicht. Nadine, Du solltest es so lassen, wie es ist. Was willst Du mit einem Kind? Du bist noch keine 22 Jahre, hast so gut wie noch nichts erlebt im Leben. Du hast keine Erfahrung und keinen Ehrgeiz. Wie also willst Du Deinem Kind diese Werte vermitteln?“

Die Chefin redete auf Nadine ein und erreichte damit nur, dass Nadine wütend wurde und brüllte: „Es gibt andere junge Mütter, die können und schaffen das auch, warum also ich nicht? Nur weil ich mal Drogen genommen habe und auf den Strich gegangen bin? Das ist vorbei und ich habe auch nicht vor, das jemals wieder zu tun. Ich will mein Kind wieder haben, verdammt noch mal!!

Nadine weinte und ahnte, dass ihre Chefin recht hatte. Es war ausweglos, denn bei ihren Eltern, das musste Nadine sich eingestehen, standen die Konditionen besser fürs Kind. Dort hatte er immer jemanden, der sich um ihn kümmerte und der rund um die Uhr da war. Und sie, was hatte sie ihm schon zu bieten? Sie lebte von 900 DM, das war kein Geld, um sich und den Kleinen über Wasser zu halten. Hinzu kam, Nadine hatte ja noch nicht einmal eine eigene Wohnung.

Und es kam, wie es kommen musste. Nadine sah keine Chance in ihrem Leben, man gab ihr auch keine und so versuchte sie, sich abzulenken, indem sie nicht mehr abends in ihrem Zimmer saß, sondern das Augsburger Nachtleben erkundete.

Die ersten paar Wochen ging auch alles gut. Nadine kehrte zwar spät in der Nacht in ihr Zimmer zurück, aber das Aufstehen fiel ihr jeden Morgen umso schwerer. Sie hatte zu nix mehr Lust und je mehr sie sich von ihrem Kind entfernte, desto schlimmer wurde ihre Arbeitsqualität im Hause Birkenau. Ihre Chefin brüllte sie täglich an und Nadine schaltete auf stur. Sie hatte noch nicht einmal den Versuch unternommen, sich gegen ihre Eltern zu stellen und den Kampf um ihr Kind sah sie als sinnlos an, hatte sie doch nichts vorzuweisen als einen schlecht bezahlten Arbeitsplatz, an dem auch noch ihre Wohnung hing. Wenn sie den verlor, stand sie im Grunde genommen auf der Straße. Mittlerweile glaubte sie selbst, dass es besser sei, wenn der Kleine bei ihren Eltern lebte, war es doch auch für sie der einfachere Weg. Aber in ruhigen Momenten sehnte sie sich nach ihrem Sohn. Sie weinte oft, denn schließlich gab er ihr Halt, sie hätte so gerne ein Leben mit ihm gehabt und wusste nicht, was sie tun könnte, um ihn zu sich zu holen. Nadine hasste ihr Leben und um so besser fand sie es, sich nachts in Diskotheken den Kopf vollzudröhnen. Ihre 600 DM, die ihr vom Arbeitslohn blieben, investierte Nadine nun nicht mehr in Geschenke und Utensilien für den Kleinen, sondern kaufte sich Klamotten und versoff den Rest abends in dubiosen Kneipen und Discos in Augsburg.

                       

           

3. Kapitel

Augsburg bei Nacht

                       

Eines Abends, Nadine saß wie immer in ihrer Stammkneipe, wurde sie von einem Typen angequatscht, den Nadine schon öfters gesehen hatte. Er sah komisch aus, er war zwar immer hipp gekleidet, aber man sah ihm sein Alter an. Seine von der Sonne gebräunte Haut ähnelte altem Leder und die vielen goldenen Ketten und Ringe machten ihn zu einem komischen Kauz. Er hatte die 60 mit Sicherheit überschritten, seine zottigen blonden, schulterlangen Haare wirkten ungepflegt. Er war Automatenaufsteller und hatte wohl in Augsburg mehrere Kneipen und Spielhallen. Er hatte Geld ohne Ende, so munkelte man, und sein Amischlitten war sein liebstes Stück. Er fragte Nadine, ob sie was trinken wollte und Nadine, die schon leicht angenebelt war, stimmte zu. Der Abend wurde nun feuchtfröhlich und Dieter, so hieß der Typ, erwies sich als amüsanter Gesprächspartner. Er fragte Nadine aus und wollte so gut wie alles von ihr wissen. Dem Alkohol sei Dank hatte Nadine auch keine Probleme damit, ihm ihr Leid zu klagen und so kam es, dass Dieter ihr Hilfe anbot. Sie verließen das Lokal und verbrachten eine lustige Nacht miteinander. Er zeigte ihr das Augsburger Nachtleben und die Kneipen, die sie besuchten, waren allesamt mit seinen Automaten bestückt. Jeder, der ihn kannte, schien ihn zu mögen und Nadine fühlte sich in seiner Gegenwart wohl. Es wurde schon hell, als er Nadine an der Birkenau absetzte, er gab ihr seine Telefonnummer und sagte: „Wenn Du hier die Schnauze voll hast, dann sag Bescheid, ich habe selber drei Kneipen und eine Wohnung frei, die vollkommen eingerichtet ist, also überlege es Dir und ich helfe Dir, auf die Beine zu kommen.“ Nadine schaute Dieter ungläubig an und fragte: „Wo ist da der Haken?“

„Haken?“, fragte Dieter. „Es gibt keinen, Du bekommst bei mir fünfzig DM pro Tag und die Wohnung kostet dich gar nichts. Zusätzlich bekommst Du einmal im Monat noch mal 300 DM zum Einkaufen.“

„Was ist das für eine Wohnung“, wollte Nadine wissen.

„Soll ich sie Dir zeigen?“

„Jetzt?“

„Ja“, sagte Dieter, „ich habe Zeit.“ Nadine überlegte kurz und sah zur Birkenau hoch. „Hmm, wenn ich hier heute nicht erscheine, bin ich meinen Job und somit mein Zimmer los.“

„Na und“, sagte Dieter, „du kannst Dich nur verbessern, bei mir hast Du ’ne kleine Kneipe, die Du alleine führst und oben drüber deine eigene Wohnung.“ Nadine musste nicht lange überlegen.

„Los, fahr los, ich will die Wohnung sehen.“ Sie kamen in Augsburg-Oberhausen an. Eine kleine Seitenstraße und da war es auch schon, die kleine Kneipe in einem kleinen Haus, zwei Stockwerke und nebendran Garagen. Eine kleine Hofeinfahrt und der Eingang im Hinterhof. Alles sah vernünftig aus, die Kneipe hatte geöffnet. Gegenüber ein kleines Hotel und links und rechts auch noch zwei Gastwirtschaften.

Nadine musste nicht lange überlegen, diese Wohnung war nicht das Highlight, aber sie hatte alles, was sie brauchte, ein tolles Bad, eine große Küche mit allem, was dazu gehörte, nur der Kühlschrank fehlte. Ein kleines Wohnzimmer mit ’ner Couch und einem Fernseher und ein Schlafzimmer mit Doppelbett und einem großen Kleiderschrank. Das, was fehlte, war ein Radio oder eine Stereoanlage. Aber sie hatte hier ein Zuhause und einen Job, also konnte sie aus der Birkenau ausziehen und endlich anfangen, einen neuen Weg einzuschlagen und ihr Leben endlich auf die Reihe bekommen. Sie sagte zu und Dieter freute sich für Nadine. Er zeigte ihr die Kneipe und erklärte ihr, was sie hier zu tun hatte. Es war eine kleine, gemütliche Wirtschaft, drei, vier Tische, zwei Spielautomaten und ein kleiner Tresen, also alles übersichtlich und gepflegt. Für sie war es praktisch, denn sie hatte Job und Zuhause alles in einem. Ihre Arbeitszeit musste sie sich mit Trudel absprechen, die war die gute Seele der Kneipe und wirkte auf Nadine wie eine zweite Mutter. Herzlich begrüßte sie Nadine und versprach ihr am Anfang zu helfen. „Wir bekommen das schon hin, wir zwei, ich bin froh, endlich auch mal freimachen zu können. Du wirst das hier in ein, zwei Tagen alles überblicken und dann sind wir zwei ein gutes Team“, zwinkerte ihr Trudel zu. Nadine freute sich riesig und bat Dieter, mit ihr zur Birkenau zu fahren, um den Kram abzuholen. Er fuhr schnell zu sich und sie wechselten das Auto. Er hatte einen kleinen Transporter, in dem hatten Nadines Sachen alle Platz. Auf dem Weg zur Birkenau wurde es Nadine ein wenig mulmig, aber da musste sie wohl durch. Das Streitgespräch war vorprogrammiert und Nadine wappnete sich innerlich schon davor, doch sie hatte Glück, ihre Chefin war nicht da, sie war mit Sylvia auf dem Großmarkt und somit hatte Nadine freie Bahn, ihr Zeug einzupacken. In Windeseile packte sie ihr Zeug zusammen und trug es mit Dieter zu dem kleinen Transporter. In der Waschküche kramte sie die schmutzige Wäsche zusammen, da fiel ihr die Vorratskammer auf. Sie schaute in den leeren Karton und sah, dass da noch etwas Platz war, also spähte sie in die Kammer und stibitzte schnell noch ein paar Konserven, Wurst und Getränke sowie Milch, Zucker, Mehl, Salz und Eier, eine Flasche Wein und etwas Brot.

Sie verstaute auch diesen Karton gerade in den Transporter, als ihre Chefin geradewegs auf sie zukam. Sie hatte sie gar nicht kommen hören aber ihr Blick verriet, dass sie die Situation genau einzuschätzen wusste und fragte Nadine daher, was sie vorhatte. Nadine erklärte ihr, dass sie einen neuen Job hatte und hier nicht mehr länger arbeiten wollte. Sie sagte auch, dass sie wusste, dass sie als Chefin nie zu Nadine gehalten hatte und eigentlich nur der Spitzel ihrer Eltern war. Nadine wollte das nicht mehr und hat sich deshalb entschieden, ihre eigenen Wege zu gehen. Erbost über das trotzige Verhalten ihrer Angestellten schrie die Chefin sofort los, aber Nadine brüllte zurück und sagte, dass sie ihr Gehalt für diesen Monat gerne an ihre Eltern überweisen könne. Sie würde den Monat schon alleine schaffen. Nadine stieg ins Auto ein, während die Chefin tobte wie ein Vulkan. Nadine grinste sie jedoch siegessicher an und fuhr davon.

Dieter verhielt sich ruhig, Nadine fragte ihn, ob alles o. k. sei. „Ja“, sagte er, „alles in Ordnung, ich mache mir nur Sorgen um Dich. Deine Eltern werden Theater machen, denke ich.“ Na ja und dann sagte Nadine: „Das was mir wichtig war im Leben, haben sie mir genommen, was wollen sie noch? Sie haben nie an mich geglaubt und mir nie eine Chance gegeben und im Grunde genommen ist es ihnen auch jetzt egal, wie es mir geht. Es geht ihnen einzig und allein ums Geld, bisher haben sie ja auch immer gut abkassiert, jeden Monat 300.- DM, und nun müssen sie mich erst mal finden.“ Dieter lachte leise. „Du bist ein ganz schöner Sturkopf und das gefällt mir.“

Sie kamen an Nadines neuem Zuhause an. Beide trugen die Sachen nach oben und tranken in der Kneipe bei Trudel einen Kaffee. Dieter zückte seinen Geldbeutel und gab Nadine 200.- DM.

„Hier“, sagte er, „das ist ein kleiner Vorschuss, gehe einkaufen. Ich schaue, dass ich Dir einen Kühlschrank besorgen kann und eventuell noch ein Radio. Ich müsste so was irgendwo noch rumstehen haben.“ Nadine war erstaunt und nahm das Geld dankend an. Heute würde sie noch ihre Wohnung einrichten und morgen dann arbeiten. Trudel bat sie, um 10:00 Uhr unten zu sein. Dieter gab ihr die Schlüssel für Wohnung und Lokal und verabschiedete sich.

Nadine verstaute ihre Sachen und putzte ein wenig ihr neues Zuhause. Am Abend, als sie fertig war, schaute sie sich um und war zufrieden. Ihr gefiel es und sie fühlte sich wohl. Es war noch genügend Zeit, um einkaufen zu gehen. An der Ecke wusste sie, gab es einen Discounter und da würde sie das kaufen, was ihr noch fehlte.

Als sie vom Einkaufen zurückkam, sah sie, dass die Haustür offenstand. Dieter hatte also auch einen Schlüssel zu ihrer Wohnung. Irgendwie störte das Nadine, aber da sie nichts für die Wohnung zahlen musste, konnte sie ja wohl kaum etwas dazu sagen. Er hatte ihr einen Kühlschrank gebracht und einen Plattenspieler. Wow, dachte Nadine, das ist ja mal ’ne geile Anlage. Einen Plattenspieler und Kassettenrecorder in einem Gerät, die Platten kamen in dem Gerät senkrecht rein. Man konnte ihn auch per Batterie betreiben und hatte so die Möglichkeit, ihn mit ins Schwimmbad oder an den See zu nehmen. Alles in allem hatte sie nun, was sie brauchte. Als Dieter die Wohnung verließ, steckte Nadine den Schlüssel von innen und schloss ab, so wusste sie, es konnte niemand ungefragt ihr neues Zuhause betreten.

Nadine hatte sich schnell eingelebt und ihr gefiel ihr neues Leben. Die Kneipe hatte am Abend immer volles Haus und es stellte sich heraus, dass diese Kneipe auch durch Trudel zu einem Treff geworden ist, der Mädchen mit Mädchen zusammenbrachte. Trudel stand auf Frauen und im Laufe der Jahre hatte sich das Holländer-Stübchen zu einem Insidertreff für Lesben etabliert. Nadine störte sich nicht an der überwiegend weiblichen Kundschaft. Ganz im Gegenteil, sie behandelten Nadine alle sehr freundlich und Trudel drückte gerade am Anfang immer mal ein Auge zu, wenn Nadine Fehler machte. Sie lernte schnell und bald war es so, dass sie mit Trudel zusammen den Laden schmiss. Trudel war Nadines Mamaersatz. Nadine mochte die rundliche Frau sehr. Sie hatte in einer Beziehung den männlichen Part und ihre Art im Umgang mit Menschen ließ auch keine Zweifel daran. Die beiden waren ein gut eingespieltes Team und Nadine hatte jeden Abend zu ihren 50 DM noch immer ein gutes Trinkgeld dazu. Meist arbeitete sie bis 24 Uhr und danach war sie dann auch so hundemüde, dass sie ins Bett fiel. Trudel und Nadine teilten sich die Schichten, mal hatte Nadine 17 Uhr bis Schluss, das hieß, sie kam erst gegen 1.30 Uhr ins Bett, da die Kneipe für den nächsten Tag sauber gemacht wurde, oder aber sie arbeitete bis 17 Uhr und hatte danach frei. An den freien Nachmittagen hing Nadine meist in ihrer Wohnung ab, sie ging selten raus, es sei denn, Dieter kam und nahm sie irgendwohin mit. Aber ansonsten blieb Nadine in ihren eigenen 4 Wänden. Sie genoss es, ihr eigenes kleines Reich zu haben. Oftmals kochte sie und brachte dann Trudel etwas zu essen runter, dann blieb Nadine auch ab und an mal unten, um einfach auch ein bisschen Kontakt zu anderen zu haben. Alles in allem war ihr Leben perfekt und Nadine ging es gut. Eines Tages verspürte Nadine mal wieder Sehnsucht nach ihrem Kind, denn der Kleine wurde bald ein Jahr, da nahm Nadine allen Mut zusammen und rief zu Hause an. Es dauerte eine Weile, bis jemand abhob, es war ihre kleine Schwester. „Hey", sagte Nadine, „Du bist mal bei Deinen Eltern?"

"Ja", sagte die Kleine, "bin ich, warum besuchst Du Dein Kind nicht?", fragte sie etwas schnippisch? Nadine erzählte Biggy was passiert war und die sagte leise: „Wusste ich doch, dass sie lügen, mir haben sie was ganz anderes erzählt.“

"Wo bist Du jetzt", wollte Biggy wissen. Nadine sagte: "Wenn Du nichts, aber auch wirklich nichts zu den Alten sagst, sag ich Dir, wo ich bin, aber du musst mir versprechen, dicht zu halten." Biggy versprach es hoch und heilig und Nadine nannte ihr den Namen der Kneipe und erzählte ihr in Kurzform, was passiert ist. Plötzlich flüsterte Biggy: "Sie kommen nach Hause, ich muss auflegen, aber ich rufe Dich morgen an, versprochen."

Etwas irritiert legte Nadine den Hörer auf und dachte über das Gespräch nach. Biggy hatte nicht gesagt, was ihre Eltern ihr erzählt haben, aber der erste Satz bezüglich ihres Kindes zeigte, dass es nichts Gutes war. Anscheinend wurden Lügenmärchen erzählt. Sollte sie noch mal anrufen? Nadine überlegte kurz, nein, dachte sie, sie würde warten, bis sich ihre Schwester bei ihr meldet. Nadine hatte am nächsten Tag Frühschicht, da war es meist so, dass am Vormittag ein paar Gäste da waren, die ihr Bierchen zischten und dabei am Automaten ihr Glück probierten. Nadine hatte somit immer wenig zu tun. Mal putzte Nadine die Fenster, mal reinigte sie das Glasregal. Auch an diesem Tag war es sehr ruhig, als plötzlich in der Kneipe das Telefon klingelte. Es war ihre Schwester, die wie versprochen anrief. "So", sagte sie, "jetzt kann ich reden." Biggy erzählte ihr all das, was ihre Eltern in den letzten Monaten angestellt hatten, um das Sorgerecht zu bekommen und da Nadine polizeilich nirgendwo gemeldet war, hatte das Jugendamt vorsorglich den Großeltern erst mal das Sorgerecht zugewiesen.

Biggy erzählte ihr auch, dass die Dame vom Jugendamt bei ihrer alten Arbeitsstelle angefragt hatte und man ihr dort erzählte, Nadine sei mit einem ziemlich dubiosen Typen aufgetaucht, hätte ihre Sachen zusammengerafft, die Chefin noch bestohlen und dann sei sie auf Nimmerwiedersehen abgehauen. Das Gehalt hätte man dann an die Eltern überwiesen, weil diese ja so fürsorglich für den Spross der Tochter da wären. Aus diesem Grund hätte man auf eine Anzeige verzichtet. Ihre Eltern, so erzählte die Schwester, sind der Meinung, Nadine würde in Augsburg irgendwo auf den Strich gehen. Nadine kochte vor Wut, denn das stimmte nicht. Sie arbeitete, und das erklärte sie auch ihrer Schwester, ganz normal in einer kleinen Kneipe und Dieter sei kein Zuhälter, sondern ein Automatenaufsteller in Augsburg, der ihr eben half, Boden unter die Füße zu bekommen. Biggy war sichtlich erleichtert und versprach ihr, den Eltern das irgendwie zu erklären, ohne dabei Nadines Aufenthalt preiszugeben. Das Gespräch dauerte eine ganze Weile und Nadine war erleichtert, das zumindest ihrer Schwester erklären zu können. Sie versprachen beide, miteinander in Kontakt zu bleiben.

 

4. Kapitel

Schwesternliebe

                       

Nadine hatte den Draht zu ihrem Sohn gänzlich verloren, obwohl sie immer noch hoffte, irgendwie einen Weg zu finden. Sein Geburtstag stand bevor und sie war nun mittlerweile 22 Jahre und sehnte sich nach ihrem Sohn.

Dass ihre Eltern aber auch jedes Mal dazwischenfunken mussten. Sie hatte so gehofft, das mit dem Kleinen alleine zu schaffen, aber diesmal hatte sie gar keine andere Wahl gehabt. Irgendwie dachte Nadine, dass es so von ihren Eltern geplant war. Ihre Mutter hatte ihr bewusst eine Arbeitsstelle in Augsburg gesucht, somit hatte sie erst mal die Fäden in der Hand. Dass Nadine natürlich in ein Fettnäpfchen nach dem anderen tappte, das wussten zwar ihre Eltern, aber Nadine hoffte immer noch, den richtigen Weg zu finden. Sie hatte ja jetzt eine Wohnung und Arbeit hatte sie auch, vielleicht machte es Sinn, die Dame vom Jugendamt selbst zu kontaktieren, ihr alles zu erklären? Aber wo sollte sie da anrufen? Am nächsten Tag sprach Nadine mit Trudel über ihr Problem und die staunte nicht schlecht, als Nadine ihr ihr Leid klagte. „Also mal ganz ehrlich“, sagte Trudel, „glaubst Du allen Ernstes, Du hast ne Chance? So wie ich das sehe", sagte Trudel, "war es der Plan Deiner Eltern und wenn ich so höre, was sie Dir alles vorwerfen, wirst Du kaum eine Chance haben, den Kleinen je wieder zu sehen. Das Einzige, das ich Dir raten kann, um des Kindes willen, stelle Dich mit Deinen Eltern gut und versuche, Deinen Sohn so oft zu sehen, wie es Dir möglich ist, ansonsten wirst Du über kurz oder lang gar keinen Kontakt mehr zu ihm haben. Kleine, die ersten drei Jahre sind so extrem wichtig.“ Nadine weinte, sie vermisste den Kleinen und sich mit ihren Eltern gut stellen, das war so eine Sache. Mit ihrer Mutter wäre das gewiss kein Problem, aber ihr Stiefvater, der, nein, dachte Nadine, das klappt nie. Der will jeden Monat Geld sehen und das hatte Nadine nicht, also zumindest nicht in den Maßen, wie er es sich vorstellte. Aber trotzdem packte Nadine ihren ganzen Mut zusammen und rief noch mal im Beisein von Trudel bei ihren Eltern an. Es war früher Abend und nach einem kurzen Läuten hörte sie auch schon ihre Mutter am anderen Ende.

„Hallo, Mama“, sagte Nadine, „wie geht es dem Kleinen?“ Ihre Mutter sagte: "Gut, ihm geht es sehr gut, er beginnt schon zu laufen und seine Zähne sind auch schon da." Nadine tat es im Herzen weh, ihre Mutter redete von ihrem Kleinen und jedes Mal, wenn sie es so sagte, verspürte Nadine einen tiefen Schnitt. "Ich möchte ihn sehen", sagte Nadine fast bettelnd. Ihre Mutter lachte: "Das kannst Du, wenn Du jeden Monat Deinen Unterhalt zahlst, wie jeder normale Mensch es tut, dann hast Du auch ein Anrecht auf den Umgang mit Deinem Sohn." Sie fügte noch sarkastisch an: "Der mittlerweile zu seiner Oma Mama sagt." Nadine liefen die Tränen übers Gesicht. "Er hat doch bald Geburtstag, können wir uns nicht irgendwie treffen, dass ich ihm zumindest mein Geburtstagsgeschenk geben kann. Ich bin doch seine Mutter?“ Es wurde still am anderen Ende der Leitung und kurz hörte Nadine, wie ihre Mutter mit dem Stiefvater sprach. Dann sagte ihre Mutter. „O. k., wir kommen nach Augsburg und besuchen Dich, aber wage es ja nicht, auch nur einen Versuch zu starten, das Kind an Dich zu reißen, wir haben alles in trockenen Tüchern und jeder weiß, dass das Kind bei uns ein besseres Zuhause hat als bei Dir.“ Nadine versprach es und freute sich auf das Einlenken der Mutter. Also stand es fest, in zwei Wochen würde Nadine endlich wieder ihren Sohn in den Armen halten.