Nicht ohne meine Kiwi

 

Anke Asselborn

»Wollen wir nicht spazieren gehen?« Wie durch eine dichte Nebelwand drang Marcos Stimme an mein Ohr. Es war Sonntag. Ich lag gemütlich auf dem Sofa und träumte vor mich hin. In meinen Schlunz-Klamotten und eingewickelt in meine Kuscheldecke hatte ich nicht die geringste Lust nach draußen zu gehen. Abgesehen davon hasste ich es, spazieren oder gar wandern zu gehen. In meinem Leben hatte ich bereits schon so viele Kilometer zu Fuß absolviert, dass dieses Bewegungspensum locker bis zu meinem letzten Atemzug reichen würde.

 

Im zarten Alter von fünf Jahren schleppten mich meine Eltern bereits das erste Mal mit in die Berge. Ausgerüstet mit profilstarken Bergschuhen, wetterfestem Anorak und Kniebundhose sowie einem eigenen kleinen Rucksack, in dem von der Feldflasche über die Zahnbürste bis hin zu Sonnencreme und Ersatzwäsche alles enthalten war, was ein zünftiger Bergsteiger so braucht, erlebte ich meine erste Tour durch die Dolomiten. Dabei fuhren wir nicht einfach mit der Gondel nach oben, spazierten ein wenig hin und her oder machten nach kurzer Zeit Rast auf einer Alm, um dann mit der letzten Bahn wieder nach unten ins Tal zu fahren, nein, weit gefehlt! Wir absolvierten schwitzend und schnaufend mit dem Rucksack auf dem Rücken und der Wanderkarte in der Hand einen richtigen Aufstieg, um dann zwei Wochen lang von Hütte zu Hütte nach empfohlenen Routen des Deutschen Alpenvereins, in dem wir selbstverständlich Mitglied waren, die Bergwelt zu erlaufen. Schritt für Schritt und stundenlang kämpften wir uns schweigend die schmalen Bergpfade nach oben, der unendlichen Weite des Himmels und den schneebedeckten Gipfeln entgegen. Gott sei Dank war wenigstens Mucki bei mir, mein kleiner weißer Teddy mit der schwarzen Stupsnase und dem roten Herzchen auf der Brust, der mir aus einer Ecke meines Rucksackes fröhlich über die Schulter schaute. Mucki war mir nicht nur Wegbegleiter, sondern auch treuer Freund und Seelentröster, wenn ich abends allein auf dem Matratzenlager lag, während die Erwachsenen unten in der Hütte bei der Hüttengaudi ihre Schnäpschen tranken und zur Gitarre lustige Lieder sangen. Ihr fröhliches und für wachsende Begeisterung sorgende »He-ladi-ladi-ladi, He-la-di-laaa-dioooo« klingt mir noch heute in den Ohren. Schön, dass die Großen so viel Spaß hatten, ich hatte ihn jedenfalls nicht und auch die Faszination für das Bergwandern verschloss sich mir völlig. Was bitte war so toll daran mit müden, schweren Beinen und schmerzenden Füßen stundenlang über Stock und Stein, bergauf und bergab zu marschieren? Für die Schönheit der Bergwelt hatte ich als Kind einfach nicht den Blick, zumal mir meistens ziemlich langweilig war, denn außer Laufen gab es ja kaum Abwechslung. Mal ganz abgesehen von den recht häufig vorkommenden und heftigen Gewittern, die in Sekundenschnelle über uns hereinbrachen und die Temperatur auf gefühlte Minus 20 Grad absinken ließen. Triefend, bibbernd und zitternd vor Kälte hieß es dann tapfer sein und weitergehen, denn vor Einbruch der Dunkelheit musste ja die Übernachtungshütte noch rechtzeitig erreicht werden. Meinen Eltern half da schonmal ein kräftiger Schluck aus dem Flachmann, mir nur die Hoffnung, dass es bis zur rettenden Hütte nicht mehr allzu weit sein würde.

 

Zugegeben, es gab auch schöne Momente in den Bergen. Das Plantschen in einem Gebirgsbach zum Beispiel, Gämsen erspähen oder im duftenden Gras liegend die Wolken beobachten und nicht zuletzt die Portion Spaghetti zum Abendbrot. Aber das alles konnte meinen Frust über die Bergtouren letztendlich nicht mildern. Ganz im Gegenteil! Da wir jeden Sommerurlaub so verbrachten, wurde mein Verdruss von Jahr zu Jahr nur größer. Und das Allerschlimmste? Ich hatte ja gar keine Wahl! Ob ich wollte oder nicht, ich musste mit in die Berge, während meine Freundinnen mit ihren Eltern ans Meer fuhren oder in die weite Welt flogen. Mich dagegen führte es abwechselnd nach Italien, Österreich oder in die Schweiz. Natürlich waren auch die Bayerischen Alpen vor uns nicht sicher. Und als wäre das alles noch nicht genug, gingen wir auch noch jeden Samstag, den Gott erschaffen hatte, mit Freunden meiner Eltern und deren Tochter Katrin in der heimischen Umgebung wandern. Zehn Kilometer mussten es mindestens sein, das war ja mal klar. Katrin und ich waren gleich alt und gingen auch in der Schule in dieselbe Klasse. Das samstägliche Wanderprogramm haben wir wohl nur deshalb überstanden, weil uns das Spielen von Nscho-Tschi und Ribanna die Touren leichter machte. Schließlich waren wir ja nicht irgendwo im Bergischen Land oder in der Eifel, sondern mitten in der Prärie und erwarteten sehnsüchtig die Ankunft von Winnetou und Old Shatterhand.

 

Zur Ehrenrettung meiner und auch Katrins Eltern sei erwähnt, dass sie schon so manches unternahmen, um ab und an für Abwechslung und Unterhaltung zu sorgen. So fuhren wir auch mal mit der oberbergischen Postkutsche oder waren in einer Tropfsteinhöhle und ähnliche Dinge mehr. Auch die Sommerurlaube in den Bergen wurden später von zwei auf drei Wochen erweitert, indem wir die letzten Tage der Ferien noch an einem See verbrachten zum Schwimmen, Segeln oder Wasserski fahren. Dennoch, es half alles nichts. Meine Aversion gegen jede fußläufige Aktivität war nicht mehr umzukehren und als ich es endlich selber entscheiden durfte, war klar, nie mehr in meinem ganzen Leben würde ich wandern oder spazieren gehen. Mir reichte es!

 

»Na, wie sieht’s aus? Gehst du nun mit mir nach draußen? Ein bisschen Bewegung und frische Luft täte uns beiden gut.« Marcos Stimme platzte wie ein Blitzschlag in meine Gedanken und Erinnerungen und holte mich zurück in die Gegenwart. In meinem tiefsten Inneren wusste ich, er hatte ja Recht. Ein paar Schritte, etwas Sauerstoff wären wohl wirklich nicht verkehrt und ich wusste auch, Marco würde sich riesig freuen, wenn ich mitginge. Im Gegensatz zu mir liebte er die Bewegung und jede Form sportlicher Betätigung. »Na, gut«, antwortete ich lahm. Marco tat mir irgendwie leid, wie er mich mit seinen großen, dunklen Augen hoffnungsvoll ansah und so nahm ich mir fest vor mit dem Maximalen, das ich an guter Laune in dieser für mich so unliebsamen Situation aufbringen konnte, mit ihm spazieren zu gehen.

 

Wir zogen uns schnell etwas über und waren wenige Minuten später unterwegs. Es war ein trüber, trister Novembertag mit grauen Wolken, die sich wie eine dicke Decke über den Dächern der Häuser ausbreiteten. Wenigstens war es noch nicht so kalt und so spazierten wir Hand in Hand durch die Straßen und Gassen unseres kleinen Dorfes. Kein Mensch war weit und breit zu sehen, lediglich ein paar Schafe glotzten uns über den Zaun einer großen Weide neugierig an. Der Weg führte uns vorbei an einem kleinen Bächlein, das leise plätschernd unseren Spaziergang untermalte, vorbei an hübschen Einfamilienhäusern mit den so typisch deutsch gepflegten und bereits winterfesten Vorgärten. Hinter einem Zaun lief ein Hündchen aufgeregt auf und ab und wedelte freudig mit dem Schwanz. Wir blieben einen Moment stehen und beobachteten das Hündchen, das schnüffelnd seine kleine Schnauze durch den Zaun stupste. Ich konnte mich kaum von dem Anblick lösen, denn ich liebte Tiere über alles! Als Kind durfte ich jedoch nur Goldfische haben, die in einem überdimensionierten Cognac-Schwenker ihre Runden schwammen. Später, so im Teenie-Alter, bekam ich einen Wellensittich, der feierlich auf den Namen Axel getauft wurde. Ich liebte mein Axelchen sehr, weil er so zutraulich war. Aber es kam, wie es wohl kommen musste, denn vom Sonnenuntergang magisch angezogen flog das Axelchen schneller als wir gucken konnten zur Tür hinaus, als mein Vater eines Abends von der Arbeit nach Hause kam. Der Gedanke, dass mein kleiner gefiederter Liebling nun einsam und allein in der Gegend herumflog, mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts zu futtern fand, machte mich völlig fertig. Weinend und immer wieder »Axel, Axelchen wo bist du?« rufend, lief ich bis zum Einbruch der Dunkelheit durch die Gegend, um mein Vöglein wiederzufinden. Doch es half alles nichts, das Axelchen war futsch und konnte auch mit Hilfe von Steckbriefen, die ich am nächsten Tag an jeder Straßenlaterne anbrachte, nicht wiedergefunden werden. Da ich mich lange, lange Zeit von dem Verlust nicht erholen konnte, hatte sich ein neues Haustier dann schnell erledigt. Für meine Eltern kam das nicht mehr infrage.

 

Als ich Marco kennenlernte und wir zusammenzogen, brachte er seine Katze mit in die Beziehung und viele, viele Jahre später gönnte ich mir Kaninchen, die in einem großen begehbaren Gehege lebten, das Marco eigens für mich, beziehungsweise die Kaninchen gebaut hatte. Wir wohnten inzwischen im eigenen Haus und im Garten war dafür ausreichend Platz. So grenzte an das Gehege auch noch ein großer, umzäunter Freilaufbereich, in dem sich die Hoppelchen so richtig austoben konnten und ich hatte meine helle Freude, sie dabei zu beobachten. Jeden Morgen vor der Arbeit ging ich zu meinen kleinen Fellnasen ins Gehege, um sie mit allerlei frischem Gemüse, Obst, Löwenzahn und sonstigen Leckereien zu versorgen. Auch musste das Gehege gesäubert werden. So verbrachte ich mindestens eine Stunde bei den Häschen und siebte mit Hilfe einer Katzenschaufel die Köttelchen aus dem Sand, entfernte die Pfützchen, verteilte frisches Stroh und Heu. Nach getaner Arbeit und einigen Schmuseeinheiten fuhr ich dann ins Büro. Sobald ich abends wieder zu Hause war, führte mich mein erster Weg direkt wieder zu den Kaninchen. Wusste ich doch nur zu gut, dass sie hinter der Gehegetür bereits sehnsüchtig auf mich warteten. Auf das Bild, das sich mir dann meistens bot, freute ich mich jeden Abend. Sechs kleine und äußerst quirlige Flauschknäuel, die darum wetteiferten als Erster durch die Türe in den Freilaufbereich zu flitzen. Während die Kaninchen dort miteinander spielten, Löcher buddelten oder Gras mümmelten, machte ich mich im Gehege wieder ans Werk. Saubermachen, frisches Futter und Wasser in die Näpfchen. An warmen Abenden saßen Marco und ich oft und lange auf einer Bank und schauten dem Gewusel im Garten zu. Definitiv besser als Kino! Kurz vor dem Schlafengehen ging ich dann nochmals nach draußen und brachte die Hoppelchen ins Bett, indem ich sie wieder ins Gehege bugsierte und mich mit einem leisen »bis morgen früh, ihr Süßen« von ihnen verabschiedete. Nachdem jedoch auch das letzte Kaninchen in den Tierhimmel aufgestiegen war, waren Marco und ich uns einig zunächst mal eine Tierpause einzulegen. Zu sehr ging es mir ans Herz, wenn eines der Tiere krank war oder gar starb. Zu groß meine Sorge, ob die Fellnasen gut versorgt sind, wenn wir in den Urlaub fuhren. Dabei hatte ich ein sehr nettes, junges Mädchen gefunden, das selbst Kaninchen hatte und zudem auch noch als Tierarzthelferin in einer nahegelegenen Kleintierpraxis arbeitete. Besser ging’s ja nicht und trotzdem war ich im Urlaub mit meinen Gedanken ständig bei meinen Tieren, hoffte und betete inständig, dass es ihnen gut ging.

 

Das Hündchen hinter dem Gartenzaun begann zu bellen und holte mich aus meinen Erinnerungen an die Kaninchen zurück auf den Spazierweg. Und als hätte es mir mit seinem Gebell eine Botschaft übermitteln wollen, durchfuhr mich plötzlich eine Idee! Hund? Na, klar, Hund!!! Das war doch die Lösung schlechthin! Marco brauchte einen Hund. Mit dem konnte er dann nach Herzenslust und stundenlang spazieren gehen, was sicher auch dem Wauwau gefallen würde. Überdies hätte Marco Gesellschaft und ich könnte folglich als »Mitläufer« entfallen. Und ich hätte endlich wieder ein Haustier, nach dem ich mich insgeheim schon wieder lange sehnte. Mit der Anschaffung eines Hundes wäre uns also beiden bestens gedient. Ich drohte vor innerer Aufregung und Vorfreude fast zu platzen, wusste aber auch, dass ich bei Marco nicht mit der Tür ins Haus fallen durfte. Schonend, sanft und häppchenweise musste ich ihm meine Idee nahebringen. Ja, das war genau die richtige Strategie! Beseelt und beglückt von dem Gedanken, dass dies mein letzter Spaziergang war, denn bald würde Marco ja mit unserem Hund unterwegs sein, gingen wir weiter und schließlich zurück nach Hause. In der folgenden Nacht war ich so überdreht, dass ich kaum schlafen konnte. Immer wieder hatte ich ein Bild vor Augen. Marco, mich und unseren Hund! Jetzt brauchte es nur noch eine günstige Gelegenheit, um Marco von dem geplanten Familienzuwachs zu überzeugen. Ich konnte es kaum mehr erwarten!

 

Einige Wochen später war es soweit. Es hatte geschneit und ich spürte Marcos Lust durch den Schnee zu stapfen. Auf seine Frage nach einem gemeinsamen Spaziergang brauchte ich daher auch nicht lange zu warten. »Schatz, du brauchst einen Hund«, antwortete ich voller Inbrunst. »Was glaubst du, was der jetzt Spaß hätte mit dir durch die Gegend zu laufen. Abgesehen davon, ich hätte so gerne wieder ein Tier und so ein Hund ist doch wirklich was Tolles. Was meinst du dazu?« Marco schaute mich etwas erstaunt an und antwortete geistesabwesend: »Ja, können wir irgendwann einmal überlegen«. Okay, Begeisterung sieht definitiv anders aus, konstatierte ich. Aber nachzubohren erschien mir in diesem Moment wenig erfolgversprechend. Nun gut, dachte ich, belassen wir es dabei. Der Anfang war jedenfalls gemacht, meine Idee zumindest schon einmal artikuliert. Ich war jedenfalls fest entschlossen nicht locker zu lassen, denn steter Tropfen höhlt ja bekanntlich den Stein. So ließ ich in den darauffolgenden Wochen keine Gelegenheit aus das Thema »Hund« anzusprechen. Marco reagierte jedoch stets mit stoischer Ruhe weder begeistert noch ablehnend. So kam ich irgendwie nicht weiter. Mist!