Über Max Scharnigg

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Max Scharnigg wurde 1980 in München geboren und schrieb als Journalist schon früh für diverse Magazine. 2010 erschien sein Romandebüt Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe, das mit dem Bayerischen Kunstförderpreis sowie dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. Sein zweiter Roman Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau erschien 2013. Seit 2014 ist er Redakteur der Süddeutschen Zeitung und schreibt bevorzugt über schöne Nebensächlichkeiten.

Teile dieses Romans sind entstanden in der Pensão Agrícola, Tavira, im Hotel Irma, Meran und im Hotel Adriatic, Ravinj.

Für wen schreibst du, fragte sie, es war früher Nachmittag.

Für die Schatten der Orangenbäume, wollte er sagen. Nur damit sie die Zunge herausstreckte und so tat, als wäre sie von einer Kitschrakete getroffen worden. Für die Sirenen, wollte er sagen, denen er jetzt tatsächlich seit einer geraumen Weile zugehört hatte. Sie näherten sich in der Ferne und entfernten sich wieder in der Ferne. Unwahr kamen sie hier oben bei ihnen an, wie die Meeresbrandung auf einer Postkarte unwahr bei ihrem Empfänger ankommt. Diese Sirenen schienen ihm heute wie eine Warnung, ein vorsichtiger Hinweis, der ihm versichern sollte: Ja, Paul Neulich, es gibt noch Unglück in dieser Welt.

Ich schreibe für uns, sagte er. Keine ausgestreckte Zunge, aber auch keine Nachfrage.

Er hatte den kleinen Schreibtisch in den Schatten gestellt, den die breiten Fensterläden auf die Terrasse warfen. In den ersten Wochen war vom Meer noch ein kräftiger Westwind gekommen, und sie hatten die Fensterläden mit einem Strick an die Hauswand binden müssen, damit sie nicht wild schlugen. Ein paarmal waren sie ausgerissen, und das Geräusch, mit dem der Wind das schwere Holz dann an die Wand geworfen hatte, war das Wütendste, was sie auf ihrer ganzen Reise gehört hatten. Nach dem Wind war, von einem Morgen auf einen Nachmittag, die Hitze gekommen. Es war die Hitze, das war ihnen bald klar geworden, auf die

Schatten war von nun an das Wichtigste, und die Einheimischen suchten ihn mit dem Instinkt von Tieren. Sie verschwanden tagsüber, hielten ihren Sommerschlaf in den dunklen Wohnhöhlen ihrer Vorfahren, verraten höchstens durch ein Pfannenklappern oder einen leise gestellten Radiosender mit Tanzmusik. Wer jetzt noch in den gleißenden Straßen mit dem Pflaster aus kleinen Steinen herumging, war Tourist. Je wärmer und farbloser die Tage wurden, desto mehr Besucher kamen. Sie führten mit ihrer Vorstellung von einer südlichen Kleidung ganz andere, synthetische Farben in den Ort ein, ließen sich dazu in sieben Tagen Arme, Beine und Hals röten und die Haarspitzen von Meerwasser und Sonne bleichen. Der Stamm der Urlauber, so schien es Paul, kam eigentlich kaum mit dem Stamm der Einheimischen in Berührung. Die Gruppen bewohnten den kleinen Ort in zwei getrennten Schichten, die sich nur gelegentlich zur Geldübergabe trafen. Die Gesichter der Einheimischen, hatte Sara in der erste Woche gesagt, haben so viele Falten, weil sie den Schatten so dringend brauchten. Er hatte nichts gesagt, aber eigentlich war er fest überzeugt, dass es doch

 

Sie hatten sich gestritten, erst heute Morgen. Es war einer jener Streits gewesen, bei denen sich zwei Menschen aus einer Laune heraus daran erinnern, dass sie vor nicht allzu langer Zeit noch Inhaber eines eigenen Lebens gewesen waren und ganz frei in ihren Entscheidungen. Frei im sinnlosen Herumstreifen am frühen Morgen, frei, am Vorabend das Lächeln des jungen Hutverkäufers zu erwidern. Frei auch im Liegenbleiben, obwohl die Signora schon zweimal vernehmlich mit ihrem Putzwagen gegen die Tür der Cabana gefahren war, in jenem besinnungslosen Unverständnis, das die ganze Welt Liebenden nach elf Uhr morgens entgegenbrachte. Nicht einer davon, eine Verdichtung aus allen diesen Momenten war der Anlass für ihren Streit gewesen, wie eine gemeinsam aufkochende Verstimmung, die in ein lustloses, aber doch akribisches Berechnen aller kürzlich erlittenen Ungerechtigkeiten mündete, das sich über Mittag und ihre Kaffeetassen hinweg fortgesetzt hatte, wenn auch mit anderen Mitteln. Sie hatten dann geschwiegen und gegenseitig so getan, als gäbe es hinter dem anderen etwas zu erkennen, als würde sich in seinem Rücken schon etwas abzeichnen, das ihn ersetzbar machte. Dazu gehörte es, später auf dem Markt unvermittelt in Seitenwege abzubiegen, ohne den anderen am Arm zu ziehen, und nicht auf ein Wort der Zustimmung zu warten, bevor sie den Händlern etwas abkauften. So war der ganze kleine Markt von Tavira Zeuge ihrer Verstimmung geworden und hatte dabei gute Geschäfte gemacht. Sie waren beide schlechte Schauspieler.

 

Er hatte zugesehen, wie sie erst die Einkaufstaschen auf den Boden und dann sich Kopf voran in die sonnenwarmen Decken und Kissen fallen ließ, zugehört, wie sie so baumelnd ihr Lied vom Fußballtorwart Theodor in den Stoff sang, eine Angewohnheit, die mehr Geräusch als wirkliches Lied war. Und er hatte ihre erwartungsvolle Stille danach absichtlich lange verstreichen lassen. Dann hatte sie laut Octopodes! gesagt, aber was sie eigentlich sagen wollte, war: Beachtung, jetzt. Gestern beim Essen waren sie sich uneinig gewesen, wie die Mehrzahl von Octopus lautete, Octopusse ja wohl nicht, und er hatte schließlich Octopoi vorgeschlagen.

Aber es ist griechisch, sagte sie jetzt triumphierend, immer noch in die Decke. Kein lateinischer Plural! Ist das deine große humanistische Bildung, dass du nicht mal Latein von Griechisch unterschieden kannst, ha? Sie lachte, und er musste die Hängematte mit beiden Händen auseinanderziehen, in die sie eingewickelt war wie ein Fisch im Netz. Musste sie auf eine Stelle an ihrem Nacken küssen, gleich unter den Haarflaum, und spürte dabei, wie ihr Lachen ganz nah an seinen Lippen vorbeipurzelte. Es war eine Stelle, die er sich früh gemerkt hatte, etwa so früh, wie man sich die entscheidende Straßenkreuzung auf dem Weg in

 

Später hatte sie gefragt, für wen schreibst du? Und er hatte gelogen. Nicht ganz, denn natürlich schrieb er für sie beide, seit sie unterwegs waren. Es waren die Honorare für die Ratgeber-Kolumne, die seit zwölf Jahren regelmäßig auf sein Konto flossen, ein unerschütterlicher Viervierteltakt, der ihm in seinem vorherigen Leben schon eine Wohnung zur Hälfte bezahlt hatte und ein oder zwei Autos und der sie beide nun schon fast ein Jahr voranbrachte, von einem Meer zum nächsten. Wenn diese Lebensader eines Tages endete, würde er nicht mehr August Sternberg sein, nicht mehr der geheimnisvolle Benimmlehrer und Gentleman im Stil-Teil des Magazins, den er Woche für Woche für die Leser auf siebzig Zeilen gab, wie ein Straßenkünstler in Florenz den Vivaldi gab. Bei ihm waren keine Perücke, Geige und Tonband zur Verwandlung notwendig, sondern lediglich der alte Rechner und eine kleine Handbibliothek mit versnobten britischen Adels- und Etiketteführern plus seiner gespielten hochnäsigen Strenge. Deutschlands Benimm-Papst Nummer 1, so warb das Heft mit ihm.

Also, August Sternberg würde ihm nicht fehlen, wenn irgendwann das Ende für die Kolumne kam. Auch nicht die

 

Der Vorwurf des Gefasels hatte ihn von Beginn seines Schreibens an verfolgt. Wichtigeres auf der Welt. In der Tat, das gab es. Er erlebte es seit fast einem Jahr mit Sara. Aber das Unwichtige, mit dem August Sternberg das Geld verdiente, war es schließlich, das diese zehn Monate erst möglich gemacht hat. Nicht nur deswegen fand er den Einwand unsinnig. Alles Unwichtige war wichtig, und alles Wichtige war zugleich unwichtig. Seit sie zusammen dem Sommer hinterherreisten, hatte er keine Nachrichtensendung ganz gesehen, die paar Zeitungen, die er gelegentlich mitnahm, langweilten ihn von der ersten Schlagzeile an. Alles, was dort stand, war unwichtig für sie. Mehr noch, er konnte sich nicht mal eine Welt vorstellen, in der diese Dinge einmal

 

Ihre Telefone hatten sie früh, in der vierten oder fünften Woche, ins Meer geworfen, das war noch in Sorrent gewesen. Erst sie und dann gleich er, sonst hätte es komisch ausgesehen. Sie hatten zwar nicht darüber gesprochen, aber der Grund war, dass sie die Anrufe in Abwesenheit nicht mehr ertrugen. Drei Anrufe in Abwesenheit, während sie erschöpft ein paar Stunden geschlafen hatten, zwei Anrufe in Abwesenheit, während sie auf die weite Sandbank vor der Stadt spaziert waren. Ein weiterer Anruf, während sie darüber berieten, wie lange sich hier eine Ahnung vom verklingenden Tag am oberen Bildausschnitt hält. Länger als irgendwo sonst jedenfalls, so war es ihnen vorgekommen. Dann war wieder eine Nachricht bei ihr eingesummt, und ohne zu lesen, hatte sie das Telefon lachend in die Nacht geworfen.

 

Erst als sein Gerät schon eine Weile mit einem schmalen Geräusch in der Brandung verschwunden war, war ihm eingefallen, dass damit nahezu alles versenkt war, was ihn mit der Welt verbunden hatte. Alle Nummern und die Nachrichten waren darauf gespeichert gewesen, auswendig kannte er nur den alten Anschluss seiner Mutter, weil

Er hatte also in Wirklichkeit viel weiter geworfen als nur die etwa neun Meter, die er schaffte, wenn er in dem anderen Arm Sara hielt. Darüber war er auf ihrem Rückweg durch das Gischtdunkel ein paar Minuten erschrocken gewesen. Dann aber hatte Sara etwas vom Salzwasser gesagt und dass es bei allen wichtigen Dingen im Leben dabei wäre, als Tränen, als Meer und noch irgendwas, das er heute vergessen hatte. Und schon davor hatte er sein ertrunkenes Telefon vergessen. Wie viele solcher Nächte am Strand hatte es seither gegeben. Wie viele Wellen waren seither an ihren Füßen ausgelaufen. Und jede einzelne war nichts als die Vorbereitung auf die nächste, so wie jeder Tag mit Sara nichts war als die Verheißung auf den nächsten.

In den Jahren, seit denen er fast ausschließlich die Texte für die Kolumne schrieb und in die Redaktion schickte, hatten sich diese Redaktion, das Heft und damit wohl auch sein Beruf verändert. Wie und aus welchen Gründen, das hätte er gar nicht genau sagen können. Er hatte gemerkt, dass sich die Absender auf den Rechnungsbelegen alle paar Jahre geändert hatten. Aber das hatte am Ergebnis so wenig geändert wie die immer schneller wechselnden Redakteure, die ihn betreuten. Er galt als pflegeleicht, was nichts anderes bedeutete, als dass er nichts dagegen hatte, wenn man eine Wortwiederholung tilgte oder aus einem Relativsatz zwei Hauptsätze machte. Das Magazin selbst hatte rund um die Sternberg-Kolumne mehrere neue Formate ausprobiert und dabei eine ganze Mannschaft an Art-Direktoren und stellvertretenden Chefredakteuren verbraucht, und sogar der Verlag hatte zweimal den Besitzer gewechselt. Wenn Paul es heute in die Hand nahm, kam ihm das Heft leichter vor, irgendwie flatternder, und die Seiten waren gleichzeitig voller und leerer als früher. Aber das war vielleicht auch nur, weil er es sich als August Sternberg angewöhnt hatte, alles Neue ein bisschen verdächtig zu finden. Gelegentlich musste er nachts darüber nachdenken, wie sie in der Redaktion mittlerweile wohl über ihn sprachen. Saßen jeden Monat Menschen an den Konferenztischen, die bei dem Namen August Sternberg gespielt nachsichtig lächelten und ihn insgeheim

 

Als Sara gefragt hatte, schrieb er nicht an einer Kolumne. Er antwortete vielmehr auf eine ungewöhnliche Nachricht aus seiner Redaktion, genauer des Ressortleiters Wulfstedt. Der darin zu wissen wünschte, warum die Sternberg-Kolumne in letzter Zeit so spürbar an Biss verloren habe, als ob es darauf eine klare Antwort gäbe wie: Es hat eben zu wenig geregnet.

 

Der Abend kündigte sich jetzt mit einer ersten leichten Veränderung aller Farben an, die Konturen der weißen Häuser kanteten für eine kleine Zeitspanne noch schärfer in den blauen Himmel, der Blick klarte sich ohne das Hitzeflimmern kurz auf, bevor alles wieder in den sanften Sirup des Abends getaucht und endlich darin aufgelöst wurde. Bürgerliche Dämmerung, dachte er. Er mochte dieses System, seit er irgendwo davon gelesen hatte. Bürgerliche, nautische, zuletzt die astronomische Dämmerung. Die Sterngucker als diejenigen, die immer noch etwas sehen, wenn die Bürger schon ins Bett getappt waren, so hatte er sich das immer gemerkt, aber niemals richtig nachgeschlagen. Noch dämmerte es also bürgerlich, und so fühlte er sich auch. Der warme Wind trug ihnen jetzt vernehmlich das Rauschen der Dünung zu, mit ihm stiegen Möwen auf, und gelegentlich verfiel eine von ihnen in ihr hämisches Gelächter, als hätte sie unten etwas entdeckt, über das man sich nur wundern konnte. Die Vögel ließen sich so jeden Abend noch ein paar Stunden lang heben und senken. Nichts gab es für sie hier hoch über dem Ort zu holen, nicht als ein bisschen Aufwind und die Aussicht.

Er vermutete, der Ressortleiter Wulfstedt hatte bestimmt schon länger nicht mehr auf einer portugiesischen Terrasse im Schatten von alten Fensterläden gesessen. Und sicherlich noch nie neben einer Frau, die gerade gleichzeitig ihre gesammelten Muschelschalen von gestern sortierte und die Artischocken putzte und von der man auch bei längerer Betrachtung nicht genau hätte sagen können, welche von beiden Tätigkeiten sie mit mehr Hingabe versah.

 

 

Ein Blick auf die winzige Wandtafel, auf der Kiko die Tagesgerichte notierte, sagte ihm, dass der Tag, der mit dem kleinen Streit begonnen hatte, mit einer Cataplana enden würde, die auch den Nahostkonflikt beilegen könnte. Das einzig Bedauerliche war, dass Kiko jeden Monat noch einen kleinen Tisch mehr in den Raum zwängte. Nicht aus kaufmännischem Kalkül, sondern weil es ihr leidtat, jeden Abend ein Dutzend Paare wieder hungrig zurück ins Hotel schicken zu müssen. Neben ihnen platzierte sie in diesem neuen Flüsterabstand ein junges Paar, das kaum gesetzt, überhaupt nicht flüsternd, dafür aber mit hessischem Dialekt die erste Einschätzung der Situation vornahm, in einer Lautstärke, als würden sie auf zwei Eisschollen auseinandertreiben.

Der junge Mann am Nachbartisch aber tat ihm leid, das war an diesem Abend nach wenigen Minuten klar. Nicht, weil er sich unter der breiten Standortanalyse seiner Freundin duckte wie ein Hund, der in rhythmischen Abständen mit dem Kopf wackelte, sondern weil Paul sich selbst in diesem vielleicht 22-jährigen Gesicht erkannte. Eigentlich sollten sie Warnhinweise auf junge Gesichter kleben: Achtung, könnte Spuren Ihrer eigenen Geschichte enthalten.

Das Aufstehen gehörte schon unter normalen Umständen nicht zu seinen Stärken. Er war eigentlich immer eher für das Liegenbleiben gewesen. Schon beim Schulfußball war er, wenn ihn einer gelegt hatte, so lange am Boden geblieben, bis der Sportlehrer nachsehen kam. Eine ganze Weile hatte er aber dann als Erwachsener dem Drang, liegen zu bleiben, erfolgreich widerstanden. War mit den anderen aufgestanden und hatte wie sie mindestens 14 Stunden in der Vertikalen verbracht, stehend in der U-Bahn, dann im Büro an den Stehtischen, die sie in ihrer Firma als Innovation für alle eingeführt hatten und nicht nur für die Rückenkranken. Abends dann noch in der Innenstadt, da wurde von ihm erwartet, an improvisierten Tresen rumzustehen oder sogar zu tanzen, was seiner Erfahrung nach ohnehin die undurchsichtigste und auch gefährlichste Form des Aufrechtseins war.

Seit Sara ihn aber gefoult hatte, war er einfach wieder häufiger liegen geblieben, nur war niemand nachsehen gekommen. Eigentlich war es das Einzige, was seitdem in seinem Leben neu war. Und natürlich eine ganze Menge Sachen in Kartons, die er sich bestellt hatte, aber das zählte wohl nicht. Würde er je von einem Segelboot in einen Ozean fallen, würde er sich langsam hinabsinken lassen, bis auf den Grund, und weiterliegen. Warum auch nicht? Tin Hasenglock war nicht mehr der Mann, sich gegen die Schwerkraft

 

Er schätzte aber, so, wie die Dinge jetzt standen, würden auch all die notorischen Aufsteher und Aufrechtsitzer, aus denen die Welt bestand, erst mal liegen bleiben. Er war nach dem Schlag ein paar Meter durch die Luft geflogen. Möglicherweise würde sich in seiner zukünftigen Erinnerung auch ein greller Lichtblitz dazu finden, aber das hatte noch Zeit. Jetzt lag er jedenfalls, jetzt hatte es ihn erst mal erwischt. Die Abfertigungshalle war bis zu ihm hinunter gleichmäßig hell ausgeleuchtet, trotzdem konnte er durch das Stahldickicht des gekippten Gepäckwagens über ihm nicht viel erkennen, er war wie ein fixiertes Tier im Käfig, in der Bewegung verkeilt. Er konnte aber sehen, dass er und der Wagen direkt unter einem Schalter von LOT Airlines lagen. Und als Nächstes fiel ihm auf, dass er es schon seit einigen Minuten geschafft hatte, nicht das Geringste an der Position zu verändern, in der er aufgewacht war, solides Liegetraining zahlt sich jetzt aus, dachte er. Die Fluglinie sagte ihm nichts, kein Land, das man von der Abkürzung ableiten könnte. Ganz wach, aber immer noch zwangsgefaltet, blieb er so am harten Sockel des Schalters liegen und beließ es erst mal dabei, bis ihn ein kleines Geräusch am Handgelenk erreichte.

»Der Sale-Hammer. Sparen sie 70 % auf Gartengeräte der Marke Ryobi«, dazu tanzende Dollarzeichen, ein hektisch und nonstop aufklappendes Geschenk, und darunter erschien der Vermerk Gelesen: 9.47 Uhr. Mehr als die Reihenfolge der Worte berührte ihn dieser Zeitstempel. Gelesen. Das meinte ihn, das war sein erstes eigenes Tun nach

 

Immerhin, das alles zu denken, in nahezu gewohnter Geschwindigkeit, trotz des halben Gepäckwagens auf dem Brustkorb, ließ ihn annehmen, dass es von hier aus wirklich weitergehen könnte. Er machte die Augen zu, aber er würde nicht mehr schlafen. Die Dunkelheit der Augendeckel war nur der einzige Rückzug, den er hier in diesem kaputten Hell um sich herum hatte. In ihrem Schutz malte er sich

 

Von den Details seiner Rettung machte er sich bei der nun stattfinden Vorschau noch kein Bild, das schien ihm zu anmaßend. Aber das Danach, das konnte er sich gut vorstellen. Es begann mit Blaulichtschatten und sorgenvollen Gesichtern, die sich über ihn beugten. Dann folgte viel gutes Liegen, das sah er voraus. Sah sich in einem sauberen Krankenhauszimmer, besucht von Uniformierten und Mikrofonen, es würde förmliche Blumen geben und Vorzugsbehandlung, etwas später vielleicht öffentliche Auftritte und Talkshows und natürlich auch einige öffentliche Auftritte von Sara, die

Wie auch immer es sich am Ende verhielt, seine Bio-Seite im Netz würde eine Menge neuer Besucher bekommen und er, Tin Hasenglock, fortan also einer sein, der einen der großen Anschläge überlebt hatte, inklusive Anspruch auf die komplette Anonymisierung, und zwar nicht nur, wenn er recht informiert war, im Netz, sondern auch in seinem Pass. Ha, dachte er, damit kam er dann vermutlich überall hinein. Oder nirgends, das wusste er jetzt nicht.

 

Es war auch egal, es war jedenfalls ein Neuanfang. Und ein Neuanfang war genau das, was ihm alle Netztherapeuten in den letzten Monaten geraten hatten, ohne dass einer zusätzlich auch dazugesagt hätte, wie man das macht. Bei Computern hatte er in den letzten Jahren Hunderte Festplatten defragmentiert, überschrieben und ausgetauscht, aber seine eigene Festplatte war immer noch voll mit Sara-Dateien. Wenn er in den letzten Monaten versucht hatte, sie zu löschen, hatte das in einem Absturz geendet. Am nächsten Morgen war dann alles immer noch da gewesen und er weiter zum Liegenbleiben gezwungen. Gleich nach