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Martina Simonis

Stillerthal

Das Lied Aymurins
Band 1

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Alle Rechte vorbehalten

© 2018 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

Lektorat: Beatrice Rubin

Cover: Céline Neubig

Satz: Sandra Guggisberg

eISBN 978-3-7245-2293-5

ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2279-9

www.reinhardt.ch

Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

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Erster Gesang

Stillerthal

«Niemandes Herr sein und niemandes Knecht.
Danach habe ich mein Leben lang getrachtet.»

Matthis Hagnasohn

Inhalt

Die Fremde

Feh

Tora

Das Dürrejahr

Die Saat des Bösen

Aeolins Haar

Autorin

Die Fremde

Der Tag war jung. Noch zogen Jäger, Hirte und Stier ihre Bahnen über den nächtlichen Himmel, nur ein schmaler heller Streif am Horizont zeigte an, dass sich Sol bereit machte, erneut ihre Herrschaft über das Firmament anzutreten.

Wie jeden Tag in der Warmzeit, wenn die Kühe oben auf den Hochweiden grasten, stand Matthis vor Tagesanbruch auf, schlüpfte in seine Lederhose und band sich den Gürtel um. Dann griff er sich den Stock, schulterte die Kiepe und machte sich auf den Weg hoch zur Matthisalm. Schlaftrunken stieg er den schmalen Waldweg hinauf. Er stieg ohne Eile. Im ruhigen Rhythmus der Bergbewohner setzte er Schritt vor Schritt und wartete, dass die Frische des Morgens die Müdigkeit vertrieb. Heute musste er lange warten. Schnuppernd hob er den Kopf. Es hatte keinen Raureif gegeben in der Nacht und die Luft war ungewöhnlich mild. Ob das eine weitere Masura Sonnenschein oder einen baldigen Wettersturz bedeutete, konnte er noch nicht sagen, das musste der Tag weisen. Aber eines war sicher, lange konnten die Tiere nicht mehr auf der Alm bleiben, die Zeit für den Abtrieb rückte näher.

Nach einem letzten steilen Wegstück ließ Matthis die Krüppelkiefern hinter sich und trat in die Weite der Almen hinaus. Wie ein heller Ring umsäumten sie die Bannwälder Stillerthals, überragt nur von den mächtigen Bergmassiven, die das Tal von allen Seiten bedrängten wie eine Armee eisgeharnischter Krieger. Ein einziger schmaler Spalt dort, wo sich der Wilderbach seit Tausenden von Jahren einen Durchlass in den Fels gegraben hatte, wies die Stelle, die das Hochtal mit der Welt der Tieflande verband.

Während die Wälder und Felder am Talboden noch in nächtlicher Dunkelheit verharrten, schimmerten die Berge und Almen im frühen Dämmerlicht. Die kleine Kuhherde auf der Matthisalm war bereits erwacht. Gemächlich trotteten die zottigen Kühe über die Alm und kosteten hin und wieder einen Büschel Gras. Als Matthis nahe der Almhütten war, schnalzte er mehrmals mit der Zunge und rief leise und lockend: «Kooomm, Kooomm, komm, Maya. Kooomm, kooomm, komm!» Sofort hob die Leitkuh den Kopf und muhte eine Antwort. Die kleine Herde setzte sich in Bewegung, dunkle Kuhleiber strebten dem Melkstand zu. Matthis begrüßte seine Kühe mit etwas Salz, dann führte er eine nach der anderen auf die Holzplattform, massierte die prallen Euter mit Eutersalbe und molk sie ab. Am Ende war der Eimer voll und die Kühe verteilten sich zufrieden auf der Weide.

Matthis wusch sich die Hände am Wassertrog und setzte sich auf einen strohgepolsterten Platz vor der Hütte. Er holte ein in ein Tuch eingewickeltes Stück Brot aus der Kiepe, schöpfte sich eine Schale frisch gemolkener Milch und ließ sich sein Frühstück schmecken. Als er geendet hatte, legte er die Holzschale weg, stand auf und streckte sich. Schweigend sah er zu, wie die Sonne hinter den Bergen aufging und die Alm mit ihrem strahlenden Licht flutete. Mit geschlossenen Augen empfing er die wärmenden Strahlen Sols, der Königin des Himmels.

Als er die Augen wieder öffnete, fiel sein Blick auf die beiden Bäume, die eng ineinander verschlungen etwas oberhalb der Matthisalm standen. Seit Menschengedenken standen sie dort, weit oberhalb der Baumgrenze, und trotzten den Stürmen und Muren. Von seiner Mutter kannte er die beiden Legenden, die sich um diesen Ort rankten. Eine besagte, die Bäume hätten magische Kraft. Sie seien von den ersten Siedlern gepflanzt worden, um über die Menschen Stillerthals zu wachen. Eine andere Version erzählte, die Bäume seien zur Erinnerung an die Fehriner gepflanzt worden, die über die Berge in ein grünes und fruchtbares Land jenseits des Kharr-Gebirges gezogen seien. Matthis’ Mutter hatte den Ort in Ehren gehalten und ihn regelmäßig besucht, selbst als die Geschichten wie auch der Ort selbst bei den Stillerthalern in Vergessenheit geraten waren. In der ersten Zeit nach ihrem Tod hatte Matthis versucht, diese Tradition seiner Mutter aufrechtzuerhalten, aber die Mühsal des Alltags hatte seine Besuche bald einschlafen lassen. Sein letzter Gang hinauf zu den Wächterbäumen lag schon Jahre zurück. Zu viele Jahre, dachte Matthis, brach eine besonders schöne Lichtnelke und stapfte den kurzen Weg zu den beiden Bäumen hinauf.

Matthis war fast angekommen, als er wie angewurzelt stehen blieb.

«Sol, Sal und Seller!», entfuhr es ihm.

Am Fuße der Bäume lag eine menschliche Gestalt. Es war eine junge Frau. Das lange Haar war verfilzt und staubig, das helle Wollkleid und der einst hochwertige Umhang hingen in Fetzen. Die nur notdürftig mit Lappen umwickelten Füße waren übersät von blutigem Schorf. Trotz des Schmutzes leuchtete ihr Haar in der Farbe eines reifen Einkornfeldes und ihre Haut war unnatürlich hell. In der schattigen Kuhle unter den Bäumen wirkte sie fremd und unwirklich. Matthis kniete nieder und berührte sie leicht.

«Hayda, fremde Frau, hörst du mich?»

Sie bewegte sich nicht. Matthis tastete nach ihrem Puls. Er war schwach, aber vorhanden. Als er die Frau vorsichtig umdrehte, löste sich der Umhang und gab ihren linken Arm frei. Eine tiefe, blutig-eitrige Wunde klaffte über die gesamte Länge des Armes und verstümmelte dessen makelloses Ebenmaß. Matthis zog scharf die Luft ein. Er kannte solche Wunden von Kühen, die nach einem Absturz tagelang durchs Gelände geirrt waren, ehe sie gefunden wurden. Und er wusste, es war höchste Zeit zu handeln, wenn es nicht schon zu spät war. Entschlossen riss er den Umhang in Streifen und band damit den verletzten Arm am Körper der jungen Frau fest. Dann warf er sie sich über die Schulter und stieg zur Alm hinunter.

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Vince kam fröstelnd aus dem kühlen Naturkeller, in dem Matthis’ Käse reifte. Er kippte den kleinen Rest Sole, die er zum Abreiben der Käselaibe genommen hatte, in den Bottich, der neben der Käserei stand. Dann hockte er sich zufrieden auf die kleine Holzbank vor der Stube und wärmte sich in der Morgensonne.

Vince war gern Kuhbub auf dem Matthishof. Der Hof lag fernab vom Dorf auf einem kleinen wiesengesäumten Plateau mitten im Bannwald. Das war ihm gerade recht. Hier hatte man seine Ruhe. Keine keifenden Nachbarn, und der Vater, der ihn immer schlug, wenn er etwas falsch machte, weit weg. Matthis schlug nie. Weder ihn noch die Kühe. Zu den Kühen war er besonders freundlich. Vince verstand nicht, warum manche die Stirn runzelten, wenn sie von Matthis redeten. Nur seine Eutersalbe nahmen alle gern. Vince war überzeugt, dass niemand so viel von Kühen verstand wie Matthis. Matthis hatte sogar eine von Lundis’ besten Milchkühen, die sich ein Bein gebrochen hatte, so gut geschient, dass man nach ein paar Monden nichts mehr merkte.

Dösig saß Vince auf der Bank, als ihn das tiefe Muhen von Matthis’ Leitkuh aus dem Halbschlaf riss. Kurze Zeit später sah er Maya und die anderen Kühe in dichtem Gedränge den schmalen Fußweg, der den Hof mit der Alm verband, hinunterstapfen, Matthis folgte dicht dahinter. Aber Matthis kam nicht allein. Über den Schultern hatte er den leblosen Körper einer Frau hängen. Vince sprang auf und lief ihm entgegen. Mit offenem Mund starrte er das fremde Stück Mensch an. Matthis blieb kurz stehen und reichte Vince seinen Stock.

«Hier, bring die Kühe auf die Hausweide und dann komm ins Haus, ich brauch dich.»

Vince nickte und trieb die Kühe auf die kleine umzäunte Wiese, die direkt neben dem Hof lag. Die Kühe kannten Vince und sie kannten die Weide und so folgten sie ihm brav. Sobald das letzte Kalb auf der Wiese stand, schloss Vince das Holzgatter und rannte ins Haus. Als er in die Stube kam, blieb er abrupt stehen.

«Igitt!», japste er. «Das stinkt!»

Matthis sah ihn streng an.

«Ein verkoteter, kranker Körper riecht nie gut. Komm jetzt, ich will, dass du was lernst.»

Matthis hatte die Fremde auf den langen Küchentisch gelegt, der den Küchenbereich vom übrigen Raum abtrennte. Über der gemauerten Feuerstelle hing ein Topf mit brodelndem Wasser. Eilig trug Matthis Schüsseln, Schöpfkelle und allerlei Kräuterutensilien aus Regalen und Schränken zusammen. Als er alles beisammen hatte, holte er ein Messer und zerschnitt in zügigen Schnitten die zerfetzten Kleider, zog sie vorsichtig ab und warf sie ins Feuer. Dort, in den prasselnden, lodernden Zungen fanden sie ein schnelles Ende.

«Reinheit und Sauberkeit, das ist das Wichtigste, wenn du Krankheit besiegen willst», erklärte Matthis. «Vergiss das nie!»

Vince nickte. Andächtig sah er zu, wie Matthis die Waschschüssel mit heißem und kaltem Wasser sowie einigen Kräutern und Seifenraspeln füllte. Dann wusch er mit einem Lappen den nackten Körper so oft ab, bis das Wasser dunkel war. Vince beobachtete atemlos, wie sich aus dem dreckverkrusteten Fleisch ein weißer Körper schälte.

«Sie sieht ekelig aus. Wie eine Made!», meinte er.

Matthis blickte ihn nachdenklich an.

«Fass sie an», befahl er.

Zögernd streckte Vince die Hand aus und berührte den hellen Körper.

«Was spürst du?», fragte Matthis.

«Es ist glatt und da sind kleine Härchen.»

«Nun berühre deinen eigenen Arm.»

Vince tat, wie ihm geheißen.

«Was spürst du nun?»

«Er ist auch glatt und hat kleine Härchen», gestand Vince.

Matthis nickte.

«Es ist nicht die Hautfarbe, die einen Mensch zum Menschen macht. Präge dir das gut ein!»

Dann machte er sich wieder an die Arbeit. Er wickelte der Fremden mit flinken Bewegungen eine Windel um den Schritt und deckte sie mit einem sauberen Tuch zu. Schließlich näherte er sich dem linken Arm und zeigte auf das feuchte Tuch, mit dem er den Arm abgedeckt hatte.

«Warum habe ich das gemacht?», fragte er. Vince schüttelte den Kopf.

«Weiß nicht.»

«Sie hat eine böse Wunde. Stoff hat sich darin verklebt. Der Stoff muss sauber entfernt werden.»

Matthis hob das Tuch ab. Vince zog scharf die Luft ein. Eine tiefe, eitrige Wunde zog sich über die gesamte Länge des Armes. Vince hatte noch nie eine so schlimme Wunde gesehen. Beklommen beobachtete er Matthis, der unschlüssig dastand und den Arm betrachtete.

«Was machst du, wenn du so eine Wunde vor dir hast?», fragte er, mehr zu sich selbst als zu Vince.

Vince schluckte und versuchte, nicht zu genau hinzusehen.

«Weiß nicht.»

«Eigentlich müsste man den Arm amputieren», murmelte Matthis, und Vince merkte, wie sehr ihm die Vorstellung zuwider war.

Wieder stand Matthis minutenlang da, ohne sich zu bewegen. Nachdenklich fuhr er fort: «Aber sie ist noch so jung … Wenn ich Mutters Vorrat aufbrauche, wir könnten es schaffen …»

«Was?»

«Den Arm wieder gesund zu machen!»

Er überlegte kurz, dann nickte er.

«Wir könnten es schaffen!»

Matthis holte eine flache Schüssel und füllte sie mit einer Flüssigkeit aus einer Flasche. Dann legte er ein schlankes Messer und andere Gerätschaften hinein, holte sie wieder heraus und hielt sie kurz über das Feuer. Blaue Flammen schossen in die Höhe, es sah aus, als wollten sie die Dinge verzehren, aber kurz darauf erloschen die Flammen von allein.

«Feuer reinigt», sagte Matthis. «Alles, was mit so einer schlimmen Wunde in Kontakt kommt, muss vom Feuer gereinigt werden! Alles!»

Matthis badete kurz seine Hände in der Flüssigkeit und hielt sie ebenfalls über das Feuer. Vince schrie auf, als blaue Flammen um die Hände emporzüngelten. Aber dann zog Matthis seine Hände schon wieder aus dem Feuer und die Flammen erstarben.

Atemlos verfolgte Vince, wie sich Matthis an die Arbeit machte. Zuerst band er den Arm ab und entfernte die verklebten Stofffetzen. Dann öffnete er die alte Wunde, entfernte Eiter, Narbengewebe, schnitt faules Fleisch weg. Immer wieder tunkte er saubere Tücher in eine Flüssigkeit und reinigte damit die Wunde. Am Ende vernähte er das klaffende Fleisch, umwickelte den Arm mit dünnen Rindenstücken und löste den Druckverband.

Matthis zeigte auf den Rindenverband und sah Vince scharf an.

«Das da hast du nie gesehen, ist das klar?»

Vince nickte ängstlich.

«Was ist das?», fragte er.

«Binha-ban. Rinde vom Fehnbaum. Die Leute denken, es ist Frevel, Hexenwerk. Aber das ist es nicht. Es ist vom Bruchholz, ein Schatz, freiwillig gegeben!»

Schließlich nahm er die Bastschale, in die er das faule Gewebe und die Lappen geworfen hatte, und hielt sie Vince vor die Nase.

«Was passiert damit?»

Vince musste den Kopf abwenden, so übel wurde ihm bei dem Geruch.

«Ein tiefes Loch graben und reintun?», presste er mühsam hervor.

«Das ist nicht schlecht, aber damit ist das Kranke nicht tot. Es ist immer noch da, wenn auch vergraben. Was habe ich über Wunden gesagt?»

«Dass alles, was mit einer Wunde in Berührung kommt, vom Feuer gereinigt werden muss.»

«Richtig. Und das tun wir nun.»

Matthis trug die Schale zum Feuer und warf sie mitsamt dem Inhalt in die lodernden Flammen. Dichter, beißender Rauch qualmte auf. Vince riss die Hände vor den Mund und rannte nach draußen, wo er sich übergab.

Vince fegte den Staub des Sommers aus dem Kuhstall. Er machte den Hühnerstall sauber. Brachte reifen Dung im Gemüsegarten auf. Riss die Brennnesseln, die in Massen rund ums Haus wuchsen, aus. Nur um nicht an die Frau in der Stube denken zu müssen. Um die Bilder nicht mehr sehen zu müssen. Dabei merkte er nicht, dass die Luft dumpfer wurde und der Himmel zuzog. Erst als es in der Ferne donnerte, blickte er auf. Eine gelbgraue Wolkenfront jagte aus Richtung der untergehenden Sonne heran und hatte in kurzer Zeit den Himmel erobert. Gerade noch rechtzeitig scheuchte Vince die Hühner in ihren Verschlag, dann brach das Unwetter los. Unter heftigen Hagelschauern trieb er die Kühe in den Stall, dann floh er in die warme Stube.

«Puh!» Er schüttelte sich und zog das durchnässte Hemd aus. «Gut, dass die Kühe unten sind. Dieses Wetter hätte ihnen gar nicht gefallen.»

Matthis sah nur kurz auf den prasselnden Eisregen vor dem Fenster.

«Gut, dass sie unten ist», sagte er und nickte in Richtung der Kranken. «Sie hätte die Nacht dort oben nicht überlebt.»

Vince sah scheu auf die Fremde, die jetzt in Matthis’ Alkoven nahe der Herdstelle lag. Ihr Atem ging schnell und stoßweise, dicke Schweißtropfen standen auf der kalkweißen Stirn. Manchmal warf sie unter krampfartigen Zuckungen den Kopf hin und her oder bäumte sich auf. Matthis saß mit verbissenem Gesicht neben ihr, wischte ihr immer wieder mit einem feuchten Tuch Stirn und Hände ab und träufelte ihr mit einem Löffel etwas Flüssigkeit in den leicht geöffneten Mund.

Jetzt stand er auf, tauchte zwei Tücher in den Wassereimer, der auf Küchentisch stand, und wrang sie aus.

«Komm her, damit du was lernst.»

Er gab Vince die Tücher in die Hand.

«Hier, das kannst du machen. Wickel die Tücher fest um die Unterschenkel. Achte darauf, dass das Wasser nicht zu kalt ist, gib im Zweifel etwas warmes Wasser vom Topf dazu. Das Tuch wird schnell warm, dann hilft es nicht mehr. Deswegen musst du es regelmäßig erneuern. Und achte darauf, dass das Bettzeug nicht nass wird. Leg immer ein Stück Fell unter. Und wechsle auch das Fell regelmäßig. Dort drüben auf dem Stuhl liegen zwei Kuhfelle bereit, die kannst du nehmen.»

Vince hob die Bettdecke und machte sich daran, die Tücher um die Beine der Kranken zu wickeln. Beim ersten Kontakt zuckte er zusammen.

«Sie ist so heiß!»

Matthis nickte und flößte der Fremden weiter kleine Löffelchen Sud in den Mund.

«Aber du machst sie wieder gesund, nicht?»

Matthis sagte nichts.

«Du bist der beste Heiler, den ich kenne», versuchte Vince sich und seinem Lehrvater Mut zu machen. «Besser als Marvis! ‹Einläufe mit leicht gesalzenem Honigwasser bei Durchfall, Molke mit einem Sud aus Tammil gegen Entzündungen und Wurmbefall, Birkenknospentee zur Fiebersenkung, Wundbehandlung mit Birkenrinde›», zitierte er stolz. «Ich habe mir alles gemerkt!»

Matthis legte Becher und Löffel beiseite und wandte sich Vince zu. Eindringlich blickte er ihm in die Augen.

«Vince, du musst mir etwas versprechen, das sehr wichtig ist. Lebenswichtig.»

Vince nickte eingeschüchtert.

«Ich bin kein Heiler, Vince. Ich DARF kein Heiler sein! Ich bin Matthis, der Kuhbader, mehr nicht. Das Wissen um das, was wir hier tun, darf nie den Matthishof verlassen. Nie! Du wirst darüber kein Wort zu niemandem sagen, auch nicht zu deinem Vater. Versprichst du mir das?»

Vince starrte ihn an.

«Ich verspreche es!», flüsterte er.

Matthis legte seine kräftige rechte Bauernhand auf seine Brust.

«Auf dein schlagendes Herz?»

Vince tat es ihm nach. Seine Bubenhand mit dem zerrissenen Hemdsärmel legte sich auf die magere Brust.

«Auf mein schlagendes Herz!», schwor er andächtig.

Matthis nickte.

«Gut. Dann wäre das geklärt.»

Er wandte sich wieder der Kranken zu.

Vince beobachtete, wie er Löffel um Löffel in den kleinen Spalt zwischen den ausgetrockneten Lippen flößte.

«Aber du machst sie wieder gesund?»

Matthis antwortete nicht gleich.

«Wir können heil machen, was zum Leben bestimmt ist. Wir sind machtlos, wenn dem Tod die Herrschaft gebührt», sagte er dann, mehr zu sich selbst als zu Vince.

Nachdenklich wischte Matthis der Fremden mit einem feuchten Tuch die Schweißperlen von der glühenden Stirn.

«Und ich weiß noch nicht, was Aoum für sie vorgesehen hat.»

Danach wurde nicht mehr gesprochen. In Stille verstrichen die Stunden, die nur von dem regelmäßigen Wechsel der Wadenwickel, der Zubereitung von frischem Tee und dem Beträufeln der Lippen unterbrochen wurden. Einzig der wütend an die Fensterscheiben klopfende Eisregen erinnerte daran, dass es eine Welt jenseits der Stille gab. Als das letzte fahle Abendlicht verloschen war und der Schwärze der Nacht Platz gemacht hatte, stand Matthis auf und legte Vince die Hand auf den Arm.

«Das reicht, Vince, das reicht. Hol dir was zu Essen aus der Kammer, du weißt, wo alles ist. Schau auch noch einmal nach den Kühen. Gib den Trächtigen ein wenig Korn, sie brauchen jetzt eine Zusatzration. Und dann leg dich ins Bett. Ich komme hier allein zurecht.»

«Aber …»

«Kein Aber, geh jetzt.»

Vince tat, wie ihm geheißen. Nachdem er die Kühe versorgt und sich ein dickes Stück Käse und eine große Scheibe Brot gegönnt hatte, huschte er zu seinem Bett und ließ sich müde auf die Heumatratze fallen. Der über den Alkoven gebeugte Matthis war das Letzte, was er sah, dann glitt er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Die nächsten Tage brachten keine Veränderung. Die Zeit war eine träge Schnecke geworden. Vince war froh, wenn er der dumpfen Wärme der Stube entfliehen konnte, um sich um die Kühe und die Hühner zu kümmern. Derweil pflegte Matthis die Fiebernde. Machte beharrlich Einläufe und Wadenwickel, wechselte Windeln, träufelte Tee zwischen die aufgesprungenen Lippen.

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Fahles Licht, das sich zu einem Raum verdichtete. Objekte, die ihr bekannt vorkamen. Widerstrebend öffnete sich die Tür zu dem Ort, in dem die Sprache wohnte, und ließ die dazu passenden Wörter frei. Tisch. Bank. Stuhl. Feuerstelle. Fenster.

Durch das Fenster sickerte helles Mittagslicht, Staub tanzte in der Luft. Frieden. Aber etwas störte. Es dauerte einen Moment, bis sie merkte was. Zwei Männerstimmen unterhielten sich in der für ihre Augen unsichtbaren Welt jenseits der behütenden Mauern. Die eine Stimme war laut und bestimmend, die andere ruhig und bedächtig.

«Brauchst du was?», fragte die bedächtige Stimme.

«Nein.» Kurzes Zögern, dann kam fast beleidigt die Feststellung: «Du warst nicht beim Lauschan.»

«Nein», sagte die bedächtige Stimme.

«Wir haben uns gefragt, ob dir klar ist, was es bedeutet, dass du in den Kreis der Lauschan-Mahadan aufgenommen wurdest.»

«Ja.»

«Ob du weißt, dass das Amt normalerweise vom Vater auf den Sohn übergeht. Dass normalerweise gilt: wo kein Vater, da kein Amt!»

«Ich weiß es, Lundis. Und ich bin dem Rat dankbar, dass ich aufgenommen wurde. Aber ich habe eine kranke trächtige Kuh im Stall. Ich konnte nicht weg.»

«Oh.» Hörbare Irritation. «Na dann hoffe ich mal, dass sie bald gesund wird. Du stehst jetzt in der Pflicht!»

«Ich komme, sobald es geht.»

«Gut. Ach ja, und bring mir das nächste Mal etwas von deiner Eutersalbe mit. Eine meiner Kühe mault mal wieder, wenn sie gemolken wird. Also, haday, Matthis, wir zählen auf dich beim nächsten Lauschan!»

«Haday Lundis.»

Eilige Fußschritte entfernten sich, müde Fußschritte tappten ins Haus zurück. Ein Mann trat in ihr Blickfeld. Ihr Herz setzte einen Moment aus, als sie die dunkle Haut sah. Etwas in ihr sagte Gefahr. Der Mann hob den Kopf, ihre Blicke begegneten sich. Er blieb stehen und lächelte.

«Hayda!»

Bedächtig trat er an ihr Bett, beugte sich vor und sprach in langsamen, beruhigenden Worten.

«Hab keine Angst, ich tue dir nichts. Ich habe dich gefunden und in mein Haus getragen. Hier droht dir keine Gefahr.»

Der Mann hatte schwarzes Haar, einen kurzen Bart und einen ruhigen, vertrauenerweckenden Blick. Sie entspannte sich. Mühsam bewegte sie die Lippen, suchte nach dem richtigen Wort für die eine Frage, die irgendwie wichtig erschien.

«Wo?»

«Du bist in Fehrin. In Stillerthal. Mein Name ist Matthis und das hier ist der Matthishof.»

Sie schlug kurz die Augen nieder, um anzudeuten, dass sie verstanden hatte. Dann glitt sie in den alten Dämmerzustand zurück.

So blieb es. Wann immer sie aus schwerem Schlaf erwachte, sah sie das Zimmer, die Dinge, das Licht, das durchs Fenster fiel. Doch jedes Erwachen brachte neue Bilder. Sie sah den mit grauen Steinplatten ausgelegten Boden, das raue Holz der Wände, die mit Moos ausgestopften Fugen. Sie sah den Ausguss neben der sauber gemauerten Kochstelle und den rußgeschwärzten Kamin. Und immer wieder den Mann, der kam, beruhigend sprach und Suppe oder Tee brachte. Sie bemerkte die schwarznarbigen Punkte in seinem Gesicht, die feinen Falten rund um die Augen, die schwieligen Hände, denen man ansah, dass sie schon viel gearbeitet hatten. Manchmal kam ein Knabe. Schüchtern träufelte er ihr Tee oder Suppe in den halb geöffneten Mund.

Doch die Bilder hatten nichts mit ihr zu tun. Sie kamen und gingen, so als würden sie mit jedem Erwachen von Neuem zum Leben erweckt, um danach wieder in die Finsternis zu entschwinden, der sie entstammten.

Seit sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte sie, außer dieser einen kurzen Frage nach dem Wo, kein Wort gesprochen. Meist lag sie im Bett, die Augen starr an die Decke gerichtet, nur manchmal, wenn Matthis oder Vince im Raum waren, beobachtete sie, was sie taten. Das Gestern war ein schwarzes Loch, das Morgen existierte nicht. Sie lebte in einer Zwischenwelt ohne Vergangenheit und Zukunft, nur von der kurzen Zeitspanne der Gegenwart umfangen.

Sie wäre gern immer in dieser Welt geblieben. Aber eines Tages kam ein verstörendes Gefühl hinzu, das alles änderte. Sie fühlte ein vages Ich. Ein Ich, das litt, weil es spürte, dass es schwach und krank war. Ein Ich, das litt, weil es nicht wusste, wer es war. Ein Ich, das plötzlich Scham empfand, das die Augen schloss und den Kopf zur Wand drehte, wenn der Mann sie wusch oder die Windeln wechselte.

Der Mann schien die Veränderung zu merken. Er hängte einen Vorhang auf, mit dem er ihren Alkoven vom Rest der Stube abtrennte, wenn er sie wusch. Manchmal erzählte er. Vom Leben auf dem Hof, von den Kühen, vom Wetter. Jeden Tag erzählte er, mit leiser, unaufdringlicher Stimme. Ruhig, so als gäbe es nichts Selbstverständlicheres als ihr namenloses Ich, das stumm und ausgezehrt in seinem Alkoven lag.

Seine Pflege zahlte sich aus. Das Fieber wich, die Schmerzen vergingen. Ihr Körper gesundete. Nicht jedoch ihr Geist. Sie hatte ihren Körper zurückbekommen, aber sie konnte ihn nicht füllen. Noch immer lag ein schwarzer Vorhang zwischen ihr und der Person, die sie früher war. Bis der Tag kam, der alles änderte.

Wie jeder Tag begann auch dieser mit fahlem Dämmerlicht, das durch die Fenster ins Zimmer fiel. Aber das Licht war anders. Weißer, heller, kälter. Schneeflocken fielen dicht an dicht und bedeckten das Land jenseits der Stube. Mit dem Schnee fiel der Vorhang. Die Tür zu ihrer Vergangenheit, die so lange verschlossen war, öffnete sich und gab die Bilder frei. Wer sie war, woher sie war. Was sie hierher geführt hatte.

Ein dumpfer Schrei entrang sich ihrer Brust. Sie richtete sich in ihrem Alkoven auf, schob die Decke beiseite und setzte erst den einen, dann den anderen Fuß auf den Boden. Es dauerte kläglich lange, bis sie aus dem Bett geklettert war, aber es gelang. Als sie kniend vor dem Alkoven hockte, streckte sie den gesunden rechten Arm aus, griff nach dem Bettkasten und zog sich hoch. Sie atmete schwer, hielt sich am Vorhang fest. Dann der erste Schritt, der zweite. Taumelnd tastete sie sich an der Wand entlang in Richtung Fenster. Endlich war sie da. Sie presste die Stirn an die kalte Fensterscheibe und sah hinaus. Aber sie sah nicht den Schnee, der vor dem Fenster tanzte. Sie sah, was dahinter war. Was verloren war. Für immer. Als sie es nicht mehr ertrug, schloss sie die Augen und spürte der Kühle des Fensters auf ihrer warmen Haut nach. Dann drehte sie sich um und tastete sich zum Küchentisch vor. Auf dem Küchentisch stand ein Messerblock. Sie zog ein Messer nach dem anderen heraus und prüfte ihre Schärfe. Endlich fand sie eines, mit dem sie zufrieden war. Mit dem Messer in der Hand ging sie zum Kamin und ließ sich vorsichtig nieder. Die Klinge blitzte im Licht der lodernden Flammen. Sie beugte den Kopf, hob das Messer und begann, sich das Haar abzurasieren. Locke für Locke ihres goldfarbenen Haares fiel auf den Boden, bis es aussah, als säße sie in einem Bett aus Stroh. Als sie ihr Werk vollendet hatte, legte sie das Messer behutsam neben sich auf den Boden. Ihr kahler, geröteter Schädel schimmerte im Feuerschein. Dann warf sie Büschel für Büschel des Haares ins Feuer. Lodernd und dampfend ging ihre Vergangenheit in Flammen auf.

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Matthis beobachtete die Fremde, die am Tisch saß und die Hühnerbrühe löffelte, die er zubereitet hatte. Langsam und konzentriert führte sie jeden einzelnen Löffel zum Mund, sorgsam darauf bedacht, das Zittern der noch schwachen Hand unter Kontrolle zu halten. Man sah ihr die schwere Erkrankung an. Der Körper war dürr und ausgemergelt, die Wangen eingefallen, die Haut blass wie eine gekalkte Wand. Aber schon jetzt sah man ihre einstige Schönheit durch das Leiden hindurchschimmern. Die großen Augen, die ausgeprägten Wangenknochen. Das Tuch seiner Mutter, das er ihr gegeben hatte, trug sie wie eine Krone um den Kopf geschlungen.

Auf seine Frage, wie sie heiße, hatte sie «Lele» geantwortet. Matthis hielt sich daran.

«Gibt es einen Ort zu dem ich dich bringen kann, Lele?», fragte er. «Freunde? Ein Zuhause?»

Der Löffel der Fremden verharrte auf halbem Wege. Sie sah kurz auf.

«Ich komme nirgendwoher und ich kann nirgendwohin», sagte sie. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf den Löffel und führte ihn schweigend zum Mund.

Matthis verstand, was das bedeutete. Es war die Bitte um Asyl. Er nickte langsam.

«Also gut. Du kannst hier bleiben. Ich werde mir etwas überlegen.»

Als die Fremde mit Essen fertig war, räumte er den Teller ab, wischte den Tisch sauber, legte ein sauberes Tuch auf und holte sein Wundmesser. Lele sah ihn fragend an.

«Es ist Zeit, den Verband abzumachen», erklärte Matthis. «Der Arm muss bewegt werden, sonst versteift er.»

Sie rollte den Ärmel des alten Männerhemdes, das ihr Matthis gegeben hatte, hoch und legte den Arm auf den Tisch. Vorsichtig schnitt Matthis mit dem Messer die Schnüre des Rindenverbands auf. Der Arm darunter war dünn wie Reisig. Über die gesamte Länge zog sich eine wulstige rote Narbe. Dort, wo Matthis viel Fleisch hatte wegschneiden müssen, wölbte sich die Narbe nach innen, und in der Ellenbogenbeuge war die Haut so auf Zug gewachsen, dass es aussah, als würde sie beim geringsten Versuch, den Arm durchzustrecken, reißen.

Matthis blickte unglücklich auf den verunstalteten Arm.

«Es tut mir leid», sagte er. «Ich …»

Lele unterbrach ihn fast grob.

«Schweig, Matthis. Ich lebe und ich habe noch beide Arme. Mehr wäre …» Sie stockte, strich vorsichtig mit ihrer rechten Hand über das vernarbte Gewebe. «Mehr wäre unangemessen. Dieser Arm wird mich immer daran erinnern, wer ich war.»

Matthis sagte nichts. Die Frage «Wer warst du?» blieb ungestellt. Er wusste, sie hätte ihm nicht geantwortet. Nach einer kurzen Zeit des Schweigens räusperte er sich.

«Außer Vince weiß keiner, dass du hier bist. Ich denke, es ist am besten, wenn es so bleibt. Vinces Zeit als Kuhbub endet mit dem elften Mond, dann muss er nach Hause zurück, aber er wird nichts erzählen. Im Winter ist der Matthishof eingeschneit, da kommt keiner aus dem Dorf hier rauf. Doch um den dritten Mond beginnt die Schneeschmelze, dann wird sich deine Anwesenheit nicht länger geheim halten lassen. Daher habe ich mir etwas überlegt. Sobald die Straße befahrbar ist, könnte ich mir Lundis’ Ochsenkarren ausborgen und ins Tal reisen. Ich tue das hin und wieder, um Käse zu verkaufen. Ich könnte dich aus dem Tal hinausschmuggeln. Auf dem Heimweg könnte ich dich offen mitnehmen und als meine neue Magd vorstellen. Was hältst du davon?»

Lele sagte nicht sofort etwas. Nachdenklich schaute sie ihn an.

«Das wird nicht gehen, Matthis. Es würde Gerede geben.»

«Natürlich wird es Gerede geben. Du siehst anders aus als wir hier. Aber irgendwann hat dich jeder gesehen und der Tratsch wird aufhören.

«Ich meine nicht diese Art von Gerede, Matthis. Ich spreche von einer anderen Art Gerede. Ich erwarte ein Kind.»

Matthis zuckte leicht zusammen.

«Verstehe. Nein, dann geht das nicht.»

Er schaute auf seine Hände hinunter.

«Ich … ich könnte dich als meine Frau ausgeben. Nur nach außen natürlich. Ich … würde nichts verlangen, keine Ansprüche erheben. Aber unter den Umständen … wäre es vielleicht das … Unauffälligste?»

Lele nickte.

«Ja, machen wir es so!»

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Nie vergaß sie diesen ersten Winter. Sie war ein verletztes Tier, der Matthishof war ihr Bau. In der Stille und Abgeschiedenheit des Bergbauernhofes fand sie die Zuflucht, die sie brauchte, um zu genesen.

Es war ein langer und schwerer Weg zurück in ihren geschändeten Körper. Anfangs saß sie nur da und schaute hinaus auf den fallenden Schnee. Ihr schien, als ob ihr Körper selbst sich die Fessel der Reglosigkeit auferlegt hatte, als hoffte er, in der Ruhe der Glieder die Ruhe der Gedanken zu erzwingen. Doch irgendwann löste sich die Erstarrung und sie begann, sich kleine Aufgaben zu setzen. Erste Gänge vom Alkoven zum Stuhl, vom Stuhl zum Vorhang, von dort zum Alkoven zurück. Aber immer blieb sie in der Stube.

Matthis ließ sie gewähren. Er verlangte nichts, gab keine Ratschläge. Er war einfach da und ging seiner Arbeit nach. Stand früh auf und molk die Kühe, dann folgte die Arbeit in der Käserei, dann die Hühner. Manchmal war über Nacht so viel Schnee gefallen, dass er zuerst die Wege freischaufeln musste. Mittags stampfte er Butter, buk Brote, kochte, stellte seine Eutersalbe her. Abends saß er in der Stube und reparierte Werkzeug oder stopfte seine Hemden. Manchmal fragte sie ihn nach seiner Arbeit, dann erklärte er geduldig.

Schließlich kam der Tag, an dem sie beschloss, dass es Zeit sei, sich nützlich zu machen. Sie ließ sich von Matthis Arbeiten im Haus zuweisen. Sie schnitt Zwiebeln, schälte Erdäpfel, legte Brennholz nach. Anfangs waren selbst diese einfachen Tätigkeiten anstrengend, manchmal schlief sie vor Erschöpfung mitten in der Arbeit ein. Meist erwachte sie nicht einmal, wenn Matthis ihr die Schüssel mit den Erdäpfeln aus der Hand zog, um sie selbst zu Ende zu schälen. Auch verweigerte ihr versehrter Arm immer wieder den Dienst. Er blieb schlaff, wenn er fest zugreifen sollte oder zog sich plötzlich krampfartig zusammen. Einiges fiel zu Boden, manches ging zu Bruch. Sie war dankbar, dass Matthis kein Wort über die zerborstenen Schalen verlor. Mit zusammengebissenen Zähnen kehrte sie die Scherben auf und machte weiter.

Als sie sich stärker fühlte, bat sie Matthis eines Nachmittags, ihr den Hof zu zeigen. Mit klopfendem Herzen folgte sie ihm hinaus auf die tief verschneite Lichtung, die den Matthishof umgab. Es war eine beruhigend überschaubare und begrenzte Welt. Der Himmel hing tief, aus grauen Wolken fiel feiner Schnee. Ringsumher war schützender Waldsaum, die Äste der Lärchen und Kiefern beugten sich unter ihrer weißen Last. Und inmitten der verschneiten Wiesen mehrere geduckte kleine Holzgebäude. Das war der Matthishof.

Je kräftiger Lele wurde, desto mehr traute sie sich zu. Sie fragte Matthis, ob sie ihm im Stall oder beim Verkäsen der Milch helfen könnte. Matthis zuckte zuerst mit den Schultern und schüttelte den Kopf, aber am nächsten Tag nahm er sie morgens mit in den Stall. Interessiert sah sie zu, wie Matthis die Kühe mit etwas Salz begrüßte, fütterte, molk und den Stall ausmistete. Wie er Lab in die Milch gab, um das Kasein zu trennen, das dann in großen Netzen aus der Molke gehievt, in Formen gefüllt und gepresst wurde. Beschämt musste sie sich eingestehen, dass all diese Arbeiten zu schwer für ihren entkräfteten Körper waren. Anfangs hatte sie gehofft, Matthis zumindest beim Melken helfen zu können. Aber ihr versehrter linker Arm erlaubte kein gefühlvolles Arbeiten. Die Kühe lernten schnell ihren harten Griff fürchten und muhten, sobald sie den Stall betrat. So ließ sie es wieder sein und übernahm stattdessen das Füttern der Hühner.

Es bedrückte sie, wie wenig sie helfen konnte. Als die Schneeschmelze einsetzte und die Schneeberge in sich zusammensanken und begehbar wurden, beschloss sie, Matthis auf ihre Art etwas zurückzugeben. Nachdem sie die Hühner gefüttert hatte, ging sie im frühen Dämmerlicht in den nahen Wald. Bald fand sie, was sie suchte. Auf einer kleinen Lichtung stand eine alte Birke, deren Rinde sich an zahlreichen Stellen löste. Sie zog einige Rindenstücke ab und nahm sie mit nach Hause. Nach dem Wässern glättete sie die Rindenstücke zu dünnen, weißen Rindenblättern. Auf dem Herd kochte sie aus Ruß, Harz und Wasser Tinte, im Heuschober fand sie einen geeigneten Strohhalm, den sie sich als Feder zurechtschnitt. Mit diesen Utensilien setzte sie sich in die Stube und machte Notizen.

Matthis kam herein und blieb wie angewurzelt stehen, als er ihr Tun sah.

«Was tust du?», rief er. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte ihr die Dinge aus der Hand gerissen.

Sie sah erstaunt auf.

«Ich schreibe das Rezept deiner Eutersalbe auf.»

«Aber das ist … Schrift!»

«Natürlich ist das Schrift, was sonst?»

«Aber Schrift ist … von Übel!»

Lele blickte Matthis verständnislos an.

«Warum soll Schrift von Übel sein?»

«Schrift kann lügen. Lügen, die mit der Schrift festgehalten werden, vergehen nicht wie das gesprochene Wort. Sie bleiben bestehen und wirken fort.»

Lele überlegte einen Moment, dann antwortete sie ihm mit großer Ernsthaftigkeit.

«Was du sagst, stimmt. Schrift kann lügen und es ist schrecklich, wenn sie es tut. Aber kann das gesprochene Wort nicht auch lügen? Gibt es nicht Lügen, die in Form von mündlichen Traditionen und Vorurteilen von Generation zu Generation weitergegeben werden und unser Leben vergiften? Nicht die Schrift ist das Übel, sondern die Lüge. Schrift selbst ist etwas Wunderbares. Du hast selbst gesagt, wie schade es ist, dass mit dem Tod deiner Mutter so viel von ihrem Wissen verloren ging. Hätte sie es aufgeschrieben, wäre es jetzt noch verfügbar.»

Matthis’ Augen wanderten verunsichert zwischen ihr und den Schreibutensilien auf dem Tisch hin und her. Schließlich nickte er.

«Fahre fort!» Er schaute an ihr vorbei, als er das sagte und ging schnell aus dem Raum.

Traurig sah sie ihm nach. Ohne es zu wollen, hatte er sie wieder an das erinnert, was sie war. Eine Fremde in einem fremden Land.