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punctum 004

Nathalie Quintane
Wohin mit den
Mittelklassen?

Aus dem Französischen
von Claudia Hamm

Mit Fotografien von
Benoît Galibert

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

1.

Die Mittelklasse ist eine unzuverlässige Größe. Zu manchen Zeiten gibt es sie, zu anderen wieder nicht. Ihre Existenz hängt zunächst einmal von der von Klassen schlechthin ab (damit es eine Mittelklasse gibt, oder mehrere, muss es überhaupt Klassen geben), das heißt, vom Begriff Klasse selbst – zwischen 1981 und 2000 beispielsweise glaubte man, es gäbe überhaupt keine Klassen mehr (oder von unten bis oben nur eine einzige und die auf dem Weg der Angleichung), was bedeuten würde, dass man zuerst die unten in die Luft jagen müsste, damit dann die oben platzen könnten, um einzig die aus der Mitte (die Ex-Mittelklasse) übrig und sich unbegrenzt ausdehnen zu lassen – ein bisschen wie das Sonnen»system« zum Zeitpunkt des Urknalls.

Diese Theorie hat sich nicht durchgesetzt.

Man kann die Vorstellung, die man sich von der Mittelklasse macht, auf einen Haufen Zahlen verkürzen. Dabei geht man von einem Durchschnittseinkommen aus, sodass die Hälfte der Lohnempfänger mehr verdient und die andere Hälfte weniger. Um diese Zahlen etwas konkreter zu machen, sagen wir, die Kohle, die die Mittelklasse verdient, liegt zwischen 70 und 150 Prozent des Mittelwerts: »Das ergibt Nettogehälter zwischen 1200 und 1840 Euro pro Person bei Vollzeitbeschäftigung.« Wenn 70 Prozent des mittleren Einkommens gleich 1200 € sind, erhält man einen MW von 1560 € (eintausendfünfhundertsechzig Euro). Von 0,00 € bis 1560 € sind es 1560 €, diese fügt man den 1560 € des MWs hinzu und erhält ein max. Einkommen von 1560 × 2 = 3120 € (dreitausendeinhundertzwanzig Euro).

Man errechnet also eine Einkommensobergrenze von 3120 €, von der jeder erstens weiß, dass sie nicht existiert, denn wenn man sein Gehalt selbst höher veranschlagen kann, gibt es keinen Grund, bei 3120 stehenzubleiben, und zweitens, dass es Gehälter gibt, die diese Grenze längst schon nicht nur überschritten (wenn sie sich je darunter oder darauf bewegt haben sollten), sondern seit gut dreißig Jahren total gesprengt haben. 35 000 Euro, in dieser Größenordnung bewegt sich heute ein anständiges Monatsgehalt im oberen Bereich. Werden also in der Berechnung des erwähnten Mittelwerts die oberen Gehälter miterfasst, macht der mehr als beträchtliche (nämlich astronomische) Abstand zwischen ihnen und der fälschlich vorausgesetzten Obergrenze von 3120 die daraus folgende Rechnung absolut hinfällig. Man addiert nicht Karotten und Yachten. Und deshalb weiß man, was die Mittelklasse ist, aber das ist völlig aus der Luft gegriffen. Die Tatsache, dass dieses Wissen keine reale Entsprechung hat, verärgert im Stillen die Zahlenproduzenten, und sie rächen sich dafür an der Mittelklasse, indem sie sie als schwankend, unbestimmt oder unberechenbar bezeichnen und mit all jenen Eigenschaftswörtern behängen, die wir im Folgenden noch antreffen werden.

2.

Glücklicherweise kann man die Mittelklasse auch an etwas anderem als am Einkommen festmachen. Vor gut hundert Jahren hat Schlosser oder Schmoler ein System mit vier Variablen (a, b, c, d) erarbeitet, das Kombinationen vom Typ Kreuzreim (a reimt sich auf c und b auf d) oder vom Typ umarmender Reim erlaubt (a reimt sich auf d, b auf c), hier ist es:

a = oberer Mittelstand

b = unterer Mittelstand

c = alter Mittelstand

d = neuer Mittelstand

Zum Beispiel kann b (ein Angestellter) mit c (einem Handwerker, Bauern, Kleingewerbetreibenden) verheiratet oder liiert sein, während a (ein Unternehmensleiter, ein kleiner Privatier) mit d (einer Start-up-Chefin, einem Publizisten) oder auch mit c (dem Eigentümer einer Sektkellerei in Reims) liiert sein kann, so wie auch b mit d (einem festangestellten Heimarbeiter). Wenn man dem Schema bis zum Ende folgt, lässt sich daraus ableiten, dass a niemanden anderen als c oder d heiraten wird, b niemanden aus einer anderen Gruppe als c oder d, und dass folglich a niemals b geheiratet hat – oder nur sehr selten, nur im Sinne einer Ausnahme (stellen Sie sich die Verbindung eines Klempners und einer HNO-Ärztin vor).

Natürlich haben wir das nicht im Kopf, wenn wir heiraten oder uns zusammentun – und diese Besonderheit charakterisiert sogar die Zugehörigkeit zur Mittelklasse: eine strikte Trennung nämlich zwischen dem, was wir leben, und dem, was wir behaupten, die so weit geht, dass Letzteres völlig unabhängig von Ersterem wird und sich nur selten oder unpassend darauf bezieht.

3.

Aber das genügt noch lange nicht, um die Mittelklasse zu kennzeichnen, und um wieder eine wissenschaftlichere Perspektive einzunehmen, werden wir eine Reihe von Kurven bemühen, genauer: die der Grundkurven.

Das Modell des Heißluftballons veranschaulicht die Verteilung der sozialen Klassen zwischen 1955 und 1975, das heißt zu einer Zeit, da ein Arbeiter neunundzwanzig Jahre brauchte, um den Lebensstandard einer oberen Führungskraft zu erreichen: eine bescheidene Basis an Unterschichten, die sich zunehmend weitet, um ihre größte Ausdehnung bei zwei Dritteln des Schemas zu erreichen, das sich dann nach oben schnell verjüngt und die begrenzte Gruppe der wohlhabenden Klassen darstellt.

Das alles ändert sich 1976: Das Sanduhrmodell setzt sich durch, die Basis springt auf, weitet sich noch im ersten Drittel und verengt sich dann stark wie bei einem Korsett oder einer Orangina-Flasche, um schließlich nach oben hin wieder etwas breiter zu werden. Die Mittelklassen befinden sich auf der Höhe des Engpasses – des Halses der Orangina-Flasche bzw. der Taille des Korsetts. Die Schwellung ist nach unten gewandert: Das sind die Unterschichten der Arbeiter und Angestellten, und sie brauchen jetzt dreihundertsechsundsechzig Jahre, um den Lebensstandard einer Führungskraft zu erreichen. Kurz: Wenn man sich die Skizze genauer ansieht, nähern sich die Mittelklassen tendenziell den wohlhabenden Klassen an (bleiben aber im Flaschenhals stecken) und lassen dafür die beträchtliche (astronomische) Masse des »Volks« oder dessen, was man früher einmal so nannte, nach unten rutschen. Der abrupte Übergang von 1975 nach 1976 und der Bruch zwischen beiden Modellen ist dabei nur ein Effekt der fotografiehaften Darstellung, um die es sich bei jedem Schema dieser Art handelt (es fixiert den Zustand der Gesellschaft oder von was auch immer zu einer bestimmten Zeit t). Es ist an uns, Mutmaßungen darüber anzustellen, was zwischen, sagen wir, 1973 (offiziell der erste Ölschock) und Ende der 1970er-Jahre tatsächlich passiert ist: zum Beispiel eine kulturelle, also besonders prägende, »tiefgreifende« Entfernung von der Teilhabe an jenen sozialen Fortschritten, die man Ende der 60er-Jahre mit aller Macht und beinahe bewaffnet herbeigeführt hat – der Film Calmos von Bertrand Blier, der im Februar 1976 herauskam, gibt eine Vorstellung davon, er verfolgt auf burleske Weise die Flucht der (schnauzbärtigen) Jean Rochefort und Jean-Pierre Marielle vor begeistert den Feminismus entdeckenden Frauen und ihre Gründung einer neoländlichen Männergemeinschaft, in der Wein getrunken und Wurstwaren gegessen werden – was natürlich einen Punkt hinter frühere Filme setzt, die eher das Herumirren in oder die Flucht aus den Städten von kleineren Gruppen beschrieben (bei mehr als vier Protagonisten fällt es schwer, der Geschichte zu folgen) und die zwischen 1967 und 1971 (dem Erscheinungsdatum von Bof … Anatomie eines Lieferanten von Claude Faraldo) gut und zwischen 1972 und 1980 (Zwei Löwen in der Sonne, ebenfalls von Faraldo) zunehmend schlechter ausgingen. Und so schließt man aus der Tatsache, dass es keine ordnungsgemäße Revolution gegeben hat, entweder, dass alles umsonst gewesen ist, oder, dass man sich endlich entspannen und zum nächsten übergehen kann, was auch immer daherkommen mag. Und es kommen daher: in England Margaret Thatcher, in den USA Reagan und in Frankreich Mitterrand.

Schauen wir uns noch eine letzte Kurve an, die in U-Form: Diesmal steckt die Mittelklasse nicht im Flaschenhals fest, sondern in der Senke beziehungsweise im Loch des U – im Unterschied zum einfachen Volk keine Sozialleistungen und im Gegensatz zu den Betuchten auch keine Steuererleichterungen. Offensichtlich eine von den Mittelklassen selbst geschaffene Kurve, die ihr Begehren nach einem + an Zaster abbildet, um die gedeckelten Möglichkeiten des Sparens hinter sich zu lassen und in Finanzprodukte der unteren Kategorie investieren zu können, die an Postschaltern verkauft werden – bis zur nächsten Krise, die alle Konten wieder leerfegen wird.

Vervollständigen wir diese Identitätsmetaphern mit denen des Würfelzuckers und des Spiegelschranks, die ich irgendwo bei meinem Surfen gefunden habe. Mit welcher fange ich an?

Dem Spiegelschrank?

Dem Würfelzucker?

Wenn ich chronologisch vorgehen würde, wäre es der Spiegelschrank.

Also dann, beginnen wir mit dem Würfelzucker.

Wir alle kennen sogenannte canards. Wir haben alle mindestens einmal einen Kaffeecanard