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SERIE ARES. Historie militaire – Militärgeschichte Militärisches Denken in der Schweiz im 20. Jahrhundert – La pensée militaire suisse au 20e siècle - Michael M. Olsansky - HIER UND JETZT

Impressum

SERIE ARES: Histoire militaire Militärgeschichte.

Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften SAGW hat das Buchprojekt mit einem Beitrag unterstützt.

Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
Académie suisse des sciences humaines et sociales
Accademia svizzera di scienze umane e sociali
Academia svizra da scienzas umanas e socialas
Swiss Academy of Humanities and Social Sciences
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Lektorat: Alexander Jungo, Hier und Jetzt
Gestaltung und Satz: Greiner & Reichel, Köln
Bildbearbeitung: Humm dtp, Matzingen

Umschlagbild: Oberst Roger Masson,

ISBN E-Book 978-3-03919-924-2

E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim

© 2017 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden, Schweiz

Inhalt

Michael M. Olsansky

Einleitung

Auftakt

Rudolf Jaun

Die «Probe des Krieges» und die «Existenz des Staates» – Elemente des schweizerischen Militär- und Kriegsdenkens im 19. Jahrhundert

Im Zeitalter der Weltkriege

Rudolf Jaun

Ulrich Wille: Hintergrund und Wirkung seines Denkens und Handelns

David Rieder

Fritz Gertsch – Enfant terrible, Soldatenerzieher und Militärtheoretiker

Michael M. Olsansky

Umstrittener Spiritus Rector: Ulrich Wille d. J. und das militärische Denken in der Schweiz der Zwischenkriegszeit

Andreas Rüdisüli

Une pensée militaire romande? Ein staatliches Machtmittel aus Sicht einer nationalen Minderheit

Im Kalten Krieg

Peter Braun

Wille-Schüler und Armeereformer. Militärisches Denken in der unmittelbaren Nachkriegszeit

Peter Braun /Olivier Schneider

«Jede kritiklose Nachahmung fremder Vorbilder muss sich rächen!» Annäherung ans militärische Denken Alfred Ernsts

Michael M. Olsansky

Der Einfluss des ausländischen Beispiels: Zum operativen Denken von Hans Senn und Frank Seethaler während des Konzeptionsstreits

Rudolf Jaun

Alfred Stutz und die Raumverteidigung. Ein letztes Gefecht um die Gewichtung von area defense und mobile defense unter dem Regime der Konzeption 66 der militärischen Landesverteidigung

Dominique Juilland

Roger Mabillard : la pensée en action ou le retour aux fondamentaux militaires après Mai 68

Jens Amrhein

Das militärische Denken Gustav Dänikers d. J.

Querbetrachtung

Christian Bühlmann

La commodification de l’armée de milice ? La pensée stratégique suisse au défi de l’approche gestionnaire

Autoren/Auteurs

Einleitung

Der friedlichen Geschichte der modernen Schweiz ist es zu verdanken, dass sich Militärhistoriker hierzulande eher mit militärischem Denken auseinandersetzen als mit militärischem Handeln. Dabei bezog und bezieht sich das Denken über Militär bei Weitem nicht nur auf die Innenmechanismen und Organisationseigenheiten des sozialen Subsystems Militär und seines Instruments, der Schweizer Armee. Vielmehr widmete es sich gerade den Abhängigkeiten und Wechselwirkungen von Militär und Krieg, Militär und Bedrohung sowie von Militär und Gesellschaft. Was Militär sein soll, wie Militär sein soll, welche Rolle der Krieg als politisch-gesellschaftlicher Ausnahmezustand dem Militärischen zukommen lässt und welche Bedeutung die Schweizer Gesellschaft dem Militär zugestehen will, sind integrale Fragen der Pensée militaire. Glücklicherweise denken dabei nicht nur Militärs über Militär nach. Aber es gab sie, die Militärs, die über Militär nachdachten, oftmals Milizoffiziere, aber auch stets jener Teil des hierzulande kleinen militärischen Berufsstands, der seinen Expertenstatus denkend und schreibend zur Geltung zu bringen vermochte. Wobei zu hoffen ist, dass er das auch künftig noch kann.

Der vorliegende Band 3 der SERIE ARES widmet sich dem militärischen Denken in der Schweiz des 20. Jahrhunderts. Ursprünglich als Tagungsband zum wissenschaftlichen Symposium «La pensée militaire suisse de 1800 à nos jours» in Pully (VD) im Jahr 2012 gedacht, entschied sich die Schweizerische Vereinigung für Militärgeschichte und Militärwissenschaften (SVMM/ASHSM) nachträglich dazu, auf eine breite, teilweise aber etwas dünn bohrende Tour d’Horizon über die letzten 217 Jahre zu verzichten und die Herausgabe einer aufs 20. Jahrhundert beschränkten Beitragssammlung ins Auge zu fassen. Der Entscheid hierzu war, angesichts der Forschungslücken, die auch dieser Band nicht schliessen wird, rückblickend sicher richtig. Zugleich ermöglichte es diese Fokussierung des Untersuchungszeitrahmens, der themenspezifischen Forschung der letzten zwei Dekaden Raum zu geben bzw. Teile ihrer Resultate zu präsentieren. Diese Forschung wurde, wenn natürlich nicht ausschliesslich, so aber doch wesentlich von Rudolf Jaun – mittlerweile emeritierter Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit und Militärgeschichte an der Universität Zürich – und seinem «akademischen Harst» von ca. 50 Doktoranden und Lizentianden vorangetrieben. Einige Autoren der hier abgedruckten Beiträge sind denn auch aus dieser «Jaun-Schule» hervorgegangen, inspiriert von dessen für die Erforschung des Schweizer Militärs im 20. Jahrhunderts wegweisenden Arbeit über den Richtungsstreit in der schweizerischen Militärelite am Ende des Fin de Siècle. Jauns Habilitationsschrift Preussen vor Augen steckte mit der Untersuchung der Auseinandersetzung über die staats- und gesellschaftspolitische Positionierung des Militärs in der Schweiz den Rahmen ab, wie Anfang des 20. Jahrhunderts über Militär gedacht und gesprochen wurde. Die beiden Lager des Richtungsstreits – die «Neue Richtung» um den Soldatenerzieher und späteren Weltkriegsgeneral Ulrich Wille und die «Nationale Richtung» um eine Offiziersgruppe mit national-republikanischem Militärideal – dachten unterschiedlich über das Verhältnis von Nation und Armee sowie von Volk und Armee, dachten anders über den Offizier, über den Soldaten, hatten unterschiedliche Ansichten über die Organisation des Militärapparates, die militärische Kräfteverwendung im Kriegsfall sowie über die Ausbildung und zu beschaffende Rüstungsgüter. Ein grosser militärischer Themenkatalog also, der zu bedenken war, und bezeichnenderweise sollte sich das im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts nicht grundsätzlich ändern. Es stellt sich diesbezüglich auch die wichtige Frage nach Kontinuitäten und Brüchen. Etliche Schweizer Militärhistoriker teilen heute die Auffassung, dass sich der Richtungsstreit im Sinne einer longue durée durch das 20. Jahrhundert zieht. Andere sind zurückhaltender und verweisen auf Ungereimtheiten und Bruchstellen. Von zentraler Bedeutung scheint es hier, die Inhalte der sich gegenüberliegenden Denkschulen idealtypisch und dergestalt mit einer sensoriellen Akzeptanz von Abweichungen und Alternativpositionen zu verstehen. Ausserdem scheint es angezeigt, Denkschulen und Personengruppen nicht per se gleich-, sondern in Beziehung zueinander zu setzen. So ist die «Nationale Richtung» als agierende Personengruppe nach dem Ende des Ersten Weltkriegs quasi verschollen, jedoch sind ihre Diskursstränge noch da. Die «Neue Richtung» wiederum, die den Richtungsstreit gewann, pflanzte sich mit Wille-Schülern der zweiten, dritten etc. Generation personell noch Jahrzehnte fort, was jedoch nicht bedeutet, dass sich ihre Denkinhalte nicht teilweise verändert bzw. ihre Aussagemuster nicht verschoben haben. Ein entscheidender Einflussfaktor hat aber durch das 20. Jahrhundert hindurch Kontinuität: Es gibt ausserhalb bzw. um das hiesige Schweizer Militär herum eine Entwicklung des Kriegs und minimal eine Idealentwicklung modernen Militärs. So wie sich das Gesundheitswesen entwickelt, so wie sich die Wissenschaft entwickelt, entwickelt sich im europäisch-westlichen Kontext auch staatlich organisiertes Militär, und dieser Idealentwicklung kann sich das schweizerische Militär selten verschliessen. Die internationale Militärentwicklung, in den Beiträgen dieses Bands häufig als Mainstream bezeichnet, wird in der Neuzeit von unterschiedlichen pacemaker-Nationen vorangetrieben. War es in der napoleonischen Zeit das französische Militär, das die Mainstreamentwicklung vorangetrieben hatte, waren es später das preussische und das deutsche Militär, das selbst nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg seinen Nimbus als Experte nicht abgeben musste. Erst mit der totalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg verlor das deutsche Militär seine Position, Militär und militärische Kräfteverwendung idealtypisch weiterzuentwickeln; abgelöst wurde es im europäisch-westlichen Kulturkreis von den US-amerikanischen Streitkräften. Diese grossen Organisationen hatte das schweizerische Militär stets im Auge zu behalten, wenn es darum ging, sich selbst weiterzuentwickeln. Natürlich veränderte und verändert sich Militär hierzulande auch entlang konkreter schweizerischer Parameter, jedoch verstanden es in der Vergangenheit genug kluge Köpfe – wie die Beiträge in diesem Band zeigen –, die internationale Militärentwicklung zu verfolgen. Diese Idealentwicklung aus politischen Motiven zu ignorieren, führte dagegen meistens zu militärischem Rückstand und einem langfristigen Adaptionsstau.

Rudolf Jaun eröffnet diesen Band mit einem Beitrag über die unterschiedlichen Kriegs- und Militärdeutungen in der Schweiz des 19. Jahrhunderts und den daraus hervorgehenden, bereits erwähnten Richtungsstreit im Schweizer Offizierskorps. Sein zweiter Beitrag befasst sich mit dem militärischen Denken Ulrich Willes, des bis heute wichtigsten Impulsgebers für die Entwicklung der Schweizer Armee. David Rieder beschreibt auf der Basis seiner Dissertation das militärische Denken Fritz Gertschs, ein Radikaler unter den Wille-Gefährten mit einem guten Auge für die Evolution des modernen Kriegs, jedoch etwas eigenen Vorstellungen zum Idealumgang mit militärisch Unterstellten. Es folgt ein Beitrag des Herausgebers zu Ulrich Wille d. J., dem Sohn des Weltkriegsgenerals, einem voll in der Tradition seines Vaters stehenden Soldatenerzieher und hervorragenden Taktiker, der mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nicht nur wegen seiner Affinität für das deutsche Militär politisch sukzessive ins Abseits glitt. Andreas Rüdisüli fragt sodann nach einer «Pensée militaire romande», die er auf der Basis seines Dissertationsprojekts auf ihren staatspolitischen Kerngedanken hin untersucht. Peter Braun liefert im Weiteren mit einem Beitrag zur Herkunftsgeschichte der am Konzeptionsstreit hauptsächlich beteiligten Offiziere eine Skizze der erneuten Lagerbildung im Schweizer Offizierskorps nach 1945, um dann in einem anderen Beitrag sich explizit mit Alfred Ernst, dem Kopf des reformorientierten Lagers zu befassen. Der Herausgeber befasst sich darauf mit dem operativen und taktischen Denken von Hans Senn und Frank Seethaler, zwei äusserst beeindruckenden Exponenten einer neuen Schweizer Offiziersgeneration, deren militärisches Denken ganz wesentlich an ausländischen Führungsakademien geprägt wurde. Dominique Juilland beschäftigt sich mit Roger Mabillard, dem ihm persönlich sehr gut bekannten ehemaligen Ausbildungschef der Schweizer Armee in den 1980er-Jahren, der sich mit seinem Ruf nach mehr Kriegshärte in der Ausbildung der Schweizer Armee öffentlich nicht nur Freunde machte. Nach einem Beitrag Rudolf Jauns zum operativen Querdenker Alfred Stutz analysiert Jens Amrhein das Denkens des Militärintellektuellen, Offiziers und Publizisten Gustav Däniker d. J. Die Reise dieses Buches durch das hiesige militärische Denken im 20. Jahrhundert schliesst ein Beitrag Christian Bühlmanns zur jüngsten Militärentwicklung ab. Er konstatiert am Ende des 20. Jahrhunderts eine Stagnation des militärischen Denkens in der Schweiz, das aufgrund der Dominanz rein innenpolitischer Parameter geistig zu veröden droht und, von der internationalen Militärentwicklung abgekapselt, sich zusehends um sich selbst dreht.

Der vorliegende Band der SERIE ARES sucht den Zugang zum militärischen Denken in der Schweiz des 20. Jahrhunderts vor allem über militärische Denker. Forschungsstand und überliefertes Schriftgut führten wesentlich zu den hier vorgelegten Beiträgen. Selbstverständlich hätten es andere Köpfe ebenfalls verdient gehabt, in diese Darstellung aufgenommen zu werden. Das militärische Denken von Offizieren wie Julien Combe, Hans Frick, Samuel Gonard, Georg Züblin, Robert Frick, Jörg Zumstein oder Josef Feldmann harren ihrer Untersuchung. Es bleibt angesichts des aktuell deplorablen Zustands der Militärgeschichte an den Schweizer Universitäten zu hoffen, dass sich junge Historikerinnen und Historiker diesen Herausforderungen künftig noch stellen. Auch der SVMM steht diesbezüglich durchaus in der Verantwortung.

Michael M. Olsansky

Auftakt

Rudolf Jaun

Die «Probe des Krieges» und die «Existenz des Staates» – Elemente des schweizerischen Militär- und Kriegsdenkens im 19. Jahrhundert1

Die Art, wie Militär und Krieg von einzelnen herausragenden Schweizer Offizieren gedeutet wurden, veränderte sich im Lauf des 19. Jahrhunderts grundlegend. Das Denken über Militär und Krieg nahm zunehmend eine geschichts-, staats- und gesellschaftsphilosophische Orientierung an, welche in den beiden letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zunehmend auf die Ausbildung der Milizsoldaten und -offiziere einwirkte. Im Folgenden wird das schweizerische militärische Denken anhand der wichtigsten Publizisten diachronisch erörtert.

Die Deutung von Militär und Krieg stellte sich für die Träger der schweizerischen Staatlichkeit seit dem Beginn der frühneuzeitlichen Staatsbildung anders dar als für die Mehrzahl der Träger der europäischen Herrschaftsverbände, welche dem monarchischen Absolutismus unterworfen waren. An der absolutistischen Kriegführung hatte sich die Eidgenossenschaft lediglich als «neutrale» frühneuzeitlich-staatliche Vermittlungs- und Approbationsstelle privat finanzierter und organisierter Solddienstunternehmen beteiligt. Die primär für die Lokalverteidigung vorgesehenen und für die Aufrechterhaltung der Herrschaft über die eigenen Territorien verwendeten Milizorganisationen der einzelnen eidgenössischen Orte wurden von der Militärkritik der Aufklärung zwar immer wieder als alternatives Streitkräftekonzept zu den stehenden, monarchisch-absolutistischen Soldheeren und ihrer Kriegführung dargestellt. Der Schweiz fehlte aber am Ende des Ancien Régime nicht nur die Einheit der Staatspersönlichkeit und der ethnisch-kulturellen Nation, sondern auch die Einheit des Heeres, obwohl die aufklärerischen Visionen auch die Bildung einer nationalen Streitkraft einschlossen.2

Im Gegensatz zur Mehrzahl der europäischen Nationalstaaten war die moderne Schweiz auch nicht eine Kriegsgeburt: weder als gewaltvoller revolutionärer Aufbruch gegen die eigenen und fremden monarchischen Herrschaftsträger wie in Frankreich noch als Befreiungsakt gegen die imperiale Herrschaft Napoleons wie in Preussen-Deutschland, Spanien oder England. Die Schweiz verdankte ihre Existenz nach 1814 den europäischen Grossmächten, welche an der Weiterexistenz der Eidgenossenschaft ein Interesse hatten. Die militärisch-nationale Selbstdarstellung und die Kriegsdeutung konnten im 19. Jahrhundert in der Schweiz nicht direkt an Befreiungs- oder nationale Einigungskriege anschliessen, sondern musste in die Vergangenheit und Zukunft und damit auf die Ebene der Historiografie und der Geschichtsphilosophie ausweichen. Einesteils wurde auf die erfolgreichen Schlachten der Gründungs- und Wachstumsphase der Eidgenossenschaft zurückgegriffen, andernteils die idealistische Staats- und Geschichtsphilosophie und ihre Kriegstheorie benutzt, um die nationalstaatliche Entwicklung der Schweiz zu fundieren. Dieses geschichtsphilosophische Konzept hatte den Vorteil, Höhepunkt (1515), Niedergang (Ancien Régime) und Wiederaufstieg (1830/1848) des schweizerischen «Volkes» mit der vernunft- und fortschrittsorientierten Volksund Weltgeisttheorie zu verbinden. Während sich die Vertreter der Volksbewaffnung statisch-rückwärtsgerichtet am Vorbild der alten Eidgenossen orientierten, beriefen sich die Vertreter der nach dem europäischen Standard der Kampfführung ausgerichteten Milizarmee mehr und mehr auf das Fortschrittskonzept der idealistischen Staats- und Geschichtsphilosophie. Nach 1830 waren es deutsche liberale Emigranten wie der an der Berner Hochschule und an der Zentralschule Thun als Professor für Militärwissenschaften lehrende Rudolf Lohbauer, welche dem nationalen Militär der Schweiz eine idealistische Theorie vermittelten. Die Schweiz solle sich nicht dem «Naturalismus der Landesverteidigung durch die local zerstreute Menge» anvertrauen, sondern «dem eigenen Geiste seiner Nationalität, mit dem ganzen Beruf seiner Geschichte und der Bedeutung seines Volks in der Weltgeschichte» folgen, damit «der Geist das Schwert ergreifen und zum Streit und Siege lenken» könne.3 Demgegenüber hatten die Romantiker Zschokke und von Tavel in ihren Schriften auf eine explizite Deutung des Krieges verzichtet: Krieg erscheint implizit als natürlicher Vorgang unter den Völkern, deren Mitglieder auch über natürliche kriegerische Anlagen verfügten.4 Die Aktivierung der populären und gelehrten Überlieferung des Kriegertums der Alten Eidgenossen erlaubte, Orientierung für eine Wiedergeburt schweizerischer kriegerischer Tugenden zu gewinnen. Die Romantiker befassten sich vornehmlich mit der zugeschriebenen natürlichen kriegerischen Begabung der Schweizer und ihrer möglichen Anwendung in der Kriegführung. Auch ihr Widersacher, Johannes Wieland, ein Vertreter regulärer Kampfführung, konzentrierte sich vollständig auf die Mittel der Kriegführung. Als deren Zweck erscheint bei ihm neben der Bewahrung der Unabhängigkeit, Integrität und Ehre des schweizerischen Staates in prononcierter Weise die bewaffnete Verteidigung der schweizerischen Neutralität. Die militärische Verteidigung des von den Grossmächten garantierten neutralen Territoriums der Schweiz wird von Wieland in paradigmatischer Weise ausgeführt.5 An einer einzigen Stelle schlägt Wieland einen beinahe geschichtsphilosophischen Ton an, wenn er zur «Widerlegung des Wahnes, dass eine kraftvolle Einrichtung des Wehrstandes in der Schweiz nutzlos sey», ansetzt. Den «schwache(n) Theil unserer Nationalstellung» erblickt er im politischen Unwillen, die Unabhängigkeit der Schweiz zu verteidigen, und warnt davor, sich erneut auf die Gnade der Grossmächte zu verlassen: «Zweimal ist die Schweiz gefallen und durch fremden Machtspruch gerettet worden […]. Entweder wir bestehen die Probe, und wir sind ehrenvoll auf lange Zeit gerettet; oder wir wiederholen das traurige Schauspiel schweizerischer Zwietracht vom Jahr 1798 […], so wie das vom Jahr 1813 […] und dann ist die Eidgenossenschaft aufgelöst.» Die Schlussfolgerungen aus den Niederlagen von 1798 und 1813 sind angesichts der historischen Tatsachen keineswegs zwingend. Wieland übergeht den historischen Kontext der Existenz der Schweiz und unterwirft sich der Deutung des Krieges als Prüfungsinstanz nationalstaatlicher Existenzberechtigung: «Nachdem sie dreimal der Welt ihr Unvermögen vor Augen gelegt haben wird, mit eigenem Schwerdt die Unabhängigkeit zu behaupten, muss sie, und mit Recht, Schuld und Schmach des Untergangs an sich selbst tragen.»6 Diese Aussage steht bei Wieland singulär da. Es gibt keine weiteren Formulierungen in seinem Werk, die auf die Rezeption eines geschichtsphilosophischen Konzeptes schliessen lassen.

Im Banne der Staats- und Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus: Wilhelm Rüstow und Emil Rothpletz

In den 1860er-Jahren traten jedoch mit Wilhelm Rüstow und Emil Rothpletz zwei Militärpublizisten auf, welche die Staats- und Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus auf die Schweiz übertrugen und die Entwicklung des schweizerischen Nationalstaates und seiner Streitkraft mit der idealistischen Kriegsdeutung verbanden. Beide waren «1848er»: Rüstow war ein preussischer Offizier, der 1850 eine Schrift mit dem Titel Der deutsche Militärstaat vor und während der Revolution geschrieben hatte, in der er das stehende Heer als Instrument der Unterdrückung und Unfreiheit geisselt. Rüstow wurde darauf wegen Hochverrats verurteilt, entzog sich jedoch nach einem halben Jahr Festungshaft der Strafe und flüchtete in die Schweiz.7 Der Schweizer Milizoffizier Rothpletz hatte sich als Student 1848 an den Barrikadenkämpfen in Berlin beteiligt. Er ist dem politischen Aargauer Radikalismus zuzurechnen.8 Rüstow entfaltete in der Schweiz eine reiche militärpublizistische Tätigkeit. Rothpletz trat Ende der 1860er-Jahre mit seiner Anleitung zum militairischen Denken und Arbeiten: die Schweizerische Armee im Feld hervor. Beide aspirierten auf den 1874 neu geschaffenen Lehrstuhl für Militärwissenschaften an der ETH, den Rothpletz 1878 definitiv erhielt, worauf sich Rüstow erschoss. Rothpletz bekleidete den ETH-Lehrstuhl bis 1897.

Mit dem aus Preussen exilierten, linksliberalen Rüstow war ein herausragender militärtheoretischer Kopf in die Schweiz gekommen. Rüstow musste von der Feder leben, was seine publizistische Produktion enorm steigerte. Daneben gelang es ihm jedoch nicht, eine kontinuierliche Verwendung als Instruktor und Militärsachverständiger der schweizerischen Milizarmee zu erlangen. Neben Abhandlungen zum schweizerischen Wehrwesen verfasste Rüstow historische und militärtheoretische Werke sowie Kommentare zu den europäischen Kriegen vom Krimkrieg bis zum Ersten Balkankrieg. In seinen allgemeinen militärtheoretischen Büchern befasst sich Rüstow nicht nur mit «Kriegführung», sondern auch mit «Kriegspolitik» und der «Stelle des Krieges in der Weltordnung». Nach Lohbauer, der kaum publizierte, leistete Rüstow mit seinen zahlreichen Publikationen einen herausragenden Beitrag zur Deutung des Kriegs aus der Sicht der liberal-demokratischen Republik.

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Weggefährten und Konkurrenten, Offiziere und militärische Denker: Emil Rothpletz und Wilhelm Rüstow (Bilder: BiG).

Rüstow arbeitete in seinen Betrachtungen über den «Krieg», vor dem Hintergrund der Konstruktion des physisch-geistigen Machtkampfs der staatlich verfassten Völker, dessen Natur- und Kulturorientierung heraus. «In der Natur ist nun eine Erscheinung, welche sie vollständig durchdringt, der Kampf, das ewige Verändern der Formen, Vergehen und Entstehen, das Werden […]. Den Krieg aber, welchen die Menschen untereinander führen, dürfen wir mit Recht als eine besondere menschliche Form jenes allgemeinen Werde-Kampfes in der Natur hinnehmen, mit um so grösserem Recht, da der Mensch, wie vernunftbegabt er sein möge, ausserdem auch ein sinnliches Wesen ist und dadurch der Naturgeschichte verfällt, unter den allgemeinen Naturgesetzen steht.»9 Revolution und Krieg würden die «schadhaften Theile der Maschine» zusammenschlagen und sie durch neue ersetzen, «und bald geht das Werk wieder rüstig seinen ruhigen Gang».10 Rüstow nannte diese Betrachtungsweise in Abgrenzung zur militärischen Strategie «Allgemeine Kriegspolitik oder politische Strategik». Während es die Aufgabe der militärischen Strategie war, «eine Anzahl zu gewinnende Schlachten zweckmässig (zu) verknüpfe(n)», erhob sich darüber «eine höhere, die Politische Strategik, welche die Kriege eines Volkes wiederum dermassen verknüpft, dass ihre gesamte Reihe dem Staate zu Macht und Grösse in der von Natur gegebenen Richtung, zur Erfüllung der Mission des Volkes verhelfe und ihn in jedem Momente vor dem Falle bewahre».11 Kriege spielten sich im Bereich des natürlich-physischen Kampfes ab, dort, wo «Neues und Schönes» aus der Vernichtung des «Alten und Faulen» entstand. Der Krieg ist aber auch die Grundlage der Staatsexistenz. Mittels Krieg begründen Fürsten und Völker Staaten, und mittels Krieg bewahren sie ihre unabhängige Staatsindividualität. Erst auf der Basis von «Macht und Grösse» könne ein Volk seine «eigene weltgeschichtliche Mission» erfüllen und seine «Volkskraft» bzw. seinen Volksgeist weiterentwickeln und Teil der Weltgeschichte werden.12 Vor der Folie der Dialektik von physischem und geistigem Kampf wird der Krieg zu etwas Notwendigem – zu einem Instrument, das prinzipiell auf Sieg auszurichten ist, aber immer auch das Moment der Niederlage und des Verlusts der staatlichen Individualität bzw. Existenz eines Volks in sich trägt.

Es ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, die Wirkungsgeschichte Rüstows auf das schweizerische Militärdenken umfassend zu untersuchen. Es ist aber davon auszugehen, dass er sowohl auf die «Nationale Richtung» im Offizierskorps (Welti, Fisch, Gutzwiller, Hungerbühler) wie auf die Offiziere der «Neuen Richtung» (Affolter, Wildbolz, Wille) einen erheblichen Einfluss ausübte.13 Rüstows Einfluss auf seinen Weggefährten und Konkurrenten Emil Rothpletz ist jedoch formell und inhaltlich belegbar. Rothpletz nennt Rüstow neben Clausewitz, Jomini und Willisen in seiner Anleitung zum militärischen Denken und Arbeiten ausdrücklich als Autorität der Kriegswissenschaft.14

Rothpletz bemerkt zu Beginn seines Werks, dass er nicht immer mit den «Meistern unserer Kriegsliteratur» übereinstimme und dass dies daher rühre, weil «er zum ersten Mal die Theorie des Krieges vom rein republikanischen Standpunkt aus behandle». Auf die Schweizer Armee bezogen, traf dies sicher zu. Allgemeiner gefasst, kam dieser Anspruch Rüstow zu, auf den sich Rothpletz stützte. Neu war auch, dass eine für die Schweizer Armee im Felde geschriebene Anleitung zur Hälfte «Vom Kriege» handelte und sich dabei «absoluter» Begriffe bediente.15 Rothpletz entwickelte wie Rüstow seinen Kriegsbegriff am Hegelianischen Kriegsbegriff, der zwei Lesarten zuliess.16 Die eine Lesart erblickte im Krieg ein Mittel, die Männer der bürgerlichen Gesellschaft, welche im Schutz des konstitutionellen Staates ihren persönlichen Nutzen maximierten, kollektiv zu Tapferkeit und Entbehrung zu erziehen und den Tod und die Vernichtung von Hab und Gut fühlen zu lassen. Das andere, von Rothpletz herausgestrichene Moment sah im Krieg primär ein geschichtsnotwendiges Mittel, um die Anerkennung und Selbsterhaltung des Staates zu sichern. In der Sichtweise des Radikalismus mussten die «Bürger» der Schweiz nicht mittels Militär und Krieg zu Soldaten gemacht werden. Das selfgovernment der Schweizer Staatsbürger bildete die Basis der Miliz. Rothpletz stellt den Zusammenhang von Staatsexistenz und Krieg ins Zentrum seiner Abhandlung über den «absoluten» Krieg: «Die Existenz eines Staates ist gegenüber den andern Staaten und gegenüber seiner eigenen Bevölkerung eine Frage der Macht […]. Das letzte Mittel der Lösung der Machtfrage ist die Gewalt. Der Krieg ist das stärkste und äusserste Mittel der Politik – er ist der Kampf um die Existenz.»17 Die republikanische Staatsexistenz wird als Form der Entwicklung des Volksgeists begriffen und der lediglich mit physischen Mitteln geführte Krieg im Vergleich zu dem mit den Mitteln der «Volkskraft» geführten Krieg als sekundär dargestellt. Wie ein für das Auge unbeweglicher Gletscher arbeite der Volksgeist: «[A]lles scheint geistiges Leben und organische Form, bis im nächsten Augenblick die herrlichen Gebilde in der unaufhaltsamen Wucht der von blinden Kräften bewegten Masse verschlungen werden, aus der neue Gestalten zum neuen Untergang sich erheben, so arbeitet die Volkskraft, die selbst wieder ein Product des Kampfes um die Existenz ist.»18 Kriege müssten deshalb zur rechten Zeit und als «gerechte Volkskriege» ihren «Ursprung» nehmen, sonst arbeite der beste General umsonst: «Staaten im Verfall, so lehrt die Geschichte alter und neuer Zeit, erfechten selten oder keine fruchtbaren Siege […]. Der Krieg als blosse siegreiche Schlächterei ist für die Zukunft werthlos, nur der Kampf als Mittel der Politik eines lebensfähigen Staates bringt den erfolgreichen Sieg […].»19 Krieg ist für Rothpletz Kampf um den Sieg und zugleich Kampf um die Staatsexistenz: Vor dem Hintergrund dieser existenziellen Kriegsdeutung lehnt er eine Unterscheidung von strategischer Verteidigung und strategischem Angriff ab.

Um diese Vorstellungen mit der Schweiz in Bezug zu setzen, musste einiger theoretischer Aufwand getrieben werden. Wegen der Schwäche und Kleinheit des schweizerischen Staates, und weil das Volk darauf eingeschworen sei, müsse die Neutralität aufrechterhalten und allenfalls ein «gerechter Volkskrieg» gegen monarchische Übergriffe geführt werden. Immerhin schliesst Rothpletz eine Allianz mit einem republikanischen Staat «von gleicher moralischer Grundlage» nicht aus und hofft zumindest im Bedrohungsfall auf einen solchen Bündnispartner, ohne dass «die kleinlichen nichtssagenden Bedenken der Neutralitätspolitik» dies verhinderten. Auch sinniert er darüber nach, dass die Schweiz in den Grenzen des Ancien Régime «ein mächtiger und kein neutraler Staat» wäre. Er tröstet sich aber mit der Gewissheit der Entwicklungsfähigkeit des schweizerischen Volksgeistes darüber hinweg: «Solange die Republik lebenskräftig nach immer grösserer Vervollkommnung ihrer sittlichen Grundlagen strebt, kann ihr die Neutralität auch nicht an Einfluss und Ansehen schaden.»20

Die Fixierung auf die absolute Begrifflichkeit des militärischen Siegs und des Kriegs als Todeskampf um die staatliche Existenz erforderte eine gewaltige Dynamisierung der Humanressourcen der republikanischen Miliz. In der Vision von Rothpletz soll die militärische Qualifizierung der männlichen Bevölkerung in die zivile Ausbildung und ins zivile Sozialleben integriert werden. Mit dem Schuleintritt beginnt auch die militärische Ausbildung. Die Rekrutenschule zum Zeitpunkt der politischen Mündigkeit soll lediglich als «Prüfung und als Repetitorium der elementarwissenschaftlichen und der militairischen Arbeit der Jugendzeit» und als «Übergang vom Spiele der Jugend zu dem Ernst der Kriegstüchtigkeit» dienen.21 An den höheren Schulen, eingeschlossen die Hochschulen, sollen militärische Pflichtvorlesungen eingeführt werden, um die Unteroffiziere und Offiziere auf ihre Aufgaben vorzubereiten. Zudem sollen die Schützen-, Jäger-, Turner- und Bergsteigervereine und ihre eidgenössischen Zentralfeste zur «nationalen Erziehung» herbeigezogen werden.22 Am Lebensende erhalte der ältere, zum Felddienst nicht mehr verwendbare Mann die Aufgabe, die militärische Erziehung des nachkommenden Geschlechtes zu überwachen und für die Aufrechterhaltung der Ordnung im Innern des Landes besorgt zu sein: «Grundsätzlich ist auf diese Weise das ganze männliche Geschlecht von der Jugend bis zum Alter in steter Beziehung zum Kriege».23 Die Frauen gelten als die «vegetative, der Natur zugewandte Seite des Menschengeschlechts». In Hinsicht auf den existenziell aufgefassten Krieg ist den Frauen aufgegeben, «ein gesundes, kräftiges Geschlecht» zu erzeugen und Kranke und Verwundete zu pflegen: «Das Weib hat somit eine für den Krieg und die Zukunft des Vaterlandes höchst bedeutungsvolle, aber doch nur primitive Aufgabe.»24 Mit der Biologisierung der Frauen wird ihr Status auch für den Bereich des Staates und der Streitkraft auf die Rolle der gebärenden und fürsorgenden Mutter eingeschränkt.

Rothpletz entwarf sein Konzept der Militärrepublik in Abgrenzung zum monarchischen Militärstaat und seinem stehenden Konskriptionsund Söldnerheer. Wenn die militärische «Erziehung das ganze Menschenleben» umfasse und die Republik aus «einem Volk besteht, das den Pflug und die Waffe mit gleicher Leichtigkeit und Freude handhabt», dann sei die Republik «die wohl stärkere Kriegsbasis» und «der eigentliche Soldatenstaat».25 Rothpletz bezeichnete dies als «idealen Wunsch», welcher der «Wirklichkeit nur in geringem Masse» entspreche. Die Gefahr der Militarisierung und der Dominanz des Militärischen über das Zivilleben sah Rothpletz in der Tradition der liberalen Militärtheorie nur bei den stehenden Heeren der Monarchien, die über ein autonomes Militär verfügten. Sein «radikales», geradezu staatssozialistisch anmutendes Konzept hatte zusammen mit den Schriften von Wilhelm Rüstow eine nicht geringe Wirkungskraft: Es entsprach in grossen Zügen dem Ideengerüst des Entwurfs zur Armeereform von Bundesrat Emil Welti für ein neues Militärorganisationsgesetz aus dem Jahr 1868. Bundesrat Welti war ein grosser Anhänger des Einbezugs der Volks-, Mittel- und Hochschulen in die Militärausbildung und des militärischen Vorunterrichtes, der die Zeit zwischen Ende der Schulpflicht und Beginn der Wehrpflicht überbrücken sollte. In sehr abgeschwächter Form fanden einige Elemente (Vorunterricht, Militärwissenschaften an der ETH usw.) des freisinnig-radikalen Militärkonzepts Eingang in die Militärorganisation von 1874. Das Konzept diente der «Nationalen Richtung» im schweizerischen Offizierskorps in den folgenden Jahrzehnten als Leitbild des auf den Staatsbürgerstatus aufbauenden Soldatenstatus. Rothpletz hatte die Vorstellung der Volksbewaffnung und der an der klassischen Kampforganisation orientierten Milizarmee unter dem Horizont der auf die Staatsexistenz radikalisierten Kriegsdeutung zusammengebracht. Hier knüpfte auch die «Neue Richtung» an, welche ebenfalls von den absoluten Begriffen des Kriegs und der Existenzvernichtung des Staates ausging, aber das Verhältnis von Bürger und Soldat umkehrte und am Soldaten der stehenden (monarchischen) Armeen Richtmass nahm und im Bürger nicht den Staatsbürger und soldat-citoyen, sondern den Bourgeois, den zum Soldaten zu erziehenden Staatsangehörigen, sah.26

Kriegsfähigkeit als dominante Legitimation der schweizerischen Staatsexistenz

Für die Entwicklung des schweizerischen Militär-, Kriegs- und Staatsverständnisses bedeutete die Rezeption von Elementen der idealistischen Staats- und Geschichtsphilosophie, wie sie in den Schriften von Rüstow und Rothpletz zum Ausdruck kamen, einen markanten Umbruch. Hans Wieland, der renommierte Adjunkt des Militärdepartements, schloss seine politisch-militärischen Studien zur schweizerischen Neutralität 1861 noch sehr zurückhaltend mit idealistischen Konstruktionen: «Niederlage ist Sieg […] und sichert unsere Existenz als Volk, als Staat.»27 Damit hat das Volk bewiesen, dass es schlagen kann und auch siegen könnte. Aymon de Gingins-La Sarraz verzichtete 1860 in seinen Gedanken zur Guerre défensive en Suisse auf jegliche staats- und geschichtsphilosophischen Überlegungen und ging ausschliesslich von einer wahrscheinlichen Bedrohung durch Frankreich aus.28 Nach 1870 fliesst die idealistische Kriegsdeutung zunehmend in die Militärdebatte ein und wird nach 1890 zum festen Bestandteil des Militärdiskurses. Als herausragende Beispiele können Texte von Ferdinand Affolter, Theophil von Sprecher und Felix Lüssy herbeigezogen werden, um die Umorientierung in den Köpfen der führenden Offiziere (Affolter und Sprecher) und des «unbekannten» Subalternoffiziers (Felix Lüssy) zu dokumentieren. Ferdinand Affolter dozierte von 1884 bis 1925 Militärwissenschaften an der ETH, Theophil von Sprecher war von 1905 bis 1919 Generalstabschef der Schweizer Armee, Felix Lüssy war ein akademisch gebildeter Leutnant, der 1909 brevetiert wurde.

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Militärtheoretiker und Radikaler Exponent der «Neuen Richtung» im Fin de Siècle: Ferdinand Affolter (Bild: BiG).

Am engsten an das von Rüstow und Rothpletz verbreitete Verständnis von Krieg, Staat und Geschichte schloss Ferdinand Affolter an. Wie Rothpletz fasste er seine Vorstellungen über die Entwicklung der Milizarmee und des Kriegs in radikalisierten, absoluten Begriffen. Neben der totalen Mobilisierung aller gesellschaftlichen Ressourcen für den Krieg forderte Affolter eine wesentliche Dynamisierung des Führungsverhaltens der Offiziere. Affolter ging sogar unter Strapazierung der Staatsindividualitätslehre und des Existenztheorems so weit, die Steigerung der schweizerischen «Wehrkraft bis zum Äussersten» zu verlangen, um auf den Neutralitätsstatus verzichten zu können: «[D]ann wird unser Staat seine volle Individualität wieder erlangen und sich nach allen Seiten mit seiner vollen Thatkraft und That geltend machen, dann wird aus unserm politischen Wörterschatz das Wort ‹neutral› verschwinden.»29 Affolter war als Einziger bereit, die absoluten Begriffe von Individualität, Kampf, Existenz und Negation einzulösen und konsequenterweise auf die Neutralität zu verzichten und zu einer tief gehenden Restrukturierung der Milizarmee zu schreiten, wie sie Emil Rothpletz skizziert hatte: «Der Krieg einer entwickelten Nation kann nur ein Volkskrieg sein, ein Krieg, wo alle Kräfte eines Staates eingesetzt werden und eingesetzt werden müssen. Die Wehrkraft eines Volkes umfasst daher alle materiellen und geistigen Kräfte eines Staates, die immer nur für den hohen Zweck nutzbar gemacht werden können, und erscheint so als ein Produkt der Grösse der materiellen Mittel und der geistigen Willenskraft.»30 Neben der Instrumentalisierung der Schule aller Stufen für die Militärausbildung – hier deckt er sich mit den Vorstellungen der «radikalen» Armeereform um Bundesrat Welti – fordert Affolter eine grundlegende Umwandlung der militärischen Kaderausbildung in eine «Führer»-Erziehung – hier mit den Vorstellungen der «Neuen Richtung» um Ulrich Wille. Um die dynamisierten und verabsolutierten Vorstellungen des allgemeinen Volkskriegs, den agonalen Kampf um die Staatsexistenz zu operationalisieren, hält Affolter vor allem eine grundlegende Neugestaltung des Führerverhaltens und dessen Voraussetzungen, die Selektion, Ausbildung, Entwicklung und Formung des Offizierskorps für notwendig. Seine Vorstellungsbilder zur Reform des Offizierskorps entwickelt er an zwei Begriffen, die später zu Schlüsselbegriffen der Offiziersbildung werden: Männlich(keit) und Führer(tum). «Der Offizier in der Eigenschaft als Führer im Felde wie als Lehrer auf dem Exerzierplatz muss dem Soldaten als Inbegriff der Männlichkeit in allen Lagen des Lebens überhaupt und in denen des militärischen ganz besonders erscheinen. Es darf daher kein Mann zum Führer bestimmt oder als Führer gelassen werden, dem der leiseste Makel des Unmännlichen anhaftet.»31 Mit den Leitbildern «Männlichkeit» und «Führertum» lassen sich idealistisch und darwinistisch eingefärbte Machtstaatsvorstellungen individualisieren und in ein Erziehungsprogramm umsetzen.32 Eine zentralisierte, mit der militärischen Ausbildung aufs Engste verbundene «Staatsschule» soll die Wehrkraft bis aufs Äusserste steigern, und eine gestraffte, einheitliche Offiziersselektion und -ausbildung soll ermöglichen, eine militärische «Führerschaft» zu schaffen, die keinerlei politischen, regionalen, föderalistischen oder sozialen Einflüssen unterliegt. Die Vision der Bildung eines sozial und politisch autonomen, rein militärischen Führerkorps ohne staatsbürgerliche Bindung leitete Affolter. Die «Staatsform» soll bei der Schaffung von «Führern, die alle Attribute als solche besitzen», keinen Einfluss haben, sondern «nur der feste unabänderliche Wille, sich wehrhaft zu machen […], um im Momente der Gefahr auch wirklich wehrhaft zu sein».33 Der Krieg als Todeskampf um die staatliche Existenz des Volkes wird zum höchsten Orientierungspunkt aller staatlichen Institutionen und Massnahmen erhoben. Affolter verband damit ein ebenso militaristisches wie virilistisches Denken, das in den 1890er-Jahren Raum gewinnen und zu den zentralen Elementen des Neuen Geistes gehören wird.

Wie uneinheitlich und wie angelesen das Denken der führenden Offiziere der Schweizer Armee war, zeigt ein Vortrag von Theophil Sprecher von Bernegg, den er für eine Studentenkonferenz schrieb. Sprecher publizierte ausserhalb der militärischen Tagespolitik kaum. So war er gezwungen, «sich selbst einmal genau Rechenschaft zu geben über die Frage der Rechtmässigkeit von Waffendienst und Krieg vom Standpunkt der christlichen Gebote aus», als er 1911 die Einladung der Christlichen Studentenkonferenz annahm, um über «Militärwesen, Christentum und Demokratie» zu sprechen.34 Christlich und sozialistisch orientierte Studentenzirkel zweifelten in dieser Zeit den Sinn von Militär und Krieg grundlegend an. Entsprechend intensiv versuchte deshalb Sprecher, Militär und Krieg ethisch zu fundieren, und verstrickte sich dabei in weitläufige bellizistische Argumentationen. Seine Ausführungen stützte Sprecher auf Jähns (Krieg, Friede, Kultur), Kant, Ruskin, Treitschke, Moltke, Hamilton, de Maistre und Fichte. Sprecher glaubte, dass «Krieg sein wird und sein muss», machte aber geltend, dass «je seltener die Kriege werden», umso ernsthafter müssten sie vorbereitet werden, «damit Volk und Staat auch im Frieden Nutzen daran haben» und der Militärdienst nicht in eine kostspielige, trügerische Spielerei ausarte: «Immer mehr aber erkennt man der militärischen Ausbildung und Erziehung noch einen andern Zweck und Nutzen zu, den nämlich, die Mannschaft körperlich abzuhärten und zu kräftigen, namentlich aber in ihr den Sinn zu wecken und zu stärken für Disziplin, Gehorsam, Unterordnung unter die gesetzmässige Autorität, Aufopferung für die staatliche Gemeinschaft usw.»35 Die bellizistische Legitimation des Kriegs und die militaristische Legitimation des Militärs liessen sich zudem mit christlichen Vorstellungen untermauern. Die «höchsten christlichen Tugenden» können «im Kriege zur Entfaltung und Geltung» kommen: «Gehorsam und Treue bis zum Tode, Selbstverleugnung und Aufopferung, die vollständige Hingabe für das Vaterland und die Mitmenschen […]. Der Krieg ist dieser Welt so nötig, wie der Tod der sündigen Menschheit.»36 Diese äusserst stark bellizistisch orientierte Argumentation verstärkte Sprecher mit sehr zurückgenommenen machtstaatlichen Vorstellungen. Er schätzt zwar den Krieg als «Staatengründer» und «Staatenzerstörer» und gibt zu bedenken, «dass manch ein schönes, sein Volk beglückendes Staatswesen seine Regeneration oder gar seine Existenz» dem Krieg zu verdanken hat. Auch hier versucht Sprecher, christliche Gesichtspunkte einzubringen. «Fragen wir uns nur das eine, was aus der Reformation geworden wäre, wenn nicht edle Fürsten für die Gewissens- und Glaubensfreiheit gekämpft hätten?» Und weshalb «die christlichen Nationen guten Grund» haben, heute den Krieg vorzubereiten? «Einmal deshalb, weil das Erwachen der asiatischen Völker die christlichen Nationen vor die grössten kriegerischen Aufgaben stellen kann, wenn es nicht gelingt, diese Völker für das Christentum zu gewinnen.»37 Diese Argumentationen mussten jedoch selbst in den Ohren der Jungakademiker etwas weit hergeholt tönen. Im Zentrum des Denkens Theophil von Sprechers stehen klar bellizistische und militaristische Vorstellungen. Das immer wieder verwendete Moltke-Zitat «Ohne den Krieg würde die Welt im Materialismus versumpfen» durfte auch bei von Sprecher nicht fehlen.38

Auch Leutnant Felix Lüssy stellte diesen Gedanken an den Anfang seines Referates «Militärdienst in der Schweiz», das er im Rahmen der «Centraldiskussion» des Zofingervereins von 1912 hielt. Wie Sprecher sieht sich Lüssy herausgefordert, zur sozialistischen Kritik des Militärs und des Kriegs Stellung zu nehmen.39 Lüssy leitet dabei sein positives Bekenntnis zur «Notwendigkeit des Krieges» aus der Hegelianischen Staatsund Geschichtsphilosophie ab: Der Sinn des menschlichen Lebens sei die «Menschheitsentwicklung» zur Freiheit. Bewegendes Element dieser Entwicklung sei der physisch-geistige Machtkampf zwischen den zu staatlicher Souveränität und damit Individualität gelangten Völker. Jedem Volk komme eine ganz bestimmte Eigenart zu, welche die Nation in der Weltgeschichte zu verwirklichen, d. h. zu erkämpfen und durchzusetzen habe.

Vor dieser Gedankenfolie versucht Lüssy, die sozialistischen und bürgerlichen Friedenstheorien zu widerlegen. Der sozialistischen Idee des Klassenkampfs und der klassenlosen Gesellschaft hält Lüssy die reine inhaltslose Entwicklung der Individualität der Menschen und des Staates entgegen: «Nicht irgend eine Frage, nicht irgend eine Lösung, die Bewegung als solche ist Endaufgabe und Endziel zugleich.» Und diese «ewige Evolution und Revolution bedarf notwendig der grossen Krisen, die wir Kriege […] nennen». Denn jede «Bewegung, verdanke sie politischen, sozialen oder Rassenströmungen ihr Dasein, geht auf ihren Höhe- und Brennpunkten in Kampf um ihre Existenz, um Sein oder Nichtsein über» und dieser Todeskampf könne nur als Krieg ausgetragen werden.40 Daran änderten auch die Weltwirtschaft und die weltweiten Kommunikationsmöglichkeiten nichts. Die Internationalisierung der Wirtschaft sei lediglich «äusserlich übereinstimmende Betätigungsgestaltung innerlich verschiedener Individuen», und die «All-Einheit der Kulturgemeinschaft» und ihre völkerverbindenden Tendenzen hält Lüssy für ein «Hemmnis der Menschheitsbewegung»: «Die Erhaltung der Eigentümlichkeit seiner nationalen Kraft und Bildung ist für jedes Volk erste Pflicht: im Zusammentreffen der Völker ist das Ausleben und sich Durchsetzen nationaler Eigenkräfte stärkster Faktor der Weltentwicklung.»41 Getreu dem hegelschen Denkschema erkennt Lüssy die «Träger dieser gewollten Bewegung» in den «Staaten und Nationalitäten», um dann den Meister selbst zu paraphrasieren: «Die Weltgeschichte, die sich bestimmt nach dem Erfolg dieser Kämpfe von Tendenzen und Ideen, von Revolution gegen Tradition, von Expansionskraft gegen Senilität, ist das Weltgericht.»42 Vor diesem Hintergrund fällt es Lüssy leicht, das Konfliktlösungspotenzial des Völkerrechts und der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit zu erledigen: «Das Völkerrecht aber in die Kriege, in denen sich die Fortbildung der Weltgeschichte vollzieht, hineintragen zu wollen, wäre lächerlicher Traum.» Eine Nation, die zum Schiedsrichter läuft, wenn «Lebensfragen auf dem Spiele stehen», sei «entschieden dekadent», wie derjenige, der Kriege für ein «Übel» halte: «Nur diejenige (Nation), die in solchen Momenten fähig ist, alle Greuel und Schrecken eines Krieges entschlossen, ja in freudiger Bejahung, in einem aufjauchzenden Kraftgefühle auf sich zu nehmen, ist wert, weiter zu bestehen. Solche Kriege bedeuten […] eine Bereicherung des Menschenlebens und in der Auslösung seiner stärksten Potenzen eine Befreiung des Individuallebens.»43 Hier gelingt es Lüssy, die beiden Aspekte der hegelschen Kriegsphilosophie auf den Punkt zu bringen: den Todeskampf um die Individualität des (männlichen) «Bürgers», die im Todeskampf um die Individualität des staatlich verfassten Volkes aufgeht.

Seine tief hegelianisch eingefärbte Apologie des Kriegs bezieht Lüssy primär bei den zeitgenössischen deutschen Militärtheoretikern (Moltke, von der Goltz, Bernhardi, Freytag-Loringhofen und Jähns), aber auch bei Nietzsche, Stammler und Jellinek. Selbst Clausewitz’ Theorie der Kriegführung wird für eine vereinfachende geschichtsphilosophische Rechtfertigung des Kriegs vereinnahmt. Die einzig mögliche Textpassage in Vom Kriege – «Nur wenn Volkscharakter und Kriegsgewohnheit in beständiger Wechselwirkung sich gegenseitig tragen, darf ein Volk hoffen, einen festen Stand in der politischen Welt zu haben» – wird isoliert und als geschichtsphilosophische Fundamentalaussage verwendet.44 Clausewitz hat diese Aussage im Kapitel über die «Kühnheit» des Feldherren formuliert und zum Ausdruck bringen wollen, dass unter den modernen Verhältnissen der Wirtschaftsgesellschaft «die kühne Führung» des Kriegs notwendig sei, um den Geist des von Wohlstand und der «Weichlichkeit des Gemütes» geprägten Volkes zu beeinflussen und um ein Gleichgewicht von «Volkscharakter und Kriegsgewohnheit» herzustellen.45 Clausewitz postuliert die kühne Führung des Kriegs, um die von steigendem Wohlstand geprägten Wehrpflichtigen ohne «Kühnheit» mitzureissen. Einen Zusammenhang zwischen der militärischen Schulung der Völker und deren Bestand «in der politischen Welt» leitet Clausewitz weder an dieser noch anderen Stellen ab, entscheidend ist die kühne Kriegführung.46 Ähnlich wurden die Moltke-Worte «Der ewige Friede ist ein Traum und nicht einmal ein schöner» und «Wir können die Armee schon im Innern nicht entbehren für die Erziehung der Nation» beliebig als grosse Worte grosser Autoritäten eingesetzt. Neben diesen Konstruktionen, welche den Wert und die Existenzberechtigung des Individuums, des Volks und des Staates von der Probe eines möglichen Kriegs abhängig machten, mussten staatsrechtliche Normen und Kommentare zur Neutralität blass wirken und wurden als gut gemeinte akademische Konstrukte, «um die sich aber gegebenenfalls kein Mensch kümmern wird», beiseitegestellt.47

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