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Michael Zeuske

Insel der Extreme

Kuba im 20. und 21. Jahrhundert

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Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2000 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

Umschlagfoto: Widmer & Fluri, Zürich (Montage)

eISBN 978-3-85869-772-1

3., aktualisierte und stark überarbeitete Auflage 2017

»Ahí, en el trópico hace falta beber un highball a la caída de la tarde« – »Dort, in den Tropen, sollte man in der blauen Stunde einen Highball [Cocktail] trinken«

(María Zambrano, Brief an Antonio Rodríguez Huéscar, Rom, 7. Januar 19571)

»Lo primero que sorprende en Cuba … es la ausencia de ideología« – »Das Erste, was auf Kuba überrascht, ist das Fehlen von Ideologie«

(Jean-Paul Sartre 19602)

Inhalt

Einleitung:
Kuba in Geschichte und Geschichten

Globalisierungen, Revolution und Nation:
Die Gründung der kubanischen Republik

Der kubanische Krieg 1895–1898 und der Spanisch-Amerikanische Krieg 1898

Die »Republik in Waffen«

Der geraubte Krieg: Das Jahr 1898

Zwischen Imperien 1898–1902:
Okkupation und Modernisierung

Die erste Okkupation durch die USA: Transformation und Transition

Die Auflösung des Befreiungsheers und die »paktierte Transition«

Das Scheitern der kubanischen Staatsvorstellungen

Die Gründung der abhängigen Republik 1899–1902

»Don’t let him vote«: Die Konstruktion des »Kubaners« und das Scheitern der amerikanischen Staatsvorstellungen für Kuba

Universelles »männliches« Wahlrecht und Platt-Amendment

Die erste Republik 1902–1933:
Weiße Elitenation im Schatten des Platt-Amendments?

Estradismus und gescheiterte konservative Stabilisierung 1902–1906

Der »Augustkrieg« und die zweite Okkupation durch die USA 1906–1909

Revolutionsgeneräle und zivile Doktoren 1909–1925

Die Krise der Platt-Republik: Große Koalition und Diktatur 1925–1933

Die zweite Republik 1933–1958:
Kuba unter Batista

Gescheiterte Massenrevolution und militärische Stabilisierung 1933–1940

Der »lateinamerikanische Honigmond« auf Kuba 1940–1944

Ein »demokratisches« Interregnum der Doktoren 1944–1952

Diktatur und Guerillakrieg: Der ungewöhnliche Weg der Macht 1953–1958

Direkte Aktion, Guerillakrieg und Revolution 1953–1958

Dritte Republik und permanente Revolution 1959–1990:
Kuba und Fidel Castro

El reino de la ambigüedad: Die unbekannten Jahre des Anfangs 1959–1960

Der Fisch ist rot: Schweinebucht, heroische Illusion und Sozialismus 1961

Konsolidierung, radikale Experimente und Revolutionsromantik: Die rote Insel 1962–1966

Das Ende der Weltrevolution und der »große Sprung« auf Kuba 1967–1970

Institutionalisierung, »graues Jahrzehnt« und »gute 80er-Jahre« 1970–1990

Kuba 1990–2007:
Wer kontrolliert die Transformation?

Ein Fast-Zusammenbruch

Turistroika und gescheiterte Reformen 1993–1997

Die letzte Epoche des charismatischen Sozialismus

Das Ende des charismatischen Sozialismus

Vom charismatischen zum bürokratischen Sozialismus

Machttranslokation, Offizialisierung des Schwarzmarktes und »Reformen der Straße« 2007–2014

Die Insel, die sich wiederholt?

Obama-Hype und Tod Fidel Castros 2014–2017

Anhang

Anmerkungen

Bibliografie

Einleitung: Kuba in Geschichte und Geschichten

»Kuba – das ist der Leuchtturm des Sozialismus auf dem amerikanischen Kontinent«

(Erich Honecker, Cienfuegos, 23. Februar 1974)1

Die Geschichte Kubas, die Geschichte eines 110 000 Quadratkilometer großen (oder »kleinen«) Archipels in der Karibik, fordert zu epischen Erzählungen heraus. Das Monument einer solchen großen Narratio wird für alle Zeit das 1600-Seiten-Opus von Sir Hugh Thomas Cuba or the Pursuit of Freedom bleiben. Vielleicht muss ihm heute eine der letzten wirklich guten Biografien von Fidel Castro (1926/27–2016) zur Seite gestellt werden.2 Das würde auch die Verschiebung von Erzählweisen zwischen 1970 und 2017 illustrieren. Vielleicht fordert die Geschichte der Insel immer wieder Historiker und Literaten heraus, weil Kuba Experimentierfeld von Globalisierungen, Imperien und Diasporen war – und der Revolutionen gegen Imperien? Weil Kuba eben doch eine »kleine« Insel im Vergleich zu kontinentalen Ländern wie China, Brasilien oder den USA ist, aber unter den Inseln der Karibik zugleich die Gigantin? Oder weil auf Kuba seit Beginn der Kolonialgeschichte, seit 1510, immer die Geschichten der vielen Globalisierungsopfer und der wenigen Gewinner von Kolonialismus, Sklaverei und globalisierter Expansion erzählt oder besungen worden sind?

Nach Kuba flohen die Aruak-Indios von Haiti seit der Ankunft von Kolumbus bei seiner zweiten Fahrt 1493; nach Kuba kamen im 16. und 17. Jahrhundert über Sevilla und die Kanarischen Inseln vor allem arme Menschen aus Spanien und seinen europäischen Besitzungen (wie Neapel). Im 18. und 19. Jahrhundert wurden Hunderttausende von Menschen aus Afrika nach Kuba verschleppt. Für hundert Jahre, etwa von 1760 bis 1868, und nochmals 1878 bis 1895 war Kuba koloniales Experimentierfeld des imperialen Spanien, 1898 bis 1959 experimentierten die USA auf der Insel und zwischen 1961 und 1991 die UdSSR, auch Mexiko spielte immer eine wichtige Rolle: Kuba war die Insel der Versuche im Atlantik, auch der frühen Globalisierungsversuche. Dabei entstand auf Kuba zwischen 1790 und 1886 eine der am deutlichsten konfigurierten und effizientesten Massensklavereien der Weltgeschichte, eine moderne Second Slavery (im Gegensatz zu traditionellen Sklavereien) mit einem eigenständigen Sklaverei-Kapitalismus. Die Sklaverei spaltete die Insel in ein »großes« Kuba des Zuckers und der vielen Versklavten und mehrere »kleine« Kubas der freien Farbigen und Bauern, des Kaffees und des Tabaks. In Letzteren konnte sich die Sklaverei nicht oder nur langsam durchsetzen. Der Kampf um die Unabhängigkeit unter Bedingungen der Sklaverei trennte auch die kubanischen Literaturen in mindestens zwei: die Inselliteratur und die Exilliteratur. Seit dieser Zeit gibt es bis heute mindestens zwei Metaerzählungen über die Insel. Bis zum Sieg des Nordens im Bürgerkrieg der USA konzipierten Eliten an beiden Ufern des Golfes von Mexiko das »große« Kuba und Havanna als Zentrum eines »schwarzen« Plantagenreichs, beherrscht von kleinen weißen Oberschichten, meist spanischer Abstammung, aber auch aus anderen Weltgegenden. Havanna wurde für Eliten zum atlantischen Mittelpunkt einer eigenständigen Moderne, mit extrem dynamischer und rentabler Wirtschaft, einer eigenen Industrialisierung, einem zentralen Welthafen sowie Theatern, Museen, Künsten, Wissenschaften sowie Universitäten, Krankenhäusern und Lehreinrichtungen. Havanna war aber auch eine Stadt der Flucht, des Untertauchens und des Widerstands gegen Sklaverei und europäischen Kolonialismus. Havanna war Zentrum der »schwarzen Karibik«.3 Von den »kleinen« Kubas gingen die anarchischen Kriege des kubanischen Nationalismus gegen Kolonialismus, Imperien und Sklaverei (Spanien, USA) aus; hier hatten auch das ambulante revolutionäre Staatswesen während der Kriege des 19. Jahrhunderts, die República en Armas (Republik in Waffen), und die Guerillas unter Fidel Castro im 20. Jahrhundert ihre festeste Basis.

Vielleicht wäre das alles aber schon vergessen, wenn Kuba nicht zum Symbol des kleinen David gegen den Goliath USA geworden wäre? Auch die USA als imperiale Hegemonialmacht unserer Zeit testeten auf dem Versuchsfeld Kuba ihr Verhältnis zu Lateinamerika, zum »Neokolonialismus ohne (formale) Kolonien« oder überhaupt zum Süden. Vieles an den Interventionen der USA in der Karibik, in Mittelamerika und Lateinamerika sowie Interventionen und Okkupationen in anderen Weltgegenden des 21. Jahrhunderts erinnert an die Okkupation der Inseln Kuba, Puerto Rico und Philippinen durch die USA 1899–1902. Oder fordert Kuba noch heute zu großen Erzählungen heraus, weil Fidel Castro – im Jahr 2003 musste man sagen »vielleicht«, seit 2015 ist das klar (er hat politisch gesiegt) – der einzige Revolutionsführer der Weltgeschichte ist (und vielleicht gewesen sein wird), der, sicherlich mehr bescheiden als groß, seine Utopie verwirklicht hat – mit all den Problemen, die realisierte Utopien haben? Oder hat die neoliberale Hybris des erneuerten »kleinen kalten Krieges« (2001–2015) uns daran gehindert, die Vorteile einer relativ stabilen Entwicklung im Zentrum der Karibik zu sehen?

Die Geschichte Kubas hat seit 1960 Hochkonjunktur in den amerikanischen und in den westlichen Geschichtswissenschaften, zu der ich hier auch die der ehemaligen DDR und der ehemaligen ČSSR zähle. Das Zentrum der Kuba-Geschichtsschreibung sind die USA; zweites Zentrum ist bis heute Spanien, auch bedingt durch die Publikation der bis heute ausführlichsten Geschichte Kubas aus der Feder des exilierten Kubaners Leví Marrero. Diese Kuba-Geschichte in fünfzehn Bänden ist ein Steinbruch des Positivismus, was hier durchaus positiv gemeint ist. Louis A. Pérez Jr. ist seit Jahren der Doyen der internationalen Kuba-Forschung. Für die Area- und Politikwissenschaften vor allem in den USA war Kuba über Jahrzehnte Studienmodell par excellence.

Etwas vergröbernd, kann man sagen, dass imperiale Geschichten Kubas von 1960 bis 1995 vor allem in den USA Konjunktur hatten, während Nationalgeschichten Kubas seit 1990 vor allem auf Kuba einen Aufschwung erfahren. Und man wird auch sagen können – und ich sage das im Speziellen gerne als Lateinamerika- und Globalhistoriker: Mit der kubanischen Revolution (und dem Vietnamkrieg) wurden die Area-Wissenschaften geboren und fassten Fuß an fast allen Universitäten des Westens. Wenn das Schreiben von Geschichte ein Ausweis für die kulturelle Stabilität einer Gesellschaft ist, kann sich der Spätcastroismus auf eine stabile Basis stützen. Vielleicht aber handelt es sich auch um die Mobilisierung einer antiquierten Vergangenheit, um nichts über die Zukunft aussagen zu müssen?

Das kommunistische Kuba als Teil des realsozialistischen Lagers (1970–1990) benutzte als Nationalgeschichte des eigenen Landes vor allem das annalistische Handbuch von Ramiro Guerra y Sánchez4 oder Teile der noch unter Batista gedruckten Historia de la Nación Cubana. Auch die geniale, allerdings völlig überholte patriotische Synthese von Fernando Portuondo oder die exzellenten Quellenwerke von Hortensia Pichardo und César García del Pino5 fanden Verwendung, obschon oder gerade weil sie als irgendwie »unmarxistisch« galten. Parallel dazu wurden die Texte von meist noch vor 1959 in der Tradition des französischen und mexikanischen Strukturalismus stehenden marxistischen Historikern (Manuel Moreno Fraginals, Juan Pérez de la Riva, Julio Le Riverend) oder von fähigen, oft farbigen Autodidakten (wie José Luciano Franco, Pedro Deschamps) gelesen. In den 70er- und 80er-Jahren entstanden auch Lehrbriefe und Textsammlungen. Frühe antiimperialistisch-marxistische Nationalgeschichten (Oscar Pino Santos, Jorge Ibarra), geschrieben im Elan der 60er-Jahre, existierten zwar, kamen aber in den 70er- und 80er-Jahren außer Gebrauch.

Zwischen 1960 und 1990 war die kubanische Historiografie vor allem auf die »hundert Jahre Kampf« gegen Kolonialismus und fremde Hegemonie gerichtet, datiert von 1868 bis zur jeweiligen Gegenwart. Dabei wurde die nationale Einheit unter den Führern der Unabhängigkeitsrevolutionen des 19. Jahrhunderts betont, die zugleich als »Väter des Vaterlands«, Padres de la Patria, verehrt wurden. Die kreolischen Führer des ersten Unabhängigkeitskriegs, wie Carlos Manuel de Céspedes und andere, waren aber zugleich Sklavenhalter gewesen. Die Soldaten im Ejército Libertador de Cuba (ELC), der Unabhängigkeitsarmee im Kampf gegen den spanischen Kolonialismus, waren oft kampfgeübt – nicht so sehr gegen die Spanier, sondern gegen die Sklaverei und gegen ihre kreolisch-kubanischen Herren. Im großen Narrativ der kubanischen Meistererzählung der Jahre bis 1990 wurde oft der humanistische Akt der individuellen Freilassung ihrer Sklaven seitens der Padres de la Patria betont, nicht jedoch, dass sie vorher von der Sklaverei profitiert hatten und das in den antikolonialen Kämpfen auch noch taten, und auch nicht die Bedingungen, an die sie die Freilassung gebunden hatten. Die ehemaligen Sklaven wurden als »Kubaner« gesehen und nicht als Kämpfer gegen Sklaverei und Rassismus. Als sich schon 1961 der marxistische Philosoph Walterio Carbonell gegen die Heldenverehrung von Sklavenhaltern aussprach, verfiel er dem narrativen Scherbengericht.6 Dagegen gab Miguel Barnet mit der sogenannten Testimonialliteratur den ehemaligen Sklaven einen geachteten Platz in den »hundert Jahren Kampf«. So entstanden die foundational fictions der kubanischen Geschichtsschreibung: große Erzählungen, die die nationale Meistererzählung der Revolution flankieren, wie die vom »Cimarrón« Esteban Montejo.7

Der Zusammenbruch des Realsozialismus in Europa hatte katastrophale Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft Kubas. Auf den kubanischen Nationalismus wirkte er, als hätte ein karibischer Prometheus die Fesseln, die ihn an das sowjetische Gebirge banden, gesprengt. In kurzer Zeit entstanden mehrere Nationalgeschichten von Autorenkollektiven,8 von Autorengruppen9 oder von Einzelpersonen, die die ganze Breite des nationalen Erbes betonen. Bisher haben fast all diese Geschichten eines gemeinsam: Sie kennen das 20. Jahrhundert kaum, und schon gar keine Zeit nach 1959! Und sie kennen über Fernando Ortiz hinaus die afrokubanische Geschichte nicht oder kaum – ein Manko, das nur langsam wettgemacht wird.10 Die historische Bewertung der Vorzeit des Castroismus, der »neokolonialen« Republik 1902–1959, in den späten 70er-Jahren in einem großen Wurf unter Juan Pérez de la Riva begonnen und in den Werken von Jorge Ibarra fortgesetzt, ist heute sehr schwierig, in den Universitäten scheint sie fast unmöglich. Jorge Ibarra war nie Universitätslehrer, auch Manuel Moreno Fraginals in Havanna nicht (nur kurze Zeit in Santa Clara); Eduardo Torres-Cuevas, heute Direktor der Nationalbibliothek, ist zwar seit 1996 Universitätsprofessor, stammt aber eigentlich aus dem berühmten Departamento de Filosofía (das 1970 aufgelöst wurde) und war jahrelang in der Provinz.

Die heutige kubanische Historiografie reicht im Grunde nur bis 1959.11 Es gibt Stimmen, die diesen Kanon unterlaufen, aber es sind noch zu wenige. Und sie ertönen oft im Ausland, vor allem in Doktorarbeiten in Spanien oder den USA bzw. Europa.

Zwischen 1990 und 2000 kam es auch zu einem Aufschwung der europäischen Geschichtsschreibung zu Kuba (vor allem in Madrid, Sevilla, Barcelona, Wolverhampton/Nottingham in Großbritannien, Köln und Prag). Die Grundlage der heutigen deutschen Historiografie zu Kuba (vor allem in Köln und Hannover) ist die DDR-Historiografie (mit Zentren in Rostock und Leipzig) zum Thema.12

An die Zeit des Castroismus selbst (1959–2016) wagen sich die kubanischen Fachhistoriker mit wenigen Ausnahmen immer noch nicht. Es gibt auch keine ernst zu nehmende Biografie Fidel Castros aus der Feder eines kubanischen Historikers.

Die Krise der frühen 90er-Jahre und die kulturelle Mobilisierung der Jahre nach 1998 hat zu einer historiografischen Blüte des eher antiquarischen Nationalmythos (bis 1898) geführt, flankiert von neuen Ansätzen in der Sozialgeschichte, vielen neuen Ansätzen jüngerer kubanischer Historiker, der Frauengeschichte und von Geschichten Lateinamerikas und sogar von Weltgeschichte. Die eigentlichen Debatten finden heute aber nicht unter Historikerinnen und Historikern statt, sondern unter den – meist sehr engagierten – jüngeren Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern.

Kuba hat seit seiner Eroberung durch die Spanier als Insel eine strategische Rolle im Schnittpunkt von Imperien, Kontinenten und Kulturen gespielt. Deswegen gaben die jeweiligen Metropolen schon sehr frühzeitig eine Art kolonialer »Entwicklungshilfe«. Kuba war 1515–1521 die wichtigste Basis für die Eroberung des Aztekenreiches. Von 1543 bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete die Insel die strategische Schnittstelle zwischen dem europäischen Spanien und seinen südamerikanischen Kolonien. Zugleich war sie der Vorhafen des Silberreiches Neu-Spanien (Mexiko). Parallel entwickelte sich die Insel seit Ende des 18. Jahrhunderts zum Quasi-Monopolanbieter von Zucker für Märkte imperialen Ausmaßes. Um dieses Markenprodukt – weißen Zucker – in Massen produzieren zu können, wurden Sklaven aus Afrika nach Kuba verbracht und verschleppt (auch illegal, nach dem formalen Verbot des atlantischen Sklavenhandels 1820, zwischen ca. 700 000 und einer Million Menschen, vor allem junge Männer und Kinder) – eine, wenn auch erzwungene, Verbindung zu einem weiteren Kontinent. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen viele Kontraktarbeiter aus China. Zwischen 1890 und 1930 gelangte rund eine Million Immigranten nach Kuba, vorwiegend aus Spanien. Die Insel versorgte die Welt mit Zucker: Europa bis hin nach Russland und Nordamerika und speziell die USA von etwa 1870 bis 1960. Wie der texanische Historiker Allan J. Kuethe gezeigt hat, waren es die Eliten Havannas, die diese Insularität und ihre Verbindung mit Imperien trugen, ausnutzten und manchmal krass überschätzten. Diese historisch-geografische Tradition, basierend auf der Insularität, wurde mit der Rolle Kubas zwischen den Hemisphären in der Zeit des Kalten Krieges (Raketenkrise 1962), als Zuckerproduzent und geostrategischer Vorposten des Comecon (RGW), vor allem der UdSSR, seit 1970 in realsozialistischer Form wiederbelebt. Seit 1990 aber ist der Insel Kuba ein wie auch immer geartetes konkretes Imperium abhanden gekommen beziehungsweise in Gestalt der USA nur als Feind oder, seit 2015, als komplizierter »Partner« erhalten geblieben, der seit dem Amtsantritt Donald Trumps 2017 (wieder) sehr schwer einzuschätzen ist.

Auf der geografisch »kleinen« Insel Kuba haben sich durch die Lage Havannas als Schnittpunkt der großen Imperien, Kulturen und Kontinente auch alle sozialen Bewegungen, globalen Utopien, Musikstile, Ideen, Philosophien, Wissenschaften, Architekturen, Technologien und überhaupt globalen Kulturen gemischt. Das geschah schneller, vor allem dichter und in gewissem Sinne verrückter, exaltierter oder »extremer« als in ruhigeren Weltgegenden der großen Imperien und Kontinente. Ursachen waren auch die starken sozialen und rassischen Unterschiede auf der Insel, Spannungen zwischen dem modernen Havanna, dem eher schläfrig wirkenden Santa Clara und dem traditionell-karibischen Santiago oder überhaupt dem Interior, der »Provinz« außerhalb Havannas. Oder einfach die Tatsache, dass es die erzwungene Migration afrikanischer Menschen war, die Kuba den wichtigsten Kulturtransfer seiner Geschichte bescherte und bis heute seine Moderne prägt. Die afrikanischen Sklaven lebten im 19. Jahrhundert im demografischen Sinne dicht gedrängt in den Regionen des Hinterlands von Havanna, Matanzas, Cienfuegos oder Sagua la Grande. Jede Landpartie der Eliten in der Zuckerzone führte in Zentren verdeckter sozialer, ethnischer und kultureller Spannungen. Die Eliten fanden ihr Afrika – etwas völlig »anderes« – vor der Haustüre oder in der Sommerfrische ihrer Zuckerplantagen. Aber auch die Unterschichten schufen sich ihre Welten. Im Umfeld von Sklaverei und Unabhängigkeitskriegen des 19. Jahrhunderts entstand in und um Kuba das Zentrum einer »schwarzen Karibik« von unten. Arbeitsmigrationen, Flucht und politische Kämpfe führten zu engen Verbindungen farbiger und schwarzer Menschen in der Karibik; die Achsen der Verbindungen Cartagena/Panamá–New Orleans sowie Veracruz–Santo Domingo–San Juan dieser »schwarzen Karibik« schnitten sich in Havanna. Die Migranten brachten ihre Religionen und Musikstile mit.

Kuba kann auch beschrieben werden als ein kleiner Archipel mit einer zu großen Stadt – Havanna. Oftmals lag der Grund für die Dichte der Geschichte in Havanna einfach im unablässigen Strom und Transfer von Informationen über Konflikte, Rebellionen und Modelle, die geflohene Sklaven, Kulis, Einwanderer, Matrosen, Transitpassagiere, Fernando Ortiz’ Aves de paso, Arbeitsmigranten und Langzeittouristen mit nach Kuba brachten. Immer das jeweils Modernste der jeweiligen Avantgarde der Moderne.

Strukturhistorisch begründet liegt diese Attraktionskraft für alles Moderne in der historischen Dynamik der großen Zuckerwirtschaft, im Pragmatismus der versklavten Menschen und im Drang der Herren, immer das technologisch Neueste in der Landwirtschaft anzuwenden und wie ein gigantischer Strudel Migranten (nicht immer freiwillige) anzuziehen. Man kann von einer regelrecht modernistisch-pragmatischen Mentalität der Eliten und aller Kubaner sprechen. Aber saisonale Zuckermigration, Kulis, Chinesen, Kanalarbeiterschaft, Widerstand, Cimarronaje, Schmuggelwirtschaften und periodische Kämpfe gegen Diktaturen oder Interventionen hielten auch eine transkaribische Sensibilität »von unten« am Leben, und zwar seit es Rebellionen gegen Sklaverei und Kolonialismus gab. All diese Spannungen und Konflikte brachten auf die Dauer politische Bewegungen mit gigantischen, universellen Ansprüchen hervor, konzentriert in einem Punkt auf der Landkarte des atlantischen Raumes, verloren in den türkisblauen Wassern der Karibik zwischen den großen Landmassen der Kontinente. Und es war ja eigentlich nicht die ganze Insel, es waren vielmehr Punkte im Punkt der Weltkarten, die Städte Havanna oder Santiago. In diesem Sinne war und ist Kuba »zu klein« für seine eigene Geschichte. Und so konnte es auch kommen, dass Fidel Castro als charismatischer Regierungschef eines so kleinen Landes bis zu seinem Tod 2016 immer wieder universell argumentierte (ab 2008 nur noch als eine Art Chefberater per Zeitung). Erst durch das »Anhalten der Zeit« 1990–2008 stand Kuba vor der Gefahr und der Chance, ganz auf seine eigene »kleine« Geschichte zurückgeworfen zu werden – im Grunde handelte es sich um ein Abbremsen der Entwicklungsdynamik moderner kapitalistisch-globaler Gesellschaften. Jeder Besucher, der heute nach Kuba kommt, wird beobachten, dass dort eine andere Zeit zu herrschen scheint. Erst seit 2008 begannen Reformschritte unter Raúl Castro, um Anschluß an die globale Dynamik der Wirtschaftsentwicklung zu gewinnen. Bis 1990 wurde diese »kleine« Geschichte Kubas verdeckt und durch Diskurse übertönt, die versuchten, die Insel als Avantgarde Lateinamerikas, der Weltrevolution, der Dritten Welt, der Nichtpaktgebundenen, der Opfer der Finanzkrise von 1983, der karibischen Länder oder der Globalisierungsgegner darzustellen. Aber Kuba ist immer auch als »kleiner« Akteur groß gewesen, vielleicht zu groß.

Auf Kuba kennt man alle Philosophien, Wissenschaften, Künste und Theorien des Westens, der »Geist« aber ist pragmatisch. Im szientistisch-technischen Sinne der zweiten Globalisierung des Industriezeitalters ist auf Kuba nur selten etwas »erfunden« worden (abgesehen von der umstrittenen Erfindung des Telefons durch den Italiener Antonio Meucci in Havanna 1849/50; Carlos Finlay möge mir verzeihen, seine Entdeckung der Gelbfieberübertragung war natürlich beste Wissenschaft), wenn man nicht die effiziente Organisation der Großraumlandwirtschaft mit Massensklaverei auf den Plantagen, die »Großfabrik im Zuckerrohrfeld«, für eine Erfindung halten will (für mich ist sie es). Aber die Insel produzierte seit etwa 1870 – die Reiseschreiber hatten ihr eine gewisse Zentralität verschafft – kontinuierlich neue Musikstile, Tänze, Rhythmen, Performanzen, Literaturen, Darstellungsformen, Bilder und Utopien. Die afrokubanischen religiösen Formationen (Stefan Palmié) als eine ihrer wichtigsten Grundlagen sind Teil der Moderne, aber auch Rassismus und Antirassismus. Die große Geschichte der Sklaverei von José Antonio Saco war eine wissenschaftliche Leistung ersten Ranges. Die wichtigsten Kreationen Kubas aber liegen auf dem Gebiet der Perkussion und Performance, nicht so sehr – mit Ausnahme der großen Landwirtschaft und Medizin – im technischen und technologischen Diskurs der Moderne. Immer wieder haben Wellen kubanischer Musik die atlantische Welt überflutet, allen voran die Habanera. Der melodische Gesang wurde einerseits zu La Paloma und zur »spanischen« Oper Carmen und andererseits zum Tango von Buenos Aires. Von dort kam der Tango als Weiterexport nach Europa, Kuba und Amerika. Auch Rumba, Guaguancó, Tango congo, Son, Guaracha, Danza, Danzón, Bolero, Trova, Conga, Cha-Cha-Chá, Mambó, Jazz und Salsa sowie neuerdings Cuban Rap oder Timba verbreiteten sich erst auf Kuba, die meisten zwischen 1880 und 1930, und dann in der Welt.

Kuba ist aber auch in einem ganz anderen, eher strukturellen Sinne zu »klein« für die vielen Zuflüsse seiner atlantischen und globalen Geschichte. Trotz Inselbewusstsein und dauerndem Zustrom von Menschen, Ideen und Gütern über die Meere, über Atlantik, Golf und Karibik, gelten die Kubaner als ein mit dem Rücken zum Meer lebendes Volk. José Martí (1853–1895) hat das ganz deutlich gemacht in den Versos Sencillos, die zum Lied Guantanamera umgeschrieben worden sind:

»Mit den Armen dieser Erde

will ich mein Schicksal teilen

der Bach in den Bergen

gefällt mir mehr als das Meer.«

Diese Verse sind meist in dem Sinne interpretiert worden, dass Martí, im Gegensatz etwa zu Karl Marx, auf alle Armen und nicht nur auf die Proletarier gesetzt hätte. Das ist sicherlich richtig. Aber die Verse deuten auch auf die Unvertrautheit der meisten Kubaner mit dem Meer hin. Woran mag das liegen? Im Grunde sind ja die Vorfahren jeder Kubanerin und jedes Kubaners irgendwann einmal über das Meer gekommen, selbst die Indios in ihren Kanus. Dann aber haben sie sich, wie man auf Kuba sagt, aplatanado, niedergelassen, eingewöhnt, und sich vom Meer abgewandt, von den Küstenfischern und Schmugglern natürlich abgesehen. Ist dem so, weil es immer die Herrschenden aus den fernen Imperien waren, die Spanier, Amerikaner oder Sowjets, die die großen Schiffe hatten, oder weil die Atlantikpassage für die Nachkommen der vielen Sklaven eine zu schmerzliche Erinnerung ist?

Kuba ist jedenfalls groß genug, um als Experiment der Realisierung einer Utopie weltgeschichtliche Relevanz zu haben, es ist aber auch klein genug, um sich notfalls mit Subsidien, Hilfsgeldern von außen, den remesas, individueller Globalisierung oder auf Basis eigener Subsistenzwirtschaft wenigstens notdürftig über Wasser halten zu können. Das ist, je nach Position der Bewertung, der Vorteil oder der Fluch von historischer Größe, Transkulturalität, Klima und geografischer Situation im Zentrum des Inselatlantik: »Inseln sind die Extreme dieser Welt« (Iván de la Nuez) – das gilt insbesondere für die größte der Antilleninseln.

Die kubanische Geschichte des 20. Jahrhunderts, aber auch schon die seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts ist eine Geschichte der oft extremen Experimente. Auf Kuba entstand schnell eine atlantische Metropole (Havanna), und es bildete sich sehr schnell eine wirtschaftlich erfolgreiche, extreme Variante der Modernisierung mit Massensklaverei heraus; die Geschichte der Insel zwischen 1868 und 1898 wurde geprägt durch die extreme Dauer und Zerstörungskraft ihrer Unabhängigkeitskriege, von denen einer zehn Jahre dauerte!

Die frühe Globalisierung, Amerikanisierung und Entnationalisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war außergewöhnlich in der westlichen Welt, sodass die Hinwendung des revolutionären Kuba zum Kommunismus und zur Sowjetunion ebenfalls ein extremes Experiment war. Die interne Begründung – die Härte der Batista-Diktatur – mag aus Perspektive der Opfer einleuchten, muss jedoch angesichts ähnlicher Diktaturen im Lateinamerika der 50er-Jahre eher relativiert werden. Extrem war der Bruch mit der westlichen Hegemonialmacht im Kalten Krieg und nicht weniger extrem die Zerstörung der kubanischen agrarischen Oberklassen und das Auseinanderbrechen der Mittelklassen.

Jedenfalls stellt Kuba heute insofern durchaus ein Experiment dar, als es das letzte Land der westlichen Welt ist, dessen regierende Eliten sich Kommunisten nennen. Allerdings fühlen sich die kubanischen Kommunisten seit 1994 nicht mehr als »Vorhut der Arbeiterklasse«, sondern sie führen die »gesamte Nation« an. In gewissem Sinne glauben sie, die Stimme der Dritten Welt und der Gegner der neoliberalen Globalisierung zu sein. Kuba beweist somit, und auch das sicherlich in extremer Form, dass Kommunismus als politisches System nur in enger Verbindung mit dem Nationalismus in das 21. Jahrhundert gelangen konnte. Die Individualität, Einzigartigkeit und der Eigensinn des kubanischen Nationalismus – und das sei gegen den kulturellen Relativismus gesagt (»alles ist hybrid«) – kommen aus seiner Geschichte. Hierin liegt aber auch die Gefahr, dass er sich in der heutigen dualen Wirtschaft unter dem charismatischen Castroismus zum nationalen Patriarchalismus wandelt und den zentralen Mythos Unabhängigkeit gegen den der Gleichheit setzt. Nicht Fidel Castro selbst, aber neue populistische Eliten des Dollarsektors könnten die entscheidenen Akteure einer zukünftigen Geschichte des kubanischen Nationalismus minus Gleichheit werden.

1930, als Kuba etwa drei Millionen Menschen zählte, konnten vielleicht ein Viertel der Kubanerinnen und Kubaner ihre Großeltern unter das nationale Konstrukt »Kubaner« einordnen. Alles andere waren »Ausländer« und Immigranten, die selbst eingewandert waren. Oder ihre Eltern waren nach Kuba immigriert. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden zwischen 700 000 und einer Million als Opfer des Sklavenhandels auf die Insel verschleppt. Was die Menschen aber zutiefst verband, war ihr Gefühl und ihr Wille, »Kubanerin« oder »Kubaner« zu sein, auch wenn sie, wie die meisten unter ihnen, nicht einmal die ganze Insel kannten.

Die Pantheone Kubas sind voller Märtyrer der Unabhängigkeit, da sind nicht nur José Martí oder Che Guevara, auch wenn Martí vor jeder Schule und auf der Plaza de la Revolución steht und das Bild des Che in fast jedem Haus hängt. Es sind auch die Maceos und viele Menschen aus dem einfachen Volk. Sie finden sich in den Häusern und Hütten im besten Einvernehmen mit den Altären der Orichas, der Heiligen und der Ahnen. Das Problem der »Nation« ist nämlich nicht die »Nation« als Diskurs, Symbolik, Marmorstatue oder politische Elitenrhetorik, sondern vor allem die Frage, inwieweit aus allen Winkeln der atlantischen Welt und des Globus nach Kuba gekommene Menschen als »Volk« der Insel Kuba seit etwas mehr als hundert Jahren bereit sind, »Nation« als etwas Eigenes in ihre Gefühle und die kollektive wie individuelle Erinnerung aufzunehmen. Damit erst wird das Konstrukt real, obwohl es ein Mythos ist. Es wird gelebt und kann so zu einer spezifischen Identität und Realität werden. Kuba hat dieses Gefühl einer besonderen Wir-Gemeinschaft bisher immer verteidigen müssen. Die revolutionäre Elite der 60er-Jahre um Fidel Castro und Che Guevara tat dies mit einer ziemlich aggressiven antiimperialistischen Rhetorik. Der kubanische Nationalismus ist aber niemals expansiv gewesen. Expansiv wurde Kuba im Zeichen der Weltrevolution und des lateinafrikanischen Internationalismus. Unter dieser Fahne zogen kubanische Truppen auf einer umgekehrten »Sklavenroute« nach Afrika.

Wissenschaft soll auch Prognose sein; Historiker sind rückwärts gewandte Propheten, obwohl Geschichte natürlich keine Physik ist; aber das Ende des Castroismus mit (einem) Castro steht irgendwann in den nächsten Jahren ins Haus. Raúl Castro hat schon länger angekündigt, dass er 2018 zurücktreten will. Dann werden wir sehen, wie weit der heutige Patriotismus der Kubaner aufgesetzt ist und ob er auch ohne den großen Übervater trägt. Bis heute hat dieser Patriotismus verhindert, dass Kuba zu einem Dominostein irgendeines Imperiums geworden ist. Kuba kannte aus seiner Geschichte bereits um 1960 fast alle Probleme der Globalisierung und des Postkolonialismus. Die Revolution von 1959 kann auch als eine der ersten Rebellionen gegen eine neue Etappe der Globalisierung gedeutet werden. Kuba entwickelte sich zum »Außenseiter« in der neoliberalen Welt, vor allem zwischen 1990 und 2009. Erst die Massentourismuswerbung hat dieses frühglobalisierte und frühpostkoloniale Kuba auch noch in eine touristische Themenparkecke der heutigen Globalisierung geführt, die, je länger sie anhält, Touristen wie auch und vor allem die Menschen auf Kuba immer stärker von der realen Welt isoliert. »Außenseiter« ist Kuba wohl nur im eigentlich beendeten Ost-West-Konflikt und für Leute, die die Geschichte Lateinamerikas oder der Nord-Süd-Konflikte (oder gar Süd-Süd-Konflikte) nicht kennen. Denn es sollte auch nicht übersehen werden – die Salsaschulen, die Restaurants und die doch recht zahlreichen Kubanerinnen und Kubaner etwa auch im ländlichen Deutschland oder in der Schweiz (von Mexiko gar nicht zu reden) sind Zeugen –, dass die Menschen von der Insel längst ihre individuelle oder familiäre neue Globalisierung begonnen haben und dass die kubanischen Eliten (bzw. deren Kinder und Enkel) eine subversive Globalisierung nutzen. Unter anderem auch für die Stärkung des heutigen kubanischen Staates.

Globalisierungen, Revolution und Nation: Die Gründung der kubanischen Republik

Der kubanische Krieg 1895–1898 und der Spanisch-Amerikanische Krieg 1898

In der Geschichte des Westens gehen Globalisierungen der Bildung von Nationen voran; es gibt nur wenige »alte« Nationen, die ihre Gestalt seit dem Mittelalter beibehalten haben (Portugal etwa). Der Nationalstaat auf Kuba ist sehr jung, nämlich etwa hundert Jahre. Auch ihm gingen Globalisierungen voraus. Der kubanische Staat entstand in antikolonialen Kriegen und Revolutionen gegen Aspekte dieser frühen Globalisierungen, wie Kolonialismus, Imperien, konservative Religionsformationen, Sklavenhandel und Sklaverei; im 20. Jahrhundert gegen Amerikanisierung und auch auf sublime Weise gegen die allzu direkte Sowjetisierung. Die kubanische Republik, die sich zugleich als Repräsentantin der kubanischen Nation verstand, erwuchs aus den beiden Unabhängigkeitskriegen 1868–1878 und 1895–1898. Der wichtigste Repräsentant dieser Kriege war Antonio Maceo Grajales (1845–1896), ein Mulatte aus Santiago de Cuba. In seinen Anfängen war der Krieg 1868–1878 ein lokaler Konflikt um mehr Autonomie zwischen den Eliten Ostkubas und den hispano-kubanischen Eliten Westkubas, die das spanische Imperium und die globalisierte Sklaverei verteidigten. Zwischen 1878 und 1895 waren es die Independentisten, die der Masse der farbigen Bevölkerung, den Bauern und den ehemaligen Sklavinnen und Sklaven ein überzeugendes integratives Konzept einer kubanischen Nation »mit allen und für alle« (José Martí) anbieten konnten. Kuba war eine der ersten »neuen«, weil transrassialen, Nationen des Westens. Seitdem stellt der Bezug auf die Unabhängigkeitskriege 1868 bis 1898 den Kern des kubanischen Patriotismus und Nationalismus dar. Gemeinsame kulturelle Erfahrungen und Erinnerungen konnten ehemalige Sklaven, ihre ehemaligen Herren oder Einwanderer aus Spanien kaum haben.

Im Unabhängigkeitskrieg 1895–1898 hatten die Aufständischen mit diesem Konzept eines »Kuba für alle« von Anfang an Positionen, die bedeutend fester in der Bevölkerung (wie auch in Lateinamerika) verankert waren als 1868. Aber sie stellten keine Einheit dar. Zwar war der kubanische Nationalismus weitverbreitet und tief verwurzelt. Unter den Nationalisten aber gab es auf der Insel einen independentistischen Flügel, der von Militärs und Politikern der martianischen Linken repräsentiert wurde, die größtenteils nicht nur die Trennung von Spanien, sondern die absolute Unabhängigkeit einer egalitären Gesellschaft in republikanischer Form anstrebten. Repräsentant dieser Strömung war der Dichter-Revolutionär José Martí (1853–1895). Die Masse der bäuerlichen Soldaten wurde durch regionale, oft sozialrevolutionäre Caudillos angeführt, die eine Umwälzung auf dem Lande anstrebten. Andere Gruppen strebten eine Vereinigung mit den USA oder eine autonome Position im Rahmen des spanischen Imperiums an. Diese Flügel des Nationalismus repräsentierten vor allem emigrierte zivile Politiker. Der kleinste gemeinsame Nenner zwischen diesen Gruppen war der Separatismus, die Loslösung vom europäischen Spanien. Auch zwischen Separatismus und Autonomismus waren die Grenzen fließend. Die soziale und organisatorische Basis des Separatismus hatte sich im Gegensatz zu 1868–1878 völlig verändert. Sie bestand aus ländlichen Mittelklassen, proletarisierten Unterschichten wie Tagelöhnern und Landarbeitern, unter ihnen viele junge Söhne ehemaliger Sklavinnen, Tabakarbeitern auf der Insel und in den USA, Arbeitslosen, dazu aus ländlichem und städtischem Kleinbürgertum sowie einigen Hacendados, Studenten und Vertretern freier Berufe. José Martí war der große Organisator und Kommunikator bei der Vorbereitung des Krieges. Er war das Hirn der separatistischen Partei. In Kuba selbst allerdings war er weniger bekannt. Die independentistischen Militärs Antonio Maceo und Máximo Gómez waren die großen charismatischen Führer.

Am 24. Februar 1895 begann der »große« Krieg gegen Spanien mit dem Grito de Baire. In allen Provinzen des Westens und des Zentrums scheiterte der Pronunciamiento zunächst. Das Zentrum des Aufstands lag wieder in Oriente. Bald bildete sich in der Zentralprovinz Las Villas ein zweiter Schwerpunkt heraus. Martí konnte sich mit seinem Ideal des demokratischen Krieges unter Führung eines zivilen Rats, Consejo, wie im Manifest von Montecristi (25. März 1895) dargelegt, nicht durchsetzen.

Nach der Ankunft auf Kuba traf sich Martí am 4. Mai 1895 in La Mejorana mit Maceo und Gómez. Antonio Maceo verteidigte eine unbedingte Zentralisierung der militärischen Gewalt unter einer Junta von Militärs oder einem Oberbefehlshaber. Eines der Grundprobleme politischer Führung auf Kuba – von Fidel Castro und seinen Anhängern erst 1959 gelöst (der Intellektuelle Fidel Castro legte Uniform an und hat sie seitdem öffentlich nicht mehr abgelegt) – ist hier angelegt. 1895 kam es um dieses Problem zu einer heftigen Auseinandersetzung. Im Ergebnis, falls von einem solchen überhaupt gesprochen werden kann, wurde Gómez militärischer Oberbefehlshaber, General en Jefe, Maceo sein Stellvertreter und Militärchef von Oriente. Martí war zwar von Gómez zum Mayor General ernannt worden, blieb aber ziviler Führer der Revolution, ihr strategischer Kopf und Außenpolitiker. Er starb schon am 19. Mai 1895 auf einem Erkundungsritt bei Dos Ríos. Damit war der wichtigste Zivilpolitiker zwar eine Legende, aber er fehlte in der realen Politik. Keine andere Persönlichkeit brachte die Weitsicht Martís auf, und keine war so wie er in der Lage, zwischen zivilem und militärischem Sektor der Separatisten Konsens zu stiften.

Wie der Volksmythos den toten Martí nachträglich zum Retter Kubas erhoben hat, kann vielleicht ein populärer Text mit dem Titel Clave a Martí zeigen:

»Martí hätte nicht sterben dürfen, ach sterben!

Wenn er der Meister und Führer wäre,

würde ein anderer Wind wehen.

Das Vaterland wäre gerettet und Kuba glücklich.«1

Seit dem Tod des Dichter-Revolutionärs kam es zur Entstehung eines »Panthéon mythologique« um ihn, dessen Erforschung zur Archäologie des Begriffs Nation gehört. Mit seinem tragischen Tod von 1895 ersparte Martí den Kubanern einen Gutteil der Tragödie der Identität, denn die spanische Geschichte Kubas vor 1898 war die Geschichte des politischen Gegners; die Sklavengeschichte Kubas wollte man nicht. Alles Positive der Kolonialzeit konnte nun auf die Lichtgestalt Martí projiziert werden. Der Dichter wurde zum Heiligen. Der Tod Martís stärkte die Position der Militärs.

Im Unterschied zu 1868–1878 versuchten Gómez und Maceo seit 1895 die Mambí-Armee (Ejército Libertador de Cuba, ELC) von oben zu organisieren. Das gelang vor allem bei der Aufstellung der Invasionstruppen, die von Oriente aus gegen Westkuba vorrückten. Die Konflikte mit den lokalen Kräften und Klientelschaften sowie der zivilen politischen Führung blieben allerdings auch diesmal nicht aus. Noch am Ende des Krieges polterte der knorrige Generalissimus Máximo Gómez über die fehlende Disziplin der Kubaner: »Die Wirkliche Disziplin [unterstrichen und in dieser Form von Máximo Gómez geschrieben – M. Z.] ist hier ein Mythos, aber das muss man leise sagen, damit man es nicht draußen [im Ausland – M. Z.] hört.« 2

Die »Republik in Waffen«

Die politische Führung der Republik bildete sich im September 1895 mit zwanzig Vertretern der drei Ostprovinzen in der Konstituierenden Versammlung von Jimaguayú (Camagüey). Die kurze Verfassung bekannte sich zur Tradition von 1868–1880, versuchte aber die Fehler des großen Krieges (1868–1878), die vor allem in der Übermacht von lokalen Militärführern bestanden hatten, zu vermeiden. Die Verfassung sollte für zwei Jahre gelten, falls vorher nicht der Sieg errungen sei. Sie proklamierte die Doktrin der zivilen Suprematie in der Führung. Zur entscheidenden Kontroverse kam es zwischen Rafael M. Portuondo, der die Einheit des Kommandos beim Generalissimus Gómez forderte, und Fermín Valdés Domínguez, der ausrief: »Das ist Militärdiktatur!«. Die Abstimmung ging mit 15:4 gegen Portuondo aus. Allerdings kümmerte sich kaum einer der Militärs um dieses Ergebnis. Theoretisch war allen klar, dass die Macht zwischen Regierung als oberster ziviler Gewalt und Militär geteilt werden musste. Die Verfassung trennte deshalb das militärische vom zivilen Kommando. Sie gab den Militärs während der Kämpfe die volle Befehlsgewalt über die Truppen im Felde. Die zivile Führung behielt sich allerdings das Recht zur Truppenaushebung, zur strategischen Planung und zur Vergabe von Offiziersrängen ab Coronel (Oberst) aufwärts vor. Allerdings konnte die Regierung diese Rechte kaum durchsetzen.

Ein Regierungsrat wurde gegründet, der zugleich exekutive und legislative Funktionen hatte. Das Gewicht der Tradition drückte sich darin aus, dass Salvador Cisneros Betancourt, autonomistisch-nationales Urgestein, zum Präsidenten gewählt wurde. Zum Stellvertreter bestimmte die Versammlung den Mediziner Bartolomé Masó, einen der wichtigsten zivilen Independentisten. Vier Staatssekretäre (Ministerien) wurden geschaffen: für Kriegsangelegenheiten, für Inneres, für Auswärtige Beziehungen und für Wirtschaft. Den wichtigsten militärischen Rang, nunmehr konstitutionell abgesichert, nahm Máximo Gómez als Oberkommandierender des Ejército Libertador (Generalísimo)ein. Antonio Maceo war sein Stellvertreter (Lugarteniente general). Damit war die Führung der weißen Kreolen gesichert; der dunkelhäutige Kubaner Maceo konnte nur zweiter der Rangliste sein, sonst wäre die Einheit des Separatismus schon an diesem Punkt gesprengt worden. Bevollmächtigter Delegierter, faktisch Auslandsvertreter, und Chef des Partido Revolucionario Cubano (PRC) wurde der spätere erste Präsident Kubas, Tomás Estrada Palma, der noch Bürger der USA war.

Nach einer regionalen Phase des Krieges marschierte General Antonio Maceo mit 1500 Mann in die Westgebiete ein. Máximo Gómez und Quintín Bandera unterstützten ihn durch Aktionen in Camagüey, Trinidad und Las Villas. Aber selbst Maceo musste erst von der Notwendigkeit überzeugt werden, seine regionale Basis im Osten zu verlassen und per Invasion in das »spanische« (»große«) Kuba einzudringen. Denn die regionalen Militärführer aus dem Oriente, vor allem Calixto García, lehnten das kosmopolitische und in Havanna von den Reformisten entwickelte Konzept eines Vaterlands in gesamtkubanischer Dimension ab, wenn sie es überhaupt kannten. Für sie – mit Ausnahme von Máximo Gómez, aber der war Ausländer – musste die Invasion aus militärischen Gründen den Krieg bis Pinar del Río tragen. Der kreolische »weiße« General Gómez und der schwarze General Quintín Bandera mit der Oriente-Infanterie folgten dem mulattischen General Maceo im Oktober 1895, um sich mit ihm in der Provinz Las Villas zu treffen. Als die Oriente-Truppen die Grenzen zu den großen Zuckerplantagen erreicht hatten, soll Maceo gesagt haben: »Das Schiff hat die hohe See erreicht.«

In Las Villas wurden die Truppen auf 4000 Mann verstärkt. Ihre Armee nannten sie eigenartigerweise Invasionsarmee. Die Befreiungsarmee trug den Krieg in das durch limesartige Befestigungsanlagen, trochas, geschützte »große« Kuba. Die wichtigste Trocha von Júcaro nach Morón zwischen Nord- und Südküste fixierte militärisch die alte politisch-kulturelle Grenze zwischen Oriente (Osten) und Occidente (Zucker-Westen). Die Invasion bedeutete somit im Denken der Orientales die Offensive ihrer lokalen Region gegen den Inselwesten, der im Bündnis mit dem imperialen Spanien stand – ein wahrhaft dramatischer Ausdruck der tiefen regionalen Unterschiede im damaligen Kuba. Die Desertionen von Orientales aus den Truppen von Gómez und Maceo während des Marsches nach Westen waren so zahlreich, dass Maceo Erschießungen anordnen musste. Die Männer aus Oriente lehnten es ab, auch Westkuba als ihr Vaterland anzusehen, für das es sich zu sterben lohnte. Das hieß aber nicht, dass ihre militärischen Potenzen gering waren. Die Schlacht von Mal Tiempo (zwischen Cienfuegos und Santa Clara im Dezember 1895) bewies die Fähigkeit der Kubaner, auch offene Feldschlachten siegreich zu bestehen. Allgemein aber wichen die kleinen Verbände, die sowohl zu Fuß als auch zu Pferd kämpfen konnten, größeren Gefechten aus oder sammelten sich auf verschiedenen Wegen zu konzentrierten Aktionen.

Zunächst schien die Strategie eines kurzen Krieges aufzugehen. Die Zahlen über die Rekrutierungen des Ejército Libertador zeigen, dass es von Februar 1895 bis März 1896 massive Einschreibungen gab. Expeditionen, die Kuba aus den USA und anderen amerikanischen Territorien erreichten, wie etwa die von Roloff-Sánchez, brachten die emigrierten Offiziere des Zehnjährigen Krieges in die wichtigsten Regionen des Konflikts. Im Januar 1896 erreichte Maceo an der Spitze seiner vorwiegend schwarzen Invasionstruppen Mantua, die westlichste Stadt Kubas. Aus dem regionalen Aufstand war ein nationaler Krieg gegen die Kolonialmacht geworden.

Es war auch eine Revolution. Gómez und Maceo hatten mit mittlerweile recht erfahrenen Stammeinheiten die soziale Guerillakriegführung bis zur Perfektion entwickelt. Gómez’ Devise war: »Zucker ist der Hauptfeind der Unabhängigkeit« (er hätte auch sagen können: »Das ›große‹ Kuba ist der Feind der Unabhängigkeit«). Das rief die Proteste Estrada Palmas aus New York wegen der Zerstörung US-amerikanischen Eigentums hervor. Die Separatistengeneräle strebten ein Ayacucho cubano an – eine Hauptschlacht wie die, in der Simón Bolívar und Antonio José de Sucre 1824 die spanischen Truppen in Südamerika geschlagen hatte – in Pinar del Río, Havanna oder in Matanzas, jedenfalls im Westen. Aber dieses Konzept scheiterte. Der Krieg auf Kuba war kein klassischer Fronten- und Schlachtenkrieg.

Ministro de Ultramar