Über Renan Demirkan

Renan Demirkan, geboren 1955 in Ankara, lebt seit 1962 in Deutschland. Sie erhielt den Grimme-Preis sowie die Goldene Kamera und den Hessischen Filmpreis, 1998 das Bundesverdienstkreuz. Ihr Roman »Schwarzer Tee mit drei Stück Zucker« (1991) stand monatelang auf der Bestsellerliste. Außerdem veröffentlichte sie die Erzählung »Die Frau mit Bart« (1994) sowie den Roman »Es wird Diamanten regnen vom Himmel« (1999).

Informationen zum Buch

Man weiß selten, was Glück ist, aber man weiß meistens, was Glück war.

Renan Demirkan, Schauspielerin, Autorin, politische Vordenkerin, zieht Bilanz und erzählt von ihrer Existenz als Deutsche und Türkin, vom Suchen und Ankommen, vom Finden und Loslassen. Bewegend, mitreißend und brillant geschrieben, umkreist ihr Buch diese »zwei Leben in einer Haut«, die, so Demirkans Credo, Last und Chance zugleich sind.

»Eine Schriftstellerin, die mit kleinen Gesten Großes erreicht«. NDR

In ihrem fünfzigsten Lebensjahr steht Renan Demirkan am Grab ihrer Mutter in deren türkischem Heimatdorf, erinnert sich noch einmal an die gemeinsamen Jahre und fragt nach den Vorstellungen von Leben und Glück, die ihre Generation mit der ihrer Mutter zugleich verbanden und von ihr trennten. Demirkan kam 1962 als Siebenjährige nach der türkischen Staatskrise nach Deutschland, wuchs in Hannover auf und machte eine erfolgreiche Karriere als Schauspielerin und Autorin. In diesem Buch zieht sie die bewegende und sehr persönliche Bilanz eines Lebens, das geprägt ist von der Frage nach der Identität zwischen den Kulturen.

»Mit anrührender Offenheit und großer Emotion.« Kölnische Rundschau

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Renan Demirkan

Septembertee

oder
Das geliehene Leben

Inhaltsübersicht

Über Renan Demirkan

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Ein Ich wird man nicht allein

I. Semihas Tochter

II. Rochade ins Land des Lächelns

III. Glückskeks und zwei Balkone

IV. Respekt

V. Septembertee

Epilog

Dank

Impressum

Für die, die geblieben sind und sich weggesehnt haben, und für die, die weggingen, aber nicht bleiben konnten.

Für die, die das nicht verstehen können, und für die, die es verstehen wollen.

Für zwei Menschen, die so verschieden waren wie das Schwarz und Weiß auf dem Schachbrett.

Für meine Mutter.

Für meinen Vater.

Die Zeit steht still. Wir sind es, die vergehen.

Mascha Kaléko

Ein Ich wird man nicht allein

Religion, Familie und Gemeinschaft geben nur die Bühne ab – das Stück muss jeder selbst schreiben.

Pico della Mirandola,
Über die Würde des Menschen

Es war mir immer unverständlich, wie sich Menschen festlegen können. Festlegen auf einen Beruf zum Beispiel, oder auf einen Mann fürs Leben oder aber auch auf eine »Leitkultur« für alle. Wie soll das denn gehen?, frage ich. Kein Mensch besteht aus nur einer Erfahrung. Oder aus nur einer Begegnung. Keine Kultur aus nur einer Geschichte. Das Leben ist weder monothematisch noch monokausal.

Ich selbst kann mich an keinen Tag erinnern, an dem ich von morgens bis abends immer derselbe Mensch gewesen wäre: Ich war abwechselnd und zuweilen auch gleichzeitig Tochter und Schülerin, Schwester und Freundin, Geliebte und Mutter, Türkin und Deutsche, Nachbarin, Angestellte und Kollegin. Dabei ist keines dieser Ichs eine Solistin, denn jede Erfahrung mit einem neuen Gegenüber geht »nahtlos und ohne unausgefüllte Zwischenräume« in die Erfahrung mit dem Nächsten über und »bewahrt gleichzeitig ihre Identität«, wie der Philosoph John Dewey in »Kunst als Erfahrung« schreibt.

Das heißt, man hat nie nur ein Leben, sondern besteht aus verschiedenen Paralleluniversen. Wir sind gemacht aus dem Genpool unserer Ahnen und unseren eigenen Erfahrungen. Deshalb, so Dewey, »existiert kein Mensch ausschließlich innerhalb des Bereichs seiner eigenen Haut«. Wir sind vielmehr ein Echo all der Leben, die uns abverlangt werden, und versuchen im täglichen Dazwischen mühsam, ein selbstbestimmtes und einmaliges Ich zu kreieren. Und werden dabei nur zu einem neuen Echo, nämlich dem unserer eigenen Wunschvorstellungen.

Je mehr ich versuchte, irgendeine Art kontinuierliche Identität in mir zu finden, je öfter ich fragte: Wer bin ich mit welchem Gegenüber? Und wie verhalte ich mich in dem jeweiligen Kontext?, desto mehr Erfahrungswelten fächerten sich in mir auf. Und ich sah, dass ich als Tochter meiner Mutter eine andere Tochter war als die Tochter meines Vaters. Ich war als Vertraute meiner Schwester eine andere als die Vertraute meiner Freundin Evelyn. Ich war bei meiner Klassenlehrerin eine andere Schülerin als bei der Mathelehrerin, bei meiner Sprechtechnikdozentin wurde ich automatisch eine andere Studentin als bei dem szenischen Lehrer.

Jede dieser Veränderungen geschah ohne Druck oder Verstellung, denn jedes neue Gegenüber forderte mir ein anderes Verhalten und Denken ab. Ich merkte nur erst viel später, dass ich oft überfordert war und es nach wie vor immer wieder bin, wenn ich etwas völlig Neuem begegne. Aber ich möchte keine dieser Erfahrungen missen, denn ich habe nur dazugelernt.

Jedoch entwickelte sich zu meiner Verwunderung statt eines klar überschaubaren Ichs zunächst eine Art Kessel Buntes in mir, ein chaotisches Ich-Potpourri, das sich bis zur Geburt meiner Tochter sogar in einen sehr verwirrenden und dissonanten Freejazz verwandelte.

Dagegen spüre ich heute mit jedem Jahr, das ich älter werde, eine größere Mühelosigkeit und Selbstverständlichkeit im Umgang mit all den verschiedenen Ichs. Aus dem Freejazz ist Swing geworden, ein Mix aus James Last und den Les Humphries Singers, auch wenn das ein wenig an Fahrstuhlmusik erinnert. Im Laufe der Jahre sind meine zornigen Anteile mit den schüchternen eine Menge Kompromisse eingegangen, die neugierigen mit den ängstlichen, die albernen mit den traurigen.

Vielleicht ist der größte Vorteil des Älterwerdens, dass sich die verschiedenen Erfahrungen irgendwann von selbst miteinander versöhnen. Ich empfinde es als sehr befreiend, mich nicht mehr ständig für oder gegen etwas verteidigen zu müssen. Es macht mir sogar richtig Spaß, einfach nur dazustehen und mit dem Finger den Rhythmus zu schnipsen, ganz so wie James Last vor seinem Orchester, und die Mutter mit der Schauspielerin, die Autorin mit der Geliebten oder die Türkin mit der Deutschen tanzen zu lassen. Und das ist gut so, denn sonst wäre ich eine Irre, zusammengesetzt aus einem Dutzend verstreuter Solisten.

Trotzdem ist dieses gemischte Kulturwesen, das ich heute bin, nicht bloß die Addition all dieser Erfahrungen, denn mein Sehen und Begreifen setzt sich auch zusammen aus dem Licht und den Gerüchen, die diesen Erfahrungen innewohnen, aus den Gesichtern und Orten, aus deren Geschichten, Liedern und Farben. Doch auch diese äußerst komplexe interaktive Kette erklärt nicht endgültig, warum ich lieber dieses will als jenes, warum mich ein ganz bestimmter Typ Mensch anzieht und ein anderer abstößt oder sogar anekelt. Denn ich bin auch in jedem Atemzug das Ergebnis der Erziehung meiner Eltern, deren Anerkennung, Kritik und deren unterschiedlicher Art zu lieben. Ein Ich ist mehr als die Summe rein biologischer Prozesse.

Unser Bewusstsein funktioniert ähnlich wie ein Symphonieorchester. Es ist der große Klangkörper aller Instrumente, eine Magie, die kein Analytiker zu entschlüsseln vermag, weil jeder Mensch sein eigenes Lebenskonzert spielt, mit seiner ureigenen Erlebnis-Komposition, im Vertrauen auf die große Welthand, die ihn dirigiert. Kein einziges der Instrumente, auch nicht der genialste Solist, vermag allein diesen einen, großen Klang herzustellen.

Auch entsteht kein Ton aus sich heraus, keine Erfahrung, keine Liebe, kein Verstehen und kein Respekt. Das ist eine weitere Verwandtschaft zwischen Mensch und Musik, zwischen dem Ich und dem Klang: All das entsteht erst durch Berührung. Durch die Berührung der Saite, der Sinne, der Seele, des Geistes und des ganzen Menschen.

Nüchterner beschrieben, ist dieser Prozess der Identitätsfindung ein Wechselspiel von Aktion und Reaktion und aus noch viel, viel mehr Unfassbarem, das dem Leben und der Musik »verborgen« innewohnt, wie Adorno sagt. Und der Renaissancephilosoph Pico della Mirandola beschreibt, was außerhalb dieses »Verborgenen« unser Sein formt: »Er (der Mensch) wurde von Gott in die Mitte der Welt gestellt. So ist er weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich, und anders als Pflanzen und Tiere kann er ein göttliches Sein entwickeln oder aber auch entarten. Welches Sein er wählt, hängt allein von seinem freien Willen ab.«

Ich weiß nicht, wie »frei« unser Wille wirklich ist, auch da gibt es über die Jahrhunderte hinweg die verschiedensten Auffassungen. Aber ich bin überzeugt, dass wir zusätzlich zu der göttlichen Hand ein Gegenüber brauchen, das uns will.

Ein Ich wird man nicht allein, ein Ich braucht ein Gegenüber, das antwortet. Niemand kann von sich aus Teil der Gesellschaft werden, wenn die Gesellschaft ihm keinen Platz anbietet. Das trifft in demselben Maß auf den Einheimischen zu wie auf den Dazukommenden. Kein Gesetz und keine Absichtserklärung wird eine Berührung ersetzen können, die der Betroffene für sein eigenes Wachsen und für das Verwachsen mit seiner Umgebung braucht.

In diesem Buch möchte ich beschreiben, welche Berührungen mein Wachsen und Verwachsen begünstigt, behindert und gefördert haben. Welche Menschen und Ereignisse hinter meinen Erfahrungen stehen, sodass ich heute mit John Lennon sagen kann: Das Leben ist das, was passiert, während man darüber redet. Und mit George Harrisons Song ergänzen möchte: The time will come when you see, we’re all one, and life flows on within you and without you.

I.
Semihas Tochter

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,

die sich über die Dinge ziehn.

Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,

aber versuchen will ich ihn.

Rainer Maria Rilke, Das Stundenbuch

Irgendwann kommt für jeden dieser Zeitpunkt des Staunens und der Fassungslosigkeit, und man hört sich sagen: Wirklich? Ist es denn wirklich schon so lange her? Jetzt schon? Aber ich bin noch gar nicht bereit dafür!

Das hört sich kitschig an. Abgedroschen und trivial, verzweifelt und hilflos. Und das ist es auch. Und auch wieder nicht.

Für mich kam dieser Zeitpunkt am 22. September 2005, um 15.01 Uhr. Nach dem Tod meiner Mutter, als mich die Ärzte, Krankenschwestern, Freunde und Nachbarn zu trösten versuchten, obwohl ich nicht zu trösten war.

»Sei doch froh«, sagten sie: »Du hattest sie länger als viele andere Kinder ihre Mütter. Du hattest sie immerhin fünfzig Jahre!«

Von wem sprachen die? Wer war fünfzig? Ich doch nicht! Ich war das Kind meiner Mutter, und als Kind hat man kein Alter, ebenso wenig wie eine Mutter ein Alter hat. Ein Kind denkt als Kind. Und Kinder wissen nicht, was Zeit ist oder was Jahre bedeuten. Egal in welchem Alter. Das ist ihr Vorrecht. Ich kannte meine Mutter mein ganzes Leben lang. Ich war mein ganzes Leben lang ihr Kind gewesen – wir waren unauflösbar, eine Zeiteinheit. Sie war meine Uhr und mein Bett, mein Dach und mein erstes Wort, meine Sprache.

Und plötzlich verlangte man von mir, mich als ein eigenständiges Produkt der Natur zu sehen, ein vom Leben selbst geprägtes Wesen, dessen Wertschöpfung offensichtlich erst durch den Tod sichtbar wird. Sie nannten es »das Erwachsenwerden«.

Nein, nicht mit mir!, dachte ich. Ich bin noch lange nicht bereit dafür! Noch gestern hatte sie mich doch mit Faltenröcken genervt, war ständig mit ihrem blöden roten Kamm hinter mir her gerannt, um mir die Haare anständig zu kämmen, hatte mir Jeans, schwarze Fingernägel und gezupfte Augenbrauen verboten. War das alles wirklich schon so lange her?

Verkehrte Welt! Wie kann ein Mensch froh sein über den Tod? Über das Abgeschnittenwerden von der eigenen Geschichte? Welche Zukunft bleibt ihm dann noch?

Auch wenn ich oft zu ersticken drohte zwischen den Mahnungen und Geboten meiner Mutter – dieser Mischung aus orientalischer Sippenhaft und mitteleuropäischem Drill, so war sie doch immer mein Planet, mein Almanach, meine Bibliothek, der einzige Schoß, in dem mein Kopf zur Ruhe kam, die einzige Hand, die mir die Urangst nahm, ins Bodenlose zu fallen, eine warme, weiche Hand, mit kurzen Fingernägeln und dünner Haut.

Wenn ich ab jetzt ohne Anfang leben musste, wie sah denn da meine Zukunft aus? Was wird aus mir? Wie werde ich sein, ohne die Erinnerungen meiner Mutter, ohne ihren Glauben und ihre Fotoalben, ohne das Echo unserer Ahnen?

Natürlich tauchten diese Fragen nicht mit diesen Worten auf. Eigentlich gab es gar keine wirklichen Worte in mir. Im Gegenteil, mir war, als würde ich kahl und hohl, leer und dunkel. Trauer ist wie ein unbelichtetes Foto einer unbekannten Welt. In mir rauschte ein surreales Gefühlschaos: Ich spürte mich zwar nicht mehr als fester Körper, aber ich sah mich im Spiegel: Ich hatte zwei Augen, ich konnte gehen und sogar denken. Irgendwie und irgendetwas.

Ich dachte wieder: verkehrte Welt! Solange ein Mensch atmet, ist er ständig außer Atem! Entweder rennt er vor etwas davon, oder er will schnell irgendwohin. Jedenfalls war es bei meiner Mutter so. Sie lebte ständig im Dauerlauf, um neben ihrer Arbeit als Schneiderin die vier Leben unserer Familie zu ordnen und zu organisieren, den gesamten Haushalt auf hundertzehn Quadratmetern mit allem Drum und Dran. Dabei ging es mir und meiner Schwester am besten. Nach der Schule wärmten wir uns das Essen auf, das sie für uns vorgekocht hatte, aber nach den Schularbeiten hatten wir bis zum Abendessen frei. Wir hatten zwar eine Menge Wünsche in dieser freien Zeit, meine Schwester wäre gern zum Ballettkurs gegangen, und ich wäre einfach gern nur richtig frei gewesen, aber wir hatten im Gegensatz zu unserer Mutter wenigstens diese freie Zeit zum Durchatmen und Träumen.

Auch mein Vater führte ein äußerst bequemes Leben. Er arbeitete als Konstrukteur bei der U-Bahn in Hannover zwar hart für die Miete, die Versicherungen und unsere Ausbildung, aber er hatte nach sechzehn Uhr Feierabend und entspannte sich mit einem Cognac und seinen Büchern, oder beim Schachspiel. Denn alles andere erledigte meine Mutter für ihn. Obwohl sie selbst erst um achtzehn Uhr heimkam, war sie die Einzige ohne eine freie Minute, ohne Zeit nur für sich allein.

Sobald sie den Mantel in den Schrank gehängt, die Hände gewaschen und die Schürze umgebunden hatte, verschwand sie in der Küche und machte ohne Pause weiter. Nach dem Essen räumte sie die Wohnung auf, wusch die Wäsche, stopfte Löcher, nähte Knöpfe an, bügelte Blusen, Hemden und Bettlaken. Sie tat das ohne Widerspruch. Getreu dem tscherkessischen Ideal ihrer Eltern: Disziplin und Selbstbeherrschung, Anstand und Zurückhaltung. Tagein, tagaus. Jahrein, jahraus. »Die Arbeit macht mir nichts aus, wenn sie respektiert wird«, sagte sie.

Jeder, der sie kannte, riet ihr, sich doch einmal auszuruhen. Aber sie antwortete immer wieder: »Ach das bin ich doch gewohnt. Solange die Arbeit gebraucht wird, fällt sie leicht.« Auch als wir Kinder längst aus dem Haus waren, schaffte es meine Mutter nicht, sich einen Nachmittag lang mal einfach nur auszuruhen.

Schließlich forderten sogar die Ärzte sie auf, endlich nur noch an sich selbst zu denken und sich vom Stress fernzuhalten.

Selbst als der Krebs bereits ihren ganzen Körper lähmte und ihr nach der zweiten Chemotherapie körperliche Arbeit verboten worden war, putzte sie noch die Balkone bis zur Erschöpfung. »Das erledigt sich doch nicht von selbst«, sagte sie bleich und tonlos, als sie sich hinlegen musste, weil sie mittlerweile nicht mal mehr sitzen konnte.

Nun lag sie da, wie aus Wachs, und alles schien sich wie von selbst zu erledigen. Alles räumte sich irgendwie selbst auf, fügte sich geräuschlos wie ein Uhrwerk ineinander: Und plötzlich war es sogar möglich, sonst unerreichbare Papiere vom Konsulat, Standesamt, Ordnungsamt, Einwohnermeldeamt, Flugtickets, Cargopapiere, deren Beschaffung in der Regel Wochen, gar Monate dauert, innerhalb eines halben Tages, mit all den nötigen Stempeln, Unterschriften, Erlaubnissen und Eintragungen zu bekommen. Der türkische Bestatter aus Frankfurt hatte zwischen acht Uhr und dreizehn Uhr alles erledigt. Unfassbar. Gerade noch rechtzeitig für die Siebzehn-Uhr-Maschine nach Istanbul. Denn nach islamischer Sitte muss ein Toter innerhalb von vierundzwanzig Stunden beigesetzt sein.

Es gab keine Einwände mehr. Niemand sprach mehr laut. Niemand hatte es mehr eilig. Die Vorübergehenden waren ohne Ausdruck, das Bunte verlor die Farbe und die Straßen ihre Enge. Als hätte eine große Hand die Zwänge der Welt einfach weggewischt. Als gäbe es keine Grenzen mehr und keine Nationalitäten. Jetzt zählte plötzlich nur noch »die Würde des Toten«, als wäre der tote Mensch etwas Anderes, Wertvolleres, als ein atmender und sprechender es je sein kann. Es sollte das erste und letzte Mal bleiben, dass meine Mutter von den deutschen Behörden nicht wie eine Ausländerin behandelt wurde.

Wieder dachte ich: Verkehrte Welt! Obwohl die Toten nichts mehr davon spüren, wird ihre Existenz gleichsam internationalisiert und beinahe großherzig respektiert. Nun haben sie endlich alle Zeit der Welt, und trotzdem wird ihr Verschwinden mit äußerster Geschwindigkeit organisiert.