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Über den Autor

Christian Hardinghaus wurde 1978 geboren. Er lebt in Osnabrück und ist ausgebildeter Fachjournalist, promovierter Historiker und Filmwissenschaftler. Aus seiner Feder stammen bisher wissenschaftliche und journalistische Publikationen, die sich geschichtlichen und psychologischen Themen widmen. Spezialisiert hat er sich auf Propagandaforschung (Filmpropaganda für den Holocaust), Vorurteilsforschung („Der ewige Jude“ und die Generation Facebook) und filmische Manipulationstechniken (Mulholland Drive: Die Entschlüsselung). Er setzt sich an Universitäten und Schulen für Medienerziehung ein. Mit Mindfuck Stories legt er sein erstes belletristisches Werk vor.

Christian Hardinghaus

Mindfuck
Stories

Durchgedrehte
Kurzgeschichten

Impressum

© 2013 Christian Hardinghaus

Verlag: XPUB GmbH

Design/Umschlag:

Christina Kasperczyk | von grau | Osnabrück

Neu-Auflage | Oktober 2017

eISBN 978-3-945703-81-6

Printed in Germany

Alle Rechte liegen bei der XPUB GmbH. Das gesamte Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der XPUB GmbH unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für Übersetzungen. Alle Angaben in diesem Buch sind sorgfältig geprüft und geben den neuesten Wissensstand wieder. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung der Verfasser oder der XPUB GmbH für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Inhaltsverzeichnis

Vorspiel

Fensterpatientin

Der Baumjunge

Der Vier-Millionen-Euro-Mann

Das Wohnzimmerexperiment

Das Kopfding

Fuchsteufelswild

Nachkriegskleid

Die Flugsimulantin

Der Schätzer

Hypnozähne

Die Tantenüberfahrt

Kein reiner Wein

Panzerschokolade

Zwischen Tür und Angela

Pappkameraden

Nachspiel

Vorspiel

Mindfuck: Wahrscheinlich ist Ihnen dieses Wort irgendwo zwischen Videothek und Internet schon mal begegnet. Vielleicht sind Sie auch bereits Fan von skurrilen Geschichten und haben sich gerade deswegen dieses Buch zugelegt? Doch was genau ist das eigentlich, ein Mindfuck? – zumindest kein literarischer Begriff, schon gar nicht die Bezeichnung für ein Genre. Mindfuck ist ein Effekt, hervorgerufen durch eine völlig unerwartete und überwältigende Wendung in einer Handlung.

Anfang der 2000er Jahre, nachdem Filme wie The Sixth Sense, Fight Club oder Mulholland Drive Kinobesucher in gleichem Maße fasziniert wie ungläubig in den Sesseln zurückgelassen hatten, tauchte der Begriff in amerikanischen Filmforen auf. Eine geeignete deutsche Übersetzung gibt es nicht. Kopfverdreher klingt zwar weniger vulgär, wird dem Effekt aber nicht gerecht. Meine Kurzgeschichten sollen zeigen, dass Mindfuck auch in der Literatur einschlägt. Sie offenbaren am Schluss mehr als nur eine Pointe, sie sind einfach noch durchgedrehter! Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen und natürlich viele, nachhaltige Mindfucks!

Fensterpatientin

Ich hocke wie jeden Tag am Fenster meines Zimmers im zweiten Stock der psychiatrischen Kinderklinik. Die Fensteröffnung ist gekippt und ich kann das feuchte Gras riechen. Ich liebe die Gerüche aus dem Krankenhauspark, besonders, wenn es im Sommer geregnet hat. Ich hebe den Kopf und strecke meine Nase so weit es geht durch den Fensterspalt. Ich sauge ihn auf, den süßlichen Duft der gelben Teichrosen, die auf dem kleinen Tümpel direkt unter meinem Fenster schwimmen. Weiter hinten auf der Wiese hat der Gärtner angefangen, das Beet mit den Tulpen zu beschneiden. Die Vögel unterhalten sich jetzt wieder. Ich höre das Zwitschern und Schnarren der Schwalben auf den Apfelbäumen und das Tschilpen der Spatzen, die neben der Bank vor dem Teich ein paar Brotkrumen gefunden haben. Ich mag Singvögel und fühle mich von ihren Tänzen auf dem nassen Kiesweg wie magisch angezogen.

Zu gerne würde ich einmal auf dem Weg wandern. Doch es geht nicht, denn ich kann mein zu Hause nicht verlassen. Oft versuchte ich es, lag stundenlang zitternd wie ein verängstigter Hund vor der offenen Wohnungstür und krallte mich am Boden fest. Ein Bein über die Schwelle bekam ich nie und habe es eines Tages aufgegeben. Im Freien bewegte ich mich mein ganzes Leben nicht, und wenn doch, so kann ich mich nicht erinnern.

Ich akzeptiere das jetzt, auch wenn es schwerfällt und wehtut. Ich bin gefangen und doch nicht einsam. Mein kleines Herz steckt voller Sehnsucht und dennoch spürt es Geborgenheit und Wärme. Bevor ich in die Klinik kam, war es nicht so. Früher lähmte mich die Furcht und hin und wieder nagt sie auch heute noch an meinem Kopf wie ein gefräßiger Biber an einer Kiefer. Dann kommen die Erinnerungen zurück: ein dreckiges, dunkles Kellerloch, Panik, Einsamkeit. Er fesselte mich mit einer Eisenkette, die sich so tief in meine Haut gebohrt hatte, dass ich dort, so lange ich lebe, durch hässliche, wulstige Narben entstellt bleiben werde.

In meinem Gefängnis war es dunkel wie eine Mitternacht in mondloser Nacht, der steinharte Betonboden, auf dem ich kauerte, kalt wie Eis. Mir gehörte ein Kissen, das ich mir abwechselnd unter Kopf und Gesäß schob. Ich klapperte mit den Zähnen und mich quälte der unerträgliche Hunger. Jeden zweiten Tag kam er, der böse bärtige Mann, der mich nie anschaute und nie ein Wort zu mir sprach. Er stellte mir dann zwei Schalen auf den Boden, eine mit Wasser, eine mit einem klumpigen, grässlichen Brei. Mir schießt die bittersüße Galle in den Hals bei dem Gedanken an diesen Fraß, der nie satt machte und nach billigem Katzenfutter schmeckte. Ich versuche, die Bilder, in denen ich mich selbst in meinen eigenen Exkrementen winden sehe, zu verdrängen, so gut es geht. Mitunter, wenn der Mief auch für meinen Schänder unerträglich stank, spritzte er mich und die Steine mit einem Schlauch ab und die übel riechende Pampe schwappte in einen Abfluss. Warum hatte er das mit mir gemacht? Wozu? Ich wünschte mir an manchen Tagen nichts sehnlicher, als dass er mich einfach umbringt.

Ich habe oft darüber nachgedacht, wie ich in diesen Keller geriet, der kaum größer war als die Besenkammer in der Wohnung, in der ich jetzt lebe. Aus einem Fenster konnte ich damals nicht schauen. Das einzige Licht kroch unter der Türschwelle hindurch, die ich nie in der Lage war, zu erreichen. Heute kann ich vor lauter Angst durch keine Haustür gehen. Es wird irgendwie miteinander in Verbindung stehen. Ein Wunder, dass meine Augen gesund geblieben sind und ich heutzutage bei Tag wie bei Nacht gut sehe. Jede lange Stunde grübelte ich damals darüber nach, was vor dem Keller gewesen sein mochte. Doch ich konnte und kann mich nicht entsinnen. Andere Menschen als den Bärtigen kannte ich nicht. Besuch bekam ich nur von Käfern, Fliegen oder Mäusen, die zuweilen unter der Tür hindurchkrabbelten. Ich freute mich immer, wenn das passierte. Kamen sie dicht genug an mich heran, erwischte und verschlang ich sie. Es ist nichts Schlimmes daran, Aas- und Kellertiere zu verzehren, denn sie besitzen keine Seele. Die Tiere waren mein kleines Geheimnis vor ihm.

Als man mich fand, überzogen eitrige Geschwüre meinen Rücken. Ich konnte nicht aufrecht gehen und das Zahnfleisch war bis auf die Knochen zurückgewichen. Magen und Darm steckten voller Pilze und Würmer, und auf mir lebten Flöhe. Ja, Flöhe! Er hielt mich wahrhaftig wie einen schäbigen Köter. Über Monate oder Jahre muss das so gelaufen sein. Aber warum? Ich will doch nur wissen, wer ich bin und woher ich all das weiß, was ich weiß. Man schätzt mich auf etwa acht Jahre. Aber niemand gibt mir Antworten und es setzt sich nicht das Geringste zusammen. Die Ärzte konnten mir bis heute nicht helfen, denn ich kann nicht sprechen. Ich bin mir nicht mal darüber bewusst, ob ich der Sprache je mächtig war. Dabei soll ich an keiner körperlichen Erkrankung leiden und ich gelte als überaus intelligent. Das Einzige, was meine Stimme jedoch hervorbringt, ist ein leises Brummen. Ich brumme, wenn ich Hunger habe, wenn ich müde bin, wenn ich mich geborgen fühle. Ich brummte schon im Keller. Das Brummen beruhigt mich irgendwie.

Beschützt werde ich jetzt von Manuela, die im Zimmer nebenan wohnt. Wir teilen uns in der Wohnung Küche, Bad und Wohnzimmer. Sie war da, als ein Pfleger mich herbrachte. Auch der hatte mich in Ketten gelegt, nachdem ich um mich geschlagen und ihn gebissen hatte. Hinweise auf meine Herkunft und auf Angehörige fand man später nicht. Manuela kümmerte sich von Anfang an um mich, nahm mich in den Arm, gab mir einen Namen, den ich vorher nie besaß. Ich heiße Emma, einfach nur Emma.

Manuela erzählte mir, wie mich ein Polizist bewusstlos, verdreckt und vollkommen abgemagert aus dem Keller gezogen hatte. Ich lernte diesen Menschen nie kennen und hörte auch nichts mehr von dem Mann, der mich so lange gefoltert hatte. Doch das ist jetzt egal, ich will mich nicht rächen. Meine Manuela ist meine Rettung und ich fühle mich auf die eine oder andere Weise zu Hause.

Manuela wollte mich, sie hatte nach mir gefragt. Ohne mich sei sie selbst einsam und unglücklich gewesen, sagt sie. Sie spricht zu mir, wenn sie zu Hause ist. Sie redet mit mir über alles: ihren Arbeitstag, die psychisch kranken Kinder und deren Probleme, ihre eigenen Schwierigkeiten mit Kollegen und Männern. Sie tut das, auch wenn ich nicht antworten kann. Aber ich höre aufmerksam zu, das spürt sie. Manuela sagt, sie liebe meine weichen, pechschwarzen Haare und streichelt sie stundenlang. Sie lässt nachts ihre Zimmertür für mich auf, und sollte ich mal frieren, darf ich mich zu ihr ins Bett kuscheln. Sie legt mir Baldrian unter das Kissen.

Ich blicke aus dem Fenster, ich habe heute lange nachgedacht. Die Sonne wird bald hinter den Birken im Park verschwinden. Eine Fliege findet gerade ihren Weg durch die schmale Fensteröffnung und zappelt an der Scheibe. Surrend dreht sie kleine Kreise und klatscht ein ums andere Mal an das Glas. Es nervt mich tierisch. Ich weiß aber, wie man Fliegen tötet, ich habe es gelernt. Ich ducke mich, spitze meine Ohren und fixiere das schwarze Insekt mit beiden Augen. Meine Pfoten vibrieren, ich schlage zu, schneller als die klebrige Zunge der Kröte, die unten am Teich kauert. Meine Beute bekommt keine Chance, ich erwische sie mit der Kralle und sie fällt leblos auf die Fensterbank, auf der ich sitze. Ich schnuppere erst an der Fliege, dann kaue ich und fresse sie. Obwohl ich das natürlich nicht müsste. Denn gleich macht Schwester Manuela Feierabend und kommt zurück in das Personalwohnheim der Klinik, in dem auch ich lebe. Sie wird meinen Napf mit den braunen Körnern füllen, die manchmal nach Rind und manchmal nach Lachs schmecken. Sie wird mich auf den Schoss nehmen und mit mir schmusen. Ach, wie schön der Gedanke ist. Ich brumme.

Der Baumjunge

Acer Campestre – ein Feldahornbaum – vielleicht 15 Meter hoch. Mit dem Rücken auf dem kalten, leicht feuchten Laub lag Lukas unter diesem, wie er wusste, Seifenbaumgewächs. Er befand sich wenige Zentimeter neben dem Stamm, sodass er die graubraun gefärbte Rinde riechen konnte. Etwas modrig, aber dennoch frisch. Eine interessante Mischung, sie gefiel ihm. Er blickte an dem kräftigen Baumstamm hoch, zwischen den vielen Zweigen empor bis unter die Baumkrone. Es war Spätsommer. Die äußeren Ränder der dreilappigen handtellergroßen Blätter waren bereits gelblich gefärbt. Bald würden sie abfallen und später die Äste von Schnee bedeckt sein. Eine schöne Vorstellung.

Den zehnjährigen Jungen unter dem Baum interessierten Pflanzen im Allgemeinen, Biologie war sein Lieblingsfach und er wusste mehr über europäische Vegetation als jeder andere in seiner Klasse, vielleicht sogar mehr als die Lehrerin. Vor ein paar Tagen hatte er diesen Ahorn entdeckt und war wiedergekommen. Er war hier allein. In der Nähe sang ein Rotkehlchen und die Abendsonne streifte sein Blickfeld. Es fühlte sich so schön an, zwischen den vielen grünen Fichten mit ihren braunen Zapfen, die er aus dem Augenwinkel wahrnahm, zu liegen. Schon komisch, Nadelgewächse fand er nicht ganz so reizvoll wie Laubbäume. Vielleicht, weil die sich nicht so veränderten, nicht so intensiv lebten und erlebten wie Bäume, die ihre Blätter im Herbst verloren und sich im Frühjahr wieder zu voller Pracht entwickelten. Er sinnierte darüber, wie kurz doch sein eigenes Leben sein würde. Acer Campestre über ihm dagegen würde bestimmt 200 Jahre alt werden. Wie alt er jetzt wohl war? Ziemlich alt, dachte Lukas.

Ein Fink flatterte in den Baum und setzte sich auf einen der dünnen Zweige. Seine Flügel waren grau gefärbt, sein Bauch rot wie ein Ziegelstein. Ob das ein Fichtenkreuzschnabel war, der einen Ausflug auf den Ahorn wagte? Würde passen! Er wollte nachher noch mal in seinem Ornithologiebuch nachschlagen. Mit seinen dunkelbraunen Augen gaffte der Vogel dem Jungen direkt ins Gesicht, zerkaute dabei irgendwas in seinem Schnabel. Ein wenig mitleidig sah er aus, aber dabei fast ein bisschen wie er selbst: die braunen Augen, die roten Haare. Eine erheblich seltene Mischung unter Menschen wie auch unter Tieren. Lukas hatte Durst. Er hatte vergessen, etwas zu trinken mitzunehmen. Lange würde er das nicht mehr aushalten und nach Hause gehen müssen. Doch noch ein wenig wollte er die Natur beobachten und beschnuppern, das Rauschen, der sich im Wind wiegenden Blätter belauschen. »Ich glaube, Ahorn ist jetzt mein absoluter Lieblingsbaum«, sagte Lukas laut genug für den Fink, sich zu entschließen, weiterzufliegen.

Der Junge dachte an die weiß-rote Flagge von Kanada, die von einem Ahornblatt geschmückt wurde. Gute Idee, warum hatte Deutschland sich nicht so was Cooles ausgesucht? Blätter fand er friedlicher und einfach passender für eine Demokratie als Raubvögel. Sein Geschichtslehrer sollte ihm das mit dem Adler als Staatssymbol mal erklären. Lukas mochte Ahornsirup auf Erdnussbutter. Er bekam langsam Hunger. Er würde wirklich bald nach Hause gehen müssen, sicher wartete Mama bereits mit dem Essen. Aber Ahornsirup würde es bestimmt wieder nicht geben, obwohl er seine Mutter erst letzte Woche noch mal gebeten hatte, den zu kaufen. Lukas dachte daran, wie seine Mutter jetzt in der Küche stand und Gemüse schnippelte. Aber das essbare Grünzeug war nicht so sein Fall, also blieb er doch noch einen Moment. Er konnte sich nun etwas ausruhen. Abstand gewinnen von seiner Klasse, von Oleg, Daniel und Svenja, die ihm so auf die Nerven gingen. Auf die Nerven. Das passte kaum. Sie verspotteten ihn, nannten ihn Feuerlöscher und spuckten in seine Brotdose. Die anderen Kinder sahen dabei immer zu, Manche lachten laut.

Lukas hatte keine Freunde in der Klasse. Nicht einen Einzigen, der zu ihm hielt. Zum Lehrer ging er wegen der Drangsalierungen nicht. Das hatte er nur einmal gemacht, als ihn Oleg und Daniel in der großen Pause in der Mülltonne eingesperrt und sie mit einem Fahrradschloss zugekittet hatten. Dem Hausmeister, der ihn nach dem Unterricht dort gefunden hatte, hatte er erzählt, dass es eine Mutprobe gewesen sei. Als der ihm ein Handtuch gebracht hatte, damit er sich den Joghurtschleim und die stinkenden Obstschalen aus Gesicht und Haaren wischen konnte, hatte Lukas ihn gebeten, keinem etwas zu sagen, es sei alles in Ordnung mit ihm. Am nächsten Tag hatte er sich nicht in die Schule getraut und sich den Vormittag am See hinter dem Schulgelände versteckt. Das hatte Ärger gegeben.

Er erzählte damals seinem Biolehrer, den er aus dem Kollegium noch am coolsten fand, die Geschichte mit der Mülltonne und musste sie danach beim Rektor wiederholen. Oleg und Daniel bekamen das ordentlich zu spüren. Beide erhielten eine Verwarnung und eine Sechs in Betragen. Wie er später erfuhr, hatte Daniel von seinem Vater eine fette Tracht Prügel einstecken müssen. Das zahlten sie Lukas heim, jeden Tag nach der Schule, drei Wochen lang schlugen und traten sie ihn. Seinen Eltern erzählte er, wenn sie seine Wunden und Quetschungen bemerkten, er würde an einer Box-AG teilnehmen. Seine Mutter tobte einmal wie von Sinnen, als er mit einem blauen Auge nach Hause kam, das er nicht mehr öffnen konnte, und wollte ihm das Boxen verbieten. Aber sein Vater redete ihr das aus, denn er fand das wohl gut: »So lernst du, dich in Zukunft richtig zu wehren, und hörst auf, nur in deinen Sachbüchern zu lesen. Aus dir soll noch ein ganzer Kerl werden.«

Wenn die Lehrer ihm etwas ansahen, sagte er, er sei außerschulisch in einem Boxverein. Öfters guckten sie komisch, aber weder stellten seine Eltern den Lehrern, noch die Lehrer den Eltern Fragen. Gut so!

In den letzten Wochen war alles noch abscheulicher geworden. Svenja hatte ihn Hexer genannt, natürlich auch wegen seiner roten Haare. »Hex«, zischte sie von hinten, wenn Lukas im Unterricht etwas beitrug. Er meldete sich seitdem kaum mehr. Gute Noten schrieb er trotzdem. Im ganzen Jahr hatte er in fast allen Fächern nur Einsen bekommen, sogar in Sport. Nur in Englisch hatte es eine Drei gehagelt. Die Sprache lag ihm einfach nicht so. In der Oberstufe sollte er wirklich überlegen, ein halbes Jahr in Kanada zu verbringen. Oder gleich ein volles, vielleicht bekäme er so die Chance, trotz guter Noten, ein Schuljahr zu wiederholen. So wäre er zumindest im Unterricht die Typen los, die ihn so peinigten.

»Hexer müssen brennen«, hatte Svenja gesagt und das hatte ihm beileibe Angst gemacht. Warum musste sie so gemein sein? Seit dem Kindergarten war er in sie verliebt. Ihr Charakter war zwar hässlich, aber Svenja war wunderschön. Lange blonde Haare, aus denen sie zwei Zöpfe flocht, die Augen blau wie Enzianblüten, und sie guckten gar nicht böse. Doch sie, sie war böse, das stand außer Frage. Womöglich aber war sie auch einfach neidisch, weil sie die Schlechteste in der Klasse war und er der Beste. In Bio und Mathe hatte sie eine Sechs und sie würde dieses Jahr wohl sitzen bleiben. Dabei hätte Lukas ihr alles erklären können. Er hatte sich so oft vorgestellt, wie er mit ihr auf seinem Bett die Bücher über Evolution und Fotosynthese las und sie durch seine Hilfe die Schularbeiten besser machte. Aber Svenja zog lieber mit diesen Idioten Oleg und Daniel um die Häuser, die im Unterricht fast so leistungsschwach waren wie sie selbst. Ihre falschen Freunde rauchten und Lukas wusste, dass die drei auch schon Bier tranken und dann die Laternen in ihrer Nachbarschaft austraten und Häuserwände mit Farbdosen besprühten. So wollte er nicht sein! Schade, dass Svenja da mitmachte. Einmal hatte er sie gesehen, hinter dem Supermarkt in seiner Straße, wie sie Daniel küsste. Der liebt die doch gar nicht, das ist einfach ungerecht!

erAcer Campestre