Über Michael Angele

Michael Angele, geboren 1964 im Kanton Bern, promovierte 1999, schrieb für die Berliner Seiten der FAZ und war Dozent für Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2009 ist er Redakteur des Freitag, seit 2015 als stellvertretender Chefredakteur. 2016 erschien sein vielbeachtetes Buch »Der letzte Zeitungsleser«.

Informationen zum Buch

Das Spiel mit der Macht

Frank Schirrmachers Biographie ist vielleicht die letzte, die man exemplarisch nennen muss: Michael Angele hat das erste Porträt des großen Journalisten, Herausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Bestsellerautors geschrieben. Er zeichnet ein detailreiches Bild des Mannes, den man den »kindlichen Kaiser« nannte, ebenso wie ein Panorama der Medienlandschaft und Debatten dieser Zeit, die Schirrmacher entscheidend mitbestimmte.

»Über Schirrmacher schreiben heißt, ein Schelmenstück schreiben. Es ist das Stück, in dem er sich selbst sah.« (Michael Angele)

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Michael Angele

Schirrmacher

Ein Portrait

Inhaltsübersicht

Über Michael Angele

Informationen zum Buch

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Die Romanfigur, die ins Leben fiel

George nachspielen

Fest erobern

Der neue Literaturchef

Verrat ohne Verräter

Eine Machtdemonstration

Die Politisierung der Debatte

Wulff muss weg

Aber was ist eigentlich eine Debatte?

Der lange Abschied vom Gestern

Das gefährdete Paradies

Epilog

Anmerkungen

Personenregister

Impressum

Dank

Ich danke denen, die mir bei der Arbeit an diesem Buch geholfen haben.

Die Romanfigur, die ins Leben fiel

Sein Blick ist meist prüfend und leicht verächtlich. Sein Lachen wirkt kaum je herzlich, sondern meist schadenfreudig, und auch wenn er sich um Äußerlichkeiten nicht zu kümmern scheint – die weiten Hosen zieht er hoch wie ein Opa, die Haare um die Glatze herum sind ungewaschen –, so ist er doch eitel und frei von Selbstzweifeln: Er sei ein »schöner und grundgescheiter und gerade richtig dicker Mann in den besten Jahren«, urteilt er selbst.1

Ein Junge also, der wie ein Mann von vierzig Jahren anmutet, aber vielleicht verhält es sich genau umgekehrt, ein Erwachsener, der immer noch wie ein böses Kind ausschaut. Altklug und Alles-Besserkönner: weltbester Kunstflieger, weltbester Zauberer, ein »Sprachgenie« sowieso. Und ein Künstler, der in seiner Hütte über den Dächern der Stadt einsame Hähne malt und in Tränen ausbricht, so gut hat noch keiner die Einsamkeit eines Hahnes in einem Bild erfasst.

Die anderen hält er für Spießer oder noch schlimmer: »Die Welt ist voller Kinder, die keine Phantasie haben«. Er dagegen bringt die Phantasie zurück in diese Welt, macht einen Jux und noch einen, er ist schließlich und nicht zuletzt »der weltgrößte Juxemacher«. Ja genau: »Karlsson, Karlsson! Achtung, hier kommt Karlsson! Aus dem Weg, macht Platz für mich, den Karlsson! Hallo! Platz da! Juhu, ich bin der Karlsson, der allerbeste Karlsson auf der Welt.«

Es ist nicht mehr zweifelsfrei zu rekonstruieren, wer Frank Schirrmacher auf den Spitznamen Karlsson vom Dach getauft hat. Vermutlich war es der Journalist Dirk Kurbjuweit, der seinem Sohn zufällig aus Karlsson vom Dach vorgelesen hatte, als er an einem Schirrmacher-Portrait arbeitete, das im Dezember 1999 im Spiegel Reporter erschien. »Der ist doch wie Schirrmacher«, dachte Kurbjuweit und schrieb es hin.2 Ich habe den Vergleich zum ersten Mal gehört, als ich einem Freund, der für die FAZ gearbeitet hatte, von meinem Buchprojekt erzählte und ihn fragte, ob er etwas beitragen könne. Während den meisten meiner Gesprächspartner eine Anekdote einfiel oder der Mund überging, weil das Herz voll war, beschränkte dieser sich auf einen Hinweis: »Karlsson von Dach«.

Dabei strahlte er, als hätte er mir das Schibboleth für mein Buch genannt. Das war übertrieben, aber der Spitzname schien mir mit zunehmender Recherche immer treffender. Treffender als die anderen, die im Umlauf sind, Caligula und Kindkaiser – auch wenn Schirrmacher natürlich nicht mit einem Propeller auf dem Rücken durch die Redaktion fliegen konnte. Aber müsste man den jungen Frank Schirrmacher mit einem Wort charakterisieren, träfe es Überflieger am besten. Zwei biographische Daten: mit neunundzwanzig Jahren Nachfolger von Marcel Reich-Ranicki, mit vierunddreißig Jahren Herausgeber der FAZ, der jüngste aller Zeiten.

Wie schafft man so einen Aufstieg? Jedenfalls muss man es wollen. Unbedingt wollen. Und wie Karlsson wollte Schirrmacher immer gewinnen, immer schneller sein als die anderen, sie überrumpeln. Auch konnten beide nur schlecht verlieren, wenngleich Karlsson sich die Niederlagen unvergleichlich schönredete: »Das stört keinen großen Geist.« Der Satz ist zum geflügelten Wort geworden. Und es ist Karlsson vorbehalten, das, was Schirrmacher getan und geschrieben hat, auf den Begriff zu bringen: »tirritieren«. Das sei wie irritieren, »nur noch teuflischer«.

Frank Schirrmacher und Karlsson vom Dach; beide äfften auch gern andere nach, aber das ist ein Detail. Wichtiger ist, dass es mit der Langeweile endlich vorbei ist, als der seltsame Mann mit dem Propeller zum ersten Mal ins Zimmer des kleinen Jungen fliegt, den sie Lillebror nennen. Der »weltbeste Baumeister« baut Lillebror nicht nur einen Turm aus Klötzen, er bringt auch die Dampfmaschine, die traurig in der Ecke steht, erst zum Laufen, dann zur Explosion.

Auch Schirrmacher brachte Leben in die Bude. In die der FAZ, in die von uns. Seine Türme waren die ungezählten Projekte und Ideen, seine Dampfmaschinen hießen »Debatten«.

Karlsson erzählt, dass er Tausende solcher Dampfmaschinen bei sich zu Hause auf dem Dach habe, und als Lillebror ihn dort das erste Mal besucht und keine einzige sieht, sind sie eben »alle explodiert«. Was kümmert einen großen Geist die platte Wahrheit? Es zählt die Phantasie! Und die Explosionen! Gibt es etwas Schöneres als Explosionen?

Es bleibt einem anderen Buch vorbehalten, zu ergründen, was Astrid Lindgren mit diesem seltsamen Helden sagen wollte – vielleicht einen dunklen Zusammenhang zwischen destruktivem Narzissmus und Kreativität andeuten? Hier muss Schirrmacher kurz mit einer anderen populären Figur von Astrid Lindgren verglichen werden. Auch Pippi Langstrumpf ist ein anarchischer Charakter, aber zugleich ein sozialer: Pippi baut Freundschaften auf, kämpft gemeinsam gegen die Erwachsenen. Nicht so Karlsson, der nicht in Lillebrors Zimmer geflogen ist, um einen neuen Freund zu gewinnen, sondern um einen Schwächeren zu finden, der ihn bewundert (und vielleicht insgeheim, um seine Einsamkeit zu bekämpfen). Am Machtgefälle zwischen den beiden lässt Karlsson keinen Zweifel. Nur mit Mühe bringt er ein gutes Wort für den anderen über die Lippen, das allerdings gleich wieder vergessen ist, wenn er einen Kuchen sieht, denn Karlsson ist ganz schön verfressen. Dieses noch: Einmal liegt Lillebror traurig auf seinem Bett, als Karlsson ihn besucht. Statt ihn zu trösten, sagt er mit theatralisch vorwurfsvoller Stimme: »Hier kommt Karlsson, und du heulst. Willst du nicht mit aufs Dach kommen und mich aufmuntern.«

Auf die Fragezeichen kann man hier getrost verzichten. Es handelt sich um einen Befehl. Den anderen zum Teil seiner Inszenierung zu machen, darum geht es. Ich habe unter meinen Gesprächspartnern einige Lillebrors gefunden. Ja, manchmal scheint es mir, als habe Frank Schirrmacher eine halbe Branche, nein, eine halbe Öffentlichkeit zu Lillebrors gemacht, darauf deuten die zahlreichen bewundernden und fallweise etwas verlogen wirkenden Nachrufe hin. Dann aber habe ich auch mit Menschen gesprochen, die das Bild eines Narzissten, um den sich alles zu drehen hat, nicht stehenlassen wollten, die von selbstlosen Gesten, von großzügigen Geschenken erzählten. Und wenn auch nur wenige von Freundschaft sprachen, machten sie mir doch klar, dass Schirrmacher in einem Punkt anders war als Karlsson: Schirrmacher hatte offensichtlich die Fähigkeit, sich selbst zum Lillebror zu machen. »Er konnte dir das Gefühl geben, in diesem Moment der wichtigste Mensch auf Erden zu sein.« So oder ähnlich habe ich es dutzendfach gehört. Am besten fuhr dabei, wer stets damit rechnete, dass aus Lillebror wieder Karlsson werden würde. Wer keine Angst vor Liebesentzug hatte, konnte mit Schirrmacher gut auskommen.

Dieses Buch will kein Psychogramm sein, aber es kommt nicht ganz ohne psychologisches Reden aus. Wie sollte es auch anders sein, da es schlicht und einfach danach fragt, wie ein Journalist so erfolgreich und mächtig werden konnte? Und Frank Schirrmacher war mächtig. Das konnte man nicht nur daran erkennen, dass es zu Lebzeiten in den großen Konkurrenzblättern kaum möglich war, ein kritisches Wort über ihn zu verlieren, dafür hatte er als begnadeter Netzwerker gesorgt.

Seine Macht reichte auch in die Politik, die er zunehmend zu beeinflussen versuchte und dabei die Nähe mal zu diesem Flügel (von Helmut Kohl bis Paul Kirchhof), mal zu jenem (von Joschka Fischer bis Sahra Wagenknecht) suchte. Am Stuhl des Bundespräsidenten Christian Wulff hat er so lange gesägt, bis dieser zusammenbrach. Gewiss, Schirrmacher wollte, dass die Politik den Ernst der Lage begreift (von der Überalterung der Gesellschaft bis zur digitalen Überwachung), er wollte aber auch Politik und Politiker »machen«. Martin Schulz, mit dem er über das Schlachtfeld von Verdun geschritten war und über eine digitale Charta nachgedacht hatte, bekannte noch zwei Jahre nach Schirrmachers Tod, dass er sich auf seinen langen Autofahrten oft frage, was Schirrmacher »uns wohl in dieser Situation geraten« hätte.3 Schirrmacher hätte dieses Bekenntnis vermutlich mit Freude erfüllt.

Über Schirrmacher schreiben heißt ein Schelmenstück schreiben. Es ist das Stück, in dem er sich selbst sah. Vielfach bezeugt sind die Streiche, die er Freunden, Nachbarn, Arbeitskollegen spielte. Letzteres fing gleich mit seinem Eintritt in die FAZ an, als der Jungredakteur sich in die Accounts der Kollegen einloggte, man weiß nicht, wie, und in deren Namen launige E-Mails verschickte,4 und es hörte erst mit seinem Tod auf. Im Grunde genommen könnte man seine Karriere und sein öffentliches Wirken als eine Abfolge von Streichen begreifen, die nur nicht diesen Namen tragen. »Etwas zu machen, worüber am nächsten Tag die Nation spricht, das macht großen Spaß«, bekannte er, als er von Herlinde Koelbl gefragt wurde, was ihn an der Macht reize.5 In der Buchfassung ihrer berühmten Langzeitstudie Spuren der Macht stehen die Interviews mit Schirrmacher gleich nach denen, die Koelbl mit Angela Merkel geführt hat.

Das Stück, das Schirrmacher spielte, machte aber nicht nur großen Spaß, es war auch ein steter Quell von Verunsicherungen und Hybris. Einen Club, der einen wie ihn zum Chef ernannt hatte, könne er nicht ganz ernst nehmen, gestand er einem Kollegen nach seiner Ernennung zum Herausgeber der FAZ in einer schwachen Stunde.6 Und in Gesprächen mit einer Redakteurin sprach er oft, halb ironisch, halb ernst von sich selbst als Hochstapler – freilich nicht, ohne die andere zur Komplizin in einem fragwürdigen Spiel machen zu wollen: »Aber Sie sind doch auch eine Hochstaplerin.«7

Man darf die Rede vom Hochstapler nicht allzu wörtlich nehmen. Im Bild des Hochstaplers spitzt sich ein verbreitetes Unbehagen am Feuilletonisten zu. Wer oder was legitimiert einen, sich heute als Spezialist auf diesem und morgen als Spezialist auf jenem Gebiet auszugeben, Meinungen zu haben, Urteile zu fällen? Der Selbstzweifel ist es nicht. Man darf keine Skrupel haben. Jakob Augstein nannte Schirrmacher den »dirty Harry des Feuilletons«.8 Und natürlich muss man mit seinen Ansichten einen Nerv beim Publikum treffen.

Lässt sich Schirrmacher auf die Figur des Machtmenschen reduzieren? Nein, meint ein Beobachter: »Der richtige Machtmensch geht nur nach Macht, er will den anderen nicht bezaubern und ihm gefallen. Schirrmacher war ein Rauschmensch, und wenn es eine Cola war, Zigaretten, Koffein, alles, was hochriss. Auch geistig, von den starken Giften. Der George-Kreis. Das Genom. Das sind die stärksten Rauschmittel. Mit Benn gesprochen: Die Wallungswerte.«9

Ja, die Wallungswerte. Der ehemalige FAZ-Redakteur Jens Jessen sprach von Schirrmacher als dem »Erregungstechniker schlechthin«10. Was ist das nächste große Ding?, fragten wir in freudiger Erwartung oder in vorauseilender Verärgerung. Worüber auch immer Schirrmacher dann schrieb, stets lautete der Begleittext: Groß ist die Sache, von der ich schreibe (sonst schreibe ich gar nicht). Seine Texte waren oft witzig und oft raffiniert, bescheiden waren sie nie. Wer bei Schirrmacher nach einem Stilprinzip sucht, findet es ex negativo in der Furcht vor dem Unbedeutenden. Größe also: Was in der Debatte das nie Dagewesene oder die Epochenwende waren, hieß im Gespräch mit den Mitarbeitern »allergrößte Konsequenz« (negativ) oder »Das Große«, das er mit einem vorhatte (positiv). Auf die Frage, wie man sich seiner erinnern soll, antwortete Schirrmacher im letzten der Gespräche, die Herlinde Koelbl mit ihm zwischen 1991 und 1998 führte: »Als den größten Publizisten seit Martin Luther«.11 Natürlich ist dieser Vergleich durch die Lust an der Provokation motiviert, aber die Engführung von Journalismus und Theologie macht in seinem Fall schon Sinn. Jenseits eines nicht erkennbaren christlichen Glaubens wirkte Schirrmacher als Eschatologe im Gewand des Feuilletonisten. Seine Texte lasen sich oft wie Verkündigungen.

Eine endzeitliche Stimmung schien sein Leben zunehmend zu grundieren und ihn nicht zur Ruhe kommen zu lassen. »Wir müssen unbedingt telefonieren, es wird alles ganz anders«, lautete seine letzte E-Mail an einen guten Freund. Schirrmacher hielt sich noch in Rom auf,12 wo er sich wenige Tage vor seinem Tod mit dem Springer-Chef Mathias Döpfner und seinem Kulturkorrespondenten Dirk Schümer getroffen hatte. Er müsse schon sagen, was denn so bedeutend sei, schrieb der Freund zurück. »Nein, nein, wir müssen sprechen«, hielt Schirrmacher dagegen, weil er glaubte, im Netz überwacht zu werden, was einige für paranoid, andere für eine berechtigte Furcht hielten. Was alles ganz anders werden sollte, wird man vielleicht nie erfahren. Wer es wissen müsste, schweigt.

Vieles wird ungeklärt bleiben. Schirrmacher ist tot, und ich bin ihm nur flüchtig begegnet. Alles, was ich in diesem Buch schreibe, habe ich aus Gesprächen und Texten. Gerade mal zwei E-Mails hat er mir geschrieben, ich habe sie nicht aufbewahrt. Das mag mich in den Augen derer, die ihn gut gekannt haben, zum falschen Autor dieses Buchs machen. Ich sehe es naturgemäß genau andersherum: Gerade weil ich ihm, anders als so viele, nie begegnet bin, kann ich dieses Buch schreiben. Ich habe keine Geschichte mit ihm, bin weder traumatisiert noch traurig, dass ich ihn nie mehr in meiner Nähe haben kann, und offen gestanden vermisse ich ihn, anders als viele andere, auch nicht so dramatisch in der Debattenkultur, dass ich jedes Mal sein Fehlen beklagen müsste, wenn ich eine Zeitung aufschlage. Ja, ein wenig langweiliger ist es schon geworden. Was wäre nach dem Internet gekommen? Die Eroberung des Mars? Die radikale Ökologie? Oder etwas ganz anderes, das er wieder einmal als Erster erkannt und big gemacht hätte? Ich gebe zu, es hätte mich schon sehr interessiert, welches sein nächster Streich geworden wäre.

Ich war und bin also fasziniert. Wie viele andere Journalisten habe ich alles über ihn gelesen, was mir in die Finger kam. Ich wusste also in gewisser Weise fast zu viel. Wohin mit dem Material? Allein die Masse der Nachrufe ist schier unübersehbar.

Aber diese Nachrufe sind ein Sonderfall im Sonderfall. Der Kulturbetrieb lief nach dem plötzlichen Tod Schirrmachers heiß wie Schirrmacher am Ende seiner Karriere selbst. Sein überwältigender Stil wurde zur kollektiven Geste. Selbst einem Helmut Kohl wurde in den Medien nicht so intensiv nachgerufen wie Schirrmacher. Und um in der Kultur zu bleiben: »Wie sollte man dem gerecht werden, wenn, sagen wir, Habermas stirbt«, gab mir ein Kollege zu bedenken. Ein guter Weg, einen Irrsinn zu dokumentieren, ist Statistik. Der Medienjournalist Matthias Dell hat gezählt: Allein in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hatten vier Tage nach Schirrmachers Tod am 12. Juni 2014 zweiundsiebzig Personen an ihn erinnert, darunter Prominente wie Volker Schlöndorff, Bernhard-Henri Lévy oder Günther Jauch, einer erinnerte sogar zweimal, und immerhin fünfzehn Frauen zeichneten ein Bild des Verstorbenen.13 Böse wurde niemand. Das liegt zum einen natürlich am Genre des Nachrufs. Zum anderen konnte man sich hinter diesem Genre aber auch gut verstecken. Es ist schon so: »Man müsste, wenn jemand stirbt, eigentlich keinen Nachruf auf den Toten schreiben, sondern einen auf die Gesellschaft, die ihn überlebt. Wie sie sich die Dinge zurechtlegt, um selbst gut dazustehen. Wie sie, noch angesichts des Todes, so tut, als würde sie in ihrem abschließenden Urteil letztlich doch noch immer Gnade vor Gerechtigkeit ergehen lassen. Nichts Schlechtes über die Toten heißt in Wahrheit: nichts Schlechtes über die Überlebenden.«14 Das schreibt nicht etwa der Sozialphilosoph Theodor W. Adorno in den Minima Moralia, sondern Frank Schirrmacher selbst, in seinem Nachruf auf den von ihm bewunderten Regisseur Bernd Eichinger.

Was für ein Steinbruch: Wenn man nicht nur die Artikel, Bücher und Briefe, die einer schreibt, zu seinem Werk zählt, sondern auch SMS und E-Mails, dann hat Frank Schirrmacher ein Werk hinterlassen, das vermutlich ein großes Fragment bleiben wird und auch darin zeittypisch ist. Manche haben die Mails gelöscht, manche haben sie aufbewahrt. Wie jener Redakteur, der jede einzelne an ihn adressierte Mail von Schirrmacher in einem Ordner archiviert hat, der den gleichen Namen wie dessen zweite E-Mail-Adresse trägt: Comium. Über tausend Mails sind es.15 Hinzu kommt das Werk über ihn, zu dem nicht nur die vielen gedruckten Artikel und Portraits zählen, sondern auch die Unmengen von Mails und Gesprächen, in denen er eine Rolle, und zwar meist die Hauptrolle, spielte.

Eigentlich ist es seltsam, dass ich Frank Schirrmacher nie persönlich begegnet bin. Immerhin habe ich rund zwei Jahre für die Berliner Seiten der FAZ geschrieben, die Hauptstadtbeilage der FAZ, und in dieser Zeit, obwohl nur freier Autor, an den Redaktionssitzungen teilgenommen. Aber Schirrmacher war in keiner dieser Sitzungen zugegen. Ich war nicht von Anfang an dabei gewesen, und Schirrmacher, dessen Kind die Berliner Seiten waren, hatte sich nach einer Phase, in der er Feuer und Flamme gewesen sein muss, neuen Projekten verschrieben. In diese Zeit fiel seine Begeisterung für die Biopolitik. Am 27. Juni 2000 erschien die legendäre Ausgabe der FAZ zur Entschlüsselung des Genoms. Schirrmacher ließ ein Feuilleton drucken, das über sechs Seiten hinweg fast nur aus Sequenzen mit den Buchstaben A, T, G und C bestand. Es war Schirrmachers größter Coup als Blattmacher. Er, der sich für Kunst nicht sonderlich interessierte, hatte die ästhetische Kategorie des Erhabenen aufs Blattmachen angewandt. Das Kunststück hängt bis heute hübsch gerahmt in der Redaktion der FAZ.

Später dann, als es mit den Berliner Seiten zu Ende war und der von Schirrmacher geförderte Florian Illies mir zu einer Medienkolumne bei der Netzeitung verholfen hatte – dem Altpapier, in dem dann auch Matthias Dells Artikel über die Nachrufe erschienen ist –, da musste ich viel über Schirrmacher schreiben. »Ich beobachte Sie genau«, hatte er mir in einer der beiden Mails geschrieben. Das gehörte zu den Scherzen, die er nicht nur in E-Mails offenbar gern machte, wie ich bald erfuhr, sondern auch beim persönlichen Kennenlernen,16 um schon mal den Tarif durchzugeben, oder freundlicher formuliert: um ein kleines Machtspiel zu eröffnen. Und nun beobachtete ich also ihn, den Beobachter, und ich war mir ziemlich sicher, dass er mich in meinem Beobachten beobachtete.

Mich verunsicherte dieser Gedanke, zumal ich in meiner Kolumne von der Begeisterung über seine Einfälle und Artikel allmählich zur Kritik übergegangen war. Vor allem sein notorischer Alarmismus ging mir auf die Nerven. Und ich fand es skandalös, dass er seine exzellenten Kontakte zu den meisten anderen Medienmächtigen schamlos für eigene Zwecke ausnutzte. Ich schrieb meine kritischen Anmerkungen zu Schirrmacher mit zitternder Hand, aus Angst, mir Karrierechancen zu verbauen, nicht zuletzt natürlich bei der FAZ selbst. Ich musste mir das bei der Recherche zu diesem Buch manchmal in Erinnerung rufen, als ich diesen oder jenen Gesprächspartner fragte, warum er sich nicht gegen eine der Schirrmacherschen Unverschämtheiten gewehrt hatte. Und wenn ich Unverschämtheiten schreibe, meine ich nicht nur, einen Mitarbeiter in einer Konferenz so zu kritisieren, dass es als »Fertigmachen« galt, was zumindest von den robusteren Mitarbeitern auch als Motivation verstanden wurde.17 Ich meine damit zum Beispiel auch: Würgegeräusche von sich zu geben, wenn man am Büro eines verhassten Mitarbeiters vorbeiläuft.18 Das ist leider das Niveau, von dem man hier sprechen muss.

Mir ist klar, dass das Menschen schockiert, die Frank Schirrmacher ganz anders oder nur aus den Nachrufen kennen. Man kann das nicht in einem Nachruf schreiben. Aber man muss ja auch keinen Nachruf schreiben, wenn man so in den Abgrund geschaut hat. Ein solcher Mensch ist mir bei der Recherche begegnet, eine Frau, die von Schirrmacher erst sehr gefördert, dann, in einer späteren Phase der Zusammenarbeit, drangsaliert worden war. Niemand stellte Schirrmacher zur Rede. Sie ist keinem böse, auch Schirrmacher hat sie verziehen. Auf einen Nachruf allerdings hat sie verzichtet.19

Knapp ein Jahr vor seinem Tod habe ich Schirrmacher dann wenigstens einmal aus der Nähe gesehen. Bei einem Empfang, den mein Arbeitgeber, die Wochenzeitung Der Freitag, im Oktober 2013 zur Frankfurter Buchmesse gab, stand Schirrmacher direkt hinter mir. Der Internettheoretiker Evgeny Morozov hielt eine Rede über die Freiheit des Netzes. Morozov war einer von Schirrmachers wichtigsten Autoren in der FAZ. Schirrmacher hörte ihm aber überhaupt nicht zu, was der Respekt verlangt hätte, stattdessen sprach er so laut und intensiv auf jemanden ein, dass ich mich nicht mehr auf die Rede von Morozov konzentrieren konnte und von dem Gedanken beherrscht wurde, Schirrmacher aufzufordern, nicht länger zu stören. Ich habe es nicht getan. Die Szene mag banal und alltäglich erscheinen, und doch zeigen sich darin zwei wesentliche Züge von Schirrmacher: Rücksichtslosigkeit und Intensität. Der Zuhörer war Sascha Lobo.

Schirrmacher kommunizierte fast pausenlos. Tag und Nacht schrieb er Mails, er schrieb sie an große Namen und unbekannte Nerds, die er im Internet entdeckt hatte. Diese nervöse, heißlaufende digitale Kommunikation ist das Thema seines vorletzten Buchs Payback. Payback zählt zum Genre des erzählenden Sachbuchs. Es argumentiert an der eigenen Biographie entlang, aber ohne quälende Selbstbefragung. Die Anekdote, der Hinweis, das Beispiel und das spielerische »Geständnis« sind seine Formen. Schirrmacher, der mit Selbstauskünften in seinen veröffentlichten Texten sparsam umging, kommt das entgegen. Das Geständnis in Payback lautet: Ich kann mich nicht mehr konzentrieren, es fällt mir schwer, Bücher zu lesen. Wer wiederum Payback zu lesen versucht, obwohl er vielleicht selbst schon von Konzentrationsschwäche befallen ist, entdeckt darin eine große Abschiedsgeste: Schirrmacher verabschiedet die Buchkultur und die Literatur. Er verabschiedet eine Epoche, und er verabschiedet ein Gutteil seiner eigenen Sozialisation und Bildung.

Nicht nur kann Schirrmacher sich kaum noch auf Bücher konzentrieren, er vermag in der Literatur auch kaum noch eine Deutungsmacht der Gegenwart zu erkennen; die Utopie von Hesses Glasperlenspiel, die er am Ende des Buchs der heterodoxen Macht der Algorithmen entgegenstellt, wirkt blass. Die »wahren Romane unserer Zeit«20 schreiben für ihn aber nun die Ingenieure. Das mag sein. Und doch gefällt mir Schirrmacher am besten, wenn er über Literatur schreibt. Als Kritiker hatte er Format. 1996 erschien zum ersten Mal das Buch Die Stunde der Welt, das einige bedeutende Aufsätze von Schirrmacher zur Literatur versammelt, nach seinem Tod wurde es noch einmal aufgelegt. »Die Stunde der Welt hat mich damals gebannt, letztlich ist wahrscheinlich auch mein 1913 aus diesem Denkraum, den Schirrmacher einst anregte, entstanden«, meint Florian Illies.21

Nicht nur für mich war Schirrmacher eine überragende literarische Intelligenz, wenngleich er nicht besonders raffinierte Bestseller geschrieben hat. »Schirrmacher ist ja nicht dumm (…), aber er schreibt Bücher unter seinem Niveau«, urteilte etwa Kurt Scheel, damals Redakteur beim Merkur, in einem Gespräch mit der Journalistin Susanne Lang.22 Lang veröffentlichte 2006 ein furioses Portrait über Schirrmacher in der taz. Ich verdanke diesem Portrait wichtige Anregungen.

Wenn mein Buch etwas will, dann vielleicht das: die literarische Intelligenz gegen den Medienwandel und seine Zumutungen ein wenig in ihr Recht zurückversetzen. Bekanntlich hat Schirrmacher diesen Wandel zum beherrschenden Thema seiner Publizistik gemacht. Das »Denken wandert buchstäblich nach außen; es verlässt unser Inneres und spielt sich auf digitalen Plattformen ab«,23 umschrieb er das Leitmotiv dieses Wandels. Wo früher Briefe waren, sind heute Kurznachrichten und Mails, Tweets und Chats.

Briefe kommen in Payback nur noch in einer zynischen Randbemerkung vor. »Die glühendsten Liebesbriefe, die uns unsere Computer schreiben, sind Statistiken.«24 Was verändert sich, wenn wir nachts nicht mehr Briefe schreiben, sondern SMS? Die Frage liegt auf der Hand. Schirrmacher dachte nicht nur über diesen Wandel nach, er verkörperte ihn. Radikal, sich verausgabend, alle Formen sprengend.

Runden wir das Bild: Mein Schirrmacher ist eine Figur, für die sich Schirrmacher selbst sehr interessiert hätte. Denn er ist eine eminent literarische Figur. Wer das so sieht, kann sich sogar auf Schirrmacher selbst berufen: »Ich habe wie in einem Bildungsroman gelebt«,25 gesteht er, früh schon auf seine steile Karriere zurückblickend, gleich im ersten der Interviews mit Herlinde Koelbl. Es wundert deshalb auch nicht, dass Schirrmacher vielfach Eingang in die Literatur gefunden hat, sogar in einem Theaterstück taucht er auf, in Rosebud von Christoph Schlingensief.

Auch in seinen Liebesbeziehungen scheint es romanhaft zugegangen zu sein – wenn man wiederum der Literatur glauben mag. Im Frühjahr 2018 ist mit Jahre später von Angelika Klüssendorf ein Roman erschienen, der nicht unerwähnt bleiben kann. Dieses Buch handelt nicht von Frank Schirrmachers Liebesleben, wer das erwartet, wird enttäuscht werden. Klüssendorf war die erste Ehefrau von Schirrmacher. In ihrem Roman verdichtet sie Szenen einer Ehe zu einer Prosa, die frei von jeder Schlüssellochperspektive ist. Dennoch steckt in der Figur des Chirurgen Ludwig unverkennbar ein Portrait von Frank Schirrmacher. Der »private« Schirrmacher ist nicht so viel anders als der Journalist und Herausgeber Schirrmacher: Ein »Spieler, der blufft, obwohl alles verloren ist«,26 Verzauberer, Getriebener, Treibender, maßlos im Streit und in der Versöhnung, Übertreiber, Fabulierer … Ein Detail: Ludwig erzählt April abenteuerliche Geschichten über seine nächsten Verwandten, der Bruder arbeite bei der Nato, die Eltern hätten Millionen im Kohlehandel verdient, die Mutter trage weiße lange Kleider. Den Bruder gibt es gar nicht, und als sie das erste Mal die Eltern besuchen, spürt April »Ludwigs Nervosität, streicht ihm tröstend über die Wange, sie ahnt doch längst, dass seine Mutter keine langen weißen Kleider trägt. Ludwig versucht, mannhaft zu sein, und ist doch nur ein Junge. Sogar seine Stimme wird höher. Ist sie nicht hübsch, fragt er und weist auf April, wie vorher auf den Kastanienbaum. Ja, sagt seine Mutter. Es ist, als würde er sich dem kleinen, engen Haus anpassen, dem Klima seiner Kindheit.«27

Auch Schirrmacher hat sich im Kollegenkreis für seine eigene Herkunft geschämt,28 sie in Legenden aufgelöst: In einem Schloss sei er aufgewachsen, seine Mutter sei Jüdin, solche Dinge.29 Der Spiegel hat das dann 1996 in einem auf Krawall gebürsteten Artikel skandalisiert. Das muss man nicht. Aber dass simple Tatsachen allein die Menschen nicht in den Bann ziehen, davon ging Schirrmachers Publizistik schon aus. Wahr ist, dass seine Mutter aus Schlesien stammte. Sie kam nach dem Krieg als sogenannte Vertriebene mit ihrem ebenfalls schlesisch-deutschen Mann nach Wiesbaden. Eine einfache, herzliche, positiv verrückte Frau, die ich bei einem Besuch in Wiesbaden-Bierstadt kennenlernen durfte und deren Deutsch nach so vielen Jahren immer noch eine polnische Einfärbung hatte. Obgleich Schirrmacher besessen war von der Geschichte des 20. Jahrhunderts und von ihren Geschichten, hat er seine eigene Prägung nie miterzählt. Geschrieben hat er allerdings über eine andere Schlesierin, Louise Pohl, die noch Gerhart Hauptmann gesehen hatte und in Karpac, das damals Krummhübel hieß, die Stellung hielt. Sie sei einfach nie weggegangen, »nicht aus ihrem Haus, nicht aus ihrem Wohnzimmer«, schrieb Schirrmacher.30 Dass Schirrmacher hier flunkert, um den Symbolgehalt ihrer Geschichte zu erhöhen – Frau Pohl hat nicht nur die Wohnung verlassen, sie ist noch im hohen Alter mehrmals im Jahr nach Deutschland gefahren, wie sie mir bei einem Besuch erklärte –, sei erwähnt. Erwähnt sei aber auch, dass Schirrmacher mir bei der Organisation der Reise geholfen hat, obwohl er mich nicht kannte. Er hatte mir geholfen, und ich hatte ihn bei einer eher harmlosen Lüge ertappt. Was tun? Eine Frage, die sich manchem auch existenzieller stellte.

Louise Pohl ragt schon deshalb heraus, weil sie, zusammen etwa mit Christa Wolf, eine der wenigen Frauen ist, die in Schirrmachers publizistischem Werk speziell vorkommen. Das sollte sich erst in den letzten Jahren etwas ändern, als die digitale Bohème für ihn wichtig wurde und mit ihm Frauen wie Constanze Kurz, Julia Seeliger, Shoshana Zuboff oder Yvonne Hofstetter. Aber geschrieben hat er meist über Männer. Sogenannte große Männer, Männer, in deren Leben und Werk idealerweise ein ganzes Jahrhundert nachhallte. Männer wie Marcel Reich-Ranicki, Egon Krenz und last but not least Ernst Jünger, der noch den Kaiser in der Postkutsche gesehen hatte.

George nachspielen

Unsere Postkutsche ist das Telegramm. Schirrmacher hat ja noch Telegramme geschrieben, war mein erster Gedanke, als ich einen Umschlag öffnete, den mir das Amsterdamer Literaturmuseum geschickt hatte. Er enthielt Kopien der Korrespondenz des zwanzigjährigen Studenten Schirrmacher mit Wolfgang Frommel, einem Anhänger des Dichters Stefan George. Briefe, Postkarten und eben auch Telegramme. Telegramme waren die ersten Medien, mit denen Frank Schirrmacher dramatische Effekte erzeugen konnte. Dem exzessiven, langsamen Brief folgte das schnelle, kurze Telegramm. Der großen Erwartung, die er mit einem Besuch beim bewunderten Gegenüber verband, ging die atemlose Verkündigung dieses Besuchs voran.

Als ich nun anfing, die Briefe zu lesen, fühlte ich mich nicht einfach ins Jahr 1980 zurückversetzt, ein Jahr, in dem, sagen wir, die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert war und die Sommerzeit wieder eingeführt wurde. Nein, ich war in eine restlos untergegangene Welt eingetaucht. In eine Welt, in der die Gedanken und Gefühle tief im Innern verschlossen waren, in der die Rede von einem Bund ist, von der Kraft des großen, währenden Augenblicks und großer, glückerfüllter Freundschaft, die den Wendepunkt in seinem Lebens markiere.31

Der 1902 geborene Frommel hatte im Dritten Reich in der Nische des Rundfunks überlebt, war dann über Umwege nach Amsterdam emigriert, wo er von 1939 bis zu seinem Tod 1986 das Castrum Peregrini leitete. Diese Stiftung versuchte, das Erbe Stefan Georges und seines Kreises lebendig zu halten. Da nur die Briefe von Schirrmacher an Frommel erhalten sind und diese eben vor allem das innere Erleben ausdrücken, muss ich mir die erste Begegnung der beiden Männer aus verstreuten Hinweisen rekonstruieren. Kennengelernt haben sie sich am 7. Juni 1980 in Heidelberg, Schirrmacher studierte hier Philosophie, Germanistik und Anglistik.

Es ist vermutlich der Anglist Rudolf Sühnel, der Schirrmacher mit Frommel in der Weiss’schen Buchhandlung bekannt macht.32 Frommel lädt Schirrmacher zu einem Spaziergang auf den Hängen des Heiligenbergs ein. Der Jüngere entflammt. (Der Ältere auch, aber er sagt es nicht.) Rasch ist von einem »Freundschaftsbund« die Rede.

Das Schema eines solchen Bundes ist aus dem George-Kreis vertraut. Er ist ein markantes Beispiel für die Macht der Männerbünde, die das 20. Jahrhundert nicht nur in Form von charismatischen Dichterbünden oder Turnvereinen prägten, sondern auch von Zeitungsredaktionen. In unseren Tagen verblasst diese Kultur allmählich. Zentral für sie ist ein emphatischer Freundschaftsbegriff, in dem der in den zwanziger Jahren viel gelesene Psychologe und Wandervogel-Theoretiker Hans Blüher einen »mann-männlichen Eros« walten sah.33 Das muss nicht unbedingt gelebte Homosexualität sein. In den meisten Fällen bezeichnet es die Gefühlslage von heranwachsenden Männern, die ein Geheimnis leichter mit einem anderen jungen Mann teilen als mit einer Freundin. Die sich nach Initiation und Führung sehnen. Ein pädagogischer Eros, der den Lehrer nach einem Lieblingsschüler Ausschau halten lässt. Das ist buchstäblich zu verstehen. Die Magie der Blicke füllt ganze Bände im George-Schrifttum.

Über Blicke wird in den Briefen, die Schirrmacher an Frommel schickt, geschwiegen. Immerhin, Schirrmacher ist von der ersten Begegnung mit Frommel so gebannt, dass er ein Gedicht im Stile Stefan Georges schreibt, es trägt den Titel »Liebe zum Meister« und beschwört Täter und Geschick, Seelen und Sein.34

Das einzige überlieferte Gedicht von Frank Schirrmacher hat er mit »Alexis Schirrmacher« unterschrieben. In den folgenden Briefen wird er nur noch mit Alexis signieren, was im Altgriechischen Helfer und Verteidiger bedeutet.

Schirrmacher will so schnell als möglich nach Amsterdam, in die Herengracht 401. Hier, in einem fünfstöckigen Turm aus dem 17. Jahrhundert, liegt Frommels Reich, hier versammelt er seine Jünger, darunter sogar Frauen, immerhin gehört der Turm seit 1958 der Malerin Gisèle van Waterschoot van der Gracht. Sie geben eine Zeitschrift heraus, lesen viel und musizieren, über ihr Sexualleben ist nichts bekannt, dass Homosexualität ausgelebt wurde, liegt nahe, Schirrmachers Briefe geben keine Aufschlüsse.

Die Atmosphäre in der Herengracht 401 kennen wir aus den Berichten von Thomas Karlauf. Karlauf hatte zehn Jahre im Castrum Peregrini gelebt, er war die rechte Hand von Frommel. Karlauf ist auch im Haus, als Schirrmacher Frommel das erste Mal besucht. »Wir trafen (Karlauf) zum ersten Mal vor fünfundzwanzig Jahren in Amsterdam im Hause Wolfgang Frommels, dem, wie es seinerzeit hieß, letzten lebenden Georgianer«,35 erinnert sich Schirrmacher später in der FAZ. Anlass der Erinnerung ist der Vorabdruck