Über Slavenka Drakulić

Slavenka Drakulić, geboren 1949, ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Kroatiens. Sie schreibt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, die Neue Zürcher Zeitung und Zeit Online. 2005 erhielt sie für »Keiner war dabei« den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. 2007 erschien der Roman »Frida« über Frida Kahlo, 2016 im Aufbau Verlag der Roman »Dora und der Minotaurus« über Dora Maar.

Mehr Informationen zur Autorin unter www.slavenkadrakulic.com

Katharina Wolf-Grießhaber, geboren 1955, lebt und arbeitet in Münster. Sie hat Publikationen zu Danilo Kiš, Ivo Andrić, Bora Ćosić und Vladimir Nabokov vorgelegt. Sie übersetzt u.a. die Bücher von Danilo Kiš, Bora Ćosić und Dževad Karahasan.

Informationen zum Buch

»Trauer summiert sich wie in der Mathematik.«

Sie war weit mehr als die Frau an Albert Einsteins Seite: Gemeinsam mit ihrem Mann studierte Mileva Einstein Physik, diskutierte als gleichberechtigte Partnerin mit ihm seine Theorien und blieb über ein Jahrzehnt hinweg seine engste Vertraute. Als die Ehe zerbricht, verliert Mileva die Liebe ihres Lebens, ihren inneren Halt. Ein bewegender Roman über eine begabte junge Frau, die sich ein eigenes Leben erträumte und an den patriarchalischen Denkmustern des frühen 20. Jahrhunderts scheiterte.

»Die Stärke der Autorin liegt in ihrem außerordentlichen Einfühlungsvermögen.« Karl-Peter Schwarz, Frankfurter Allgemeine Zeitung

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Slavenka Drakulić

Mileva Einstein
oder Die Theorie der Einsamkeit

Roman

Aus dem Kroatischen von Katharina Wolf-Grießhaber

Inhaltsübersicht

Über Slavenka Drakulić

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In der Küche 1914

Im Zug 1914

Im Krankenhaus 1916–1919

Auf dem Balkon 1925

Im Sanatorium 1933

Anhang

Anmerkungen

Impressum

In der Küche
1914

Mileva sitzt am Küchentisch. Es ist Sommer. Früh am Morgen. Durchs offene Fenster ist noch die nächtliche Frische in der Luft zu spüren.

Sie streicht Papier glatt, das von Hand beschrieben ist. Sie weiß, es ist von Albert, aber sie dreht und wendet es, studiert die Unterschrift, als könnte sie nicht glauben, dass er so etwas geschrieben hat. Obwohl es ihr schwerfällt, es für wahr zu halten, kennt sie die Handschrift ihres Mannes zu gut, seine schrägen Buchstaben, die charakteristisch geschwungenen L und N. Seine Handschrift weist so viele Schnörkel auf, dass selbst ein Fälscher Mühe hätte, sie nachzuahmen. Schriebe er nur das A seiner Unterschrift, sie wüsste, dass es von Albert stammt. Sie hat genügend Briefe von ihm bekommen, oft genug hat sie gesehen, wie schnörkelig er unterschreibt. Wenn sie den Brief betrachtet, der sie gestern erreichte, hat sie nicht den Eindruck, dass er irgendwann innegehalten hätte oder unentschlossen gewesen wäre. Im Gegenteil, die Schrift ist gleichmäßig, seine Hand ist sicher. Mileva erkennt sogar die blaue Tinte, die er verwendete, sie selbst hat sie ihm in Zürich in dem Schreibwarengeschäft gekauft, in dem sie sonst Papier und Schulhefte für Hans Albert besorgt.

Sie liest den Brief, den ihr gestern sein Kollege Fritz Haber gebracht hat. Als echter Feigling hat Albert es nicht gewagt, ihn ihr persönlich auszuhändigen.

Berlin, 18. Juli 1914

Bedingungen

A. Du sorgst dafür,

1) dass meine Kleider und Wäsche ordentlich in Stand gehalten werden;

2) dass ich die drei Mahlzeiten im Zimmer ordnungsgemäss vorgesetzt bekomme;

3) dass mein Schlafzimmer und Arbeitszimmer stets in guter Ordnung gehalten sind, insbesondere, dass der Schreibtisch mir allein zur Verfügung steht.

B. Du verzichtest auf alle persönlichen Beziehungen zu mir, soweit deren Aufrechterhaltung aus gesellschaftlichen Gründen nicht unbedingt geboten ist. Insbesondere verzichtest Du darauf,

1) dass ich zuhause bei Dir sitze;

2) dass ich zusammen mit Dir ausgehe oder verreise.

C. Du verpflichtest Dich ausdrücklich, im Verkehr mit mir folgende Punkte zu beachten:

1) Du hast weder Zärtlichkeiten von mir zu erwarten noch mir irgendwelche Vorwürfe zu machen.

2) Du hast eine an mich gerichtete Rede sofort zu sistieren, wenn ich darum ersuche.

3) Du hast mein Schlaf- bezw. Arbeitszimmer sofort ohne Widerrede zu verlassen, wenn ich darum ersuche.

D. Du verpflichtest Dich, weder durch Worte noch durch Handlungen mich in den Augen meiner Kinder herabzusetzen.*

Das ist nur die schriftliche Bestätigung der Situation, in die ich geraten bin, denkt Mileva. Wenn ich diese Demütigungen nicht hinnehme, ist es aus mit dem Zusammenleben.

Sie legt die Blätter auf den Tisch und geht ans Fenster. Lehnt sich an den Holzrahmen. Dann berührt sie mit den Fingern die Wand, als könnte sie sich so halten. Sie verspürt ein starkes Bedürfnis, etwas Festes und Beständiges anzufassen. Als wollte sie sich vergewissern, dass sie da ist, am Leben. Ihr ist bewusst, dass sie im Nachthemd und mit aufgelöstem Haar elend aussieht. Aber in der Küche ist noch niemand, der sehen könnte, wie unsicher sie sich bewegt, wie sie schnell blinzelt, um die Tränen zurückzuhalten. Ich kann nicht mehr weinen, sagt sie sich. Ich muss mich zusammennehmen und entscheiden, was zu tun ist.

Tief atmet sie die Morgenfrische ein. Das Küchenfenster zeigt zum Hof. Berlingrau, so nennt sie die dunkle Farbe der Fassaden, Straßen, Höfe. In dieser Stadt fehlt ihr die Sicht auf die Berge und das Grün, an das sie sich in Zürich gewöhnt hat. Ihr fehlt Licht. Ihr fehlt Luft. Der Geruch des gestrigen Abendessens, Bratwürstchen und Kartoffelsalat, hängt noch in der Küche. Auf dem Herd stehen eine fettige Pfanne und eine Porzellanschüssel mit Essensresten. Das Brot auf dem Tisch ist vertrocknet. Die Haushaltsangestellte von Fritz und Clara Haber, Freunden, bei denen sie vor etwa zehn Tagen mit den Kindern unterkam, ist noch nicht eingetroffen. Sie hätte das Essen gestern Abend auch selbst in die Speisekammer stellen können. Aber sie brachte nicht die Kraft dazu auf. Gebrochen von Alberts Bedingungen, fühlte sie sich wie betäubt, als hätte sie gerade einen heftigen Hieb auf den Kopf bekommen. So muss sich ein Boxer nach dem Kampf fühlen, denkt sie.

Als sie gestern Abend seinen Brief gelesen hat, war sie zuerst erschüttert. Gleich danach bekam sie einen Lachanfall. Alberts Bedingungen erinnerten sie an Hinweise, wie sie in Konditoreien auf dem Land hängen: Kämmen verboten! Nicht auf den Boden spucken! Wahrscheinlich sind sie völlig nutzlos, weil die Besucher, für die sie bestimmt sind, die in Versuchung kommen, vor einem Wandspiegel in einer Konditorei ein Kämmchen zu zücken oder zu spucken, meist gar nicht lesen können. Davon konnte sie sich oft genug überzeugen, wenn sie im Sommer die einzige Konditorei in Kać besuchte, dem Dorf, in dem das elterliche Gut lag, und irgendeinen Burschen dabei sah, wie er seine Frisur vor einem Wandspiegel, gleich neben dem Hinweisschild, in Ordnung brachte.

Sie erinnerte sich auch an das Schild auf ihrem Schulklo, das sie und ihre Freundin Desanka am meisten zum Lachen gebracht hatte. Dort stand: Nach dem Entleeren, vor dem Essen – Händewaschen nicht vergessen. Der Reim Essen – vergessen amüsierte sie. Wenn eine von ihnen auf den stillen Ort musste, wie man es damals ausdrückte, sagte sie nur: Essen – vergessen.

Alberts Bedingungen sehen genau wie die Ermahnung Essen – vergessen aus, dachte sie. Liebe Mileva, wasch dir nur schön die Hände, spuck nicht auf den Boden, kämm dich nicht in der Konditorei, nimm die Hand vor den Mund, wenn du hustest, rülps nicht in Gesellschaft, schlag die Beine übereinander, wenn du dich setzt, schweig, solange dich niemand anspricht, benimm dich sittsam wie ein braves Mädchen, und alles wird gut. Bei dem Gedanken, dass Albert das ernstlich geschrieben hatte, überkam sie ein hysterisches Lachen, dann Zweifel. Er wagte es, ihr Bedingungen für das Zusammenleben zu stellen! Ihr, Mileva, mit der er elf Jahre verheiratet war und mit der er zwei Söhne hatte! Hans Albert war zehn Jahre alt, und Eduard würde in ein paar Tagen vier.

Sie zerknüllte die Blätter und warf sie auf den Boden.

Das Lachen half ihr nur einen Augenblick, um kurz Atem zu holen. Mileva konnte nicht sofort fassen, dass seine Bedingungen echt waren. Sie begriff es erst, als ihr Körper ihr sagte, dass es so war. Erst als sie eine Leere in der Brust fühlte, als ihr der Atem stockte, als ihr Herz sprang wie eine wild gewordene Katze, die mit ihren Krallen einen Ausweg aus dem Brustkorb sucht, als sie den wohlbekannten Schmerz spürte. Sie wusste, auf den Schmerz als Gradmesser für die Wirklichkeit, als treue Gedächtnisstütze konnte sie sich verlassen. Er meldete sich immer, wenn sie das, was ihr widerfuhr, aus irgendeinem Grund nicht wahrhaben wollte. Nur wenig fehlte, um in völliger Hoffnungslosigkeit zu versinken. Der Schmerz warnte sie. Solange ich Schmerzen habe, weiß ich wenigstens, dass ich lebe, denkt sie, an die Küchenwand gelehnt.

Hinter ihr liegt eine schlaflose Nacht. Sie weiß, in der Schwäche, die sie an diesem Julimorgen empfindet, äußert sich lediglich der Schock vom gestrigen Abend. Die Schwäche geht gewöhnlich einem Anfall von Kopfweh und Übelkeit voraus. Vor Kopfweh hat sie am meisten Angst, weil es sie tagelang ans Bett fesselt. Sie ahnt es bereits im Hinterkopf, an der Art, wie sich der dumpfe Schmerz in Stiche verwandelt, immer öfter und stärker. Und nach dem Kopfweh erwartet sie ein lang anhaltender Zustand der Lustlosigkeit und Lähmung, der ihr Angst einjagt. Denn sie ist nicht allein, es geht auch um die Kinder. Die Entscheidung, mit der sie jetzt konfrontiert ist, betrifft auch diese.

Ich darf nicht den Mut verlieren. Muss versuchen, die Kopfschmerzen zu verhindern. Die Jungen werden gleich aufwachen! Wo ist nur die neue Arznei, wo habe ich sie hingestellt, denkt Mileva, während sie nervös in ihrem Täschchen wühlt. Sie holt zwei Päckchen Pulver heraus und trinkt es aufgelöst in einem Glas Wasser. Dann dreht sie das Glas in der Hand. Wartet, dass der Schmerz nachlässt, dass er vor dem Hindernis stehen bleibt, in die Falle geht, die ihm die Arznei soeben gestellt hat. Sie kann nichts weiter tun, als zu sitzen und zu warten, dass er vorübergeht.

Nachdem sie gestern Abend Alberts unverschämte Botschaft mehrmals gelesen hatte, wünschte sie den Habers eine gute Nacht und bat Hans Albert, ihr ins Bett zu helfen. Clara brachte ihr Tee. Auch sie hatte die Bedingungen gelesen, fand sie aber überhaupt nicht komisch. Nein, schon gar nicht, zumal Mileva und die Kinder eines Abends vor ihrer Tür gestanden hatten. Albert hat die Wohnung vermietet, wir wissen nicht, wo wir hinsollen, hatte Mileva ihr einfach gesagt. Natürlich lud Clara sie zu sich und Fritz ein. Die Kinder waren schläfrig und Mileva bleich und zerzaust. Clara sah ihr am Gesicht an, dass sie völlig verzweifelt war. Als Mileva die Kinder ins Bett gebracht hatte, erzählte sie ihr, dass sie sich mit Albert gestritten hatte, weil dieser die Wohnung vermietet hatte. Wie konnte er die Wohnung überhaupt vermieten, ohne es mir zu sagen? Albert hat das getan, um uns zur Rückkehr nach Zürich zu zwingen, sagte sie zu Clara. Mehr erklärte sie ihr nicht, selbst da war sie zurückhaltend. Sie erzählte ihr nicht, dass Gerüchte zu ihr gedrungen waren, Albert sei in seine Cousine Elsa verliebt. Sie hatte gehört, dass man im Institut darüber redete, möglicherweise hatte es auch Fritz gehört und Clara erzählt. Doch Mileva hatte nicht die Kraft, diese Einzelheit ihr gegenüber zu erwähnen, ebenso wenig die Tatsache, dass sie ihn selbst schon eine Weile verdächtigte. Clara tröstete sie nicht, weil sie wusste, dass das keinen Sinn hatte. Sie nahm nur Milevas Hand, während dieser die Tränen über die Wangen liefen. Die Berührung von Claras Hand war warm und fest. In diesem Augenblick hatte Mileva nichts, worauf sie sich stützen konnte, außer der Berührung einer fast unbekannten Frau.

So verbrachten sie den Abend, zwei Frauen allein in der Küche. Zwischen ihnen der Tisch mit den Tellern und den Resten vom Abendessen. Und Trauer, sie legte sich über sie wie ein schwerer Schleier.

Mileva geht wieder zum Fenster, dann sinkt sie hilflos auf den Stuhl, als wäre der Weg vom Fenster zum Tisch kilometerweit. Sie weiß, es ist lediglich die physische Reaktion auf den psychischen Schlag, den sie von Albert empfangen hat. Auch vor diesem Vorfall hat sie sich in Berlin nicht wohlgefühlt, sie ist nur hierhergekommen, weil er es so wollte und sie keine Wahl hatte. Nach neun im Berner Patentamt verbrachten Jahren und einer kurzen Professorentätigkeit am Polytechnikum in Zürich, nach der Erfahrung als Professor in Prag hatte er endlich eine Position bekommen, die ihm mehr Zeit für die Forschung und das Verfassen wissenschaftlicher Arbeiten ließ sowie ein höheres Gehalt mit sich brachte: Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Professor an der Humboldt-Universität und Direktor des neuen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik. Was hätte sie ihm als Gründe anführen können, dieses Angebot nicht anzunehmen? Dass sie und die Jungen es in Zürich schöner hätten? Dass sie sich an das Leben dort gewöhnt hätte und sich sicherer fühlte? Dass es für die Jungen schwer würde, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen? Vielleicht hätte Albert einige dieser Gründe sogar akzeptiert, aber als er ihr sagte, wie viel Gehalt sie ihm boten, wagte sie nichts gegen den Umzug einzuwenden. Sie brauchten Geld, und sie verdiente keins. Sie hatte keine Wahl. Musste sich ihm anschließen.

Vor drei Monaten waren sie von Zürich nach Berlin gezogen, in eine Wohnung in der Ehrenbergstraße. Mileva richtete sie nicht gleich ein. Sie hatte das Gefühl, nur vorübergehend dort zu wohnen, sodass einige Koffer gar nicht erst ausgepackt wurden. Noch immer standen sie im Flur, aufeinandergestapelt neben den Kartons mit dem Geschirr und dem Bettzeug, versperrten sie den Durchgang zu den Zimmern. Wenn sie den Jungen Unordnung vorhielt, protestierte der ältere, Hans Albert. Wir sind immer noch beim Einzug, Mama, sagte er dann.

Anfangs quälte sie das, und sie machte sich Vorwürfe, weil sie keine Lust hatte, das neue Heim endlich einzurichten. Doch nun, nachdem sie Alberts Bedingungen gelesen hat, denkt sie, sie hat es nicht getan, weil sie ein schlimmes Vorgefühl hatte. Aber warum? Es war nicht ungewöhnlich, dass Albert oft nicht zu Hause war. Vielleicht weil er mürrisch war und ihn alles störte? Sogar das Quengeln des kleinen Eduard, den sie bei seinem Kosenamen Tete nannten, wann sie beide denn einen Spaziergang machen würden. Noch unlängst hatte Albert ihn auf den Schoß genommen und ihm geduldig erklärt, wie sich die Planeten am Himmel bewegen, oder ihm Geschichten erzählt. Jetzt schnauzte er ihn nur noch an. Er suchte einen Vorwand, um abends auszugehen. Kam spät zurück. Dann zog er in ein anderes Zimmer um.

Unvermittelt änderte sich seine Laune. Für Mileva war dies gewöhnlich ein Zeichen, dass ihn etwas quälte, aber auf ihre Fragen antwortete er nicht.

Sie erinnerte sich, dass er zwei Jahre zuvor, nach einem Berlinbesuch, eine Geburtstagskarte bekommen hatte, die ihren Verdacht erregt hatte. Sie war von seiner Cousine Elsa Löwenthal und hatte nichts Verdächtiges an sich, außer dass sie ihm vorher nie geschrieben hatte. Als sie es ihm gegenüber erwähnte, reagierte Albert nicht ironisch wie üblich. Er war wütend. Was kümmert dich das? Woher weißt du, dass sie mir früher nicht geschrieben hat?, schrie er. Albert, warum redest du so? Warum schreist du mich an? Sie fasste ihn an der Jacke, doch er stieß sie grob von sich.

Wie pathetisch war ich doch! Warum habe ich mir eingebildet, wir könnten nie in eine solche Situation geraten?

Nachdem sie die Bedingungen gelesen hatte, sagte sie zu Fritz, er solle Albert ausrichten, dass sie allem zustimme. Sie sagte es im Bewusstsein, dass die Ohnmacht aus ihr sprach. Was blieb ihr übrig? Welche Möglichkeiten hatte sie? Sie hatte weder Geld noch Arbeit noch eine Erbschaft. Mileva hatte sich auch schon früher wie ein Kämpfer im Ring gefühlt, der daran gewöhnt ist, Schläge einzustecken. Von Geburt an hinkend, hatte sie später unter dem Spott ihrer Umwelt zu leiden, weil sie studieren wollte, obwohl sie eine Frau war, dann unter der Verachtung und Ablehnung von Alberts Mutter und dem Verlust des ersten Kindes. Solange sie jung war, ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie Schläge einsteckte, aber nicht zurückschlug. Das bedeutete eine gewisse Neigung zum Nachgeben, zur Passivität. Eine Neigung zur Ergebung. War es möglich, dass sie sich auch jetzt dem Schmerz überlassen und nicht zurückschlagen würde? Oder war schlicht auch sie ein Feigling?

Dann, als sie die Schlafzimmertür hinter sich geschlossen hatte und allein war, spürte Mileva, wie sich ihr ganzer angestauter Kummer in Wut verwandelte. Was ist bloß in mich gefahren, dass ich eine solche Demütigung hinnehme? Wer ist er, dass er denkt, er kann mich wie eine Dienstmagd behandeln? Bedingungen? Regeln? Am besten wäre es, er würde sie verbrennen, damit sie nie jemand sieht, damit er sich nicht blamiert. Ich bin nicht dazu erzogen, als seine Sklavin zu leben. Mein Vater hat mich nicht studieren lassen, damit ich meinem Mann die Wäsche wasche und ihm schweigend das Essen serviere!

Alberts Verhalten weckte etwas in ihr, das sie seit Langem nicht empfunden hatte – Stolz. Als wäre sie von Neuem das hinkende Mädchen, das in einem mit Erde beschmutzten Kleidchen nach Hause kommt. Am nächsten Tag zieht sie ein sauberes Kleidchen an und geht in die Schule unter dieselben Kinder, die sie verspottet und geschlagen haben, sitzt in derselben Klasse unter ihnen, als wäre nichts geschehen. Sie will ihnen nicht zeigen, dass sie sie verletzt haben. Sie wird einfach besser sein als sie, die Beste. Du musst einen Weg finden, um zu zeigen, was du wert bist, erinnerte sie sich an die Worte ihres Vaters.

Im Zagreber Jungengymnasium taten ihre Mitschüler, als sähen sie sie nicht, wenn sie zur Physikstunde in die Klasse kam, stießen einander an und warfen ihr halblaut Beleidigungen zu. Trotzdem war am Ende des Schuljahres sie es, die die besten Noten hatte. Beim Schultanz wartete sie vergebens, dass sie jemand aufforderte. Mit den Tränen kämpfend ging sie nach Hause. Das nächste Mal spielte sie beim Tanz Klavier, und alle klatschten. Als sie sich als einzige Frau am Polytechnikum in Zürich einschrieb, erwarteten sie die gleichen Blicke wie das hinkende Mädchen. Als wäre sie ein Ungeheuer und keine Frau. Dann kam aus tiefster Wut das rettende Gefühl des Stolzes hoch, und für einen Augenblick vergaß sie, dass sie anders und deshalb schwächer war.

So würde es auch jetzt sein. Albert, du hast dich verrechnet. Dieses Mal bist du mit deinen Forderungen zu weit gegangen. Du hast mich beleidigt, hast all die Jahre, die wir zusammen verbracht haben, besudelt. Du verdienst nicht, dass ich bei dir bleibe. Ich verlasse dich, weil du nicht mehr der Mann bist, den ich kenne, das würde sie ihm sagen.

Die Nacht über hatte sie wach neben den schlafenden Jungen gelegen. In einem fremden Bett, in einem fremden Zimmer, in einer fremden Stadt. Vor dem Morgen beschloss sie, Berlin so schnell wie möglich zusammen mit den Kindern zu verlassen. Sie würden nach Zürich zurückkehren. Es tröstete sie, dass Albert die Jungen auch gar nicht würde zurückhalten wollen, wenn das überhaupt ein Trost war. Was würde er mit ihnen anfangen? Sie in ein Internat stecken? Mileva würde ihn sogar verpflichten, die Jungen nie und nimmer zu seinen Verwandten mitzunehmen! Seiner Mutter Pauline würde es nichts ausmachen, sie hatte die Jungen wegen Mileva ohnehin nie ins Herz geschlossen. Aber sie wusste, dass Albert die Spaziergänge mit Tete und das Bergsteigen mit Hans Albert vermissen würde.

Der Aufenthalt in Berlin hatte für Mileva keinen Sinn mehr. Sie konnte nicht bleiben, nicht einmal zum Wohl der Jungen. Nicht um den Preis, dass sie seine Bedingungen erfüllen musste. Weder der Schock noch die Schwäche noch die aufziehenden Kopfschmerzen würden sie daran hindern. Schon gar nicht, nachdem der ersten Mitteilung gleich eine weitere, nicht weniger hässliche gefolgt war. Darin erklärte Albert: Ich bin bereit, in unsere Wohnung zurückzukehren, weil ich die Kinder nicht verlieren will und weil ich nicht will, dass sie mich verlieren, und zwar nur deshalb. Von einem kameradschaftlichen Verhältnis zu Dir kann nach allem Vorgefallenen keine Rede mehr sein. Es soll ein loyales geschäftliches Verhältnis werden; das Persönliche muss auf einen kleinen Rest reduziert werden. Dafür sichere ich Dir aber ein korrektes Benehmen von meiner Seite zu, wie ich es einer fremden Frau gegenüber üben würde. Hiefür genügt das Vertrauen, das ich zu Dir habe, aber auch nur hiefür. Wenn es Dir nicht möglich ist, das Zusammenleben auf dieser Basis fortzusetzen, so werde ich mich in die Notwendigkeit einer Trennung fügen.

Sie hatte die ganze Nacht über seine Worte nachgedacht. Die so formulierten und aneinandergereihten Bedingungen, die er ihr für das Zusammenleben stellte, waren wirklich erniedrigend. Dennoch kam es ihr so vor, als wären sie nicht nur an sie gerichtet, als wären sie nicht ganz persönlich gemeint. Als hätte Albert ihr zusammenfassend dargelegt und vorgeführt, wie auch die anderen von ihren Männern abhängigen Frauen lebten. Obwohl sie nicht so grob formuliert waren, gab es feste gesellschaftliche Verhaltensregeln, die das Gleichgewicht der Macht bestimmten. In ihrer Umgebung existierten wenige Ausnahmen, wenige Frauen, die die Regeln brachen und sich selbständig machten. Sogar in Berlin bildeten solche Frauen die Ausnahme, wie zum Beispiel Clara.

Warum hatte gerade Mileva geglaubt, sie sei eine von ihnen? Weil sie der ersten Generation von Frauen angehörte, die akademisch gebildet waren? Sie dachte an ihre Mutter Marija, die nicht die Gelegenheit gehabt hatte, mehr als vier Grundschulklassen zu absolvieren. Und was noch schlimmer war, gar nicht auf die Idee gekommen war, das Recht auf mehr zu haben. Und an die Lehrerin Smilja in der Schule in Ruma, derentwegen sie selbst hatte Lehrerin werden wollen. Mileva, du liest gern und lernst schnell, es wäre schade, wenn du nicht weiter zur Schule gehen würdest. Wissen ist das Einzige, in das es sich lohnt zu investieren, das Einzige, was wir mit ins Grab nehmen, hatte sie zu ihr gesagt. Sie erinnerte sich, dass das Wort Grab einen Schauder in ihr hervorgerufen hatte. Aber vielleicht war gerade das der Grund, warum sie sich dieses Gespräch gemerkt und ihren Eltern davon erzählt hatte. Die Mutter hatte aufgeregt gesagt: Mica, die Lehrerin hat recht, ich konnte nicht weiter, aber du kannst. Es war das erste Mal, dass ihre Mutter ihr gegenüber den Wunsch nach Schulbildung erwähnte und sie ahnen ließ, dass sie sich manchmal minderwertig fühlte, weil sie diesen Wunsch nicht verwirklicht hatte. Aber sie schob die Gedanken an die Mutter von sich, denn sie wusste, dass ihr Scheitern am Diplom die Mutter, eben weil sie dachte, Mileva habe die Gelegenheit nicht genutzt, vielleicht noch mehr schmerzte als den Vater.

Jahre später, als sie sich für das Physikstudium am Polytechnikum in Zürich einschrieb, war sie der Lehrerin dankbar und ihrem Vater Miloš, der sie aufs Gymnasium geschickt und sogar durchgesetzt hatte, dass sie den nur für Jungen bestimmten Physikunterricht am Königlichen Großen Realgymnasium in Zagreb hatte besuchen können. Sie erinnerte sich noch an deren erstaunte Blicke, als sie zum ersten Mal an der Tür zum Schullabor aufgetaucht war. In der warmen Berliner Nacht erbebte sie bei der Erinnerung an die Einsamkeit, als sie von den Jungen isoliert dagesessen und dem Unterricht gelauscht hatte. Manchmal träumte sie, sie kommt in den Saal und keiner dreht sich um, weil sie für sie unsichtbar ist. Sie versucht, ihnen etwas zu sagen, schreit, weint. Keiner hört sie.

Es kostete sie Kraft, zu jeder Stunde zu erscheinen. Sie übte sich in Gleichgültigkeit. Physik interessierte sie zu sehr, als dass sie wegen der Klassenkameraden, die schlechter waren als sie, wegen der mittelmäßigen Schüler, die sich, nur weil sie als Männer geboren waren, für überlegen hielten, aufgegeben hätte. Während sie, im Unterschied zu ihnen, wegen ihres ausgezeichneten Erfolgs sogar von der Zahlung des Schulgelds befreit war.

Später war sie stolz, die einzige Studentin der Mathematik und Theoretischen Physik in ihrem Jahrgang und eine von nur ein paar wenigen in ganz Europa zu sein. Was hatte sie in ihre jetzige Situation ohne Diplom, ohne Arbeit und eigentlich ohne Mann gebracht? Waren ihre Jungen daran schuld? Hans Albert, bereits Schüler, und der kleine Tete, der sich im Schlaf an sie schmiegte? Hatten ihr die Kinder als Vorwand gedient, um die Chance, ihr Studium zu beenden und eine Stelle anzunehmen, verstreichen zu lassen? Ja schon, sie wusste, dass es so war. Aber nicht die beiden kleinen Jungen, die sich an sie klammerten, sondern das kleine Mädchen, von dem niemand wissen durfte. Bei dem Gedanken an ihr erstes Kind, an das verlassene, an das, von dessen Existenz keiner ihrer Freunde wusste, blieb Mileva die Luft weg, als wäre das, was sie gerade durchmachte, die Strafe dafür.

Die zweite Botschaft von Albert, die Fritz später am selben Abend gebracht hatte, schien ihr persönlicher und deshalb grausamer als die erste. Albert verwendete die Bezeichnung fremde Frau, von der er wissen musste, dass sie sie stärker treffen würde als irgendeine andere. Er schrieb, er werde sich ihr gegenüber wie einer fremden Frau gegenüber verhalten. Bot ihr nicht einmal ein kameradschaftliches Verhältnis an, sondern nur ein geschäftliches. Sie sollte offensichtlich als Gegenleistung für den Unterhalt bestimmte Arbeiten verrichten, seinen Haushalt führen und sich um die Kinder kümmern. Wie jede x-beliebige Haushälterin, die er für ein Monatsgehalt einstellen könnte. Glaubte er wirklich, dass sein Angebot fair und wohlgemeint war? Oder beleidigte er sie absichtlich, weil er sie eigentlich loswerden wollte und eine einfache Art gefunden hatte, sie aus seinem Leben zu verbannen? Derart formuliert, auf dem Papier, wirkte seine Entscheidung realer. Genauso verhielt es sich mit den Ideen, sie wurden erst klarer, wenn er sie aufschrieb. Aber er hatte vergessen, dass Menschen keine Ideen sind; die an Mileva gerichteten Worte konnten Folgen nach sich ziehen. Auch sonst verstand er das schwer. Wenn er jemanden mit einem Scherz oder einer ironischen Bemerkung beleidigt hatte, wunderte er sich anschließend immer, warum die betreffende Person böse wurde. Als er ihrer Freundin Helene gesagt hatte, ihr künftiger Mann sei ein langweiliger Dickwanst, begriff er nicht, dass er damit beide beleidigt hatte, und musste sich danach entschuldigen. Mileva wusste nicht, ob Helene ihm jemals verziehen hatte, obwohl sie ihr versichert hatte, er habe es nicht so gemeint, und ihn gedrängt hatte, um Verzeihung zu bitten.

Mileva war seine Studienkollegin gewesen. Seine Mitarbeiterin. Die Liebe seines Lebens. Dann seine Ehefrau und die Mutter seiner Kinder. Und nun war sie eine Person, die er als fremde Frau bezeichnete. Etwas an dieser Bezeichnung schmerzte sie zutiefst, wahrhaftig. Sogar mehr als all seine Bedingungen und Regeln. Sie kannte ihn seit seinem siebzehnten Lebensjahr, als sein Schnurrbart noch gar nicht richtig gesprossen war. Sie kannte seine Unsicherheit, die er hinter unhöflichem Benehmen und bissigen Bemerkungen verbarg. Er war ein unbeholfener, unangepasster Junge gewesen, der in ihr eine Beschützerin gefunden hatte. Niemand hatte ihm jemals nähergestanden als sie. Weder seine Schwester Maja noch seine Mutter Pauline.

Konnten Menschen, die so viele Jahre miteinander gelebt hatten, einander tatsächlich fremd werden? Es konnte passieren, dass sie sich nicht mehr verstanden, dass andere Menschen in ihr Leben traten und es veränderten, aber nicht, dass sie vollkommene Fremde wurden. Sie beide konnten sogar Feinde sein wie jetzt, doch keine Fremden, dachte Mileva, während sie an den Bettrand rückte, um den Jungen mehr Platz zu lassen.

Sie erinnerte sich, dass er ihr, als sie ihn zum ersten Mal mit seinen fröhlichen Augen und den unordentlichen schwarzen Haaren gesehen hatte, wie ein Grünschnabel vorgekommen war. Seine sarkastischen Bemerkungen und Witze machten ihn in ihrer kleinen Studentengruppe nicht beliebt. Aber er war der Jüngste, und man sah ihm vieles nach. Verglichen mit ihm war sein Kommilitone Marcel Grossmann zum Beispiel ein erwachsener Mann. Albert benahm sich auch seinen Professoren gegenüber nicht höflich. Professor Weber sprach er mit Herr Weber statt mit Herr Professor an, selbst nachdem dieser ihn streng auf die Verhaltensregeln am Polytechnikum hingewiesen hatte. Die Verhaltensregeln nahm er nicht ernst, und das kam ihn nach dem Studium teuer zu stehen. Es war einer der Gründe, weshalb Weber ihm keine Empfehlung für die Stellensuche schreiben wollte. Doch ebendiese Eigenschaft, die Tatsache, dass er die gesetzten Rahmen nicht achtete, half ihm, in der Theoretischen Physik zu kardinalen Entdeckungen zu kommen. Mileva begriff, wie Albert funktionierte, und bemühte sich, ihn zu verteidigen. Vor allem vor ihren Freundinnen in der Pension Engelbrecht, wo sie während des Studiums wohnte. Wiewohl oberflächlich und unernst, war er gesprächig und unterhaltsam, spielte ausgezeichnet Violine, und die Mädchen kamen gern zu ihren Abendkonzerten, bei denen ihn Mileva auf dem Klavier begleitete. Seine musikalische Begabung öffnete ihm alle Türen.

Als er mich in jenem Zimmer in der Pension zum ersten Mal küsste, dachte ich, dazu sei es spontan, irgendwie zufällig gekommen. An diesem Abend hatten wir Mozart, einen seiner Lieblingskomponisten, gespielt. Als wir allein waren, saßen wir mit den Köpfen über dasselbe Buch gebeugt da. Er drehte sich unverhofft zu mir und küsste mich. Danach gestand er mir, er habe lange Mut gefasst, eine Gelegenheit abgepasst, mit mir allein zu sein. Den Mozart habe ich nur für dich gespielt, hast du das bemerkt, sagte er. Ich sagte ihm nicht, dass ich schon damals in ihm eher einen Jungen als einen Mann sah.

Ich fürchte, Albert, du bist all die Jahre so geblieben …

Und jetzt, jetzt habe ich genug, denkt Mileva und sammelt die Krümel vom Tisch. Einmal musst du lernen, Verantwortung für dein Verhalten zu übernehmen.

Mileva zählt in ihrem Innern auf, was sie empfand, nachdem sie die Bedingungen und den darauffolgenden Brief gelesen hatte: Verzweiflung, dann Wut, Enttäuschung, Verbitterung. Stolz. Lediglich der Stolz erklärt die zwei gegensätzlichen Entscheidungen, erst die Einwilligung in seine Bedingungen und kurz darauf die Entschlossenheit, Berlin zu verlassen.

Immerhin war sie nicht sein ehemaliges Mädchen Marie Winteler, der er Pakete mit schmutziger Wäsche geschickt hatte, ohne Worte, ohne Botschaft, während diese sie ihm sauber und gebügelt mit einem Liebesbrief zurückgab, in der Hoffnung, ihn auf diese Weise halten zu können. Im Gegenzug nannte Albert sie, wenn er nicht ihr, sondern ihren Eltern schrieb, gönnerhaft das gute Kind oder das liebe Mädchen. Obwohl das Fräulein älter war als er mit seinen gerade einmal siebzehn Jahren. Auch Mileva selbst war älter als er. Die vier Jahre Altersunterschied schienen ihnen in der Zeit, als sie sich im ersten Studienjahr der Physik und Mathematik kennenlernten, unwichtig. Doch nun zeigte sich, dass Albert nicht nur jünger war als sie, sondern auch nie erwachsen geworden war. Das hätte bedeutet, Verantwortung für das eigene Verhalten zu übernehmen, doch das vermied er.

Albert hatte sich verändert, aber erwachsen war er nicht geworden. Besonders verändert hatte er sich in den letzten paar Jahren, seit er immer gefragter wurde. Nach den im Patentamt verbrachten Jahren, in denen er eine bessere Stelle gesucht hatte, bekam er Angebote, nicht nur in Zürich oder Prag zu lehren, sondern auch in Leiden und Utrecht. Sie wusste, dass er beeinflussbar war, dass er seine Gesprächspartner für sich einnehmen wollte, aber es zeigte sich auch, dass er eitel war. Obwohl er das zu verbergen trachtete. Dennoch hatte sie nicht erwartet, dass ihm die Familie immer weniger bedeuten würde.

Während sie verloren in der Küche sitzt, kommt Mileva nicht mehr von der Vergangenheit los, auch nicht von dem Gefühl, dass sie gerade den Augenblick erlebt, in dem sich ihr Leben in das mit Albert und das ohne ihn teilt. Wie werden die Jungen das durchstehen? Er ist ein guter Vater, bemüht sich, Zeit mit ihnen zu verbringen. Hans Albert hängt sehr an ihm. Für ihn wird es am schwersten, denkt Mileva und geht zurück ins Zimmer, um ihn behutsam zuzudecken, als könnte sie ihn so vor dem nahenden Unglück schützen. Er ist groß genug, um zu verstehen, was geschehen ist. Doch um Hans Albert macht sie sich weniger Sorgen als um Tete, der auf jede Veränderung mit Krankheit reagiert. Sie berührt mit ihren Lippen seine schweißbedeckte Stirn. Er hat kein Fieber. Schläft ruhig, vorerst.

Erneut spürt sie, wie die Trauer flutartig ansteigt und sie überschwemmt. Wie damals, als sie sich im Herbst 1902 in den Zug nach Zürich setzte und, ihr kleines Mädchen bei ihren Eltern zurücklassend, aus Novi Sad abreiste. Die Erinnerung an den Augenblick, als sie durch die Tür des Zimmers ging, in dem die Wiege mit Lieserl stand, ruft den Schmerz in ihr hervor, von dem sie sich nie erholt hat.

Ich habe es verlassen, nicht zurückgelassen. Nie wieder habe ich es gesehen, denkt Mileva, während sie sich auf die Lippen beißt. Mit der Zeit packen sie erneut Unruhe und Unsicherheit. Dabei ist sie doch am frühen Morgen so selbstsicher gewesen.

Während sie die schlafenden Kinder betrachtet, quält sie die Ungewissheit, vor der sie nirgendwohin fliehen kann. Sie hat Angst vor sich selbst. Angst, dass eine noch schlimmere Ohnmacht sie überkommt. Manchmal passiert ihr das, eine Schwere überflutet sie, eine Regungslosigkeit, die jede Bewegung unmöglich macht. Dann kann sie nicht aus dem Bett aufstehen, geschweige denn gehen, obwohl sie physisch völlig gesund ist. Sie möchte diesen Zustand nicht bei seinem wahren Namen, psychische Erkrankung, nennen. Will nicht den Teufel an die Wand malen, wie ihre Mutter zu sagen pflegt. Die Dinge bei ihrem wahren Namen zu nennen, ist gefährlich, obwohl sie manchmal denkt, dass es ein Aberglauben ist, den sie als Gepäck aus ihrer Heimat mitgenommen hat, wie in einer Familie Erbanlagen weitergegeben werden. Das alles ist Mileva bewusst, und sie versucht, sich zu beherrschen, nicht dem Drang nachzugeben, in ihr Gefängnis zu flüchten. Dann könnte sie sicher nicht aus Berlin abreisen. Sie weiß, wenn sie sich erneut ins Bett legt, wenn sie sich der inneren Macht beugt, die sie drängt, sich hinzulegen, wird sie nicht so schnell wieder aufstehen.

Ich darf diesen Leuten, die uns so herzlich aufgenommen haben, nicht zur Last fallen. Kann Alberts Arbeitskollegen nicht in eine unangenehme Situation bringen. Fritz und Clara haben sich, indem sie uns drei vorübergehend in ihrer Wohnung aufgenommen haben, genug exponiert. Zu wem hätte ich in Berlin sonst gehen können? Mit Sicherheit nicht zu seinen Verwandten. Eigentlich habe ich mit dem Verlassen der Wohnung den ersten Schritt zum Verlassen von Albert getan. In dem Moment, als ich mit einer Tasche in der Hand die Wohnungstür zuschlug, habe ich mich selbst zum Gehen verurteilt. Er ahnt es und wagt es deswegen, mir derart beleidigende Forderungen zu schicken, sich dessen bewusst, dass ich sie nicht befolgen werde.

Eine fremde Frau? Na gut, soll es so sein.

Am besten bereitet sie den Jungen das Frühstück. Sie muss Milch kochen und die Haut entfernen, der kleine Tete kann sie nicht ausstehen. Danach wird sie Briefe schreiben, an Frau Hurwitz in Zürich und ihre Eltern in Novi Sad. Sie wird sehr beschäftigt sein, das ist die einzige Art zu verhindern, dass sich die Wände in ihr zusammenschieben und das Gefängnis in ein Grab verwandeln. Die Trauer, die sie erfasst, ist wie der alte Schmerz in den Gelenken, den sie wiedererkennt, der sie aber deshalb nicht weniger quält. Wie Kalk, der sich in den Adern ablagert, bis er sie ganz auskleidet.

So werde ich auch sterben, denkt sie. Versteinert.

Sie muss sich, bis die Hausbewohner aufwachen, irgendwie zusammenreißen. Wenn diese frühstücken, wird sie mit den Jungen in den nahen Park gehen und sich in den Schatten setzen. Die Sommerhitze in der Stadt, wenn sich der glühende Asphalt an die Schuhe hängt, mag sie nicht. Sie geht ohnehin mühsam und stolpert über die kleinste Unebenheit. Ihre Sandalen sind genauso schwer wie Win