Über Thea Fischer

Thea Fischer wurde 1965 in Augsburg geboren. Sie hat mehrere Jahre als Journalistin gearbeitet, unter anderem in Lokalredaktionen, und lebt heute mit ihrer Familie in einem kleinen Ort am Ammersee.

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Ein Bürgermeister liegt im Sarg und grantelt.

Lokalredakteurin Petra Rosenberger soll in einem alten Vermisstenfall recherchieren: Vor Jahren ist Adi Schmidt, ein Jugendfreund des amtierenden Bürgermeisters, spurlos verschwunden. Petras Mutter aus der Seniorenresidenz will ihr bei den Nachforschungen helfen. Was ist damals zwischen den Jugendfreunden vorgefallen? Als beim Bau einer Therme ein grausamer Fund gemacht wird, ahnt Petra, dass sie dabei ist, ein finsteres Geheimnis zu lüften.

Ein bayrischer Kriminalfall aus dem Fünfseenland – witzig und skurril.

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Thea Fischer

Bürgermeister Hirsch geht baden

Kriminalroman

Inhaltsübersicht

Über Thea Fischer

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Kapitel 1: Friedhof Otterschwing

Kapitel 2: Fischau, Redaktion des Seekurier – ein Jahr vorher

Kapitel 3: Villa von Hans Wagner am Westufer des Ammersees

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

Danksagung

Impressum

Kapitel 1
Friedhof Otterschwing

Das Leichenhaus g’hört auch mal wieder g’weißelt! Theo Hirsch blickt sich in dem kleinen Raum um. Allerdings ist seine Perspektive diesmal nicht die des Bürgermeisters, der das Sach von der Gemeinde begutachtet. Er, Theobald Hirsch, der Bürgermeister von Otterschwing, ist tot. Er liegt in einem mit burgunderrotem Samt ausgepolsterten Eichensarg und schaut durch den geschlossenen Deckel nach oben. So kann er in aller Ruhe die Decke begutachten. Sie weist deutliche Schimmelflecken auf. Da hat der Hiasl wieder g’schlampt, schimpft Theo in sich hinein und nimmt sich vor, dem Hiasl die Leviten zu lesen. Wer tot ist, sollte immerhin in einem schönen Leichenhaus liegen dürfen.

Mit Grausen denkt Theo daran, dass seine behaarte Brust jetzt von einer Y-förmigen Narbe entstellt ist. Die hat er in der Pathologie des Münchener Uniklinikums bekommen, wo es eisigkalt und dunkel war. Theo kann kein Blut sehen, deshalb hat er sich bei der Obduktion aus seinem Körper zurückgezogen. Wie seine Seele durch den Kellergang streifte, sah er einen Staatssekretär, der durch die Flure eilte. Wenn die rechte Hand vom Wirtschaftsminister hier auftauchte, war sein Plan wohl aufgegangen. Theo seufzte zufrieden. Seine Freunde vom exklusiven Libellenclub, einer losen Vereinigung geschätzter Persönlichkeiten, konservativer Politiker und verdienter Unternehmer, hatten wie immer ganze Arbeit geleistet. Die Libellen halten zusammen! Die Narbe ist fürchterlich, mit einem ganz dicken Zwirn hat ihn der Herr Pathologe wieder zusammengeflickt. Aber ansonsten ist er mit seiner Erscheinung zufrieden. Trotz seiner sechsundfünfzig Jahre ist sein Haarschopf noch voll, die grauen Strähnen im braunen Haar lassen ihn seriös wirken. Gut, in den letzten Jahren hat er dank der zahlreichen Hirschgulaschessen bei der Vroni sein Idealgewicht nicht mehr halten können. Mit gut einem Meter achtzig Körperlänge ist er ein stattlicher Mann. Gott sei Dank hat seine Marlene ihm seinen besten dunkelblauen Anzug angezogen, dazu sein blau-weiß gestreiftes Lieblingshemd mit dem weißen Kragen und eine dezent gehaltene Krawatte. Nur die italienischen Schuhe fehlen, er hat Socken an. Ja, soll ich denn strumpfsockert vor den Herrgott treten? Theo regt sich so sehr auf, dass er meint, der Deckel vom Eichensarg hätte sich glatt ein wenig angehoben.

Um die Schuhe hat Marlene verzweifelt mit dem Bestatter gerungen. »Der Theo kann doch nicht ohne seine Schuhe in den Himmel!«, hat sie den Mann angefleht. »Er legt doch so großen Wert auf korrekte Kleidung. Du kennst ihn doch auch!« Der Bestatter nickte und dachte, dass der Theo wohl eher hitzebeständige Sicherheitsschuhe bräuchte und keine handgenähten Slipper. Laut sagte er: »Die Friedhofsordnung in Otterschwing besagt nach Paragraph 13b Absatz 2, dass dem Leichnam keine Ledererzeugnisse beizugeben sind. Das haben dein Theo und die Herren Gemeinderäte selber so beschlossen. Da kann ich auch für deinen Theo keine Extrawurst machen.«

Marlene seufzte. Wohl war ihr nicht dabei. Der Theo konnte ziemlich aufbrausend werden, wenn sein Auftreten nicht perfekt war. Marlene seufzte wieder. Der Theo wird sie aus dem Sarg heraus schon nicht anspringen, beruhigte sie sich.

Theo wird in seinem Sarg langsam langweilig. Die Form der Schimmelflecken hat er jetzt lange genug begutachtet. Jetzt kommt ein erster Sonnenstrahl ins Leichenhaus. Aha, es geht auf zehn Uhr zu, vermutet Theo. Es wird ein schöner Sommertag werden. In einer halben Stunde wird hier der Rummel losgehen. Mit Schrecken sieht er, dass die drei Gebetsschwestern, die drei alten Krähen, sich vor dem Gitter des Leichenhauses aufbauen. Alle drei tragen ihre übliche Trauerkleidung, und offenbar waren alle drei extra beim Friseur. Theo nennt sie die drei Maries. Marie zwei zupft unauffällig an ihrem Kragen. Sie schauen auf den Sarg. Das Sargbukett besteht aus weißen Lilien und blauem Enzian.

»Was ist denn das wieder für eine neumodische Kreation von der Blumen-Elfie? Keine Rosen?«, meint die jüngste Marie.

Die Älteste kommentiert: »Für Rosen hat die Liebe wohl nicht mehr gereicht. Kein Wunder, was man da so alles g’hört hat. Und neulich hab ich den Theo ganz verschwitzt bei der Büchselmadam Tina rauskommen sehen. Ich hab ihn ja noch nie g’mocht, aber der Bledschneider Sepp hätte ihn auch nicht so fest anpacken müssen. Und jetzt liegt der flotte Theo hier im Leichenhaus. Die arme Marlene und die armen Madln!«

»Ja, der Sepp, der ist schon im Gefängnis. Wahrscheinlich in Stadelheim«, sagt die Mittlere. »Abgeführt haben sie ihn, und mit Blaulicht sind sie davon. Und geschrien hat er immer wieder: ›Ich war’s nicht! Es war der Deifi!‹ Wahrscheinlich kommt er in die Geschlossene nach Haar oder ins Allgäu. Das hat der eine Polizist erzählt, als er sich eine Leberkässemmel geholt hat.«

Die Jüngste meldet sich wieder. »Es könnt sein, dass die Blumen-Elfie gemeint hat, dass weiße Lilien und blauer Enzian staatstreu wirken – so bayerisch weiß-blau.« Die Älteste zupft an ihren Locken, da sieht sie den Herrn Pfarrer um die Ecke biegen. »Wir müssen jetzt in die Kirche«, scheucht sie die anderen auf. Die zwei Jüngeren grinsen sich vielsagend an. »Ja, der fesche Herr Pfarrer!« – Dass die Älteste sehr für den Pfarrer schwärmt, ist in Otterschwing nicht verborgen geblieben. Die drei Maries eilen davon und setzen sich auf ihre angestammten Plätze in der Otterschwinger Pfarrkirche.

Theo grinst in seinem Sarg. Der Bledschneider im Gefängnis oder noch besser in der Geschlossenen! Das geschieht dem alten Bettsoacher recht. Er triumphiert. Wenn die drei alten Krähen schon beim Friseur waren, kann er auf ein stattliches Begräbnis hoffen. Vielleicht kommt sogar der Bischof selbst? Obwohl, der ist auch nicht mehr so gut gelitten in Otterschwing, seitdem die katholische Kirche so unter Beobachtung steht. Theo ist der Meinung, so eine Watschen hat noch keinem geschadet. Und dass man ein bisschen strenger sein muss mit den Ministranten – eh klar. Schließlich sollen die Buben dem Bischof nicht den Auftritt versauen. Dass der Bischof gern den Hintern versohlt haben soll, hält Theo für eine bloße Übertreibung hysterischer Mütter. Die wollen doch bloß aus dem Sonderfonds kassieren. Das steht für Theo zweifelsfrei fest, trotzdem hat schon eine Andeutung dieser Beschwerden ausgereicht, um den Bischof für Theos Absichten gefügig zu machen. So wurde die Otterschwinger Pfarrkirche fast zur Gänze mit dem Geld aus der bischöflichen Finanzkammer renoviert. Die Bettelbriefe seiner Kirchengemeinde hat Theo immer an den Bischof geschickt. Er war zwar ein aufrechter Katholik, wie es sich gehört, aber beim Geld hört bekanntlich die Freundschaft auf. Für Theo steht es vierzig zu sechzig, dass der Bischof selbst zur Beerdigung kommt.

Ganz sicher aber würden alle seine Mädels kommen. Um nicht immer mit den Namen durcheinanderzukommen, hat Theo seine kleinen Arrangements immer nur mit »Schatz« angesprochen. Selbstverständlich gilt das auch für seine Ehefrau Marlene. Ist breit geworden, die Gute, aber sie kann bügeln wie keine Zweite, und ihr Zwetschgendatschi ist legendär. Theo hat sich Marlene seinerzeit mit Bedacht als Ehefrau ausgesucht. Sie war nicht die Hübscheste, dafür duldsam und aus gutem Hause. Und sie hatte zwei Pluspunkte verbuchen können: Ihre Familie hatte eine Menge Grundbesitz, und ihr Vater stammte aus einer alteingesessenen Otterschwinger Bauernfamilie. Ihre Mutter Charlotte war eine Flüchtlingsfrau, eine langbeinige Schönheit aus Ostpreußen mit Flausen im Kopf. Sein Schwiegervater, der alte Hölzle, hatte sich auf den ersten Blick in die Noteinquartierung verliebt und sie vom Fleck weg geheiratet. Das hatte böses Blut gegeben in Otterschwing, und Charlotte hatte im Dorf einen schweren Stand gehabt. Marlene war die Alleinerbin, was sich bereits vor Jahren positiv auf die Finanzen von Theo ausgewirkt hatte. Die Schwiegermutter hatte er mit seinem Charme eingewickelt, und Marlene erhielt mehr oder weniger die Anweisung ihrer Mutter, den flotten Theo zu heiraten. Obwohl er ein Schürzenjäger war und obwohl er mit leeren Händen dastand. Mit der Einheirat beim Hölzle-Hof hatte er einen klugen Schachzug gemacht, und seinen Spaß hatte er ja weiterhin haben können.

Immerhin hat er mit Marlene auch zwei Töchter. Seine beiden Augensterne! Als er die kleinen Babys das erste Mal auf dem Arm gehalten hat, hat Theo eine komische Regung in sich wahrgenommen. Bei der kleinen Franziska weinte er sogar. Später kam er drauf, dass das wohl dem vielbeschriebenen Gefühl Liebe am nächsten gekommen war. Zwei Jahre nach Franziskas Geburt kam planmäßig die kleine Anna zur Welt. Danach hatte Marlene sich verweigert. Auf einen Stammhalter musste er deshalb verzichten. Trotzdem ist er auf seine Töchter ganz närrisch und erfüllt ihnen jeden Wunsch.

Theo denkt nach. Wie werden Marlene und die beiden Mädchen jetzt ohne ihn zurechtkommen? Immerhin hat er vorgesorgt. Geld und Haus sind zwar weg, aber da gibt es doch noch die zwei Lebensversicherungen und das alte Bauernhaus. Seine Marlene wird wohl zu einer der alleinstehenden, etwas schrägen Frauen werden, die ihre Tage mit Yoga und Pilates verbringen. Franziska und Anna sind mit einundzwanzig und neunzehn Jahren schon ziemlich selbständig. Die Zeiten, als neben ihm nur noch Pferde das Wichtigste für seine beiden Prinzessinnen waren, sind allerdings so langsam vorbei. In letzter Zeit hatte ihn der Spaß einiges gekostet, sich die Zuneigung der beiden zu sichern.

Sein Nachdenken über seine drei Frauen wird von den ankommenden Gemeindearbeitern gestört, die sich wenig Mühe geben, die Friedhofsruhe zu wahren. Der Toni und der Hiasl, Letzterer mit der unvermeidlichen Zigarette im Mundwinkel, schließen das schmiedeeiserne Gatter des Leichenhauses auf. Sie haben den Gemeindekipper davor geparkt und schleppen nun Kränze und Gestecke heran. Wie immer haben die beiden kein Auge für ein schönes Arrangement. Theo verrenkt sich in seinem Sarg fast den Kopf, aber es gelingt ihm nicht, die Spruchbänder zu lesen. Die resolute Mesmerin eilt herbei. Selbst sie ist schon ein wenig aufgeregt.

»Wir haben wieder ein Problem mit der Lautsprecheranlage«, sagt sie zum Toni. »Wenn der«, sie nickt mit dem Kopf zu Theo hin, »nicht so ein Geizkragen gewesen wäre, hätten wir schon lange die neue Tonanlage kaufen können.«

Zum Hiasl sagt sie: »Du musst noch die Bierbänke vom Gasthof holen. Angeblich kommen ja auch viele Bonzen, da müssen die Otterschwinger Bürger wohl draußen vor der Kirche bleiben.«

Der Hiasl steht da und raucht. »Mach ich gleich, wir müssen nur erst das Blumenzeug aufbauen. Ist der Bischof schon da?«

Die Mesmerin sagt verächtlich: »Der Bischof? Na, der kommt nicht. Stattdessen hat er seinen Sekretär geschickt. Der war als junger Priester in der Nachbargemeinde und kennt den Bürgermeister auch schon lang.«

Der Toni mischt sich ein. »Wohl eher ein kombinierter Verwandtschaftsbesuch vom Herrn Sekretär? Hat der nicht der Tochter vom Lehnerhof zwei Kinder angehängt?«

Die Mesmerin ist eingeschnappt und herrscht die beiden Arbeiter an: »Jetzt macht’s weiter. Die Kränze dahin, die Schalen dahin und ganz vorn die vom Landrat und von der CSU. Und kämmt’s euch wenigstens mal die Haare!« Sie stemmt die Hände in die Hüften, schaut die beiden missbilligend an und rauscht ab.

Der Toni und der Hiasl bauen die Blumen auf. Statt dem CSU-Kranz legen sie den von Marlene und den Töchtern vorn hin und daneben ein pinkfarbenes Gebilde von der Tina mit der Aufschrift »Ich werde dich nie vergessen!«. Das finden der Toni und der Hiasl ganz lustig, aber der Toni meint, das gehe dann doch nicht. Tinas Gesteck wird etwas nach hinten geschoben. Die Zeit drängt langsam, und der Hiasl fährt mit dem Gemeindeunimog los, um die Bänke zu holen.

Der Toni flucht und geht in die Kirche, um die Lautsprecheranlage zu richten. In der Kirche wuselt das Frauenkommando von Otterschwing herum. Blumenschmuck, Reservierungszettel, Extra-Polster werden hin und her getragen. Neben dem Pfarrer steht die Vorsitzende des Frauenbundes, Anja Schwarz, mit einem Klemmbrett in der Hand. Der Pfarrer tut ganz vertraulich, aber die Anja hat dafür heute keine Zeit. Da hin mit dem Landrat und den Kreisräten, dahinter die anderen Bürgermeister und eine Bank weiter die Gemeinderäte. Auf der anderen Seite werden der Familie von Theo Hirsch zwei Reihen zugestanden. »Das reicht!«, meint Anja. »Sind ja nimmer so viele.«

Die Mesmerin eilt herbei. »Sind die Sterbebilder schon da? Hoffentlich hat die Marlene genügend drucken lassen.«

Anja Schwarz schaut auf. »Die hat der Bestatter schon in die Sakristei gelegt. Fünfhundert Stück, das sollte reichen.« Draußen vor der Tür scheppert’s. Der Hiasl ist mit den Bänken angekommen. Anja Schwarz und die Mesmerin gehen nach draußen und dirigieren die beiden Gemeindearbeiter. Als Nächstes kommt der Lautsprechertest. Anja Schwarz spricht ins Mikrofon. Aus dem Lautsprecher vor der Kirche klingt es blechern und verzerrt.

Das Geräusch schreckt Theo auf. Himmel noch mal, hätt er doch nur die dreitausend Euro für die neue Anlage genehmigt! Die Anja ist ganz früher auch mal ein Schatz vom Theo gewesen, aber seit der neue Pfarrer seine Stelle in Otterschwing angetreten hat, tut sie so, als ob nie etwas gewesen wäre. Gerne gibt sie sich als treusorgende, tugendhafte Gattin aus, aber er, der Theo, weiß es besser. Hinter der Fassade tun sich ungeahnte Abgründe auf. Die hundert besten Stellungen für sie und ihn war damals ihr Lieblingsbuch gewesen. Ja, die Anja hat auch dem Theo so manche Überraschung bereitet.

Langsam wird es auf dem Kirchenvorplatz voller. Der Otterschwinger Kirchenchor trifft ein, dazu ein paar Männer von der Blasmusik. Der Sekretär meldet sich telefonisch bei Anja Schwarz und kündigt an, dass er sich verspätet. Die vier Ministranten, die Anja mit einem Ausflug ins Kino bestochen hat, trudeln ein. Der Landrat und der zweite Bürgermeister wollen eine Lobrede auf Theobald Hirsch halten. Der Bürgermeister der Nachbargemeinde hat angesichts der Vorfälle um die Pilsentherme abgesagt. Angekündigt haben sich aber das Regionalradio, die Petra Rosenberger nebst Fotografen vom Seekurier und weitere Reporter. Anja Schwarz instruiert noch einmal alle, über die Vorgänge in der Pilsentherme kein Wort zu verlieren. »Der Theo soll eine schöne Leich haben«, sagt sie. Und schmunzelt kurz, als sie an den Theo denkt, dem sie im Bett Nachhilfeunterricht erteilen musste. Dann wird sie wieder ernst, schließlich gibt es noch so viel zu organisieren.

Der Theo wird in seinem Sarg langsam schläfrig. Seine Seele will sich verabschieden. Noch nicht! Ich will doch die Gesichter sehen. Theo reißt sich wieder zusammen und sieht nur das Gesicht vom Bledschneider Sepp vor sich. Der versaut mir meinen Abgang nicht mehr! Wir waren doch einmal die besten Freunde. So ein Sturschädel! Theo schreckt auf. Hinter dem Gesicht vom Bledschneider schiebt sich ein weiteres hervor. Immer deutlicher sieht er es. Theo erschauert und will schon aufgeben, aber dann siegt wieder sein unerschütterlicher Optimismus. Da hört er die Stimme von Petra Rosenberger, die sich vor dem Leichenhaus aufbaut. Die Gesichter verschwinden, und Theobald Hirsch konzentriert sich auf das Geschehen vorm Leichenhaus. Sie hat ihren pickligen Praktikanten vom Seekurier dabei.

Rosenberger inspiziert die Kränze. Ein wenig zu lange verweilt sie an dem pinkfarbenen Gebilde von der Tina. »Nimm das mal auf«, sagt sie zu ihrem Praktikanten, der eine teure Kamera um den Hals hängen hat, »und dann den Sarg in der Totalen.« Die Journalistin zückt einen Notizblock und notiert sich ein paar Inschriften. »Ruhe in Frieden – deine Dienstagsfreunde«, liest sie vor. Dienstagsfreunde – das können nur die Mistkerle vom Hirschgulaschessen am Dienstag bei der Vroni sein, denkt sich Petra Rosenberger und ballt die linke Hand zur Faust. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass Frauen dienstags keinen Zutritt zum Hinterzimmer haben, und sie, die Reporterin vom Seekurier, ist dort von Theobald Hirsch zur unerwünschten Person erklärt worden. Und jetzt liegt er hier, der Theo. Aber leid tut der Theo ihr nicht.

Theo weiß nicht, ob er die Reporterin für ihre Chuzpe bewundern oder hassen soll. Als sie damals mit funkelnden Augen bei ihm im Amtszimmer stand und ihre kritischen Fragen auf ihn einprasselten, hatte er noch versucht, sie mit Komplimenten weichzukochen. Aber je mehr Charme er bei der Rosenberger einsetzte, desto eisiger wurde sie. Aber ganz so klug, wie sie denkt, ist die Rosenberger auch nicht. Dass der Seekurier nur das druckt, was ihrem Chef oder besser gesagt dem Libellenclub gefällt, hat sie anscheinend immer noch nicht begriffen. Noch aus dem Sarg heraus triumphiert er. Der Chef vom Seekurier ist schließlich auch ein Dienstagsfreund. Vermutlich hat dieser alle kritischen Artikel kassiert und stattdessen ein Loblied auf die Verdienste von Theobald Hirsch auf die erste Seite gesetzt. Seine Ehre bleibt unantastbar, dafür hat er alles gegeben. Theo wird müde. Lange kann er sich nicht mehr halten. Ganz schwach hört er die Kirchenglocken bimmeln. Sie rufen zum Rosenkranz, und während die drei Maries ihn herunterbeten, schläft Theo endlich in seinem Sarg ein.

Vielleicht ist das auch besser so, denn bei seiner Beerdigung geht trotz der Bemühungen von Anja Schwarz allerhand schief. Der Sekretär des Bischofs kommt auf die letzte Minute eingetrudelt, riecht nach Babykotze und wirkt derangiert. Er hat seine ausgearbeitete Predigt vergessen und stöpselt ein paar Anekdoten aneinander. Die Tina kommt zu spät in die Kirche gestöckelt und will sich doch glatt zur Marlene in die Familienbank setzen. Bevor Marlene handgreiflich wird, zieht Anja sie von der Bank weg. »Jetzt reiß dich zusammen, sonst fliegst raus«, raunt sie Tina zu. Mitten in der Rede vom Landrat gibt die Lautsprecheranlage endgültig ihren Geist auf, und der zweite Bürgermeister ist so aufgeregt, dass er mehrfach stottert. Hinterher geht die ganze Blase dann zum Mittagessen in den Gasthof »Zum goldenen Hirsch«. Statt Hirschgulasch werden Schnitzel serviert. Die Dienstagsfreunde ziehen sich bald ins Hinterzimmer zurück und beratschlagen, wie sie aus dem Tod vom Theo das beste Kapital schlagen können.

Otterschwing hat seinen besten Mann verloren. Über das Wie und Warum wird im Dorf und in den Medien heftig spekuliert.

Kapitel 2
Fischau, Redaktion des Seekurier –
ein Jahr vorher

Petra Rosenberger sitzt an ihrem mit Papieren übersäten Schreibtisch in der Redaktion des Seekuriers. Hier ist sie die junge Kollegin, obwohl sie mit ihren fünfunddreißig Jahren gerade mal ein paar Jahre jünger ist als ihr Chef Rainer Ortlieb. Draußen scheint die Sonne, eine Wohltat nach dem ganzen Regen. Dass vor kurzem die Straße noch knöcheltief unter Wasser stand, merkt man nur mehr an den Schmutzrändern der Fassaden. Hier und da liegen noch Sandsäcke herum. Ihr Chef steckt den Kopf zur Tür herein. Er zuckt zusammen, als er die Unordnung auf ihrem Schreibtisch sieht. »Hast du die Ankündigung für das Sommerfest des Libellenclubs schon fertig?«, fragt er Petra. »Schau mal im Archiv, da gibt es sicher ein wunderbares Foto vom letzten Jahr.«

Petra sucht in ihrem Eingangskorb. Was der Rainer unter einem wunderbaren Foto versteht, hat sie in den eineinhalb Jahren, die sie jetzt beim Seekurier ist, begriffen: irgendwas mit kleinen Kindern oder Tieren. Zur Not tut es auch eine hübsche Frau oder eine wichtige Amtsperson. Petra kramt das Fax mit dem Libellenlogo heraus.

»Um vierzehn Uhr feierliche Eröffnung des Libellenfestes in den Seeanlagen von Fischau mit dem diesjährigen Präsidenten des Clubs, dem erfolgreichen Unternehmer Hans Wagner, und dem Bürgermeister von Otterschwing, Theobald Hirsch. Um fünfzehn Uhr das Glanzlicht der Veranstaltung: das jährliche Libellenfliegen.« Das klingt wieder nach einem absolut vertanen Nachmittag! Petra erinnert sich an das Libellenfliegen vom letzten Jahr, und ihre Mundwinkel verziehen sich nach unten. Da wartet ein wildes Spektakel auf sie: Die Frauen vom Libellenclub verzieren kleine Plastiklibellen und versehen sie mit Startnummern. Alle Libellen werden dann in einen Sack gesteckt und vom Turm des Spielplatzes in den Seeanlagen von Fischau losgelassen. Diejenige Libelle, die am weitesten fliegt, bekommt den ersten Preis, der selbstverständlich von den hiesigen Geschäftsleuten gestiftet wird. Drei Preise gibt es heuer: einen Gutschein für eine Pilates-Stunde im neuen Frauenfitnesstempel, ein Grill-Set von der örtlichen Bankfiliale und zwei Tageskarten für die Seenschifffahrt. Eine Libelle kostet einen Euro, der Erlös dient selbstverständlich einem guten Zweck. Nach dem nervenzerfetzenden Libellenwerfen und dem Gerangel der Teilnehmer geht es über zu Kaffee und Kuchen. Natürlich stellt das örtliche Autohaus wieder die aktuellen Modelle aus, und die Firma von Hans Wagner präsentiert ihre neuesten Entwicklungen. Wie Petra im letzten Jahr am Rande der Veranstaltung mitbekommen hatte, ist ein ausgewählter Kreis aus Politik und Wirtschaft zum Ausklang in Wagners Protzvilla am Ammersee eingeladen. Offenbar kommt es einem Ritterschlag gleich, wenn man dorthin mitkommen darf. Diese Ehre war Petra Rosenberger noch nicht zuteilgeworden. Ihre Artikel sind nicht ganz so glatt und unverbindlich wie die ihrer Kollegen vom Seekurier, daher halten die »besseren Kreise« sie auf Distanz. Außerdem hatten ihre Fragen zur Pilsentherme Staub aufgewirbelt. Seit Monaten schwirrt es in der Gerüchteküche. Bei Petra Rosenbergers Antrittsbesuch im Fremdenverkehrsamt war der zuständige Manager noch ganz euphorisch gewesen ob der Möglichkeiten, die eine Therme für den Tourismus der Region bieten würde. »Im Winter dodelt es hier«, hat er festgestellt. Petra hatte sich von ihrem Kollegen später erklären lassen, was gemeint war: »Im Winter ist es hier wie ausgestorben.« So eine Therme wäre ein wunderbarer Publikumsmagnet, der der Region Scharen von zahlungskräftigen Touristen verschaffen würde. Auf ihre Frage hin, wann und wo die Therme realisiert werden solle, kam der blasse Tourismusmanager ins Trudeln und deutete immerhin an, dass es in Otterschwing und Umgebung geologisch möglich sei.

Aber Otterschwings Bürgermeister Theobald Hirsch lässt sie bislang bei diesem Thema abblitzen, und ihr Chef Rainer Ortlieb wirkt völlig desinteressiert. »Über eine Therme wird schon seit Jahren geredet«, sagt er in der Redaktionskonferenz. Wobei das Wort »Konferenz« für die wenigen Mitarbeiter des kleinen Blattes ziemlich euphemistisch ist. »Statt heißem Wasser bisher nur heiße Luft«, tut Rainer das Großprojekt ab. Er betet trotzdem die Argumente des Landrates im besten Politikersingsang runter: »Unser Gebiet braucht neben den Seen ein touristisches Leuchtturmprojekt. Wir müssen mehr in den Tourismus investieren. Wir brauchen eine Therme! Und wie viele Arbeitsplätze da entstehen werden!«

Petra merkt an: »Meint der Landrat wirklich, wir brauchen noch mehr Arbeitsplätze für Putzfrauen?« Die müsse man ja einfliegen lassen, denn in Fischau und Umgebung gibt es Wartelisten für die wenigen Hausperlen, die dann einen höheren Stundenlohn bekommen, als Petra selbst verdient. Aber es gehört zum guten Ton in Fischau und Umgebung, wenigstens an einem Vormittag in der Woche eine Zugehfrau zu beschäftigen.

Rainer wischt ihren Einwand weg. »Dazu wird es eh nicht kommen. Der touristische Leuchtturm wird wohl noch auf sich warten lassen.« Damit ist das Thema beim Seekurier offiziell vom Tisch, und für Petra heißt das: keine Recherche in der Redaktionszeit. Trotzdem gehen bei ihr alle Alarmsignale an. »Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht«, murmelt sie vor sich hin. Sicher laufen die Vorbereitungen für die Baupläne schon. Auf ihre journalistischen Instinkte hatte sie sich bislang immer verlassen können. Bei ihrer vorherigen Arbeitsstelle, der großen Tageszeitung Münchner Postille, ist sie gar als Trüffelschwein bezeichnet worden. Einmal mehr bedauert Petra, ihren vielversprechenden Posten bei der Postille aufgegeben zu haben und jetzt im miefigen Büro des Seekurier in Fischau zu sitzen. Jetzt im August schlägt das Sommerloch unbarmherzig zu. Das Sommerfest des Libellenclubs gehört neben den Flohmärkten, Kunsthandwerkermärkten oder Nachtmärkten rund um die Ortschaften der Seen noch zu den wenigen Veranstaltungen, über die der Seekurier berichten kann. Schnell schreibt Petra die Ankündigungsmeldung für das Fest und loggt sich dann ins Fotoarchiv des Seekurier ein. Lustlos klickt sie sich durch mindestens hundert Fotos vom Libellenflug des letzten Jahres. Dann erkennt sie auf einem der Fotos den in Nordbayern stadtbekannten Bäderkönig Roland Forster. Mit einem Glas Sekt steht Forster neben Theobald Hirsch und dem Landrat. Die drei Herren prosten sich zu, als ob es etwas zu feiern gäbe. Interessant! Petra druckt das Foto aus und steckt es in ihre voluminöse Handtasche. Dann wählt sie ein Action-Foto vom Libellenwurf aus und setzt dies über ihren Ankündigungstext. Als Überschrift textet sie: »Die Libellen fliegen für einen guten Zweck«. Langweilig, das weiß sie, aber für kreative Gedanken ist es heute wirklich zu heiß. Das Läuten des Telefons reißt sie aus ihren Tagträumen. Auf dem Display sieht Petra die Nummer vom Benedictum in Fischau, einer Seniorenresidenz für gehobene Ansprüche. Was hat Mutter jetzt wieder angestellt?, fragt sich Petra. Ihre dreiundsiebzigjährige Mutter ist einer der Gründe, warum Petra jetzt beim Seekurier arbeitet.

Nach dem Tod ihres Mannes ist meine Mutter alleine nicht mehr gut zurechtgekommen, da habe ich mich selbstverständlich kümmern wollen. Diesen Satz sagt Petra immer, wenn sie jemand fragt. In Wahrheit geht die Geschichte etwas anders. Ihre Eltern hatten ihren letzten Lebensabschnitt schon Jahre vor der Rente akribisch geplant. Ein schönes kleines Einfamilienhaus auf dem Land, nah genug an München, sollte ihr Altersruhesitz werden. Seit ihr Vater Justus einst in jungen Jahren auf dem Ammersee einen Segelkurs gemacht hatte, träumte er davon, sich in der Postkartenkulisse des Fünfseenlandes anzusiedeln. Ihre Mutter Gertraud hatte sich gefügt. Ihre Eltern hatten noch eine Ehe mit klassischer Rollenverteilung geführt. Mutter Gertraud versorgte Petra und ihren älteren Bruder Julian und erledigte den Haushalt. Vater Justus hatte sich in einem Chemieunternehmen langsam hochgearbeitet. Allerdings waren sie mit jedem Karriereschritt von Justus auch wieder umgezogen. Die letzte Station war ein großes Chemiewerk bei München gewesen, und so kam Justus seinem Traum vom Ruhesitz im Fünfseenland nebst kleinem Segelboot ein Stück näher. Justus und Gertraud hatten bei ihren Sonntagsausflügen ein hübsches Haus in Otterschwing entdeckt, einer kleinen, noch bäuerlich geprägten Ortschaft, in zweiter Reihe zum See. Vor zwölf Jahren hatten sie es gekauft, doch leider währte Justus’ Ruhestand nicht lange. Eines Tages ging er in den Keller, um eine Flasche Wein zu holen, und kam nicht wieder nach oben. Er hatte einen Gehirnschlag erlitten und war sofort tot. Gertraud fand ihn damals hingestreckt vor dem Weinregal. Von dem erlittenen Schock hatte Gertraud sich nie wieder richtig erholt. Damals galt Petra als politische Journalistin mit Aufstiegschancen bei der Münchner Postille. Sie hatte nach all den Umzügen in Bayern ein eher mäßiges Abitur hingelegt und wartete auf einen Studienplatz in Psychologie. Als sie diesen dann endlich bei der Ludwig-Maximilians-Universität München bekam, steckte sie schon mitten in ihrem journalistischen Volontariat bei der Postille. Ihr Vorzeigebruder Julian hatte dagegen noch in Nordrhein-Westfalen sein Abitur gemacht und dann mit großzügiger Unterstützung der Eltern Jura in Bielefeld studiert. Das zweite Staatsexamen musste er zwar zweimal machen, und dann gelang es auch nur knapp. Trotzdem wurde Julian von ihrer Mutter uneingeschränkt bewundert. Jetzt hatte ihr Bruder in eine Rechtsanwaltskanzlei in einer kleinen Kreisstadt in Nordrhein-Westfalen eingeheiratet und kurz hintereinander zwei Kinder bekommen. Um seine Eltern wollte und konnte Julian sich folglich überhaupt nicht kümmern, aber die jährliche Zuwendung für das »standesgemäße Auto oder sonstige Dinge« forderte er schamlos von seiner Mutter Gertraud ein. Ihr Vater hatte anfangs noch versucht, so etwas wie Gerechtigkeit zwischen den Geschwistern herzustellen, hatte aber, um den häuslichen Frieden nicht zu gefährden, dem Drängen seiner Frau nachgegeben. Zur Beerdigung seines Vaters kam Julian bereits mit den ausgedruckten Immobilien-Exposés für Einfamilienhäuser in Otterschwing und Umgebung in der Tasche. Für ihn war selbstverständlich, dass Gertraud das Haus verkaufen würde, schließlich wollte er sein Erbteil sofort ausbezahlt bekommen. Außerdem rechnete er seiner Mutter vor, dass sie eine recht ansehnliche Witwenrente bekommen würde, und schließlich könnte eine Frau wie sie nicht alleine in einem Haus auf dem Land wohnen bleiben. Das könnte sie doch gar nicht bewirtschaften. Er machte Gertraud den Verkauf schmackhaft. Deshalb war es bald beschlossene Sache, dass ihre Mutter in das Benedictum in Fischau zog. So ein kleines Appartement war ja auch viel leichter sauber zu halten, und medizinische Versorgung gab es dort ebenfalls. Petra bekam auch ihren Anteil vom Hausverkauf ausbezahlt. Damals brummte gerade der Börsenmarkt. Ihr damaliger Lebensgefährte Roland, der nach eigener Aussage den vollen Durchblick an der Börse hatte, versprach ihr, ihr Geld sicher anzulegen und zu vermehren. Immerhin war sie so schlau gewesen, eine kleine Reserve auf einem geheimen Konto zu behalten, denn der angebliche Experte hatte sich im Nachhinein als Aufschneider entpuppt. Petra hatte in ihrer Naivität alle seine Geschichten geglaubt und war auf seine Psychotricks hereingefallen. Alle Warnungen ihrer Freundinnen hatte sie in den Wind geschossen, denn sie war so verliebt in den charmanten Roland gewesen, der stets beteuerte, dass er nur mit ihr zusammen sein wollte. »Die anderen gönnen dir dein Glück nicht«, hatte er immer wieder zu Petra gesagt. Der Absturz kam unerwartet. Petras Geld war verspekuliert, und sie erwischte Roland im Bett mit ihrer netten Nachbarin Carmen. Roland zog sofort zur Nachbarin, und Petra weinte sich jede Nacht in den Schlaf. Dieses Ereignis traf mit den ersten Anrufen vom Benedictum zusammen. Mutter Gertraud zeigte erste Anzeichen von Demenz. Auch Julian erhielt diese Anrufe, und so schob er widerwillig zwischen zwei Golfturnieren in Süddeutschland einen Besuch in Fischau ein. Eine vertraute Person in ihrer Umgebung sei sehr wichtig, hatte die Leiterin vom Benedictum den Geschwistern erklärt. Dazu gab es eine Broschüre, die auf die würdevolle und kompetente Pflegestation hinwies. Julian war entsetzt, als er die Pflegekosten sah. »Das geht auf keinen Fall«, sagte er zu Petra. »Wir haben uns gerade für einen neuen Anbau entschieden. Gertraud muss in ihrer Wohnung bleiben.« Dass Julian sich leider nicht im Stande sah, sich um seine Mutter zu kümmern, war natürlich klar. Es blieb an Petra hängen, denn wie ihr lieber Bruder meinte: »Das Psychologische ist doch dein Ressort.« Sie suchte sich die Stelle beim Seekurier – ein beruflicher Abstieg – und zog nach Fischau in eine kleine Einliegerwohnung, die sie sich mit neuen IKEA-Möbeln schön gemütlich gestaltete. Denn natürlich hatte ihr Ex darauf bestanden, dass die Einrichtung der gemeinsamen Wohnung ja wohl ihm zufiele, schließlich hätte er diese größtenteils bezahlt.

Allerdings erweist sich für Petra die Unterstützung ihrer Mutter als eine ziemlich frustrierende Angelegenheit. Statt ihren Aufwand für sie zu würdigen, erzählt Gertraud nur von den Erfolgen ihres Vorzeigesohnes. Petra hingegen hat ihr wie selbstverständlich zur Verfügung zu stehen. Kommt sie einmal mehrere Tage hintereinander nicht zu Besuch, zieht Gertraud ihre Schmollnummer durch und tut ganz verwirrt.

Und jetzt ist es wieder so weit. Das Benedictum ruft an. Petra meldet sich. Zum Glück ist es nichts Ernstes. Gertraud war zu lange in der Sonne, wegen ihrer Frisur natürlich ohne Hut. Sie liegt jetzt leicht schwindlig im Bett. Petra verspricht, später vorbeizukommen. Gleich vier Uhr, da kann sie sowieso bald Schluss machen. Um acht Uhr am Abend trifft sie ihre Freundin Birgit am Ostufer des Ammersees, um ganz romantisch den Sonnenuntergang anzuschauen. Das schafft sie, wenn sie sich jetzt beeilt.

Rainer Ortlieb kommt mit dem Terminbuch herein. »Kannst du das Libellenfest übernehmen?«, fragt er und setzt gleich hinzu: »Ich bin mit meiner Familie zum Grillen eingeladen.« Petra stöhnt innerlich, denn sie geht nicht gerne auf diese Social Events. »Na gut«, sagt sie ihm, »das mach ich, aber ich müsste heute schon früher weg. Meiner Mutter geht es nicht gut.« Sie rollt dabei mit den Augen. Rainer kennt ihre anspruchsvolle Mutter und nickt verständnisvoll.

Petra macht sich auf den Weg ins Benedictum. Sie will mit dem Fahrrad fahren, was aber erst einmal bedeutet, den steilen Berg von Fischau hinaufzuradeln. Das Benedictum, eine architektonische Betonsünde aus den siebziger Jahren, thront über dem Ammersee, damit die etwa zweihundert anspruchsvollen Senioren in ihren Appartements einen schönen Ausblick haben und nach Andechs schauen können.

In der Hitze schwitzt Petra. Sie stellt das Fahrrad in den Ständer und eilt die in gedeckten Farben gehaltenen Flure entlang. Als ihre Mutter auf ihr Klopfen nicht reagiert, nimmt sie ihren Zweitschlüssel und betritt das Appartement. Ihre Mutter liegt auf dem Bett. »Musst du dich so hereinschleichen?«, herrscht sie Petra an. »Warum kommst du jetzt erst? Nie hast du Zeit für mich, ich könnt glatt sterben, und du würdest es gar nicht merken!«, beschimpft sie ihre Tochter. Die hält inne, zählt ganz langsam von zwanzig rückwärts, wie es ihr der Psychologe des Benedictums geraten hat, und sagt sich immer wieder vor: Ich bleibe ganz gelassen. Manchmal schafft Petra das tatsächlich, aber oft ist sie wütend und verletzt. Heute denkt sie an ihre Verabredung mit Birgit und bleibt betont fröhlich. Sie lenkt ihre Mutter mit dem bevorstehenden Libellenfest ab. Das funktioniert zwar, aber plötzlich besteht ihre Mutter darauf, dass Petra sie mit auf diesen Termin nimmt. Auch das noch, denkt Petra und verspricht, sie am Samstag um halb zwei abzuholen.

Als sie sich wieder aus dem Benedictum schleichen will, wird Petra noch von der Stationsleiterin angesprochen.

»Wann kommt denn Ihr netter Bruder Julian wieder vorbei? Ihre Mutter fragt jeden Tag nach ihm.« Das wüsste Petra allerdings auch gerne.

Sie lächelt und schaut auf ihre Armbanduhr. »Schon so spät, ich muss noch auf einen Termin.« Sie eilt davon. Jetzt aber schnell nach Hause und sich frisch machen. Heute ist absolut ein Tag, um das neue Sommerkleid auszuführen!

In ihrem kleinen Bad genießt sie die kühle Dusche und wäscht sich gleich noch die Haare. Vor dem Spiegel macht sie die Gesichtskontrolle. »Immer lächeln, sonst gibt’s Falten auf der Seele«, sagt ihre Freundin Birgit immer. Also lächelt sie drei Minuten lang und findet sich dann doch ziemlich gutaussehend. Sie hat mittelbraune lockige Haare, die sie auf Kinnlänge trägt, dazu ein herzförmiges Gesicht mit blaugrauen Augen. Die Augen betont sie als Smokey Eyes, wie sie es kürzlich in der Schminkschule einer Frauenzeitschrift gesehen hat. Dazu noch den hellblauen Spitzen-BH mit passendem Höschen und das neue Sommerkleid, das so gut zu ihrer sonnengebräunten Haut passt. Perfekt! Sie schlüpft in ihre Sandalen, schnappt sich ihre Handtasche und geht zu ihrem kleinen Polo. Von Fischau nach Frausching sind es etwa zwanzig Minuten mit dem Auto, da wird sie vermutlich nur zehn Minuten zu spät sein. Ihre Freundin Birgit kommt mit der S-Bahn aus München, und Petra setzt auf die übliche Verspätung.

Glücklicherweise bekommt sie noch einen Parkplatz in der Seestraße und eilt zum derzeit angesagten Szene-Treff, einem Kiosk direkt an der Promenade mit ein paar Tischen und Stühlen. Petra knurrt der Magen. Hoffentlich hat der kleine Fischladen nebenan noch auf. Sie hat Glück und bekommt noch eine der legendären Fischsemmeln mit Sprossen. Birgit sitzt schon an einem der Tische und hat einen Aperol Sprizz vor sich stehen. Sie umarmen sich.

»Schön, dass es heute geklappt hat!«, sagen beide gleichzeitig. Petra holt sich eine Kalte Ente, ein Weißweingemisch, zu ihrer Semmel.

»Heute war wieder Mutteralarm«, seufzt Petra. »Die eitle Dame war ohne Hut in der Sonne, sonst hätten ihre Löckchen verrutschen können. Und dann war sie wieder beleidigt, weil ich nicht alles stehen und liegen gelassen habe, und jetzt muss ich sie auch noch auf das Libellenfest am Samstag mitnehmen.«

»Du Ärmste.« Birgit verdreht die Augen. »Ich muss dir unbedingt meine neueste Dating-Geschichte erzählen! Das glaubst du mir nicht!« Birgit ist ein Fan von Online-Partnerbörsen. Heute hatte sie ein Blind-Date mit einem Tierarzt am Fischbrunnen in München.

Der Tierarzt entpuppte sich als zehn Jahre älter als angegeben und kam mit Trachtenhut. Als Erstes informierte er sie, dass er gerne in einen Swingerclub gehen möchte, dafür suche er eine weibliche Begleitung, weil es dann billiger werde. Petra nickt verständnisvoll und ist froh, dass sie mit ihrem Single-Zustand derzeit ganz zufrieden ist. Für solche Aktionen und stundenlanges Chatten in Partnerbörsen hat sie sowieso keine Zeit.

»Was ist mit dir?«, fragt Birgit. »Tut sich da was?« Petra lacht und sagt: »Männer kann ich mir gerade nicht leisten.« Sie denkt an Roland. Wie blöd sie gewesen ist! Sie schämt sich heute noch für ihre Dummheit und Naivität. Der Bürgermeister von Otterschwing, Theobald Hirsch, genannt der „flotte Theo“, erinnert sie immer an den Roland. Auch der Bürgermeister versucht es bei ihr mit seinem Schmäh und Schmus. Sie schaudert. Der Bürgermeister Hirsch ist nicht nur ein Charmeur, sondern zeigt in den Gemeinderatssitzungen auch eine verbissene Härte, wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen läuft. »Der geht über Leichen«, murmelt man immer wieder hinter vorgehaltener Hand.

Birgit merkt, dass sich das Gesicht ihrer Freundin zusammenzieht, und erzählt schnell noch ein paar Anekdoten. Die beiden Frauen genießen den herrlichen Sonnenuntergang, der den See in ein helles Rosa taucht. Die Wellen glitzern, die Boote bewegen sich sanft im Wasser, und die Stunde des Sonnenunterganges legt einen sanften Mantel um die Gemüter. Alle Sorgen nimmt die Sonne mit. Die Freundinnen brechen beschwingt und mit freiem Kopf auf. In dieser Nacht schläft Petra gut.

Am nächsten Morgen kommt sie um neun Uhr in die Redaktion des Seekuriers. Da Freitag ist, muss die Wochenendausgabe auch mitgeplant werden. Die Nachrichtenlage ist äußerst dürftig. Rainer schlägt vor, dass Petra noch schnell einen Artikel über irgendetwas mit Natur schreibt. Er selbst will sich um ein anstehendes Oldtimer-Rennen kümmern und einen Werkstattbesuch bei einem Spezialisten machen. Na super, denkt Petra, der Rainer fährt wieder mal spazieren und kümmert sich um das gezielte Sponsoring seiner Spezl.

»Ist der Restaurator nicht auch im Libellenclub?«, fragt sie Rainer ganz unschuldig. Rainer ignoriert ihre Frage, schnappt sich den Schlüssel für das Redaktionsauto und ruft: »Ich bin schon spät dran. Bis später.«

Petra schaut mal in ihrem Fundus an Naturgeschichten und ruft den Ramsar-Gebietsbetreuer an. Zum Glück fällt dem immer etwas ein, und bald schon schreibt Petra an einem netten Artikel über brütende Vogelpaare, die ganz besonders selten vorkommen und unter Naturschutz stehen. Erfolgreicher Liebesflug der Bekassine titelt sie. Dann holt sie die eingegangenen Faxe und druckt sich die E-Mails aus. Sie macht die Meldungen fertig und setzt die Texte und Fotos ins Layout-Programm. Kurz vor vier taucht auch Rainer wieder auf und wirkt höchst entspannt.

»Wie war es?«, fragt Petra.