Über Mercedes Lauenstein

Mercedes Lauenstein, geboren 1988, lebt als Schriftstellerin und Journalistin in München und Italien. Seit 2009 schreibt sie als freie Autorin Essays und Reportagen für verschiedene Zeitungen und Magazine. Für ihr Debüt »Nachts« wurde sie 2016 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet.

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Der Roadtrip ihres Lebens

Blanca will weg. Weg von ihrer Mutter, die ständig auf gepackten Koffern sitzt, weg von den billigen Zimmern, in denen sie wohnen. Mit ein paar Wechselklamotten und all ihren Ersparnissen in der Tasche macht sie sich auf Richtung Süden. Aber kann man sein altes Leben tatsächlich einfach so hinter sich lassen? Blanca ist die Reise eines ungewöhnlichen Mädchens, das nach einer Zukunft für sich sucht – und dabei so manchen Umweg in Kauf nimmt.

»Hier ist eine Erzählerin am Werk, die ihren Figuren auf den Grund gehen kann, die Fragen hat an das Leben.« Sandra Hoffmann, Deutschlandfunk

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Mercedes Lauenstein

Blanca

Roman

Inhaltsübersicht

Über Mercedes Lauenstein

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Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Danksagung

Impressum

Eins

Hätte die Auflaufform mich getroffen, wäre alles anders gekommen. Vielleicht wäre ich jetzt tot. Aber ich sprang gerade noch rechtzeitig ins Badezimmer und schlug die Tür hinter mir zu.

Da krachte das schwere Porzellan auch schon dagegen, ein Riss ging durch das Holz, die Form zerschellte auf dem Flurboden. Meine Mutter hämmerte gegen die Tür.

Ich nahm alle Handtücher aus den Regalen, warf sie in die Badewanne, kletterte hinein und schloss die Augen. Die Handtücher rochen nach den verschiedenen Waschpulvern der WG-Mitbewohner. Nichts in diesem Badezimmer gehörte uns. Aber wir benutzten alles heimlich mit. Die Shampoos, das Klopapier, die Zahnpasta. Manchmal sogar die Zahnbürsten.

Das Handtuch, das unter meinem Kopf lag, war ungewöhnlich weich. Weich und dick, wahrscheinlich teuer. Es erinnerte mich an etwas. An Sommer. An klirrende Eiswürfel in beschlagenen Gläsern. An eine Sonne, die so hell ist, dass man nicht wagt, die Augen zu öffnen. An den Wunsch, die Zeit anzuhalten. An Toni und Karl.

Es rumste. Die Haustür. Stille. Sie war abgehauen. Sie verschwand immer nach einem Streit. Ich wusste nie, wohin sie ging. Wann sie wiederkommen würde. Manchmal blieb sie Tage weg, manchmal Wochen. Sie verließ sich einfach darauf, dass ich dableiben würde. Ich blieb immer da. Dieses Mal beschloss ich, nicht mehr dazubleiben.

Das war heute Morgen.

Ich lehne meinen Kopf an die kühle Scheibe. Keine Ahnung, wie lange ich geschlafen habe. Draußen wird es allmählich Abend, der Himmel ist aufgebrochen, rote Sonnenflecken liegen auf den Feldern, Hügeln, Baumstümpfen. Die Weite draußen tut gut, da kann ich atmen. Ein und aus. Der Zug legt sich sanft in die Kurve, fährt immer weiter weg von Hamburg, vom ewigen Regen, von meiner durchgedrehten Mutter.

Eine Tankstelle rast vorbei.

Ich denke an kalten Zitroneneistee und an den Tag, an dem wir nach Italien aufgebrochen sind. Da wussten wir noch nicht, dass wir dort Toni und Karl finden würden. Und mit ihnen zum allerersten Mal so etwas wie ein richtiges Zuhause.

Es war ein Sommertag, und ich war gerade neun geworden. Wir hatten es nicht gefeiert. Geburtstage waren etwas für Leute, die Angst vor der Zeit hatten. Nichts für uns. Doch die Neun bedeutete mir mehr als jede Zahl zuvor, ich zeichnete sie ständig irgendwohin, auf Kassenbons, Bonbonpapier, Klowände, Hefte, Bücher.

»Hör auf mit dem Scheiß, Zahlen bedeuten nichts«, sagte meine Mutter.

Da malte ich die Neun erst recht überallhin. Mit Kugelschreiber auf meine Hände, wie einen magischen Code. Neun war das beste Alter, das man haben konnte, ich fühlte mich zum ersten Mal erwachsen. Acht war dunkelblau und schüchtern, neun war strahlend gelb und mutig. Ich wollte für immer neun sein.

Wir waren gerade aus Stuttgart abgehauen. Und manövrierten unser röchelndes Auto nun auf das Gelände einer Tankstelle. Meine Mutter hatte während der ganzen Fahrt das Armaturenbrett gestreichelt und dem Wagen wie einem kranken Pferd gut zugeredet. Geholfen hatte es nichts.

Ich blieb im Wagen, meine Mutter machte sich Richtung Werkstatt auf. Ich kletterte auf den Fahrersitz, legte meine Beine auf das Lenkrad, klappte den Sitz ganz nach hinten und schloss die Augen. Ich musste nicht hinsehen, ich wusste auch so, was draußen vor sich ging. Langsam zählte ich bis zwölf und ließ die Szene vor meinem inneren Auge ablaufen: Eins, meine Mutter geht auf die Werkstatt zu, zwei, ein Träger ihres dünnen Oberteils rutscht ihr wie beiläufig von der Schulter, drei, sie streicht sich eine Strähne aus der Stirn, vier, spricht einen Mechaniker an, fünf, deutet auf das Auto und, sechs, erklärt ihm das Problem. Sieben, zwei weitere Männer kommen dazu, acht, sie sagt, sie bete, es möge nichts Größeres sein, nicht ausgerechnet jetzt, es sei nicht einmal unser Auto, nur von einem Freund geliehen, sie wisse wirklich nicht, wie sie das jetzt regeln solle. Neun, sie atmet tief ein, zehn, atmet aus, elf, fährt sich erschöpft durchs Haar, sieht sich um und sagt, sie liebe den Duft von Werkstätten. Ihr Großvater habe eine Autowerkstatt besessen. Zwölf, sie dreht sich um und gibt mir ein Zeichen, das Auto vorzufahren.

Ich öffnete die Augen und zog mich am Steuerrad hoch. Umringt von drei Mechanikern stand sie da und winkte mich heran.

Ich nahm die Beine vom Lenkrad, rückte den Sitz so weit nach vorn wie möglich und streckte die Füße zu Gaspedal und Kupplung aus. Seit ein paar Monaten konnte ich Auto fahren, meine Mutter fand das wichtig. Auch das, war ich mir sicher, verdankte ich der Neun. Ich fuhr bisher nur auf verlassenen Landwegen, Parkplätzen oder in unbedeutenden Situationen wie dieser. Ich ließ den Motor an und die Kupplung kommen und steuerte den Wagen in die Werkstatt. Die Typen sahen zu mir, dann zu ihr, wieder zu mir und zurück zu ihr. Aber meine Mutter grinste nur und steckte sich eine Kippe an.

Sie hielt sie mit den Zähnen fest, wie jemand aus einem Film. Das machte sie immer, wenn sie beim Rauchen beobachtet wurde. Wenn wir allein waren, klemmte sie die Zigarette zwischen die Lippen wie andere Leute auch.

Kurz erwiderte sie den Blick der Männer, zuckte mit den Achseln, sagte irgendwas und lachte. Die Typen sahen wieder zu mir und nickten anerkennend.

Ich stellte den Wagen ab, stieg aus und stellte mich dazu. Unter meinen nackten Füßen brannte der Asphalt. Ich trat von einem Fuß auf den anderen.

»Wer braucht den?«, fragte ich und hielt den Autoschlüssel hoch.

Eine große, schwarz verschmierte Mechanikerhand nahm ihn mir ab und klopfte mir auf die Schulter. Meine Mutter warf mir einen verbrüdernden Blick zu. Dann machten sich die Männer an den Wagen.

Wir gingen zum Tankstellenshop, um Getränke und Zigaretten zu kaufen. Meine Mutter lief ein Stück vor mir. Ich schwitzte und bekam kaum Luft. An meinen Füßen Millionen heiße Nadeln. An Tankstellen war es im Sommer tausend Grad heißer als überall sonst. Komisch, dass sie nicht explodierten. Über dem Asphalt waberte und flirrte die Luft, und es sah aus, als würde die Welt vom Boden her eingeschmolzen. Ich hatte auf einmal das Gefühl, zu verschwinden. Ich sah alles in der Erde versinken, die Tanke, das dürre Sträuchlein auf dem Grünstreifen. Der Boden unter meinen Füßen wurde immer weicher, ich schmeckte Erde und Gras, roch den scharfen Geruch von Benzin, wir sanken ein. Wir alle verschwanden in einer erdballfarbenen Wachspfütze, die Mechaniker, die Autos, meine Mutter und ich. Ich blickte ihr hinterher. Unbeirrt steuerte sie auf den Laden zu. Ich drehte mich um. Bei der Waschanlage gab es einen Wasserhahn, davor Eimer fürs Scheibenwischen. Ich lief hin und spritzte mir Wasser ins Gesicht, dann auf die Füße. Die Rohre waren so aufgeheizt von der Sonne, dass das Wasser lange warm blieb. Ein Tankstellenmann kam vorbei und zwinkerte mir zu. Ich drehte den Wasserhahn ab.

Der Asphalt trug wieder.

Im Tankstellenshop schlug mir die Kälte der Klimaanlage entgegen. Hinter meiner Stirn vibrierte etwas. Ich hielt mich an einem Kartenständer fest und hoffte, nicht doch noch sterben zu müssen. Man konnte auf tausendmillionen Arten von einem Augenblick auf den anderen sterben. Der Bruder eines Mannes, bei dem wir eine Zeit lang gewohnt hatten, war mit neunzehn an einer Hirnblutung gestorben. Er hatte auf den Zug gewartet und war plötzlich umgefallen, einfach so, am Mittag. Irgendwo hatte währenddessen ein Vogel gezwitschert, hatte grad jemand in einem Wohnhaus auf dem Klo gesessen, hatte an einer Kreuzung eine Ampel von Gelb auf Grün geschaltet, als wär nichts.

Kurze Zeit später lag meine Mutter mit einer Grippe im Bett. Ich fragte sie, ob sie jetzt dran sei mit Sterben. »Kann sein«, sagte sie, »es kann immer alles sein, Blanca, daran musst du dich gewöhnen.« Sie sah mich mit dramatischem Ernst an und strich mir über den Kopf.

»Auch, dass ich heute Nacht eine Gehirnblutung kriege?«, fragte ich.

»Ja, auch das«, sagte sie. »Die Menschen sterben an dem, was sie am meisten fürchten. Das nennt man Intuition, Blanca.«

Ich lag die ganze Nacht wach, bewachte mein Gehirn und ihre Atemzüge.

Nun stand sie am Kühlregal. Nahm sich eine Coladose heraus, klemmte sie unter den Arm, griff nach einem Eiskaffee und einer Sprite. Biss sich nervös auf der Unterlippe herum, tauschte die Sprite gegen eine Erdbeermilch und den Kaffee gegen eine Apfelschorle. Stellte plötzlich alle Getränke ins Erdbeermilch-Fach und nahm sich stattdessen nur eine einzige Flasche Wasser, ließ die Tür des Kühlregals zufallen und machte sich auf zur Kasse. Nach einigen Schritten blieb sie stehen, machte kehrt, stellte das Wasser zurück und nahm sich doch die Coladose. Dann ging sie endgültig zur Kasse. Ich nahm mir einen Zitroneneistee aus dem Kühlregal und folgte ihr. Die Kassiererin scannte beide Artikel, nannte die Summe und sah zu meiner Mutter, die durch das Zigarettenregal hindurch in eine Ferne starrte, die es nicht gab. Zumindest nicht für Außenstehende. Ich hätte gern gewusst, was sie dort sah. Wohin sie verschwand.

Ich kannte diesen glasigen Blick von Momenten, in denen ich ihr etwas erzählte. Es gibt kaum etwas Deprimierenderes, als mitten im Erzählen festzustellen, dass einem keiner zuhört. Je aufgeregter man etwas erzählt, desto schlimmer ist es. Wie im Comic, wenn jemand über eine Klippe rennt und in der Luft enthusiastisch weiterrennt, bis er plötzlich feststellt, dass da kein Boden mehr ist, sondern eine Schlucht, und dann – wumms.

Weil meine Mutter abwesend war, orderte ich noch zwei Schachteln Marlboro für sie. Die Kassiererin griff nach den Zigaretten, scannte sie und nannte die neue Summe. Aber meine Mutter reagierte noch immer nicht. Ich trat sie und wiederholte die Summe. Sie sah in meine Richtung, und ich wischte mit meiner Hand vor ihrem Gesicht herum wie ein aufgebrachter Scheibenwischer. Da kam sie endlich zurück. Schüttelte kurz den Kopf, wandte sich der Kassiererin zu, lächelte verlegen, erledigte, was zu erledigen war, und dann gingen wir. Kurz vor der Tür blieb ich neben der Eistruhe stehen und nahm mir ein Bum Bum heraus. Meine Mutter achtete nicht darauf und ließ sich draußen etwas abseits vom Shop-Eingang auf der Bordsteinkante nieder. Ich setzte mich zu ihr und packte das Eis laut knisternd aus. Sie wunderte sich nicht darüber, wo es plötzlich herkam.

»Siehst du«, sagte sie Richtung Werkstatt blickend, »jetzt reparieren sie uns das Auto. So funktioniert die Welt. Du musst nur charmant sein, dann kriegst du alles.«

Ich sah sie an. Sie erwiderte meinen Blick und grinste.

Sie war so hübsch. Ihre Zähne waren perfekt – große helle Erwachsenenzähne wie aus der Werbung. Zarte durchsichtige Härchen bedeckten ihre braungebrannte Gesichtshaut. Nur um die Augen hatte sie ein paar Lachfalten, die aussahen wie Sonnenstrahlen. Sie trug überhaupt kein Make-up. Auf ihrer Oberlippe waren winzige Schweißperlen.

Egal, wie sehr man sich auch dagegen wehrte: Wenn sie einen so ansah wie jetzt, wollte man nur noch Ja sagen zu allem. Ja, ich komm mit dir mit, überallhin. Man fühlte sich unter ihrem Blick am Leben.

Sie zog mich an sich und gab mir einen warmen Kuss auf die Stirn. Ich lehnte vorsichtig meinen Kopf an ihre Schulter. Eigentlich war ich noch sauer auf sie.

Am Vortag hatte sie mich einfach aus dem Klassenzimmer gezerrt. Sie brauche schon einen ordnungsgemäßen Grund, um mich aus dem Unterricht zu holen, wies der Lehrer sie zurecht, als sie die Tür aufriss und sagte, ich solle mitkommen. Spießerarschloch, sagte meine Mutter, es sei ihr Kind, es gehe um eine Familienangelegenheit, Familie, dieser Begriff stehe in seinem kleinen Beamtenhirn neben Heimat und Vorgarten und Pension doch sicher ganz oben. Der Lehrer guckte wie alle alten Männer, die es gewohnt sind, den Ton anzugeben, und dann auf meine Mutter treffen. Als hätte jemand vor seinen Augen am helllichten Tag sein Haus angezündet.

Sie lief auf mich zu, packte mich und zog mich hinter sich her. Den Beutel mit zwei abgekauten Stiften, ein paar zerknitterten Arbeitsblättern und einem Busfahrschein ließ ich liegen. Nur den Zeichenblock bekam ich noch zu fassen. Die Kinder glotzten uns stumm hinterher. Der Lehrer rief mir nach, ich müsse nicht mit meiner Mutter mitgehen, ob ich das wisse, es sei mein Recht, zu bleiben, man könne das alles anders lösen, aber da knallte schon die Tür hinter uns zu, und wir rannten durch den Schulflur Richtung Ausgang.

Natürlich wollte ich nicht mit meiner irren Mutter mit. Doch mich stattdessen in die Obhut eines selbstgefälligen Lehrers mit Krümeln im Haar begeben? Nein danke.

In Gedanken riss ich mich von der Hand meiner Mutter los und schoss mit Raketenantrieb nach oben, durchbrach das Schuldach und raste in den Himmel. Dort landete ich auf dem Rücken eines riesigen freundlichen Vogels, der mich beschützte und wegtrug von allem Schrecklichen, wie der weiße große Drachenhund in der Unendlichen Geschichte.

Vor der Schule kam uns eine andere Mutter entgegen, ihre Haare waren glatt und glänzend. Sie ging dicht an uns vorbei, und ich fand es gruselig, wie nah sie uns war und wie wenig sie doch mit uns zu tun hatte. Sie hatte ein Haus und einen Mann und ging zu Elternabenden, und sie machte ihren Kindern Brote und kaufte ihnen kleine blaue Bastelscheren. Ich hasste sie.

Meine Mutter drückte mich ins Auto, es roch nach uns, nach Rauch und alten Sitzen, hinten lagen unsere Taschen. Ich hatte mich längst daran gewöhnt, niemandem Tschüss zu sagen. Ich versuchte dort, wo wir gerade waren, überhaupt niemanden mehr zu finden, dem ich hätte Tschüss sagen wollen. Ich verstaute den Zeichenblock in meiner Tasche, dann sagte ich: »Du hast versprochen, dass wir diesmal bleiben!«

Sie fing gleich an zu brüllen. Ob ich wirklich hierbleiben wolle, bei diesen provinziellen Leuten, in diesem brütend heißen Landschaftskessel, der unsere Gehirne weichkoche und unsere Träume vaporisiere? Ich wusste nicht, was vaporisieren hieß, aber ich wusste, dass ich jetzt lieber nicht danach fragen sollte. Sie sagte, dass ich ohne sie gar nichts wäre, dass ich ihr das Leben schwer genug mache mit meinen kindischen Erwartungen, meiner verblendeten Harmoniesucht, meinem eingebildeten Sicherheitsbedürfnis. All das hätte ich von meinen toten Großeltern geerbt. Sie nicht, das sei das Prinzip der Evolution, alles überspringe immer genau eine Generation, Pech gehabt. Ich spuckte sie an und wollte es gleich noch mal tun, aber da veränderten sich ihre Augen. Es war, als wäre etwas Fremdes in sie reingekrochen. Ich kannte diesen Anblick, aber ich gewöhnte mich einfach nicht daran. Sie rüttelte am Lenker und knirschte mit den Zähnen. Zwischendurch stieß sie Schreie und Flüche aus, dann trat sie fest aufs Gas. Es drückte mich in den Sitz. Sie fuhr über rote Ampeln und raus auf die Landstraße. Schlenkerte auf der Fahrbahn hin und her und schrie: »Ich fahr uns einfach tot, ich fahr uns tot, ich fahr uns tot!«

Da schrie ich, dass ich nicht sterben wolle. Sie legte eine Vollbremsung hin. Hinter uns scherte jemand gerade noch aus, um nicht auf uns zu krachen. Ich schrie noch lauter und spuckte wieder, der andere hupte wie wild und überholte uns. Meine Mutter stieg aus, mitten auf der Straße, lief ums Auto, riss die Beifahrertür auf, zerrte mich raus und schubste mich in den Graben. »Ohne mich verreckst du eh«, schrie sie, stieg wieder ein und fuhr weg.

Ich heulte und bekam kaum Luft. Irgendwann sah ich mich um. Im Graben lag Müll, verrottetes Papier, Dosen und ein toter Vogel. Im Vorbeifahren wirken Gräben viel sauberer, dachte ich. Erst wenn man genau hinsieht, ist alles voller Abfall. Wie bei uns.

Der tote Vogel hatte keine sichtbare Verletzung. Er war einfach nur tot. Wie der wollte ich es machen und blieb auch liegen. Ich hielt die Luft an. Wann kommt der Tod? Der Übergang kann nicht so schlimm sein, dachte ich, einfach kurz schwarz und dann weg. Ich hatte Angst vorm Sterben, aber noch mehr Angst hatte ich vor dem Leben. Vielleicht war der Tod nur wie vom Fünfer springen: furchterregend in der Vorstellung, unendlich befreiend in der Wirklichkeit.

Doch irgendwann holte ich wieder Luft. Darüber war ich froh und traurig zugleich. Und heulte wieder. Mein Leben war scheiße. All die Kinder, die jetzt in der Schule saßen. Ich hasste sie. Sie hatten keine Ahnung, wie es einem gehen konnte im Leben. Bei ihnen war alles so perfekt. Langweiler. Mein Leben war viel krasser als ihres. Ich hätte es ihnen gern gezeigt, mit Kamera von oben. Auf der Aufnahme heulte ich natürlich nicht, auf der Aufnahme schlug ich mich aus dem Graben, zog mein Taschenmesser aus dem Gürtel, bahnte mir den Weg durch das Gras, tötete ein Tier und briet es über einem eigens entfachten Feuer.

Ein Auto hielt an, und ich bekam einen Riesenschreck. Ich setzte mich schnell auf und versuchte so auszusehen, als wäre alles in Ordnung.

Eine Frau stieg aus und eilte auf mich zu. Sie wirkte wie die meisten Frauen. Wie irgendeine Mutter von irgendwem.

»Um Gottes willen, warum liegst du denn im Straßengraben? Was ist mit dir, was ist passiert, hat dich, wer hat, was ist, warum liegst du denn hier, brauchst du Hilfe?«

Ich guckte so normal wie möglich.

»Nee, alles okay.« Es sollte lässig klingen, aber es klang zittrig, was mir furchtbar peinlich war.

»Warum liegst du denn hier?« Sie sah mich verunsichert an. Auf der Gegenfahrbahn rauschte mit mindestens hundertachtzig ein Jeep vorbei, das Gras neben mir wurde von der Druckwelle flachgedrückt. Mein Haar flatterte und ihres auch.

»Ich warte hier nur auf meine Mutter.«

»Hier?« Sie sah sich um. Niemand zu sehen, nur Landstraße und Sommergräser.

»Ja. Wir waren spazieren, aber sie hat da hinten in dem Wald was verloren und ist noch mal zurückgelaufen.«

»Ach so?«, erwiderte die Frau. »Weinst du?«, fragte sie und wiederholte es gleich noch mal.

»Nein, ich hab nur was gesucht, und jetzt juckt irgendwie mein Gesicht.« Was redete ich da?

»Aha, gut, okay, dann, also.« Sie ging einen Schritt auf mich zu. Und wieder einen zurück. »Dann hoffe ich, dass deine Mutter bald da ist, und geh nicht so dicht an die Straße, das ist gefährlich.«

»Okay.«

»Okay. Tschüss, ja? Das ist hier wirklich gefährlich.«

»Ja. Tschüss!«

Sie blieb noch ein paar Sekunden stehen, und wir sahen uns einfach nur an. Ich dachte mir einen Faden zwischen unseren Augen, nahm eine Schere und schnitt ihn durch. Dann stieg sie ein und fuhr davon.

Ich konnte nicht mehr weinen und nahm mir vor, nie wieder wegen irgendwas zu heulen. Ich schämte mich, eine solche Katastrophe zu sein, dass sogar fremde Leute mitten auf der Landstraße anhielten und ausstiegen. Hier stieg sonst niemand aus, hier passierten höchstens Unfälle. Aber wahrscheinlich war ich einer.

Ich wartete den ganzen Tag an der Straße. Damit keine Leute mehr anhielten, ging ich weg von der Fahrbahn und dem Graben. Ich ging umher auf dem Feld, das an den Graben grenzte, sprach mit den Büschen und den Kohlköpfen und den Wolken und dem Himmel. Einmal kam ein Hase vorbei, und ich wünschte mir, dass er einfach blieb. Aber er lief wieder davon. In der Ferne sah ich Weinberge und Häuser und Bäume. Dahinter ging das Land immer weiter, bis über die Rundung des Planeten, und ich hätte gern gewusst, ob man die irgendwann spürt unter den Füßen, ob es dann rund wird unterm Schuh.

Ich unterteilte die vorbeifahrenden Autos in böse Autos und in gute, je nachdem, wie ihre Augen aussahen. Sie waren wie Fische mit Rädern, es gab Haie, und es gab Delfine. Die meisten Autos waren silber oder rot. Die silbernen waren arrogant, die roten gut drauf. Sie riefen mir zu, dass das Leben es trotz allem gut mit mir meine, ich würde schon sehen, und dass man überall hingehen könne und die Leute einem helfen würden. Die arroganten scherten sich nicht um mich, für sie war ich irgendein Mensch im unendlichen Universum, kleiner als ein Staubkorn in der Luft, und selbst die sah man nur im Gegenlicht. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass die silbernen recht hatten, sie waren direkter und stärker, und sie trauten sich, mir die Wahrheit zu sagen.

Ich hatte furchtbaren Durst und biss in einen Kohlkopf. Er war klein und noch nicht reif und machte mich nur noch durstiger. Ich überlegte, ob ich auf Trinkwasser stoßen würde, wenn ich nur tief genug grub. Ich buddelte mit den Händen eine kleine Kuhle, dann gab ich auf.

Es wurde feucht und dunkel, ich blieb da. Ich wusste, dass meine Mutter zurückkommen würde. Wenn es irgendetwas gab, an das ich mich halten musste, dann war es das Gebot, auf sie zu warten: »Wenn wir uns verlieren, bleib, wo du bist. Bleib genau dort, wo du bist, bis ich komme und dich finde.« Aber dieses Mal, vielleicht zum allerersten Mal, gönnte ich es ihr nicht, mich zu finden. Ich wollte gehen, wollte nicht mehr da sein, wenn sie zurückkehrte, nicht schon wieder. Ich wollte ihr wehtun. Doch schon im nächsten Moment wollte ich nur noch, dass sie mich endlich aufsammelte.

Sie kam, nachdem der Himmel längst schwarz geworden war.

»Ich bin erschöpft«, sagte sie. »Sprich nicht mit mir.«

»Ich auch«, sagte ich leise und drehte mich zur Beifahrertür, als wäre ich gar nicht richtig eingestiegen. Eigentlich hätte ich sie gern getröstet, wenigstens stumm ihre Hand berührt, aber es war, als stünde ich vor einem Zaun, von dem ich wusste, dass Strom drauf ist.

Nach einer Weile fuhren wir auf einen Rastplatz, parkten, kletterten über einen verbeulten Maschendrahtzaun und liefen so lange in den Wald, bis keine ekligen Taschentücher mehr am Boden lagen. Dort schlugen wir unser Zelt auf. Am nächsten Morgen fuhren wir wortlos weiter und landeten schließlich an der Tankstelle. Und da saßen wir nun und waren mal wieder unterwegs. Ohne zu wissen, wohin. Wie immer.

Ich leckte wie wild am Bum Bum, drehte mich zur Tankstellenshop-Scheibe um und streckte die Zunge raus, um zu kontrollieren, ob sie rot geworden war.

Meine Mutter hielt sich ihre kalte Coladose in den Nacken, warf den Kopf nach hinten und seufzte sehr laut. Ein Mann, der gerade den Laden verließ, sah uns an. Er ging auf einen gelben Sportwagen zu. Sie bemerkte seinen Blick gerade noch, als sie die Augen wieder öffnete, grinste ihn sofort an und rief: »Heiß, gell?« Ich sah ihren BH durch ihr Top hindurchschimmern. Meine Mutter und ich sagten nie »gell«, aber hier sagte man das so, und meine Mutter gab sich gern lokal, völlig egal, ob wir monate-, wochen- oder nur wenige Minuten lang an einem Ort blieben. »Kosmopolitisch nennt man das«, sagte sie achselzuckend, wenn ich sie fragte, warum sie das tat. Ich fand, ihre nachgeahmten Dialekte klangen unecht und bescheuert. Aber die anderen Leute schienen es gut zu finden. Die anderen Leute schienen im ersten Moment eh alles gut zu finden, was sie machte. Sie war gerade einmal sechzehn Jahre älter als ich.

Es gab dieses Lied, das auf einer ihrer Auto-CDs drauf war und das wir dauernd hörten. Sie hatte es mir schon tausendmal übersetzt. Ein Mann singt über eine Frau, die berühmt ist und schön und glamourös und mysteriös und die alle bewundern, aber die niemanden hat, an den sie sich wirklich wenden kann. Nur er, der Sänger, durchschaut sie, und er singt andauernd diese eine Zeile: But where do you go to my lovely, when you’re alone in your bed. Ich stellte mir vor, die Frau sei meine Mutter und der Sänger mein Vater. Dass meine Mutter nicht reich und berühmt war und ich meinen Vater nie kennengelernt hatte, spielte dabei keine Rolle. Mein Vater war der Sänger aller sehnsuchtsvollen Lieder, die wir hörten. Und immer besang er meine Mutter. Mal hieß sie Suzanne, mal Marianne, mal Emily, mal Sweet Jane, Joan of Arc, mal Baby Blue. Wenn er sang, spürte ich ihre Einsamkeit und seine Liebe zu ihr und die Tragik des Lebens. In diesen Momenten liebte ich sie beide und verzieh ihnen alles.

Die Leute fanden meine Mutter nicht nur jung und schön und aufregend, den meisten schien sie wie eine Art Messias. Ihr Trick war, dass sie die Menschen schon bei der ersten Begegnung blitzschnell analysierte. Sie suchte nach ihren Schwachstellen und verborgenen Sehnsüchten. Mit der richtigen Kombination aus Komplimenten und Lebensweisheiten sackte sie sie schließlich ein. Einmal sagte sie mir: »Komplimente, Blanca, sind das Beste. Natürliches Kokain. Es wirkt bei jedem, sofort hast du die Leute auf deiner Seite.«

Mir machte es eher Angst, fortan misstraute ich jedem, der mir etwas Nettes sagte. Es konnte einfach nur ein Trick sein.

Niemand, der für eine gewisse Zeit Teil unseres Lebens war, wurde ein echter Freund. Sie waren eher wie Jünger, die sich ein Heilsversprechen von uns erwarteten. Sie taten mir leid. Aus ihren Spießergefängnissen streckten sie ihre Hände nach uns aus, und wir klatschten sie im Vorbeifahren ab. Es war verwirrend: Ich beneidete andere Kinder um ihre Normalität und ertappte mich gleichzeitig immer wieder bei dem Gedanken, wie schrecklich es sein musste, nicht wir zu sein.

Natürlich, aber das verstand ich erst später, hatte die ganze Magie um uns vor allem damit zu tun, dass wir in das Leben der Leute reinrauschten und genauso schnell wieder daraus verschwanden. Wir ersparten ihnen die Enttäuschung. Andererseits waren die meisten Leute aber tatsächlich auch einfach zu blöd. Darin waren meine Mutter und ich uns ausnahmsweise mal einig.

Ich hatte mein Eis beinahe aufgegessen, und meine Mutter rauchte schon die dritte Zigarette. Wir beobachteten die Leute beim Tanken. »Siehst du, wie die dasteht? Auf jeden Fall Vaterkomplex, wahrscheinlich sehr erfolgreich im Beruf, schätzungsweise Anwältin. Nein. Maklerin. Da ist noch so was PR-mäßiges. Muss aufpassen mit Alkohol. Wird man der bis zum letzten Tag kaum ansehen, dass die trinkt. Wird schlagartig gelb. Falls es nicht der Speiseröhrenkrebs erledigt.«

»Hör auf, Mama«, sagte ich.

Sie kicherte in sich rein und zog an ihrer Zigarette, während sie die Frau weiter fokussierte. »Ich sehe nun mal, was ich sehe. Mir tut das doch auch leid für sie.« Sie zuckte mit den Achseln, legte die Kippe unter ihre Sandale und trat sie aus. Mir gefiel das leise Knistern, das dabei zu hören war.

Dann sah sie mich an. Auf meine Lippen.

»Gib mal her, ich will auch so rote Lippen.« Sie griff nach meinem Eis, biss einmal ab und rieb ihre Lippen an dem roten Überzug. »Hat’s geklappt?« Sie spitzte die Lippen und klimperte albern mit den Augen.

»Top«, sagte ich. Sie lachte. Ich nahm mir das Eis zurück. Es schmeckte jetzt nach Rauch.

Als wir in der Abenddämmerung von der Tankstelle fuhren, waren wir bis auf das Geld für die Kippen und die Drinks keinen Cent ärmer, dafür aber um ein repariertes Auto und drei Telefonnummern reicher. Typ eins, Typ zwei und Typ drei waren sich nicht zu blöd gewesen, uns zusätzlich zur kostenlosen Reparatur ihre Nummern auf einen Zettel zu schreiben und den Namen der Kneipe, in die sie nach Feierabend gehen würden. Meine Mutter ließ den Zettel an der nächsten Straßenecke aus dem Fenster flattern. Auf der Landstraße gab sie Vollgas. Von draußen peitschte feuchtwarme Abendwiesenluft ins Auto, in den Feldern zirpten ganze Armeen von Insekten, der Himmel färbte sich von rosa zu blau, und meine Mutter strahlte. »Nichts geht über ein funktionierendes Auto!«, rief sie gegen den Fahrtwind an, strich mir durchs Haar und sagte: »Worauf hast du Lust, nimm mal den Atlas, sag mir, wo es zur Autobahn geht, aber runter, in den Süden, Deutschland hat uns nicht verdient.«

Ich kletterte auf die Rückbank und zerrte den Atlas unter dem Zelt hervor, das dort in all seine Einzelteile zerlegt herumflatterte und die Sonnencreme, den Atlas, ein Messer, ein paar Dosen Thunfisch, alte Kassenbons, Gummibänder, Tampons, Klopapier und leere Zigarettenschachteln unter sich verbarg.

Ich kletterte wieder nach vorn und las ihr die Namen von ein paar Orten vor, die im Süden lagen.

Sie fragte immer: »Ist da schon Meer?«

Ich: »Nein.«

Sie: »Dann noch weiter runter!«

Bei Genua sagte sie: »Stopp.«

»Können wir da zelten?«, fragte ich.

»Man kann überall zelten«, sagte sie.

Wir hatten das Zelt aus dem Keller von einem Typen mitgenommen, bei dem wir ein paar Wochen gewohnt hatten. Ich fand, es war Diebstahl. Meine Mutter fand das nicht.

Sie, als wir im Keller standen: »Das braucht der nicht mehr.«

Ich: »Es ist aber seins.«

Sie: »Er braucht es nicht mehr.«

Ich: »Woher willst du das wissen?«

Sie: »Sachen, die Leute in den Keller tun, brauchen sie nicht, Blanca. Die Leute haben viel zu viel Scheiß und kapieren es nicht mal. Sie fragen sich nur dauernd, was sie eigentlich so belastet. Die sollten uns danken, dass wir es ihnen abnehmen.«

Wir fuhren die Nacht durch. Ich wachte nur ein Mal auf, um an einer Raststätte aufs Klo zu gehen und einen kalten Zitroneneistee zu trinken, auf dem schon alles auf Italienisch geschrieben stand und der tausendmal besser schmeckte als in Deutschland. Dann schlief ich wieder ein, und als ich das nächste Mal die Augen aufschlug, sah ich Palmen am Himmel vorbeiziehen. Meine Mutter legte ihre Hand auf meinen Kopf. »Alles neu«, sagte sie und strahlte mich an. Ich blinzelte. Es raschelte, und sie hielt mir ein frisches Croissant vor das Gesicht. Die Brösel fielen mir auf die Lippen, ich öffnete weit den Mund, sie ließ es hineinfallen, ich biss hinein, und die süße gelbe Creme quoll in meinen Mund. Sie hatte es nur für mich besorgt, sie frühstückte nie.

Wir fuhren am Meer entlang.

Meine Mutter griff nach einer CD aus der Ablage und schob sie in den Player. Mein Vater sang First we take Manhattan, then we take Berlin. Ohne dass sie mir den Text übersetzte, wusste ich, worum es ging: um sie und mich, wir saßen auf zwei wilden Pferden, ihres größer als meins, und ritten nebeneinanderher auf die Sonne zu.

Zwei

Ich mache Musik an. Das habe ich in der sechsten Klasse perfektioniert: Musikhören, obwohl keine Musik da ist. Ich kam wieder in eine neue Schule, die dritte in jenem Jahr, und in meiner Klasse hatten alle einen MP3-Player. Ein paarmal auf dem Heimweg teilte ein Junge seinen mit mir. Immer ein Lied für ihn, eins für mich. Ergab für mich immerhin fünf Lieder, bis die Kreuzung kam, an der er abbiegen musste und ich musiklos nach Hause ging. Mit Musik im Ohr wird alles bedeutsam. Plötzlich sieht man sich von oben, von unten, von allen Seiten gleichzeitig, jeder Schritt federt nach, und man spürt alles auf einmal. Es ist, als ob man einen Film sieht. Als ob man in dem Film ist. Mit Musik im Ohr versteht man endlich, was man nie erklären kann.

Ich wünschte mir einen MP3-Player. Und bekam nur eine Winterjacke aus dem Kinder-Secondhand. Meine Mutter sagte, ich müsse einsehen, dass es wichtiger sei, nicht zu erfrieren, als auf der Straße Musik hören zu können. Die Jacke hatte ein hässliches pink-oranges Muster, das ich mit dem Edding unseres Mitbewohners schwarz übermalte. Der Edding war leer, bevor das ganze Muster übermalt war, und auf dem Rücken blieb eine handgroße Stelle Hässlichkeit. Ich vollendete mein Werk mit schwarzem Kugelschreiber. Sah insgesamt ziemlich beschissen aus. Was die Musik angeht, fing ich einfach an, sie mir vorzustellen. Ich habe das auch mal mit Essen probiert, aber das funktioniert nicht. Der Körper merkt, dass im Magen nichts ankommt. Das macht alles nur noch schlimmer. Aber mit Musik geht es, man kann sie perfekt wiedergeben im Kopf, wenn man ein Lied oft genug gehört hat und sich wirklich konzentriert. Man darf nur nicht anfangen mitzusingen, das klingt erbärmlich, als ob man einen Witz ohne Sinn für die Pointe nacherzählt. Aber wenn man die Musik in sich drinbehält, ist es gut.

Ich weiß nicht, wo meine Mutter jetzt ist. Ich sehe sie durch die Straßen jagen, in der Dämmerung, mit ihrem blauen Schal und dem wehenden Mantel und den gruseligen Augen. Vielleicht hockt sie in einer Hafenkneipe, vielleicht verkauft sie sich als Nutte, vielleicht hat sie Freunde, von denen ich nichts weiß, oder sie hat sich schnell welche gesucht. Höchstwahrscheinlich hat sie auf der Straße jemanden kennengelernt. Irgendjemanden, der ein Gästezimmer hat oder einen Kellerraum mit Schlafsofa. Die einen sind gute Elektriker, die anderen begabte Anwälte, talentierte Schneider oder hervorragende Köche – meine Mutter ist so eine Art Real-Life-Schauspielerin. Ihre Bühne ist die Straße, ihr Gehalt besteht nicht aus Scheinen und Münzen, sondern aus Sachwerten, Kost und Logis. Sie tischt den Leuten irgendeine Geschichte auf, wieso wir gerade keine Wohnung haben, und schon organisieren sie uns irgendetwas. Für den Rest gibt es Gelegenheitsjobs. Manchmal arbeitet meine Mutter als Friseurin. Sie hat sich in einem Laden für Friseurbedarf einfach eine Grundausstattung gekauft. Ein Zertifikat will eh niemand sehen. Schminken kann sie auch. Aber am besten ist sie darin, Lebensratschläge zu erteilen, und dafür geben die Leute ihr sowieso alles. Manchmal verteilt sie auch Tropfen, die sie selbst zusammenmischt und in denen nichts Besonderes drin ist, nur Wasser und Schnaps. Aber die Leute glauben dran.

Jetzt mache ich Klaviermusik an. Leise Klaviermusik, Töne wie Glastropfen an Zweigen. Auf einer Bank an den Gleisen sitzt im roten Sonnenlicht ein Mann, er sitzt nur da und guckt. Und weg ist er. Dunkelgrüne Abendwiesen. Heubahnen. Ein Fluss. Zwei Jungs am Ufer, einer fuchtelt mit einem Ast. In weiße Hüllen gekleidete Autos auf einem Autozug. Ein Schaf. Wieder Felder. Vor einem Stall grast ein braunes Pferd, erst einen Moment später erkenne ich, dass ein Junge rücklings draufliegt und in den Himmel guckt. Was denkt der? Ich möchte auch so daliegen.

Und weg ist er. Holzverschläge. Jägerhochsitze. Man kann eigentlich überall wohnen, man muss einfach nur einziehen. Es gibt so viel Platz. So viel Feld, Wald, Wasser. So viele verfallene Hütten auf Wiesen. Schornsteine. Tonnenweise Altpapier, bunte, zerdrückte Kartons. Gabelstapler. Güterzüge. Marode Fabrikhallen.

Güterzüge auf einem Abstellgleis. Johanna, mein Leben ohne dich ist wie der Strand ohne Sand, steht in riesigen Lettern auf einem Waggon. Mir ist flau. Fühlt sich an wie eine Mischung aus Erschrockensein und Sehnsucht. Habe ich schon mein ganzes Leben. Zum Glück nicht immer. Meistens nur zur Dämmerung. Meine Mutter sagt, das ist die große Traurigkeit. Ich hab sie mal gefragt: Welche Traurigkeit? Sie hat gesagt: die des Lebens. Einige haben die, andere nicht. Wenn man sie hat, entkommt man ihr nicht. Man fühlt nur dauernd diese unbestimmte Sehnsucht nach etwas, das nicht zu bekommen ist, und weil diese Sehnsucht unauflösbar bleibt, sammelt sie sich als Traurigkeit im Bauch. Sie hat sie auch. Und deshalb haben wir auch beide diese Augenringe. Ich will, dass die weggehen, habe ich ihr gesagt. Aber sie hat gesagt, das ist auch so eine Dummheit, vor der ich mich hüten muss: alles wegmachen zu wollen, was mir nicht gefällt.

Dabei macht sie selbst alles weg, was ihr nicht gefällt, sonst würden wir nicht ständig umziehen.

Ich stelle mir vor, wie meine Mutter in ein paar Tagen in die Wohnung zurückkommt, vielleicht auch schon früher. Vielleicht genau in diesem Moment. Sie denkt, ich sei nur kurz rausgegangen, geht duschen, räumt auf, reißt die Fenster auf, zieht sich was Schönes an, redet laut mit den Mitbewohnern, tut so, als sei nichts gewesen. Sie ignoriert die Scherben, die sicher eh schon jemand weggeräumt hat, und sie ignoriert alle Nachfragen zur ramponierten Badezimmertür. Sie strahlt und klemmt die Zigarette zwischen die Zähne und verlässt sich darauf, dass ihre Verdrängungstaktik funktioniert. Wie immer.

Aber nichts ist wie immer. Und irgendwann merkt sie es. Merkt, dass ich nicht mehr nach Hause komme. Sucht nach meiner Tasche und findet sie nicht. Sucht ihr Geld und findet es nicht. Kapiert: Ich bin weg. Ohne Nachricht. Mit der ganzen Kohle.

Der Zug fährt langsamer.

Ich muss aufs Klo. Meine Tasche nehme ich mit. Wenn die weg ist, bin ich erledigt. Als ich mich zu meiner Tasche runterbeuge, sehe ich unter dem Sitz einen Kinderfuß. Ein Mädchen fläzt auf dem Boden. Ich spähe durch die Lücke zwischen Fenster und Sitz nach hinten. Die Mutter schläft mit der Stirn ans Fenster gelehnt, ihr Mund steht leicht offen. Sie sieht erschöpft aus.

Das war unser Alltag, wenn wir uns nicht gerade irgendwo ein Auto geschnorrt hatten: fläzen und Zug fahren. Mein Kopf auf unserem Gepäck. Warten auf die nächste Stadt, die nächste Ansage meiner Mutter, unser nächstes Leben. Einmal, da war ich noch nicht in der Schule, wollten wir nach Bremen. Wir saßen in einem wahnsinnig lahmen Regionalzug, der alle zehn Minuten irgendwo anhielt. Da griff meine Mutter plötzlich unter den Sitz, wo ich mein Lager gebaut hatte, und sagte: »Wir sind da.«

Es war nicht Bremen. Es war irgendein Ort, an dem der Bahnhof ein Haus ohne Fensterscheiben war, der Stationsname halb runtergerissen. Wir fuhren eine Weile bei einem Bauern auf dem Traktor mit, schliefen ein paar Nächte bei einem alten Ehepaar im Keller auf zwei Matratzen am Boden und zogen zu einer alleinstehenden Frau in ein verfallenes Haus. Abends gab es Käsefondue in einem braunen Tontopf. Ich weiß fast nichts mehr aus dieser Zeit. Was wollten wir da? Hatte meine Mutter dort einen Job gehabt? Wo hatten wir vorher gewohnt? Was kam danach? Ich weiß nur noch, dass das Brot bei der Frau so hart war, dass ich es in meine Milch fallen ließ, bevor ich es in den Käse tunkte. Unser Bett stand auf dem Speicher an einem runden Fenster. Aus dem Fenster sah man ein Rapsfeld und dahinter Bäume, die so laut rauschten wie das Meer. Einmal brach ich auf, um es zu suchen. Ich ging immer weiter durch die Felder, hörte es lauter werden und lauter, fand es aber nicht. Am lautesten Punkt blieb ich stehen und sah nach oben. Ein Meer aus Blättern.

Mehr weiß ich nicht.

Es hätte keinen Sinn, meine Mutter danach zu fragen. Immer wenn ich sie nach früher fragte, mimte sie die Überraschte. Als hätte sie noch nie vom Konzept Erinnerung gehört. Sie sagte, sie vergesse das meiste einfach gleich wieder. Dabei guckte sie, als wäre sie stolz drauf. Lächelte mich mitleidig an und nannte mich »arme kleine Nostalgikerin«. Sagte mir, dass das Leben jetzt stattfinde. Dass wer sich an der Vergangenheit festhalte oder um die Zukunft sorge, eine arme Geisel seiner Ängste sei und in Wahrheit nur noch eins wolle: endlich sterben.

Ich nehme meine Tasche und gehe den Gang runter. Im Zugklo stinkt es nach Urin und Schweiß. Ich betrachte mich im Spiegel. Blass, strähnige Haare, Augenringe. Mein Mund ist irgendwie schief. Unterm Auge habe ich eine rote Stelle.

Das bin ich. Mit fünfzehn. In noch mal fünfzehn Jahren bin ich dreißig. Was ist dann?

Letztes Jahr hab ich zum ersten Mal mit jemandem geschlafen, und direkt danach hab ich gedacht: Okay, das war’s jetzt also. Vorher schien es mir unerreichbar weit entfernt, als würde es nie passieren. Und dann war es auf einmal da. So schnell geht alles vorbei. Falls ich mit dreißig noch lebe, werde ich genau wissen, was von heute an alles passiert ist. Ich will, dass es perfekt wird. Mein Leben ist ab jetzt ein leeres Haus, und da kommt nur noch rein, was mir gefällt. Als Allererstes Toni und Karl.

Wir haben Toni und Karl kurz nach unserem Aufbruch aus Genua entdeckt. In der Dämmerung kamen wir an einer Art Insel oder Halbinsel vorbei. Ein riesiger Berg im Meer.

»Da gehören wir hin«, rief meine Mutter, »ich spüre es«, und bog ab. Der Satz war mir genauso vertraut wie die Pannen unseres Schrottautos, aber dieses eine Mal hatte sie recht.

Tonis und Karls Haus war eines dieser Häuser, die exemplarisch für das Leben standen, das wir niemals führen würden. Vor denen man stehen bleibt, seufzt und denkt: Wenn ich’s mir wenigstens mal in Ruhe ansehen dürfte! Dann aber schüchtern weitergeht. Es sei denn, man ist meine Mutter. Meine Mutter geht niemals schüchtern weiter.

Sie klingelte und fragte, ob wir uns den Garten ansehen dürften, sie liebe Gärten am Meer, ihr Großvater sei Landschaftsgärtner gewesen. Karls Gesichtsausdruck verriet, dass er ihr kein Wort glaubte, was ihn mir sofort sympathisch machte. Er wirkte streng, aber er bat uns herein. Er öffnete eine Flasche Wein, servierte kalte Nudeln, und die beiden redeten die Nacht durch. Wir blieben den ganzen Sommer. Sie mochte Karl wirklich und Karl sie. Obwohl sie so verschieden waren. Er die Ordnung, sie das Chaos. Wenn man wissen wollte, was man in einer bestimmten Situation machen sollte, musste man nur beide nach ihrer Meinung fragen und sich für den Mittelweg entscheiden. Genau so müssen Eltern sein, da waren Toni und ich uns einig. Einzeln kaum auszuhalten, aber in der Kombination ideal.

Karl kaufte mir ein paar ordentliche Anziehsachen und lehrte mich, dass ich alles, was ich anfing, zu Ende bringen sollte. Er sagte dauernd Sätze wie: »Alles, was benutzt wird, kehrt wie von selbst an seinen angestammten Platz zurück« oder »Mach es gleich, sonst machst du es nie.« Toni beschwerte sich oft darüber, wie streng er war, und ich mich natürlich auch, aber insgeheim befolgte ich seine Regeln gern, sie gaben mir das Gefühl, etwas im Griff zu haben. Toni hingegen verehrte meine Mutter. Dafür, dass ihr solche Regeln völlig egal waren und sie lachend die Augen verdrehte, wenn Karl wieder einmal eine Predigt darüber hielt, wie wichtig Struktur und Ordnung im Leben seien. »Die Kinder sollen machen, was sie wollen, und alles selbst rausfinden«, sagte sie, zuckte mit den Schultern und steckte sich eine Zigarette an – beziehungsweise ließ sich von Karl eine anstecken.

»Das tut euch gut«, sagte Karl mir einmal, als wir abends zu zweit auf seinem Boot rausfuhren, »Stabilität, Normalität, Halt, Gemeinschaft, das habt ihr nötig, du und deine Mutter.«

Irgendwann wiederholte er es in Anwesenheit meiner Mutter. »Wir haben überhaupt nichts nötig«, erwiderte sie, und dann lachte sie sehr laut und ließ sich in seinen Arm fallen.

In meiner Erinnerung trug ich den ganzen Sommer lang nichts als meinen Badeanzug. Meine Haut war so braun, dass meine Zähne und Fingernägel dagegen weiß aussahen wie Milch. Ich zwang Toni dazu, mit mir ausschließlich Italienisch zu sprechen, obwohl er mit seinem Vater und mit meiner Mutter Deutsch redete. Karls und Tonis Deutsch klang anders als unseres, ewig gut gelaunt, wie ein Spiel mit lauter fröhlichen Loopings und Rampen und Trampolinen. Sprachen sie es untereinander, klang es noch besser gelaunt, nur verstand ich sie dann nicht mehr. Meine Mutter erklärte mir, dass es Schweizerdeutsch war. Das wollte ich auch noch lernen. Sobald ich Italienisch konnte. Ich hatte mir ein Heft besorgt, in das ich die Italienisch-Vokabeln reinschrieb. Auf die Idee war ich von allein gekommen und fand mich ziemlich schlau.