Über Siegfried Lenz

Siegfried Lenz (1926-2014) zählt zu den bedeutenden und meistgelesenen Schriftstellern der deutschsprachigen Literatur. Für seine Bücher wurde er mit vielen wichtigen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main, dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und mit dem Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte 2009. Seit 1951 veröffentlichte er alle seine Romane, Erzählungen, Essays und Bühnenwerke im Hoffmann und Campe Verlag.

Es hilft nichts: immer führt da die helle, sandfarbene Straße am Fjord entlang, staubgepuderte Telegraphendrähte summen über den Klippen, zerschneiden das Ufer in dünne Scheiben; ein steinübersäter Hang fällt zur Straße ab; über dem Boden liegt ein bitterer Geruch von zähem Gewächs. Die Luft ist windlos. Und immer und jedesmal liegen drei Männer flach auf dem Hang mit ihren Waffen, und ein anderer kauert auf dem Felsvorsprung, von dem aus er die gezackten, scharfkantigen Wände des Tunnels erkennen kann.

Erinnere dich doch mit mir: wir lagen auf dem harten Hang, wir lagen hoch über dem Fjord vier Stunden schon, in den Felsen knackte die Hitze, vom Geröll traf ein glühender Hauch das Gesicht: kein Zeichen von Nicolas. Die eingesprengte Straße mit den schrägen Schatten der Sprenglöcher lag unter einem Schleier von Hitze und Staub, die Augen brannten, die

Auf den fleckigen Klippen stritten und beratschlagten sich die Möwen, ein auslaufender Kutter schnitt eine weiße Linie in den Fjord, der Fluß drängte die treibenden Stämme zur Mündung. Daniel beobachtete unter geröteten, halbgeschlossenen Lidern den Felsvorsprung, auf dem Nicolas kauerte, schwarz und reglos, nur ein Punkt am Saum unseres Blickfelds; er beobachtete ihn unablässig, auch wenn er mit uns sprach: Nicolas rührte sich nicht. Die Straße, die er bis zum Tunnel übersehen konnte, blieb leer.

Ich lag hinter euch, hinter dir, Daniel, und hinter Christoph, ich sah die Spannung in euren Nacken, sah die bläulich glänzenden Gewehrläufe, die seitlich unter den Körpern herausragten; keine Kühle erreichte uns dort, nicht die Kühle des Schmelzwassersturzes, den wir ständig hinter uns hörten, nicht die Kühle der Schneefelder auf den baumlosen Kuppen. Mein Hemd war naß über der Brust, ich schwitzte an den Schläfen und am Gesäß, ein warmes, rinnendes Gefühl im Unterleib warnte mich, beunruhigte mich immer wieder: besorgt betastete ich meine Hose, schob mich zurück und erleichterte mich schon wieder.

Wir rauchten nicht, wir tranken und aßen nicht während der Stunden am verbrannten Hang, ich hatte Schmerzen in meinem Körper, ich spürte vielleicht die Wunden, die er erhalten könnte, sobald Nicolas sein Zeichen gegeben hätte … Daniel und Christoph flüsterten, ihre Gesichter näherten sich einander, verdeckten die Wurfgranate, die in einer Mulde vor ihnen lag, mit Steinen umstellt. Das Schmelzwasser strömte ohne Stauung, fiel dem Fjord entgegen, schäumte in unserm Rücken

Sie hatten mich zum ersten Mal mitgenommen, Daniel und Nicolas, nicht Christoph; sie hatten erfahren, daß einer in die Stadt kommen sollte, der noch mächtiger war als der Kommandant – du weißt, Daniel, wen ich meine: den alten eigensinnigen General mit den künstlichen, silbernen Kniescheiben –, und wir waren früh genug am Hang über der Straße, um ihn zu empfangen. Von den Schneefeldern waren wir herabgekommen, am Rand des Steinbruchs entlang, wir hatten die Stadt umgangen, unsere Stadt – die wir nicht mehr besaßen, die jedoch uns besaß –, waren zu den Dreifingerfelsen abgestiegen, wo Daniel uns einweihte … ich lag hinter ihnen in der Sonne, unsere Körper schmiegten sich an warmes Geröll, unsere Blicke suchten Nicolas, den Maschinisten: er bewegte sich nicht.

Vor der Flußmündung arbeitete der Bagger, senkte die rostige Eimerkette fauchend ins Wasser, zog sie scharfzahnig rüttelnd über den Boden und trug ihn ab. Die fremden Posten auf der Brücke waren einmal abgelöst worden, eine neue Ablösung stand bevor. Auf dem Lagerplatz des Sägewerks manövrierten Lastwagen und fuhren zu einem Karree zusammen. Der Kommandant kehrte von einem Ritt zurück. Der Bus zur Küste fuhr ab, wendete vor den Schuppen, fuhr Rathausplatz–Schule–Wasserturm, ohne daß jemand dazustieg, hielt zum letzten Mal an der Brücke, bevor er unter uns vorbeikam

Eine Trauergesellschaft stieg den steinigen Pfad zum Friedhof empor, die Träger setzten auf halber Höhe den Sarg ab, ruhten sich aus, einer wurde ausgewechselt …

Christoph stöhnte, er öffnete das Hemd bis zum Gürtel, drehte sich auf die Seite; er war klein und rosig, er mißbilligte immer noch, daß ich dabei war, obwohl ich ihm keinen Anlaß gegeben hatte – es sei denn, daß er in mir den Neuen sah, dem zu vertrauen er sich nicht entschließen konnte. Seinen Einwand hatte Daniel zurückgewiesen mit einer einzigen Bewegung seiner zarten Hände.

Auf einmal gab Nicolas ein Zeichen, doch er berichtigte sich sofort: es waren lediglich zwei Motorräder mit Beiwagen; die Soldaten trugen Staubbrillen, sie saßen steif, mit lippenlosen Gesichtern auf den Maschinen, sie kehrten von einer Patrouille in die Stadt zurück. Langsam fuhren sie vorüber, und ich hielt das Gewehr im Anschlag, zielte auf Mund, Augen, Mund, drehte mit …

Was gehört noch zum Anfang, Daniel, damit du ihn nicht bestreitest? Der Entwurf des gestaffelten Blickfelds: der verbrannte Hang, die sandgraue Küstenstraße mit den dreieckigen Schatten, die fleckigen, unterwaschenen Klippen, der reglose Fjord mit seinem dunklen Wasser, das Spiegelbild der Schneefelder auf den kahlen Kuppen; sodann die Bestimmung der Geräusche innerhalb des Blickfelds: das Rütteln der Eimerkette, die Dampfstöße des Baggers, die Detonationen im Steinbruch, das gellende Streitgespräch der Möwen, das Murmeln und der unaufhörliche Sturz des Schmelzwassers; schließlich gilt es die Anwesenheit von drei Männern auf dem Hang und eines Mannes auf dem

Auf einmal winkte mir Daniel, ich schob mich neben ihn, und er deutete mit den Augen auf ein Bild, das er aus einer Zeitung ausgeschnitten und vor sich auf den Boden gelegt hatte, eine Photographie des Generals, den wir erwarteten; behutsam strich Daniel mit dem Handrücken über das Bild, glättete es, beschwerte es mit kleinen Steinbrocken an den Rändern, blickte schweigend auf das Gesicht hinab, das ein grober Raster entstellte: es war ein fleischloses, zerknittertes Schildkrötengesicht, das List verriet, Verdrossenheit, eine alte Enttäuschung und beharrlichen Eigensinn. Das Gesicht des Generals ließ auf Unbeliebtheit an höheren Stellen schließen, auf eigenmächtig geänderte Befehle, auf mürrischen Widerspruch; es machte seine häufigen Versetzungen von Kommando zu Kommando glaubhaft. Die Photographie war auf einer Inspektionsfahrt aufgenommen worden: mißmutig blickte der General auf ein ausgefahrenes Geschützrohr, das die Abendröte über der Küste bedrohte, er trug keine Auszeichnung … Christoph hob den trockenen Farnstengel, mit dem er im Boden gekratzt hatte, ließ ihn langsam über der Photographie kreisen, stieß plötzlich zu und durchbohrte den langen, faltigen Schildkrötenhals des Generals, worauf Daniel das Bild wegriß, es sorgfältig zusammenkniff und in seine Brusttasche schob.

Gleichzeitig hoben wir die Gesichter, spähten zu Nicolas hinüber, doch Nicolas gab nicht das Zeichen. Ich dachte daran, daß ich auf die Reifen schießen mußte, so, wie Daniel es vorgesehen hatte in seinem Plan; ich versuchte an nichts anderes zu denken, wollte nichts anderes wahrnehmen: tief wollte ich den Lauf senken, die grauen, lehmverkrusteten Reifen bis zu der gedachten Linie heranrollen lassen, feuern und im Feuern

Ich verstand nicht, warum Daniel mich, ausgerechnet mich dazu ausersehen hatte, ihn und die anderen zu begleiten; er hatte mich angesehen mit einem Blick voll knapper, schweigender Aufforderung, genau so wie Christoph, wie Nicolas; er hatte weder die Hand gehoben noch seine Entscheidung begründet, und daran hatten wir uns gewöhnt. Es war nie anders gewesen: wenn er einen von uns brauchte, trat er neben ihn oder vor ihn, wartete geduldig, bescheiden fast, bis der Ausgesuchte ihn ansah, nickte nur stumm und trat zum nächsten – nie werde ich vergessen, wie Daniel die Männer auswählte, die er brauchte. Weich und unhörbar war sein Schritt, unvermutet tauchte die schmächtige, gebeugte Gestalt auf, das junge Gesicht mit seiner Verschlossenheit und dem resignierten Lächeln schob sich ins Blickfeld, eine kleine nickende Bewegung des Kopfes, und die Entscheidung, Daniels Entscheidung, war gefallen. Solange ich zu ihm gehörte, hat sich niemand seinen wortlosen Entscheidungen widersetzt. Warum hatte er mich ausgewählt?

Die Luft zitterte über dem Hang, der flimmernde Atem des

Dann hockte sich Christoph hin, umschloß seinen Hals, öffnete die Lippen und würgte, warf den Kopf hin und her und machte eine Bewegung gegen den Schmelzwassersturz, sagte: »Er kommt jetzt nicht. Er kommt frühestens in der Dämmerung. Ich hole uns etwas zu trinken.« Er sagte es und zögerte, der kleine rosige Mann mit dem glattrasierten Gesicht und den hängenden Schultern, der Daniels Stellvertreter war seit Anbeginn, er wagte nicht, das zu tun, was er angekündigt hatte, hockte wartend da, lautlos, die schmalen, geblendeten Augen auf Daniel gerichtet, der schweigend Nicolas beobachtete und sich weder umwandte noch etwas sagte. Christoph gab noch nicht auf, er drehte sich auf den Fußsohlen zu mir um, suchte

Ich weiß, Daniel, ich weiß genau, daß du schon jetzt deine Einwände hast, mich berichtigen möchtest in deinem Sinne, und zwar nicht, weil du es für nötig halten könntest, dich zu rechtfertigen, sondern weil du dich zwangsläufig für eine andere Auswahl der Begebenheiten entscheiden müßtest. Ich war mir von Anfang an klar darüber, daß wir nicht übereinstimmen würden; wer zu erzählen beginnt, muß eine Auswahl treffen: du deine, ich meine Auswahl. Und darum wird vielleicht die Wahrheit unserer Geschichte durch die Abweichungen bestätigt …

Aber die Ankunft der alten Fähre würdest du doch wohl auch erwähnen, du entdecktest sie zuerst, als sie mit geringer Krängung tiefliegend hinter der alten Insel auftauchte, weiß vor bleifahlem Hintergrund, in bedächtig ausgefahrenem Halbbogen in den Fjord lief, von der enttäuschten Gier der Möwen verfolgt. Es war die Abendfähre. Christoph hob sein Glas, sah hindurch und reichte es mir, und ich erkannte auf den ersten Blick die Soldaten auf dem Oberdeck, junge, fröhliche Soldaten mit Ausrüstung und Gepäck, die die Fähre in unsere Stadt brachte. Als sie querab von uns war, erkannte ich auch Ole Dagermann in der Nock des Ruderhauses, den Steuermann, und neben ihm einen Offizier der Besatzung; der Offizier sprach heftig auf Ole Dagermann ein.

Wir beobachteten, wie die Fähre anlegte, der mächtige Bug

An den Schuppen vorbei marschierten die Soldaten in ihre vorbereiteten Quartiere. Der Bug der Fähre schloß sich, der einarmige Storberg kehrte zurück, tastete sich an dem gelackten Rumpf entlang zum Landungssteg. Von der Küste her näherte sich ein einzelnes Flugzeug, ein blitzender Strahl sprang von der Kanzel ab, als es in der Sonne wendete und hoch über die brennenden Schneefelder nach Süden drehte, zur Hauptstadt. Nicolas lag flach an den Boden gepreßt und gab kein Zeichen …

Es ist wohl möglich, Daniel, mit der Dämmerung über dem Fjord zu beginnen und die Zeit der Erwartung unerwähnt zu lassen; vielleicht würde dein Anfang auch sogar mit dem Augenblick zusammenfallen, in dem die Krüppelfichten am Hang eine drohende Haltung einnahmen, die Felsbrocken eine Kette bildeten, die uns den Fluchtweg abschnitt, das Murmeln des Schmelzwassers nur die Schritte einer Streife deckte: die langsame Dämmerung wäre auch eine Möglichkeit, zu beginnen. Aber jedem Anfang geht noch etwas voraus: wir lagen dort schon auf dem Hang, bevor unsere Geschichte begann,

Jedenfalls schoben wir uns in der Dämmerung dicht an den Rand der Straße heran, entsicherten die Gewehre, Daniel machte die Granate wurfbereit. Säulen von Insekten stiegen auf und senkten sich in der Luft. Über den Fjord zog ein leichtes Brausen, ohne daß sich die Oberfläche des Wassers riffelte. Weit oben zwischen den Föhren löste sich ein Stein, polterte den Hang hinab, traf mit hellem Knall auf einen Felsen und blieb liegen. Nicolas kam zu uns und legte sich wortlos hin, wir hätten sein Zeichen nicht mehr erkennen können. Von den Bergen senkte sich die Kühle auf uns herab, auf dem Bagger vor der Flußmündung wurden Positionslichter gesetzt.

Jeder von uns suchte sich jetzt der Nähe des andern zu vergewissern, schob den Ellenbogen zur Seite, lauschte auf vertrauten Atem, suchte eine kleine, bestätigende Berührung; denn in der Dämmerung erhob und bewegte sich alles, was die Sonne niedergezwungen hatte: dort glitt auf einmal etwas über die Klippen; jemand, der unsichtbar blieb, schlug tickend Steine zusammen; Hundegebell schien uns eingeschlossen zu haben; und was beabsichtigte der gedrungene, sprungbereite Schatten in der Mulde? Woher kam das schmale, tastende Licht, das sich am Fjord entlang näherte und über die Felswände schwenkte, verschwand und wieder zum Vorschein kam, wieder verschwand und dann aus dem Tunnel hervorstieß, kreisend die schwarze Stelle erfaßte, wo das Wasser den Stein geöffnet hatte und schwappend aus ihm heraustrat? Es war Daniels Hand, die sich plötzlich auf meinen Unterarm legte, es war seine ruhige, monotone Stimme, die sagte: »Du mußt auf die Reifen halten. Es darf ihm nichts geschehen. Wir brauchen ihn«, und als ich mich zu ihm umdrehte, hockte er

Die schmalen, rechteckigen Lichtschlitze der Scheinwerfer bogen um den Felsvorsprung, auf dem Nicolas gewartet hatte, kamen langsam näher, tasteten in der Biegung über die kniehohe Betonmauer, die die Straße gegen die Fjordseite sicherte, schwenkten zögernd über die von Sprenglöchern durchzogene Wand; die ausgestochenen, harten Lichter senkten und hoben sich und glitten kreisend über die hochgelegenen Klippen, und dann hörten wir das schleifende Geräusch des Motors, glaubten bereits die Stöße und die Erschütterungen in unseren Körpern zu spüren, die das fahrende Auto auf der Straße hervorrief, und jetzt fühlte ich einen heißen, saugenden Luftzug im Nacken, einen heißen Druck in den Eingeweiden, so als ob das Geröll, auf dem ich lag, mit seinen Spitzen in mich eingedrungen wäre: meine Hose wurde feucht, ein schwaches Brennen zwischen den Schenkeln setzte ein, der Druck nahm stetig zu, preßte meinen Unterleib zusammen, da rief Daniel

Warum wartete ich nicht, warum konnte ich nicht warten, wie ich es mir vorgenommen hatte? War es meine Hand, die den kurzen Lauf hochriß und nicht auf die Reifen schoß, sondern mit einer seltsamen, befreienden Ruhe auf die Windschutzscheiben und den Kühler und das Dach, ohne abzusetzen, dabei weder wahllos noch erregt oder gar betäubt von den trockenen, wilden Schlägen und den zerrissenen Flammen vor der Mündung, viel eher mit einem gewissen kühlen Erstaunen darüber, daß das Auto nach dem ersten Feuerstoß noch weiterfuhr, unter uns hindurch, einen Augenblick nur, in dem ich auf die Türen schoß und erst zuletzt, als es schon längst hinter dem Buckel war, auf die Hinterreifen.

Ich hörte nichts, weder, wie die Geschosse die Scheiben zerschmetterten, noch, wie sie ins Metall einschlugen, ich hörte nur die Explosionen der Schüsse und, wenn ich aufhörte zu feuern, meinen Atem: Warum hielt ich mich nicht an die Abmachung, warum besorgte ich nicht den Teil, den Daniel mir zugedacht hatte? Gewaltsam drückte ich den Lauf nach unten, zumindest erinnere ich mich, daß ich ihn gegen einen Widerstand senkte, tief, tief, ich wollte die Reifen treffen, ich wollte nur das tun, was zu meiner Aufgabe gehörte, während Daniel aufrecht hinter mir stand, nicht mich, sondern das schwere Auto beobachtete, in dem der General saß, sitzen mußte, und zwar ruhig und berechnend beobachtete, wie es auf die kaum erkennbare Erhebung zurollte und sie hinter sich ließ: über und über getroffen und zerschrammt, aber anscheinend unzerstörbar, gepanzert oder gefeit gegen meine Geschosse. Da zog ich einmal scharf über die Straße, sah eine Reihe von

Das, Daniel, war nicht vorgesehen, wir hatten nicht damit gerechnet, daß das Auto liegenbleiben könnte im toten Winkel der Felswand, unsichtbar, unerreichbar für uns, das muß wohl erwähnt werden, das sollte gesagt werden aus Gerechtigkeit gegenüber Nicolas; denn wenn auch jeder in dieser Geschichte seine eigene Geschichte wiederfindet, wiedergewinnt: auf etwas müssen wir uns doch alle einigen, etwas müssen wir gemeinsam anerkennen bei allen Möglichkeiten der Auswahl: die wenigen Augenblicke, in denen nicht mehr wir es waren, die unsere Geschichte bestimmten. In allem, was gewiß ist, können wir uns unterscheiden – übereinstimmen müssen wir jedoch in der Anerkennung des Ungewissen … Wenn du erzählen wirst, was damals in der zögernden Dämmerung über dem Fjord unserer Geschichte den Anfang gab: Wirst du dann nicht den Augenblick beschreiben müssen, in dem wir unsere Überlegenheit einbüßten, verblüfft und plötzlich unentschieden lauschten, der Stille mißtrauten, nachdem das Auto gegen die Felswand geprallt war und wir nichts mehr sahen und nichts mehr hörten? Wer weiß, ob wir überhaupt auf die Straße hinabgesprungen wären – ich konnte den

Nicolas zog unsere Aufmerksamkeit auf sich, wir blickten auf seine erhobene Hand, versuchten das Zeichen, die Warnung zu verstehen, als neben oder unter dem Auto ein Maschinengewehr zu feuern begann, einmal und noch einmal. Wir warfen uns hin, nur Nicolas stand, stand steif mit erhobener Hand und zurückgeworfenem Kopf da, schien zu erstarren in dieser Geste, so werde ich ihn in Erinnerung behalten: aufgerichtet, erschrocken und erstarrt, und noch im mühsamen, langsamen Sturz mit dem Arm ein Zeichen gebend, eine verlorene Warnung …

Wir zweifelten nicht daran – und später wurde es ja auch bestätigt –, daß es der alte General selbst war, der eigensinnige Mann mit den künstlichen, silbernen Kniescheiben, der neben oder unter dem Auto lag, ruhig, abwartend und kaltblütig, der General mit dem verdrossenen Schildkrötengesicht, der zuerst Nicolas tötete vor unseren Augen und sich dann mit uns beschäftigte. Ihm war nichts geschehen. Er war so unversehrt,

Und als Christoph endlich über der Betonmauer auftauchte und liegend auf das Autowrack schoß, sprangen wir auf, liefen zum Auto, immer aus der Hüfte feuernd – niemand antwortete uns, niemand vereitelte unseren Versuch. Ich riß die Tür auf, ein Soldat fiel mir entgegen, der Oberkörper eines kräftigen, blonden Jungen, dessen Gesicht zerstört war von Geschossen und Glas, dessen Kinn bedeckt war mit Zahnsplittern; schlaff kippte er vom Sitz, schlug mit dem Kopf auf die Straße, und ich sprang einen Schritt zurück, hatte den Finger schon am Abzug, schoß in den leblosen, schlaffen Körper hinein aus Furcht oder Enttäuschung oder einfach, weil ich schießen mußte. Der Körper zuckte unter den Schlägen der Kugeln, die unsichtbar in das Fleisch eindrangen. Es war der Chauffeur des Generals …

Daniel stieß mich an, deutete auf die hintere Tür des Autos; ich öffnete sie und sah die zusammengesackte Gestalt eines Offiziers auf den Polstern. Das rechte Handgelenk war zerfetzt, die Finger würden niemals die kleine Pistole erreichen, die in einer Tasche am Koppel hing. Ich hob das Schnellfeuergewehr,

Die glimmenden Fäden der Leuchtspur zogen über uns hinweg, fingerten über die Straße und zum Fjord hinab. Wir kauerten im Schutz des Autos, lange, viel zu lange, wir spürten und wußten, daß der Plan, Daniels Plan, endgültig mißglückt war: wir hofften nicht mehr auf eine Wendung – wir blieben, weil wir uns nicht eingestehen wollten, daß wir umsonst gewartet hatten, Nicolas umsonst getötet worden war. Zu lange dauerte Daniels fassungsloses, schweigendes Zögern, und als er uns heranwinkte, uns flüsternd einweihte und einwies, glaubte niemand mehr daran, noch etwas ändern zu können: vielleicht du, Daniel, mag sein. Doch als wir uns im Schutz des Autowracks erhoben, lauschend dastanden, vernahmen wir in der gleichen Sekunde das Geräusch, das uns allen – also auch dir – das Gefühl gab, nichts mehr an unserer Niederlage berichtigen zu können; es war zu spät, denn von der Stadt her, von der Brücke näherte sich das Geräusch eines Lastwagens, der in schneller Fahrt die Straße am Fjord entlang kam, und

 

Schreib doch deine Geschichte, widerleg mich, Daniel, wenn wir nicht übereinstimmen; sag, daß es unsere Bestürzung und unser Erschrecken nie gegeben hat, als der Lastwagen aus der Stadt und das Kettenfahrzeug vom Tunnel her näherkamen, oder beschreibe unsere Gesichter, die Blicke, die wir wechselten und mit denen wir einander befragten, bevor wir den Schutz des Autowracks verließen, unter der überhängenden Felswand entlangliefen und plötzlich in die glimmenden Fäden der Leuchtspur hinein, die sich schräg vor uns auf den Klippen zusammenzogen.

Ich fiel auf Christoph, der in der ausgestemmten Rinne lag, stützte mich auf seiner Schulter auf und schoß liegend dort auf die Klippen hinauf, wo die Fäden der Leuchtspur zusammenliefen; ich tat es so lange, bis Christoph sich aufrichtete unter mir, Daniel anrief, und als er keine Antwort erhielt, mit einem Satz bei ihm war und ihn aus der Rinne heraushob. Er versuchte, ihn auf die Beine zu stellen: es mißlang. Daniels Beine trugen nicht mehr das Gewicht seines Körpers. Sein Mund war aufgesprungen, sein Mund verriet seine Schmerzen, leicht winkte er ab, während Christoph ihn umklammert hielt, gab das Zeichen der Aufgabe, Unterwerfung, Niederlage, doch Christoph schien alles bemerkt zu haben, nur nicht dies: er zog Daniels Arm um seine Schulter, lud ihn sich auf, schwankte einen Augenblick unter dem Gewicht und führte ihn fort zu den Steinhaufen, von denen aus sie den Hang erreichen konnten. So langsam, schleppend, fast gleichgültig bewegten sie sich fort, achteten nicht auf die Geräusche, die Geräusche der sich beständig nähernden Fahrzeuge trieben sie weder

Ich trug Daniels Gewehr, deckte den, wie es schien, hoffnungslosen Rückzug. Der General mit dem Schildkrötengesicht schoß nicht: vielleicht lag er auf den Klippen und beobachtete verwundert und nachsichtig das mühsame Schauspiel unseres Entkommens … Und auf den Steinen kippte Christoph um, zog Daniel im Sturz auf sich herab. Ich hörte die kurzen, heftigen Stöße seines Atems. Ich sah Christophs Hände nach den Kanten des Steins tasten, sah, wie sie Halt gewannen, den Körper hochdrückten, nicht entschieden und hastig, wie es dem Augenblick angemessen gewesen wäre, sondern bedächtig prüfend, mit zuviel Sorgfalt. Achtsam nahm er Daniel auf den Rücken, stand gebeugt da, als zögerte er, seiner Kraft zu vertrauen; dann rief er mich, ich kniete neben euch, blickte in Christophs gesenktes, schweißglänzendes Gesicht, entdeckte in seiner offenen Brusttasche eine Packen Kreuzworträtsel, die er aus Zeitungen ausriß, ohne sie je zu lösen: »Was ist?« fragte ich, und er sagte: »Lenk sie ab, verschwinde, laß uns allein.«

Ich wartete, ich folgte ihnen unwillkürlich, nachdem Christoph sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, kletterte hinter ihnen her, bis sie den Hang gewannen, denn ich glaubte allem zustimmen zu können außer der Aufforderung, sie allein zu lassen. Christoph bemerkte es, er blieb stehen in einer Mulde, ließ mich herankommen und wiederholte in erregtem, ärgerlichem Flüstern: »Verschwinde, ziehe sie auf dich: willst du, daß sie uns alle bekommen?!«

Da ließ ich sie allein auf dem Hang, kletterte auf die Straße

Die Leuchtkugel stürzte erlöschend gegen den Hang, schwach widerstrahlend: sie waren nicht zu erkennen, Christoph und Daniel waren verschwunden, nirgendwo dort unter dem zitternden Licht bewegte sich mehr die erschöpfte Gruppe, die in einer verzweifelten und selbstverständlichen Bruderschaft der gefährdeten Leiber aufgebrochen war –, was aber nicht bedeutete oder bedeuten konnte, daß sie die Dreifingerfelsen bereits erreicht hatte und in Sicherheit war; vielmehr glaubte ich sie im Schatten des Gerölls oder der trockenen Büsche, tief an die Erde geduckt, Christoph schützend vor Daniel.

Ich hatte die Verfolger abgelenkt, hatte sie auf mich gezogen, wie Christoph es verlangt hatte, und ich zweifelte nicht, daß beide auf dem Hang wahrnehmen konnten, daß es mir gelungen war … Dann, als ich die geflüsterten Befehle über und neben mir hörte, Befehle, die die Kette entlangliefen, sich entfernten und allmählich wiederkehrten wie von einer Welle getragen, versenkte ich das Gewehr, nein, wie komme ich darauf … ich nahm das Gewehr auf den Rücken, umklammerte den algenbedeckten Stein, ließ mich lautlos steif hinab, tauchte tiefer und tiefer ein, bis das Wasser meine Brust erreichte, bis ein schmaler, harter Reif meine Brust umschloß: jetzt ließ ich los, warf die Arme überm Kopf zusammen und sank weg.

Ich hatte sie jedenfalls abgelenkt, ich hatte sie auf mich gezogen, ohne zu wissen, ob und wieviel ich euch helfen konnte, und du wirst mir doch zustimmen, Daniel, daß sie euch verschonten, weil ich mich ihnen angeboten, ihre Aufmerksamkeit abgelenkt hatte.

Ihr wart allein, Christoph und du, es gibt keine Zeugen

Ich weiß, daß ihr allein wart mit eurer Angst und Erschöpfung, zeugenlos, während ich schwamm und schwamm unter ihren planlosen Schüssen. Wahrscheinlich vermuteten sie uns alle schwimmend im Fjord, deshalb streuten sie ihr Feuer. Die Kälte hatte sich längst durch die Kleidung gebissen, sie preßte meine Brust zusammen, sie beeinträchtigte meinen Atem. Meine Beine wurden schwer, ich lag tief im Wasser, und wenn ich versucht hätte, wegzutauchen, wäre es mir gelungen – doch ich versuchte es nicht. Ich schwamm auf die Lichter des Baggers zu, nicht, um den Bagger zu erreichen und mich auf ihm zu verbergen, sondern um in die auslaufende Strömung des Flusses zu gelangen, die mich gegen das Ufer drücken sollte; die Lichter des Baggers fielen auf die Stelle, an der die Wasser des Fords die Flußströmung stauten und auffingen; die Oberfläche glänzte und wellte sich da, verriet etwas von der

Als die Strömung mich erfaßte und wegdrückte zwischen den vertäuten Booten, leistete ich keinen Widerstand, ließ mich nur tragen und sah das Ufer kahl und bräunlich und dahinter die schmalen Ufergärten, Gärten mit Schuppen, Stapeln von Treibholz, mit Stangen zum Aufhängen der Netze. In der Deckung eines vertäuten Ruderbootes beobachtete ich das Ufer und wartete: keine Stimme war zu vernehmen, kein Geräusch von Motoren, nur ein kurzer, eiliger, hallender Schritt von genagelten Stiefeln aus der Stadt, ein Schritt, der nicht ursprungslos war, aber auch nicht aus einer bestimmten Straße zu kommen schien, vielmehr hörte es sich so an, als bewege er sich quer über die geduckt und reglos lauschende Stadt, die längst bezwungen und wehrlos war, die sich daran gewöhnt hatte, hinzunehmen, und dabei gelernt hatte, etwas, was ihr bevorstand, aus der Art der Schritte herauszulesen.

Die Schritte, die sich in der unbewegten Luft über der Stadt zu nähern und zu entfernen schienen, hörten und hörten nicht auf, ich stieg ans Ufer, ich schwang mich über den Zaun, lief auf das Haus zu, in dem die Holmsens schweigend in der unerleuchteten Küche saßen: Rektor Holmsen, Hanna, seine Frau, und Clemens … Wie lange sie sitzen blieben, als ich die Tür aufzog und eintrat, starr vor Erschrecken, wortlos über das, was ich ihnen an untragbarem Risiko zumutete – Clemens vor allem, der junge Clemens Holmsen, ein Lehrer; doch stärker noch als sein Erschrecken war seine rasche, unwillkürliche Abwehr: er erinnerte sich als erster daran, was jeder zu erwarten hatte, der einen vom Widerstand verbarg. »Was willst du?« fragte er, und ›Warum bringst du uns in Gefahr‹, dachte er, und ich wollte schon gehen, als der alte Rektor Holmsen

Es war dein alter Lehrer, Daniel, der mich hinaufgehen hieß, mir die Bodenklappe öffnete, sie hinter mir zufallen ließ, und sie beschloß gleichsam die Glücklosigkeit dieses Tages, das Mißlingen unseres Plans. Ich schlief auf dem Boden zwischen altmodischem Spielzeug, während die andern schon die Forderung bedachten, die nicht nur an dich, sondern an die ganze Stadt erhoben wurde: Daniel soll sich stellen …

Jedenfalls wurde die Maßnahme während ihrer Begegnung geplant, beschlossen, die Maßnahme gewann an Bestimmtheit, wurde gesichert, weitergegeben über die Kette der Adjutanten, Wachhabenden, Ausführenden, lag schon über der Stadt und war anwesend in ihr wie der Tod in der Patrone, während die Stadt selbst weder etwas ahnte noch etwas wußte. Alles war vorbereitet, und in der Stille und weichenden Trübnis des Morgens kamen sie.

Das Geräusch von Lastwagenmotoren und Motorrädern kündigte sie an, ein, wie es schien, gedrosseltes Geräusch, das sich langsam näherte und dann gleichbleibend, ohne

Du hast sie nicht kommen sehen, Daniel, ihr wart fort, als sie in die Stadt einzogen – nicht nur, um uns eine Antwort auf unsere glücklose Aktion zu erteilen, sondern um auch gleich dafür zu sorgen, daß sie in Zukunft von allen ähnlichen Aktionen verschont blieben. Du konntest nicht sehen, wie sie die Falle entstehen ließen, in die wir alle gerieten; denn in deiner Geschichte müßte jetzt – wenn Zeit für dich das ist, was sie für mich ist – das letzte Stück eures keuchenden Aufstiegs beginnen: Christoph müßte als Träger abgelöst werden durch die andern, die euch vom Lager aus entdeckt hatten und

Aber es genügt, wenn jeder von sich erzählt, mehr ist nicht zu erreichen; auch wenn wir abweichen voneinander, sind wir gleichzeitig betroffen: du im Lager, ich in der Stadt hinter der Bodenluke. Vielleicht kommt es zunächst auch gar nicht darauf an, wer unsere Geschichte erzählt, sondern daß sie überhaupt erzählt, und das heißt wiederholt wird …

Die Anfahrt der Lastwagen und Motorräder in der Frühe wird doch immer wiederholbar bleiben in der Vorstellung, der Augenblick, als sie um das Denkmal auf den Rathausplatz bogen, durch das Netzwerk unserer Straßen fuhren, auf einmal langsam wurden, auf einmal mit laufenden Motoren hielten.

Sie hielten vor dem Haus von Richter Heyerdal, die ganze Kolonne – zwei Motorräder vorn, drei Lastwagen, zwei Motorräder am Ende –, und ich sah einen Offizier mit Augenklappe und zwei Soldaten auf das Haus zugehen; der Offizier schlug mit dem ringförmigen, glänzenden Messingklopfer gegen die Tür, blickte auf die Uhr, salutierte, als die Tür geöffnet wurde, wobei sein Körper sich wippend vor und zurück legte, und betrat mit den beiden Soldaten das Haus. Sie blieben etwa so lange in dem Haus, wie ein Mann – kein beliebiger Mann, sondern Richter Heyerdal, der auf seine Kleidung Sorgfalt legte – braucht, um sich anzuziehen, dann erschienen sie wieder, geleiteten den schwarzgekleideten, hageren, weder redenden noch um sich blickenden Richter zu dem zweiten Lastwagen, klappten ein Trittbrett herab, halfen ihm beim Aufsteigen, klappten das Trittbrett wieder hoch und fuhren an, während die Haustür noch einmal geöffnet wurde und der Bruder des Richters, der ihm den Haushalt führte, auf die Veranda trat: ein

Wahrscheinlich bemerkte er gar nicht, daß die Kolonne schon wenige Häuser weiter abermals hielt, daß der Offizier und die beiden Soldaten ausstiegen und durch den abfallenden, mit Muscheln eingefaßten Vorgarten auf das Haus von Niels Nielsen zugingen; ich konnte es erkennen. Ich konnte jetzt außerdem erkennen, daß der mittlere Lastwagen, der vom Begleitkommando eingeschlossen wurde, dazu ausersehen war, alle unsere Männer aufzunehmen, auf die man Wert legte, auf die man sich bereits geeinigt hatte. Arne Baard von der Sparkasse war dabei, Kaplan Lassen, Axel Malberg, der Redakteur, und ich sah auch das gutmütige Gesicht von Olsen, von dem niemand etwas wußte, es sei denn, daß er ein Mann von Einfluß war, den man aufsuchte, wenn man es mit der Besatzung zu tun hatte …

Sie holten auch Niels Nielsen, den Polizisten; sie warteten vor dem rostrot getünchten Haus, bis er erschien, in Uniform, aber ohne Waffe; korrekt erwiderten sie seinen Gruß – einen Gruß, zu dem er verpflichtet war; denn die Macht, die er zu besitzen glaubte, kam von ihrer Macht –, nahmen ihn in ihre Mitte und führten ihn zum zweiten Lastwagen, vor dem Niels stehen blieb und verwundert zu seinem Haus zurücksah; er zögerte, er konnte nicht verstehen, warum sie ihn holten, vielleicht dachte er, es sei ein Versehen oder ein Irrtum, denn sie selbst, der Offizier und die beiden Soldaten von der Feldgendarmerie, hatten ihn als Polizisten geprüft und bestätigt,